N. Queloz, M. Niggli, Ch

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Droit pénal et diversités culturelles
Mélanges en l’honneur de José Hurtado Pozo
Edités au nom de la Faculté de droit de Fribourg
par Nicolas Queloz, Marcel Niggli et Christof Riedo
Schulthess Editions romandes
Genève – Zurich – Bâle
2012
III
Table des matières
Préface
Abréviations
Auteur-e-s des contributions
Publications du Professeur José Hurtado Pozo
I.
Cultures et Droits – Droit et culture
Erreur ! Signet non défini.
BORS MARC
L’idée du crime. Un dialogue entre José Hurtado Pozo et le Marquis de Sade
3
CLERC ANDRÉ
Das Hexen-Einmaleins für Juristen
19
DELGADO MARIANO
Bartolomé de las Casas y la cuestión peruana: hacia un derecho intercultural
29
GIORDANO CHRISTIAN
Crimes d’honneur, droits coutumiers et droit positif: une perspective anthropologique 45
GODEL THIERRY
Aperçu du facteur culturel en droit pénal suisse
59
LACHAT MICHEL
Yasmina, 12 ans, gitane et le droit pénal suisse
77
MEYER-BISCH PATRICE
L’universalité intime et imparfaite. Essai sur les réciprocités
87
PEÑATE RIVERO JULIO
Alteridad cultural y relato de viaje latinoamericano y español en el siglo XX: los
recursos del discurso
103
V
Table des matières
II.
Droits fondamentaux – Droit pénal général
117
ALBRECHT PETER
Instrumentelles Strafkonzept gegenüber ausländischen Staatsangehörigen
119
BOLLE PIERRE-HENRI
Les obstacles à l’exercice effectif des droits garantis aux personnes en prison
133
BORGHI MARCO
Le «commerce» des transplants entre diversités culturelles et droit pénal
149
BRÄGGER BENJAMIN F.
Ausländer im schweizerischen Strafvollzug
169
FIOLKA GERHARD
Der Europäische Haftbefehl: Kulturblindheit und organisierte Unverantwortlichkeit 177
GARCÍA CAVERO PERCY
El principio del non bis in idem a la luz de una distinción cualitativa entre delito
e infracción administrativa
199
GLESS SABINE, ECHLE REGULA
Opferansprüche mit Konfliktpotenzial – Hierarchisierung von Jurisdiktionen
im Strafrecht
219
HÄNNI PETER
Öffentliches Dienstrecht und Strafrecht
243
MACALUSO ALAIN, KUHN ANDRÉ
Le sursis à l’amende en cas de condamnation pénale d’une entreprise
259
MEINI IVÁN
Diversidad cultural, imputabilidad y culpabilidad
277
NIGGLI MARCEL ALEXANDER, MAEDER STEFAN
Die funktionale Stellung der Schuld in absoluten und relativen Straftheorien
301
PAHUD DE MORTANGES RENÉ
Gotteslästerung! Blasphemiestrafnormen als Mittel zur religiösen Diskriminierung
321
VI
Table des matières
PREVITALI ADRIANO
Le droit à la sexualité des personnes handicapées vivant en institution.
Un changement culturel s’impose
335
RIEDO CHRISTOF
Retrospektive Intransparenz. Bemerkungen zu Art. 49 Abs. 2 StGB
347
STRATENWERTH GÜNTER
Zur Einwilligung des Verletzten beim Fahrlässigkeitsdelikt
369
VELÁSQUEZ FERNANDO
Justicia internacional penal: presente y futuro
381
III. Droit pénal spécial – Droit pénal économique
403
KRAUSKOPF PATRICK L., SCHALLER OLIVIER
Die Kriminalisierung des Schweizer Kartellrechts
405
MENDOZA LLAMACPONCCA FIDEL NICOLÁS
El delito de blanqueo de capitales en España y Perú. Determinación del bien
jurídico
425
QUELOZ NICOLAS
Une «diversité culturelle» appelée à disparaître? Le viol d’une personne de sexe
féminin (art. 190 CPS) comme lex specialis de la contrainte sexuelle (art. 189 CPS) 447
SILVA SÁNCHEZ JESÚS-MARÍA
La responsabilidad penal de las personas juridicas en Derecho penal español
465
THORMANN OLIVIER
Clause culturelle: une exception pornographique ?
483
TIEDEMANN KLAUS
Zur Kultur der Unternehmsstrafbarkeit
499
WIPRÄCHTIGER HANS
Darf Satire alles? Strafrecht und Satire
517
ZÚÑIGA RODRÍGUEZ LAURA
Responsabilidad penal de las empresas. Experiencias adquiridas y desafíos futuros
529
VII
MARCEL ALEXANDER NIGGLI, STEFAN MAEDER
Die funktionale Stellung der Schuld in absoluten
und relativen Straftheorien
Inhaltsübersicht
Seite
I.
Einleitung
300
II.
Straftheorien und Schuld
301
A. Versuchsanordnung
B. Relative Straftheorien
1. Spezialprävention
2. Negative Generalprävention
3. Positive Generalprävention
4. Zwischenergebnis: Keine individualisierte Schuld
C. Absolute Straftheorien
301
302
302
305
307
311
313
Fazit: Absolute und positiv-generalpräventive Theorien
315
II.
I.
Einleitung
Im Frühling 2011 plauderten wir bei einem gemeinsamen Mittagessen in Freiburg mit
einem Kollegen über einen kürzlich von uns in der AJP publizierten Aufsatz1, in welchem wir der Frage nachgingen, was Strafrecht eigentlich schütze (falls es überhaupt
etwas schützt). In dem Aufsatz gelangten wir zum Ergebnis, dass es jedenfalls nichts
Konkretes schützt. Schützen im Sinne von Gefahren abwehren ist Polizeirecht. Wenn das
Strafrecht qua Strafrecht tatsächlich etwas schützt, dann sind es unsere Erwartungen bzw.
das Vertrauen in die Rechtsregeln oder die Rechtsordnung als Ganzes.2 Das wiederum
veranlasste unseren Kollegen zur Bemerkung, das sei ja dann wohl eine positiv-
1
2
MARCEL ALEXANDER NIGGLI/STEFAN MAEDER, Was schützt eigentlich Strafrecht (und schützt es
überhaupt etwas)?, in: AJP 2011, S. 443 ff.
NIGGLI/MAEDER (FN 1), S. 454 f.
300
Die funktionale Stellung der Schuld in absoluten und relativen Straftheorien
generalpräventive Position, wir würden also eine Position vertreten, die man gemeinhin
auch als Integrationsprävention bezeichnet und die stark systemtheoretisch geprägt v.a.
durch GÜNTHER JAKOBS und seine Schüler vertreten wird. Nun sind die Affinitäten des
Jubilars zu dieser Position und deren grosse Verbreitung in der lateinamerikanischen
Akademie bekannt, so dass wir hoffen, ihm eine Freude zu bereiten, wenn wir hier den
Versuch wagen, die Unterschiede zwischen absoluten und relativen Straftheorien etwas
deutlicher herauszuarbeiten. Ansatzpunkt soll dabei das Element der Schuld bilden.
II.
Straftheorien und Schuld
A.
