Raffaele De Rosa Lesen und Schreiben bei mehrsprachigen Kindern Raffaele De Rosa Lesen und Schreiben bei mehrsprachigen Kindern Theoretische und praktische Ansätze mit konkreten Beispielen Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien Raffaele De Rosa Sprachwissenschaftler und Germanist. Verschiedene Publikationen im Bereich der Altgermanistik, Soziolinguistik und Mehrsprachigkeit. Vater von drei zweisprachigen Kindern (Italienisch/Deutsch). Redaktion und Satzherstellung durch den Autor 1. Auflage: 2007 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN: 978-3-258-07161-9 Copyright © 2007 by Haupt Berne Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig Umschlaggestaltung: René Tschirren Umschlagbild: Austrophoto/f1 online Printed in Switzerland www.haupt.ch Inhalt Vorwort 1 Einführung und Definition der Mehrsprachigkeit 7 11 1.1 Mehrsprachigkeit in der Wirklichkeit 13 1.2 Die Entwicklung von mehrsprachigen Situationen Eine Person – eine Sprache Eine Sprache – ein Gefühl Die freie Sprachwahl des Kindes Die Zahl der zu vermittelnden Sprachen Die Qualität der sprachlichen Vermittlung Eine Situation – eine Sprache Die Förderung der Mehrsprachigkeit 23 26 27 29 30 31 33 33 1.3 Die Eisbergtheorie 38 1.4 Die Sprache bei mehrsprachigen Personen Simultaner Sprachwechsel Lehnwörter Interferenzen unterschiedlicher Natur Die Zwischensprachen in mehrsprachigen Situationen Starke und schwache Sprache 42 43 44 45 47 54 1.5 Fazit 55 2 Das Lernen bzw. der Erwerb der schriftlichen Fertigkeiten 59 2.1 Geschriebene und gesprochene Sprache 59 2.2 Schriftzeichen, Laute und Sprachen 61 2.3 Theorien über den Erwerb der schriftlichen Fertigkeiten Lesemodell Schreibmodell 65 66 72 2.4 Strategien der Kinder beim Erwerb der schriftlichen Fertigkeiten 75 2.5 Methoden und Voraussetzungen beim Lesen und Schreiben 80 2.6 Fazit 83 3 Mehrsprachig Schreiben und Lesen: Probleme und Perspektiven 87 3.1 Die phonologische Bewusstheit in mehrsprachigen Situationen 87 3.2 Der Umgang mit Fehlern 95 3.3 Die Analyse eines Textes von zwei fremdsprachigen Kindern Gross- und Kleinschreibung Die Wortbildung der Namen mit und ohne Präpositionen Die Pronomen Der Wortschatz Die Verben Wortstellung Schreibfehler unterschiedlicher Natur Die Kreativität des Textes 96 98 98 99 100 100 101 102 103 3.4 Ideen und Perspektiven 103 4 Die Beschreibung von zwei erfolgreichen Fällen 107 4.1 Die Entdeckung der schriftlichen Zeichen 107 4.2 Die Erfindung von neuen Schriftzeichen 109 4.3 Die Erreichung der orthographischen Stufe 110 4.4 Das Schweizerdeutsch 111 4.5 Vom Schweizerdeutschen zum Hochdeutschen 113 4.6 Das Italienisch 114 4.7 Die spontane Verbesserung der italienischen Orthographie 116 4.8 Das Spielen mit den Buchstaben 118 4.9 Fazit 119 5 Schlussfolgerungen 121 Anmerkungen 125 Vorwort Der grösste Teil der Menschen lebt mehr oder weniger bewusst in mehrsprachigen Situationen, sei es in der alltäglichen Verwendung eines Dialekts und einer Hochsprache (z. B. Schweizerdeutsch und Hochdeutsch) oder im Gebrauch von zwei oder mehreren Hochsprachen (z. B. Deutsch und Englisch). In allen Ländern existieren mehr oder weniger offiziell anerkannte Sprachminderheiten, die von den einzelnen Staaten mehr oder weniger offiziell unterstützt oder benachteiligt sind. Ausserdem gehören neue Migrationsphänomene mit Kontakten von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Kultur zur Normalität der so genannten globalisierten Welt. Über das Phänomen “Mehrsprachigkeit” existiert heute eine grosse Menge Literatur und immer wieder erscheinen Studien, die die unterschiedlichen Bereiche des mehrsprachigen Spracherwerbs behandeln und neue Perspektiven zur Verbesserung der sprachlichen Vermittlung zeigen. Die Forschung hat in den letzten Jahren geholfen, viele Vorurteile gegen die Mehrsprachigkeit abzubauen, aber immer wieder tauchen zahlreiche Unschlüssigkeiten und Widersprüche zum Thema auf. Eltern, Lehrkräfte und Schulbehörden sind von dieser Tatsache besonders betroffen. Fast alle