Versuchsanordnung
Im angesprochenen Aufsatz haben wir aufgezeigt, dass die Differenz zwischen absoluten
und relativen Straftheorien wesentlich eine der Zeitperspektiven ist: Die absoluten Straftheorien finden den Grund und auch das Mass der Strafe in der Vergangenheit und sehen
die Legitimation der strafrechtlichen Reaktion in der Vergeltung.3 Die Blickrichtung ist
also retrospektiv. Die relativen Theorien sehen die Legitimation der Strafe demgegenüber
in der Prävention, also in der prospektiven Verbrechensverhinderung. Der Blick geht in
die Zukunft.
Wenn wir nun sagen, dass Strafrecht unsere Erwartungen bzw. das Vertrauen in die
Rechtsregeln oder die Rechtsordnung als Ganzes schütze, so heisst dies nicht, dass wir
den Blick für die Legitimation der Strafe automatisch in die Zukunft richten und wir
zwingend bei einer relativen Theorie landen müssten. Grundsätzlich kann sich ja alles,
was wir tun, irgendwie zukünftig auswirken, auch rein retrospektive Vorstellungen wie
die Vergeltung.
Gerade darin gründet unseres Erachtens ein Grossteil der Verwirrung im Zusammenhang
mit Straftheorien. Zu fragen (1), weshalb der Staat strafen dürfe oder gar müsse, ist etwas
ganz und gar anderes, als zu fragen (2), was mit der Strafe erreicht werde (deskriptiv).
Und dies ist wiederum nicht identisch mit Frage (3), was mit der Strafe (normativ) erreicht werden soll. Wenn wir weiterkommen wollen, müssen wir, wie immer, differenzieren und den Grund (Frage 1) vom Effekt und vom Zweck der Strafe (Fragen 2 und 3)
unterscheiden.
3
Damit ist aber noch nichts über den Zweck, sondern nur etwas über die Legitimation gesagt.
301
MARCEL ALEXANDER NIGGLI, STEFAN MAEDER
Die Dichotomie von absoluten und relativen Straftheorien soll nachfolgend Gegenstand
unserer Analyse sein, und zwar im Hinblick auf ein Element, das wir bisher kaum angesprochen haben: Die Schuld und ihre Funktion in absoluten und relativen Straftheorien.
Wir gehen dabei von folgender Annahme aus: In retrospektiven Straftheorien ist die
Schuld ein individualistisches Konzept, das im Ergebnis die Freiheitssphäre des Einzelnen schützt und ihn als Subjekt anerkennt. Demgegenüber hat Schuld in prospektiven –
d.h. in präventiv orientierten – Straftheorien keine solche Funktion, sondern ist entweder
überhaupt nicht theorieimmanent (die staatliche Reaktion auf den Normbruch knüpft
entsprechend nicht an der Verantwortung des Individuums, sondern an Gesellschaftsbedürfnissen an) oder aber sie besitzt jedenfalls keine individualisierende Funktion, was im
Ergebnis einer Loslösung von individueller Verantwortlichkeit und Behandlung des
Täters als Objekt gleichkommt.
B.
Relative Straftheorien
Anders als gemeinhin üblich wollen wir mit den relativen Straftheorien beginnen. Es soll
auch nicht ein homogenisiertes Gemisch untersucht werden, sondern die verschiedenen
Präventionsspielarten getrennt und einzeln. Ausgeklammert werden die empirischen
Befunde zur Präventionswirkung von Strafe, obwohl schon sie allergrösste Zweifel an
der Legitimationsbasis relativer Theorien aufkommen lassen müssten. Empirisch kaum
entzaubert ist bloss noch die positive Generalprävention,4 was aber daran liegen dürfte,
dass es aufgrund ihres Ansatzes gar nicht möglich ist, ihre Effizienz zu widerlegen. Das
Gegenteil aber ebenso wenig.5
1.
Spezialprävention
Der Theorie der Spezialprävention hat in erster Linie FRANZ VON LISZT (1851–1919) zum
Durchbruch verholfen. VON LISZTs Denkmodell, das den Zweckgedanken ins Zentrum
des Strafrechts stellte, hatte internationale Wirkung.6 In seinem Marburger Programm
forderte er:
1. Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher;
2. Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher;
4
5
6
Vgl. aber KARL F. SCHUMANN, Positive Generalprävention. Ergebnisse und Chancen der Forschung,
Heidelberg 1989.
Vgl. dazu NIGGLI/MAEDER (FN 1), S. 448 f.
HANS-HEINRICH JESCHECK/THOMAS WEIGEND, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl.,
Berlin 1996, S. 73.
302
Die funktionale Stellung der Schuld in absoluten und relativen Straftheorien
3. Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher.7
Mit 1. ist die positive Spezialprävention angesprochen, die – in heutiger Terminologie –
zwar auch durch Strafe, aber insbesondere durch (therapeutische) Massnahmen verwirklicht werden soll. Das Erlebenlassen des Strafübels und die Androhung, dass es bei Fehlverhalten noch mehr davon gebe, ist Gegenstand von 2., was als negative Spezialprävention bekannt ist. Die Unschädlichmachung entspricht der heutigen Verwahrung: Wen
man – zumindest prognostisch betrachtet – nicht bessern kann, der wird gegebenenfalls
zugunsten der Sicherheit der Gesellschaft weggesperrt.
Augenfällig ist, dass in einer spezialpräventiven Perspektive die Legalprognose des
Täters entscheidend für die staatliche Reaktion ist. Auf einen Schuldvorwurf kann in hier
verzichtet werden, weil es nicht um die begangene Tat, sondern ausschliesslich um die
Zukunft geht. Wenn angenommen werden muss, ein Täter sei in Zukunft gefährlich, dann
spielt es keine Rolle, ob ihm die begangene Tat überhaupt vorgeworfen werden kann
oder muss. Genau das ist denn auch geltendes Recht: Art. 19 Abs. 3 StGB8 eröffnet die
Möglichkeit, schuldunfähige Täter mit Massnahmen zu belegen bis hin zur lebenslänglichen Verwahrung.
Eigentlich kann damit die Schuld in einer spezialpräventiven Theorie keine ihrer üblichen zwei Funktionen ausüben: Sie ist weder strafbegründend, noch kann sie strafbemessend oder auch nur -beschränkend wirken. Konsequenterweise müsste in einer solchen
Perspektive die Strafe aufgegeben und durch ein reines Massnahmenrecht ersetzt werden.9 Wenn es nur um Verbesserung der Legalprognose geht, hat der Vorwurf für die
begangene Tat ebensowenig Sinn, wie jemandem eine Krankheit vorzuwerfen.10
Zwar könnte man argumentieren, es gehe bei der positiven Spezialprävention um ein
Interesse des Täters, nämlich sein Interesse, gebessert zu werden. Bei genauem Hinsehen
stellt man aber fest, dass das unzutreffend ist:
Selbst in der „Besserungsvariante“ der Spezialprävention geht es ausschliesslich um die
Verbesserung der Legalprognose – um nichts weniger, aber auch nichts mehr. Es geht
7
8
9
FRANZ VON LISZT, Der Zweckgedanke im Strafrecht, Baden-Baden 2002 [1882/1883], S. 42.
Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (StGB; SR 311.0).
So tatsächlich der prominente Neurologe GERHARD ROTH immer wieder einmal. Vgl. dazu MICHAEL
PAUEN/GERHARD ROTH, Freiheit, Schuld und Verantwortung, Frankfurt 2008; ERNST-JOACHIM
LAMPE/MICHAEL PAUEN/GERHARD ROTH (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, Frankfurt
2008; KLAUS-JÜRGEN GRÜN/MICHEL FRIEDMAN/GERHARD ROTH (Hrsg.), Entmoralisierung des
Rechts. Massstäbe der Hirnforschung für das Strafrecht, Göttingen 2008.
10
JESCHECK/WEIGEND (FN 6), S. 75. Vgl. für weitere Kritik an spezialpräventiven Theorien ebenda,
sowie NIGGLI/MAEDER (FN 1), S. 445 f.
303
MARCEL ALEXANDER NIGGLI, STEFAN MAEDER
also nicht darum, einem Täter zu einem guten Leben zu verhelfen11 (im eigentlichen
Sinn geht es überhaupt nicht um den Täter), sondern darum, dass die Gesellschaft nicht
wieder einen Normbruch hinzunehmen braucht. Diese Reaktion ist im Ergebnis rein
gesellschaftsorientiert. Daran ändert nichts, wenn gewisse Modalitäten der staatlichen
Reaktion (wie z.B. die Möglichkeit, eine Ausbildung zu absolvieren, oder eine Suchtbehandlung) auch im Interesse des Normbrechers liegen können, denn sie sind nur Mittel
zum Endzweck einer gesellschaftspolitisch nützlichen Strategie12.
Man könnte sich nun fragen, wie VON LISZT überhaupt darauf kam, Schuld im Sinne von
Vorwerfbarkeit aufzugeben. Die Antwort liegt in seiner Auffassung der menschlichen
Freiheit. Als überzeugter Determinist schrieb er etwa: „Der Verbrecher, der vor uns steht
als Angeklagter oder als Verurteilter, ist also f ü r u n s M e n s c h e n unbedingt und uneingeschränkt unfrei; sein Verbrechen die notwendige, unvermeidliche Wirkung der
gegebenen Bedingungen. Für das Strafrecht gibt es keine andere Grundlage als den
Determinismus. Nochmals sei es, zur Vermeidung der beliebten Missverständnisse, ausdrücklich gesagt: nicht der Determinismus als Weltanschauung, sondern jener Determinismus, der die ausnahmslose Geltung des Kausalgesetzes für unser Denken, also für die
Welt der Erscheinungen behauptet.“13 „Aber das scheint mir einleuchtend zu sein, dass
mein Schuldbegriff (...) mit dem k l a s s i s c h e n Schuldbegriffe absolut nichts zu tun hat.
Denn dieser steht und fällt mit dem Indeterminismus. (...) Mit dem Begriff der Schuld
fällt aber auch der der Ve rg e l t u n g . Für den folgerichtigen Determinismus bleibt einzig
und allein die Z w e c k s t r a f e übrig.“14
Deutlich, ja überdeutlich, wird, dass spezialpräventive Straftheorien sich nicht eigentlich
mit Strafrecht, sondern mit Gefahrenabwehr befassen. So folgert VON LISZT, dass „die
Strafe nichts anderes sein [kann] als ein S c h u t z m i t t e l für die Gesellschaft“15. Dies ist
11
12
13
14
15
Wobei natürlich zu diskutieren wäre, inwiefern der Staat das zwangsweise tun darf. Eine Zwangsbehandlung setzt ein öffentliches Interesse voraus, was eben gerade die Gesellschaftsorientierung der
Spezialprävention aufzeigt; vgl. auch MICHAEL PAWLIK, Staatlicher Strafanspruch und Strafzwecke,
in: Eva Schumann (Hrsg.), Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, 15. Symposium der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“, Berlin/New York 2010, S. 59 ff.,
S. 68.
PAWLIK (FN 11), S. 69.
FRANZ VON LISZT, Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe [1893], in: von Liszt Franz, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Zweiter Band, Berlin 1970 [1905], S. 25 ff., S. 39 (Sperrung im
Original). In diesem Aufsatz entgegnete er v.a. MITTELSTÄDT und MERKEL, die sich als Deterministen bekennen, aber gerade vom deterministischen Standpunkt aus die Zweckstrafe bekämpfen (a.a.O.,
S. 38).
VON LISZT (FN 13), S. 48 (Sperrungen im Original).
VON LISZT (FN 13), S. 52 (Sperrungen im Original). Von Liszt wollte zwar am Tatprinzip festhalten,
aber immerhin erschien ihm dessen Aufgabe nicht als absurde Idee. Allerdings sah er das Tatprinzip
als Grenze der staatlichen Strafgewalt, und wollte die persönliche Freiheit nicht schutzlos der „sozialen Hygiene“ preisgeben (S. 59 ff.). Diese Begründung scheint allerdings eher schwach.
304
jedoch
Die funktionale Stellung der Schuld in absoluten und relativen Straftheorien
– wie eingangs erwähnt – Polizeirecht. Und die Qualifikation als Polizeirecht hat Konsequenzen: Für Eingriffe in die Grundrechte des Einzelnen gelten die bekannten Anforderungen von Art. 36 BV16, die unter anderem die Wahl des mildesten Mittels zur Erreichung des angestrebten Zwecks vorschreiben. Das aber ist gerade nicht Strafrecht. Eigentlich ist schon lange klar, dass der (verwaltungsrechtliche) Satz von der Strafe als
ultima ratio zwar für das Strafrecht als kleines Heiligtum immer wieder vorgetragen
wird. Unzweifelhaft aber dürfte sein, dass er das Strafrecht zu einem Instrument der
Sozial- oder noch schlimmer der Sicherheitspolitik degradiert. Entsprechend bleibt das
Prinzip dem Strafrecht essentiell fremd und kann höchstens als (nur moralisch begründetes) Instrument der Beschränkung der Vielstraferei dienen, nicht aber als essentielles
strafrechtliches Prinzip.
Zugespitzt liesse sich formulieren: Strafrecht und Strafe setzen wesensnotwenig Schuld
voraus (die ihrerseits wiederum ein [vergangenes] Verhalten – begangen durch ein Tun
oder ein Unterlassen – voraussetzt). Das genau ist mit der Maxime nulla poena sine
culpa gemeint. Wo es keine Schuld gibt bzw. ein Schuldvorwurf theorieimmanent keine
Rolle spielt, darf auch keine Strafe im Sinne von Übelszufügung verhängt werden. In
Frage kommen allenfalls nur Grundrechtseingriffe im Rahmen von Art. 36 BV.
2.
Negative Generalprävention
Die Generalprävention in ihrer sog. negativen Variante will bekanntlich dafür sorgen,
dass alle Rechtsunterworfenen durch die Androhung von Strafe derart beeinflusst oder
abgeschreckt werden, dass sie aus Furcht vor Bestrafung allfälligen deliktischen Gelüsten nicht nachgeben. Diese Straftheorie geht auf PAUL JOHANN ANSELM VON FEUERBACH
(1775–1833) zurück, der dies den psychologischen Zwang nannte.17 „Der Zweck der
A n d ro h u n g d e r St r a f e im Gesetz ist Abschreckung Aller als möglicher Beleidiger
vor Rechtsverletzungen.“18
Im Zentrum von FEUERBACHs Theorie steht also die Rechtsgemeinschaft, und nicht etwa
der zu bestrafende Täter. Der muss deshalb bestraft werden, weil ansonsten die Drohung
gegenüber den andern unwirksam würde: „Da das Gesetz alle Bürger abschrecken, die
Vollstreckung aber dem Gesetz Wirkung geben soll, so ist der m i t t e l b a re Zweck (Endzweck) der Zufügung ebenfalls blosse Abschreckung der Bürger d u rc h d a s G e -
16
17
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV; SR 101).