sind sich nämlich bewusst, dass eine zweisprachige Erziehung auch ein kognitiver Vorteil für die betroffene Person ist, aber über ein Modell für die Förderung der Mehrsprachigkeit herrscht noch eine gewisse Unstimmigkeit in den Programmen der Familien und den einzelnen Schulsystemen. Die Mehrsprachigkeit wird grundsätzlich als ein “mündliches” Phänomen behandelt. Es ist eine wissenschaftlich anerkannte Tatsache, dass eine Person zwei oder mehrere Sprachen ab ihrer Kindheit problemlos erwerben und sprechen kann. Anders ist die Situation beim schriftlichen Erwerb von zwei oder mehreren Sprachen. In diesem Kontext wird die Mehrsprachigkeit eher als ein Hindernis betrachtet, denn die schulische Alphabetisierung erfolgt normalerweise praktisch nur einsprachig, und dies auch in mehrsprachigen Ländern. Man spricht also zwei oder mehrere Sprachen, man kann/darf/soll aber nur in einer Sprache bzw. in der Schulsprache schreiben, und erst später wird vielleicht eine Zweit- oder eine Fremdsprache schriftlich gelernt. Im vorliegenden Buch möchte ich aber zeigen, dass der Erwerb bzw. das Lernen der schriftlichen Fertigkeiten unter günstigen Umständen auch mehrsprachig geschehen kann. Die Kreation von diesbezüglich begünstigenden Umständen in der Familie, in der Schule und allgemein in der Gesellschaft ist also vorrangig. Das vorliegende Buch basiert auf meinen Erfahrungen als italienischsprachiger Germanist und Linguist und vor allem als Vater von mehrsprachigen Kindern. Eini- ge der hier enthaltenen Ideen wurden auch während meiner Vorträge im Rahmen der Weiterbildungskurse für Lehrkräfte diskutiert. Jetzt ist die Zeit gekommen, diese Ideen für eine breitere Diskussion zu veröffentlichen, denn zum Thema „Lesen und Schreiben bei mehrsprachigen Kindern“ existieren wenige wissenschaftliche Studien. Das Buch versteht sich aber nicht als eine Abhandlung, die für wenige Fachpersonen bzw. Linguisten und Pädagogen bestimmt ist. Ich möchte in allgemein verständlicher Sprache das Thema meines Beitrags behandeln, so dass auch ein breites Publikum angesprochen wird, d. h. alle Personen (Eltern, Lehrkräfte, Schulbehörde, Politiker usw.), die aus irgendeinem Grund mit der Thematik der Mehrsprachigkeit und der interkulturellen Kommunikation konfrontiert sind. Das Buch ist wie folgt strukturiert: - Das Kapitel 1 gibt einen Überblick über die Mehrsprachigkeit und die Prinzipien, die über das Phänomen entwickelt worden sind. - Im Kapitel 2 sind die Prinzipien des Erwerbs der schriftlichen Fertigkeiten mit den entsprechenden möglichen Modellen dargestellt. - Im Kapitel 3 werden die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse über das mehrsprachige Lesen und Schreiben erklärt, mit der Beschreibung von Problemen und Perspektiven einer korrekten harmonischen Entwicklung dieser Fertigkeiten in allen (schulischen und nicht schulischen) Kontexten. - Das Kapitel 4 enthält schliesslich die Beschreibung von konkreten Fällen der spontanen Entwicklung der Schreibfertigkeiten bei meinen Kindern, die mit den theoretischen Ansätzen des Kapitels 2 und 3 verglichen werden. Theorie und Praxis sind also in diesem Buch eng verbunden, viele Personen könnten sich in den von mir dargestellten Situationen spiegeln. Die Beispiele sind konkrete Fälle, die auf meinen Erlebnissen basieren, nur Namen und Kontexte wurden z. T. geändert. Meine Hoffnung ist, dass das Interesse am Thema weiterhin geweckt wird. Mein Beitrag will ein erster Schritt in eine sehr wichtige Thematik sein, die ich täglich als Vater und nicht nur als Sprachwissenschaftler erlebe. Es handelt sich in meinen Augen um ein Privileg, das ich grundsätzlich meiner Familie zu verdanken habe. Allen Eltern, Lehrern und Freunden, mit denen ich über Mehrsprachigkeit diskutieren durfte und die mir ihre Erfahrungen mitgeteilt haben, möchte ich herzlich danken. Für die wertvolle und kompetente technische Unterstützung bin ich Herrn Dieter Fuchslocher und Dr. Eugen Nyffenegger ebenfalls sehr dankbar. Schaffhausen, Herbst 2006