PAUL JOHANN ANSELM VON FEUERBACH, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 11. Aufl., Giessen 1832, § 8 ff.
18
VON FEUERBACH (FN 17), § 16, Sperrung im Original.
305
wesensnotwendig
MARCEL ALEXANDER NIGGLI, STEFAN MAEDER
s e t z .“19 Bestrafung des Einzelnen hat also keinen anderen Zweck, als die Abschreckungswirkung den anderen gegenüber aufrechtzuerhalten.
Das bedeutet, dass bei der Frage, wer zu bestrafen sei und wie diese Strafe zuzumessen
sei, nur die Abschreckung den Massstab bildet. Eine rein negativ-generalpräventiv orientierte Theorie kommt dementsprechend ohne Schuldprinzip im Sinne von strafbegründender und strafbegrenzender Vorwerfbarkeit aus: Strafe muss dort verhängt werden, wo
sie zur gewünschten Abschreckung notwendig ist, und so hoch (oder niedrig), dass die
beste Abschreckungswirkung erzielt wird.20
Das allerdings birgt Gefahren: Unklar ist etwa, wie bei einem Einzelfall festgestellt werden könnte, was denn nun an Strafe zum Erreichen der gewünschten Abschreckungswirkung notwendig sei. Entsprechend wären Strafart und -mass nicht rechtsintern, sondern
extern nach (sozial-)psychologischen Bewertungen festzulegen: Nicht die normative
Überlegung, was einer Person für eine bestimmte Tat an Strafe gebührt, sondern die
kognitive, wie man die gewünschte Furcht erregt.21 Die Schwere der Tatschuld ist für
eine solche Abschreckungstheorie funktionslos.22 Nicht zuletzt deshalb könnte man der
Meinung sein, möglichst harte Strafen (selbst für geringfügigste Delikte) erzielten die
grösste Abschreckungswirkung und man würde sie auch entsprechend verhängen. Von
CHRISTIAN WOLFF (1679–1754) auf den Punkt gebracht, wird die Unverhältnismässigkeit offensichtlich23: „Wenn der Diebstahl nicht sehr gemein ist, sondern in vieler Zeit
kaum etwas davon gehöret wird; so kann man mit einer geringeren, als einer LebensStraffe zufrieden seyn: hingegen wo viele sich auf das Stehlen legen und die gelinden
Straffen nicht mehr zureichen wollen dem Übel zu steuren, da muss man bis an das Leben kommen. Ja wenn man sich auch an die übliche Lebens-Straffe nicht mehr kehret; so
19
20
VON FEUERBACH (FN 17), § 16, Sperrungen im Original.
Dem Kantianer VON FEUERBACH war diese Problematik offenbar auch bewusst, rekurrierte er doch
zur Strafbegründung gegenüber dem Täter und bezüglich Strafzumessung auf die Vergangenheit und
damit auf absolute Positionen, vgl. dazu MARCEL ALEXANDER NIGGLI/STEFAN MAEDER, Philosophie
des Schweizerischen Strafvollzugs – Eine Success-Story unter politischem Druck, in: Nicolas Queloz
et al. (Hrsg.), Druck der Öffentlichkeit auf die Gefängnisse: Sicherheit um jeden Preis? Pressions publiques sur les prisons: la sécurité à tout prix?, Bern 2011, S. 173 ff., S. 191 ff.
21
GÜNTHER JAKOBS, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, Paderborn 2004, S. 9 f.
22
URS KINDHÄUSER, Schuld und Strafe. Zur Diskussion um ein „Feindstrafrecht“, in: Thomas Vormbaum (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, Berlin 2009, 63 ff., 65. Vgl. auch FRANZ STRENG, Schuld
ohne Freiheit?, ZStW 101, 273 ff., 285: „Das die Strafhöhe limitierende Schuldprinzip steht demzufolge einem konsequent abschreckenden Strafrechtssystem im Wege.“
23
FRANZ RIKLIN, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, Verbrechenslehre, 3. Aufl., Zürich
u.a. 2007, § 5 N 44: „Terrorjustiz“; gl.M. CLAUS ROXIN, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl.,
München 2006, § 3 N 32.
306
Die funktionale Stellung der Schuld in absoluten und relativen Straftheorien
muss man eine härtere setzen. Z.B. Wenn die Diebe sich nicht mehr vor dem Strange
fürchten, wäre es nicht unrecht, wenn man sie mit dem Rade verfolgete.“24
Zu bedenken ist weiter, dass mit negativer Generalprävention als Strafzweck gegen latente Verbrechensneigungen Dritter vorgegangen wird, die der konkrete Täter aber nicht
zu verantworten hat. Anlässlich seines Delikts wird ihm eine Strafe nicht dafür zugefügt,
was er zu verantworten hat, sondern dafür, was mit dieser Strafe bei anderen erreicht
werden kann. Er wird als Mittel zum Zweck verwendet und für etwas bestraft, wofür er
nichts kann.25, 26
Der Einwand, der üblicherweise gegen diese Bedenken vorgebracht wird, lautet bei
JESCHECK/WEIGEND – stellvertretend für viele andere –: „In Wahrheit ist es aber nicht
die möglichst strenge, sondern die im Verhältnis zum Unrechtsgehalt der Tat und zu
Schuld des Täters möglichst gerechte Strafe, die im Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit
als „sittenbildende Kraft“ wirken kann. Die Generalprävention als Mittel einer blossen
Einschüchterung stiftet mehr Schaden als Nutzen.“27 Genau besehen beschlägt nur der
letzte Satz die negative Generalprävention, und diesem Satz ist zweifellos zuzustimmen.
Der erste Teil des Zitats betrifft jedoch die „sittenbildende“ Kraft der Prävention, und das
führt uns zur letzten Präventionsvariante, zur positiven Generalprävention.28
3.
Positive Generalprävention
Bisherig haben wir feststellen können, dass retrospektive Schuld weder bei der negativen
Generalprävention (Abschreckung) noch bei der positiven Spezialprävention (Resozialisierung) eine notwendige Funktion inne hat. Die positive Generalprävention nun – die
24
25
26
27
28
CHRISTIAN WOLFF, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und
insonderheit dem gemeinen Wesen zu Beförderung der Glücksseligkeit des menschlichen Geschlechtes, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, 4. Aufl., Frankfurt/Leipzig 1736, § 344.
Vgl. JAKOBS (FN 21), S. 36.
Zu bedenken ist auch, dass der einzelne Täter rein egoistisch kalkuliert ein Interesse an der Durchsetzung der strafrechtlich sanktionierten Normen gegenüber anderen, aber nicht gegenüber sich selber
hat. Für ihn ist das sog. Trittbrettfahren günstig. Gewisse Erklärungsmodelle suchen die negative Generalprävention gegenüber dem Bestraften dadurch zu legitimieren, dass seine Bestrafung auch in
seinem klugen und reflektierten Eigeninteresse liege, da er kein Interesse an den destruktiven Konsequenzen einer allgemeinen Praxis des Trittbrettfahrens habe. PAWLIK weist zurecht darauf hin, dass
dieses Modell dort versagt, wo die Strafe schwerer wiegt als der durch die Entmutigung von anderen
Trittbrettfahrern erzielte Sicherheitsgewinn für den Täter. Ausserdem ist es von vornherein unrealistisch, eine allgemeine Praxis des Trittbrettfahrens anzunehmen. Der Täter hat entsprechend keinen
Anlass, seiner Bestrafung zuzustimmen. Vgl. PAWLIK (FN 11), S. 64 f.; sowie MICHAEL PAWLIK,
Person, Subjekt, Bürger. Zur Legitimation von Strafe, Berlin 2004, S. 23 ff.
JESCHECK/WEIGEND (FN 6), S. 75.
S.a. STRENG (FN 22), S. 292.
307
zur
MARCEL ALEXANDER NIGGLI, STEFAN MAEDER
sich in der aktuellen Diskussion um Strafzwecke grosser Beliebtheit erfreut – sucht (zumindest nach Teilen der Lehre) folgende Wirkungen zu erzielen:
durch die Tätigkeit der Strafjustiz soll ein sozialpädagogischer Lerneffekt bei der Bevölkerung stattfinden;
durch die sichtbare Durchsetzung des Rechts soll bei der Bevölkerung ein Vertrauenseffekt erzielt werden; und
ein Befriedungseffekt soll einsetzen, wenn sich das allgemeine Rechtsbewusstsein aufgrund der strafrechtlichen Reaktion beruhigt und der Konflikt mit dem Täter als erledigt
betrachtet wird.29
Entsprechend ihrer Zielsetzung hat sich auch die Bezeichnung „Integrationsprävention“
eingebürgert,30 allerdings bleiben wir hier zur klaren Trennung von den andern Präventionsvarianten beim im Abschnittstitel genannten Begriff.
Die Vertreter der positiven Generalprävention haben den traditionellen retrospektiven
Schuldbegriff umgearbeitet, wobei der bekannteste Vertreter des sog. funktionalen
Schuldbegriffs wohl JAKOBS sein dürfte. Wir werden uns im Folgenden auf seine Theorie
beschränken müssen, um den Rahmen dieses Beitrages nicht zu sprengen.
Mit JAKOBS’ Worten ist das Ziel des Strafrechts Folgendes: „Es geht im Strafrecht nicht
primär um Verbrechensverhütung – darum soll sich hauptsächlich die Polizei kümmern –
, vielmehr um eine Reaktion auf das Verbrechen, die sicherstellt, dass die Rechtstreue als
selbstverständliche Haltung der Mehrzahl aller Personen erhalten bleibt und potentielle
Opfer deshalb gewiss sein können, ihre Rechte nicht nur ausüben zu dürfen, sondern
auch unbeschadet ausüben zu können, jedenfalls soweit sie sich nicht an den Rand der
Gesellschaft begeben. Adressaten der Strafe sind also nicht nur und nicht einmal in
erster Linie der jeweilige Täter und bereits tatgeneigte andere Verbrecher, sondern die
rechtstreuen Personen (...): Sie sollen ihre Rechtstreue und ihr Normvertrauen behalten.“31
Daraus lässt sich entnehmen, dass das Normvertrauen einerseits eine normative, und
andererseits eine kognitive Komponente hat. Wenn der Staat auf den Normbruch reagiert,
beweist dies die fortdauernde Geltung der Norm. Allerdings nützt es wenig, wenn die
potentiellen Opfer nebst der normativen Gewissheit ihrer Rechte, nicht auch kognitiv
erwarten, dass sie diese ausüben können bzw. sich andere an die Normen halten.32 Der
Zweck der Strafe geht über die normative Komponente (wofür eine Reaktion des Staates
29
30
31
32
ROXIN (FN 23), § 3 N 27.
Z.B. STRENG (FN 22), S. 286.
JAKOBS (FN 21), S. 31.
JAKOBS (FN 21), S. 28 f.
308
Die funktionale Stellung der Schuld in absoluten und relativen Straftheorien
ohne Zufügung des Strafschmerzes eigentlich ausreichen würde) hinaus: die „Erhaltung
der kognitiven Seite der Normgeltung ist der Zweck der Strafe, nach diesem Zweck ist
das Strafmass zu bestimmen (...).“33
Die Strafe ist also nicht so zuzumessen, dass dem Täter wiederfahre, was seine Taten
wert sind,34 sondern danach, wie stark die Tat sozial beunruhigt.35 Das ist eigentlich
selbstverständlich, denn die Strafe will ja in der positiven Generalprävention gerade auf
die Allgemeinheit wirken, und muss nach deren Bedürfnissen zugemessen werden. Damit ist auch gesagt, dass sich die Strafzumessungsschuld nicht rückblickend auf die Tat
bezieht, sondern auf deren „Erfolg“ im Sinne von Normgefährdung (deshalb eben auch
Präventionstheorie).
JAKOBS fügt aber einschränkend bei, dass die Strafe nur diejenige Gefährdung der
Normgeltung beseitigen darf, die der Normbrecher durch seine Tat zurechenbar geschaffen, oder mit anderen Worten verschuldet hat. Diese Verantwortlichkeit für die Normgefährdung ist die Legitimation, ihn zu strafen. Die Strafe ist also so zuzumessen, dass
genau der durch die Tat gefährdete Status quo der Normgeltung gesichert wird. Mehr
oder weniger ist nicht zulässig, insbesondere die Beeinflussung von anderen, dritten
Tatgeneigten, deren Neigung nicht auf die konkret zu beurteilende Straftat zurückzuführen ist, wäre unzulässig. Anders gesagt: Der Täter muss den von ihm verursachten Schaden ersetzen, indem er soviel Strafe erleidet, dass die von ihm zu verantwortende Normgefährdung ausgeglichen wird, aber nicht mehr. Mehr würde heissen, ihn als Mittel zur
Gesellschaftspolitik zu missbrauchen.36
Schuld wird in dieser Konzeption also über die Funktion der Strafe bestimmt.37 Noch
einmal mit den Worten JAKOBS: „Der Schuldbegriff ist deshalb funktional zu bilden, d.h.
als Begriff, der eine Regelungsleistung nach einer bestimmten Regelungsmaxime (nach
den Erfordernissen des Strafzwecks) für eine Gesellschaft bestimmter Verfassung erbringt.“38 Das Schuldprinzip wird nicht als Begrenzung der positiven Generalprävention
verstanden, sondern als ihr Derivat.39 Schuld wird danach bemessen, was für die „Ein-
33
34
35
36
37
38
39
JAKOBS (FN 21), S. 30.
IMMANUEL KANT, Die Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Werke
in sechs Bänden, Bd. IV Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, 5. Aufl., Darmstadt 1983
[1797/1798], S. 455.
JAKOBS (FN 21), S. 32.
JAKOBS (FN 21), S. 33 f.
JOHANNES WESSELS/WERNER BEULKE, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Die Straftat und ihr Aufbau, 39.
Aufl., Heidelberg u.a. 2009, N 408.
GÜNTHER JAKOBS, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 2. Aufl.,
Berlin/New York 1993, 17. Abschn. N 22.
JAKOBS (FN 38), 1. Abschn. N 34.
309
MARCEL ALEXANDER NIGGLI, STEFAN MAEDER
übung der Rechtstreue“ notwendig ist und ist reine Zuschreibung, welche die Fähigkeiten des Täters unberücksichtigt lässt.40, 41
Diese Konzeption eines funktionalistischen Schuldverständnisses führt zu merkwürdigen
Konsequenzen. Das zeigt sich etwa beim Umgang mit psychisch anormalen Delinquenten. STRENG ist der Ansicht, dass mittels positiver Generalprävention der Straflosigkeit
„der Weg gebahnt [wird], soweit die Bestrafung solcher Täter als ungerecht – d.h. nicht
der Stabilisierung der verinnerlichten Normen des Urteilenden dienend – erscheint;
mangels Strafbedürfnis treten dann andere Aspekte, wie Sicherungsbedürfnisse oder aber
Mitleid und Hilfsbereitschaft in den Vordergrund.“42 Es geht nicht um den Täter. Gerecht
soll sein, was der Normstabilisierung dient, der Einzelne ist bloss Objekt.43
Ein funktionalistischer Schuldbegriff wird vollständig manipulierbar, weil er sich nur auf
Präventionsbedürfnisse stützen kann. Seine Garantie- und Schutzfunktion für den Normbrecher hingegen gibt er auf.44
Konsequenterweise bedeutet diese Schuldkonzeption auch, dass dort kein Schuldvorwurf
zu machen und keine Strafe zu verhängen ist, wo die Normgeltung nicht in Gefahr gebracht wird. Das widerspricht aber zumindest dem allgemeinen Rechtsgefühl. WALTER
etwa weist zurecht darauf hin, dass die positive Generalprävention nicht zu legitimieren
vermag, weshalb NS-Täter auch Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches
und bis heute bestraft werden sollten oder dürften: Normen, die in den Konzentrationslagern missachtet wurden, bedürften keiner Bestärkung. Obwohl tausende Männer an den
Verbrechen beteiligt waren, hätten sie wohl kaum allgemein dem Tötungsverbot des
deutschen Rechts die Gültigkeit abgesprochen. Entscheidend war vielmehr, dass die
Opfer der Nazis aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen waren. Für eine Rechtsgemeinschaft gilt aber über Kultur- und Zeitgrenzen hinweg, dass die Bestrafung eines
Mörders nicht erforderlich ist, um das Tötungsverbot zu bekräftigen.45 Ganz offensichtlich ist es nicht hinnehmbar, dass überführte NS-Täter nicht bestraft werden. Die Legiti-
40
41
42
43
ROXIN (FN 23), § 7 N 30.
Entsprechend ist JAKOBS’ Theorie auch von der Frage nach der Willensfreiheit unbetroffen.
STRENG (FN 22), S. 293.
Ganz abgesehen davon bestehen doch erhebliche Zweifel, ob das Publikum gegenüber einem im
traditionellen Sinne schuldunfähigen Täter, der bspw. ein Sexual- oder Tötungsdelikt begeht, kein
Strafbedürfnis hat. Insbesondere das verbreitete Auftreten von Mitleid und Hilfsbereitschaft würde –
zumindest uns – zwar freuen, aber gleichzeitig doch ziemlich überraschen.
44
HANS JOACHIM HIRSCH, Das Schuldprinzip und seine Funktion im Strafrecht, in: ZStW (106) 1994,
S. 746 ff., 753; ROXIN (FN 23), § 19 N 34 f.
45
TONIO WALTER, Vergeltung als Strafzweck. Prävention und Resozialisierung als Pflichten der Kriminalpolitik, in: ZIS 2011, S. 636 ff., 644. WALTER sieht zurecht in diesem Ausschluss, der den
Massakern der Weltgeschichte stets vorausgegangen ist, eine Gefahr des Feindstrafrechts (a.a.O).
310
Die funktionale Stellung der Schuld in absoluten und relativen Straftheorien
mation dafür kann sich aber ebenso offensichtlich nicht auf die positive Generalprävention (und auch nicht auf die anderen Präventionsvarianten) stützen.46
Damit ist gezeigt, dass ein funktionaler Schuldbegriff (zumindest im Alleingang) als
Strafbegründungsschuld nicht ausreichen kann, auch wenn er – im Unterschied zu den
anderen Präventionstheorien – die Strafe von der individuellen Verantwortlichkeit nicht
vollständig entkoppeln vermag. Obwohl hier (immerhin) nur für die vom Täter zu verantwortende Gefährdung von Normgeltung Strafe zu verhängen ist, bleibt die Schuld
primär gesellschaftsabhängig. Ob und in welchem Umfang eine Tat eine Norm ins Wanken bringt, hängt nicht von der Tat selbst ab, sondern vornehmlich von der jeweiligen
Gesellschaft: Eine stabile Gesellschaft wird weniger leicht erschüttert als eine instabile.
Was an Strafe notwendig ist, hängt also von der Gesellschaft alleine ab, genauer gesagt
von ihrem kognitiven Normvertrauen. Insofern ist die Schuld hier – sei es zur Strafbegründung, sei es zur Strafzumessung – nicht individuell, sondern gesellschaftsorientiert.
4.
Zwischenergebnis: Keine individualisierte Schuld
Präventionstheorien, die auf die Verhinderung künftiger Delikte oder auf die prospektive
Normstabilisierung abzielen, lösen die Verbindung von individueller Schuld und individualisierter Strafe. Schuld kann bei solchen Theorien allenfalls als formale Voraussetzung verlangt werden, theorieimmanent ist sie aber nicht. Sie liefert Grund und Begrenzung der Strafe höchstens formal.47, 48
Dieses Problem – und es ist ein Problem, wie wir gleich aufzeigen werden – ist nicht
lösbar, wenn das Delikt selbst nicht Grund und Grenze der Strafe liefert, also Strafe an
Schuld bloss formell, und nicht inhaltlich geknüpft ist.49 Die gesellschaftsorientierte,
nichtindividualistische Strafe führt im Ergebnis dazu, dass der Einzelne als Instrument
oder Objekt zur Erreichung von gesellschaftlichen Wünschen gebraucht und seiner Menschenwürde (durchaus im kantischen Sinne50) tangiert wird.
in
46
47
48
49
50
JAKOBS würde dieses Problem vermutlich dahingehend zu lösen versuchen, dass er die Verfolgung
solcher Verbrechen nicht als Normerhaltung, sondern als Normbegründung verstände (vgl. JAKOBS
[FN 21], S. 47 f.). Dies kann jedenfalls bei NS-Verbrecherprozessen, die sich in gewissem zeitlichen
Abstand zum Ende des Dritten Reiches befinden nicht richtig sein.
Bezüglich Spezial- und negativer Generalprävention KINDHÄUSER (FN 22), S. 65.
Dies dürfte wohl auch für die sog. Vereinigungstheorien gelten, die im Prinzip gar keine eigene
Theorie aufstellen, sondern den Kern der einen oder andern Theorie formell mit Aspekten aus dem
Gegenstück ergänzen.
Vgl. auch KINDHÄUSER (FN 22), S. 65.
IMMANUEL KANT, Die Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre,
Werke in sechs Bänden, Bd. IV Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, 5. Aufl., Darmstadt
1983 [1797], S. 569: “Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-
311
MARCEL ALEXANDER NIGGLI, STEFAN MAEDER
Diese Instrumentalisierung ist für das Individuum freiheitsbedrohend. Berühmt ist KANTs
Formulierung: „R i c h t e r l i c h e St r a f e (...) kann niemals bloss als Mittel, ein anderes
Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muss jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, w e i l e r v e r b ro c h e n h a t ;
denn der Mensch kann nie bloss als Mittel zu den Absichten eines anderer gehandhabt
und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt, ob er gleich die bürgerliche einzubüssen gar wohl verurteilt werden kann. Er muss vorher s t r a f b a r befunden sein, ehe noch daran gedacht
wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen.“51
Selbst die positive Generalprävention kann sich dieser Problematik nicht vollständig
entziehen. Der funktionale Schuldbegriff knüpft zwar daran an, dass die Normgefährdung vom Täter zu verantworten sein muss. Diesbezüglich besteht also ein Konnex zwischen Tat und Reaktion, der über ein Einschreiten bloss anlässlich einer Straftat hinausgeht. Aber –: Das Mass der Reaktion wird nicht dadurch bestimmt, was die „Taten wert
sind“52, sondern kognitiv danach, was die gewünschte Erwartungshaltung der potentiellen Opfer53 zu stabilisieren vermag. Insofern wird der Straftäter zumindest bei der Zumessung der Strafe instrumentalisiert, letztlich mit dem (eigentlich polizeirechtlichen)
Ziel, eine Gefahr (für die Norm) abzuwenden. Auch bleibt völlig unklar, welche Strafe in
einem konkreten Fall notwendig ist, um das Normvertrauen der Öffentlichkeit wieder zu
stabilisieren.54 Beispielsweise müsste dem überführten Fahrraddieb eigentlich erklärt
werden können, weshalb es für die kognitive Seite der Normgeltung wichtig sei, dass er
bestraft werde. Das aber dürfte einigermassen schwierig sein: Laut der polizeilichen
Kriminalstatistik ergingen im Jahr 2010 41'953 Verzeigungen wegen Fahrraddiebstahls
bzw. -entwendung, die Aufklärungsquote betrug bloss 1.6%.55
51
52
53
54
55
praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er
nicht bloss als Mittel zu anderen ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich
selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine W ü r d e (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen A c h t u n g für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen
und auf den Fuss der Gleichheit schätzen kann.”
KANT (FN 34), S. 453.
KANT (FN 34), S. 455.
JAKOBS’ Einteilung in Verbrecher, Feinde und Rechtstreue erscheint uns grundsätzlich nicht haltbar,
doch kann dies an dieser Stelle nicht vertieft werden. Vgl. bezüglich Feindstrafrecht etwa THOMAS
VORMBAUM (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, Berlin 2009.
So auch ROXIN (FN 23); § 19 N 35, der a.a.O. ausserdem zurecht darauf hinweist: „Denn es kann
dem „Ordnungsvertrauen“ des Bürgers nicht dienlich sein, wenn er sich sagen muss, dass ggf. Bejahung oder Verneinung seiner Schuld nicht von seiner Person, sondern von Faktoren abhängt, die mit
ihm nichts zu tun haben, so dass er zum Spielball der jeweiligen Umstände wird.“
http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/19/03/02/key/02/07.html.
312
Die funktionale Stellung der Schuld in absoluten und relativen Straftheorien
Wenn JAKOBS der Vergeltungsstrafe vorwirft, sie sei „entweder eine verkappte zweckentsprechende Strafe – dann hat sie ein Mass, aber dient eben nicht dem reinen Schuldausgleich –, oder sie bleibt zweckfrei und damit mangels jeder Verbindung zu quantifizierbaren Interessen im wörtlichen Sinne masslos“56, muss ihn entgegnet werden, dass auch
die Gefährdung der Normgeltung durch ein spezifisches Delikt nicht messbar, quantifizierbar und umrechenbar in Geld- oder Freiheitsstrafe ist.57 Insofern ist mit dem Konzept
der Normgeltung gar nichts gewonnen.58
Die Strafe mag natürlich gewisse – möglicherweise durchaus willkommene – Begleiterscheinungen haben, wie beispielsweise Abschreckung im Sinne der negativen59 oder
eben Normstabilisierung bzw. Erwartungssicherung im Sinne der positiven Generalprävention. Deshalb sind wir ja auch zum Schluss gelangen, dass wenn das Strafrecht qua
Strafrecht tatsächlich etwas schützt, es höchstens unsere Erwartungen bzw. das Vertrauen
in die Rechtsregeln oder die Rechtsordnung als Ganzes sein können.60
Nur hilft uns das für die Legitimation der Strafe nicht weiter. Positive Generalprävention
erklärt aus systemexterner Perspektive die Funktion und Funktionsweise des Strafrechts
in der Gesellschaft.61 Wie jede Systemtheorie ist sie deskriptiv orientiert und befasst sich
mit unseren Eingangs aufgestellten Fragen 2 und vor allem 3, also den Fragen nach
Effekt und Zweck der Strafe. Dagegen ist wenig einzuwenden. Eine Straftheorie (die
über das blosse Beschreiben hinauskommen will) muss sich aber auch mit dem Grund
der Strafe beschäftigen, also mit unserer Frage 1. Denn dort liegt der Kern der Legitimationsproblematik. Insofern sich die Lehre von der positiven Generalprävention überhaupt
damit befasst, greifen die erwähnten Einwände. Die Präventionstheorie ist (in allen ihrem
Varianten) deshalb unseres Erachtens als Straftheorie zum Scheitern verurteilt, oder
deutlicher: gescheitert.
C.
Absolute Straftheorien
Absolute Straftheorien haben sich in der Vergangenheit einen schlechten Ruf erworben.
Ihnen wird etwa vorgeworfen, sie seien bloss metaphysisch und nicht rational-empirisch
56
57
58
JAKOBS (FN 21), S. 17.
Gl.M. WESSELS/BEULKE (FN 37), N 408a.
Die Vorstellung der Kriminalität als Normgefährdung dürfte auch zu der in der deutschen Lehre
vertretenen Unterscheidung von Kriminal- und Verwaltungsunrecht passen, vgl. dazu krit. MARCEL
ALEXANDER NIGGLI/CHRISTOF RIEDO, Kommentar zu Vor Art. 49a, in: Marc Amstutz/Mani Reinert
(Hrsg.), Basler Kommentar: Kartellgesetz, Basel 2010, insbes. N 25 ff.
59
Vgl. PAWLIK (FN 11), S. 68.
60
NIGGLI/MAEDER (FN 1), S. 454 f.
61
PAWLIK (FN 11), S. 75 f.; gl.M. auch HIRSCH (FN 44), S. 752 f.
313
gelangt
ihren
MARCEL ALEXANDER NIGGLI, STEFAN MAEDER
überprüfbar, eine entwickelte Ethik könne nicht nur Übles mit Üblem vergelten, das
Vergeltungsprinzip kenne inhaltlich keine Schranken (weder nach Objekt noch nach
Mass) und müsse letztlich zum Talionsprinzip „Auge-um-Auge“ zurückführen, und
schliesslich: sie leisteten nichts für den Schutz des Zusammenlebens.62
In letzter Zeit scheint indes die Retribution wieder mehr in den Fokus zu rücken. So
vertritt bspw. PAWLIK eine moderne, auf HEGEL aufbauende und gut begründete retributive Straftheorie63, und zuletzt hat WALTER einen Betrag zur Rehabilitierung der Vergeltung als Strafzweck nicht anhand rechtsphilosophischer, sondern empirischer Untersuchungen der Vergeltungsbedürfnisse der Menschen veröffentlicht.64
Es kann an dieser Stelle nicht um einen Versuch gehen, den Schulenstreit zu entscheiden,
sondern einzig um die Frage nach der Rolle der Schuld. An Vergeltung orientierte Straftheorien blicken wie erwähnt in die Vergangenheit und auf das Delikt. Gestraft wird, weil
ein Übel gesetzt wurde, das es auszugleichen gilt. Dem Schuldigen soll für seine Tat
Gerechtigkeit widerfahren.65
Entsprechend auch die Perspektive: Schuld blickt in die Vergangenheit, auf die Tat. Sie
ist individualistisch ausgeprägt. Ziel ist nicht, Interessen der Gesellschaft zu wahren,
indem etwa der Täter auf Wohlverhalten abgerichtet oder mittels seines Exempels andere
eingeschüchtert werden sollen. Schuldbezogene Strafe bezweckt auch keine Normstabilisierung (jedenfalls nicht direkt). Im Zentrum steht nicht die Gesellschaft, sondern das
Individuum. Denn wenn dem Täter – um es erneut mit KANT zu sagen – das widerfährt,
was seine Taten wert sind,66 dann lässt sich das nicht alleine aus gesellschaftlichen Interessen und Wertungen herleiten (etwa aus dem verwirklichten Erfolg der deliktischen
Handlung oder der Bedeutung des verletzten Rechtsgutes). Das ergibt sich schon alleine
aus dem Begriff der Handlung: Wollte man nämlich den Täter ignorieren, handelte es
sich eben nicht mehr um die Bewertung einer „Tat“ (das Verhalten eines Einzelnen, des
Täters), sondern um diejenige eines (autorlosen) Vorkommnisses, eines Ereignisses, in
62
63
64
65
66
Vgl. die in der ersten Auflage des Lehrbuches von NOLL vertretene Auffassung, wiedergegeben in
STEFAN TRECHSEL / PETER NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, Allgemeine Voraussetzungen der Strafbarkeit, 6. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2004, S. 20; s. statt vieler auch die Kritiken bei JESCHECK/WEIGEND (FN 6), S. 71 oder ROXIN (FN 23), § 3 N 8 ff. Vgl. auch CLAUS ROXIN,
Zur Problematik des Schuldstrafrechts, in: ZStW (96) 1984, S. 641 ff., S. 644: „Unhaltbar ist aber
auch der weitere Gedanke, dass die Strafe die Aufgabe haben könnte, die Schuld des Täters auszugleichen.“
Vgl. PAWLIK (FN 11), S. 78 ff. (mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts) sowie PAWLIK (FN 26), insbes. S. 75 ff.
WALTER (FN 45).
Selbstverständlich gibt es auch innerhalb der Vergeltungstheorien unterschiedliche Ausprägungen, so
sieht z.B. PAWLIK (FN 11), v.a. S. 84 ff., die Legitimation der Strafe in einer Mitwirkungspflichtverletzung.
FN 34.
314
Die funktionale Stellung der Schuld in absoluten und relativen Straftheorien
das der Täter nur (mehr oder weniger zufällig) involviert ist. Erst die Zuschreibung eines
Vorganges zu einer Person lässt aus dem Ereignis eine Handlung werden. Und um eine
Zuschreibung handelt es sich, weil es keine natürlichen, quasi gottgegebene oder selbsterklärende Bezüge von Ereignissen und Personen gibt. Das gilt selbst dort, wo physisch
zweifelsfrei Bezüge bestehen: Man denke an einen stürzenden Menschen, der eine Blume zerdrückt (war er lebendig, bei Bewusstsein, unachtsam, wurde er gestossen, verletzt
etc.). Um den „Wert“ einer „Tat“ zu ermitteln, ist also immer auch der Täter, der Einzelne in Betracht zu ziehen, gerade weil er – nur er – Täter ist, nicht seine Eltern, Geschwister, Freunde oder Nachbarn, gehandelt hat (oder jedenfalls sein Verhalten zur Diskussion
steht), gerade weil eine Tat beurteilt wird, nicht ein Vorkommnis.
Aus der Orientierung auf das Individuum ergibt sich auch unmittelbar die primäre Funktion des Schuldbegriffs. Prima vista scheint diese Funktion in der Strafbegründung zu
liegen, tatsächlich aber besteht sie in der Strafbegrenzung, also dem Schutz des Einzelnen.67 Wie die vorstehenden Ausführungen haben deutlich werden lassen, braucht eine
relative (präventionsorientierte) Straftheorie zu ihrer Legitimation überhaupt keinen
Konnex zur Schuld. Auch in einer absoluten Perspektive ist es nicht die Schuld, die
Strafe begründet. Diese Legitimation lässt sich problemlos mit dem Begriff der „Handlung“ erreichen. Wenn die Vorstellung vom Individuum überhaupt Sinn haben soll, so
haben wir einzustehen für das, was wir sind, was wir tun, und – ja, auch für das, was uns
zustösst.68 Denn all das definiert uns, macht uns aus, sind wir. Das Konzept der Schuld
ist dazu nicht notwendig. Schuld aber fungiert als Strafbegrenzung, als Begrenzung
dessen, was uns zugerechnet wird, was als unsere „Handlung“ gelten soll. Im Ergebnis
ist Schuld in einer absoluten Straftheorie also ein freiheitliches, liberales69 Prinzip, das
den Einzelnen als Subjekt wahr- und ernst nimmt.
II.
Fazit: Absolute und positiv-generalpräventive
Theorien
Worin also besteht der Unterschied zwischen einer absoluten Position und einer positiv
generalpräventiven? Einfach gesagt sind es zwei Differenzierungsachsen:
67
68
HIRSCH (FN 44), S. 759.
So völlig korrekt der leider ganz vergessene Schriftsteller JOHANNES URZIDIL: „Nicht nur für das,
was wir tun, auch für das, was uns zustösst, sind wir verantwortlich, und mehr noch als unsere Taten
setzen uns unsere verfehlten Nachgiebigkeiten herab.“ in der Erzählung „Repetent Bäumel“, zu finden in: J. URZIDIL, Die verlorene Geliebte, Zürich 1956, 181 f.
69
CLAUS ROXIN, Zur Problematik des Schuldstrafrechts, in: ZStW (96) 1984, S. 641 ff., S. 642.
315
S. 181 f.
MARCEL ALEXANDER NIGGLI, STEFAN MAEDER
(1) Anders als eine positiv generalpräventive Perspektive, zielt eine absolute Position
nicht auf die Gesellschaft, sondern das Individuum. Der Täter ist nicht bloss Anlass der
Aktualisierung einer wie immer gearteten Sozialpolitik, nicht Instrument oder Mittel
einer auf die Allgemeinheit zielenden Reaktion, vielmehr wird er in eigenem Recht
wahrgenommen.
Eine absolute Position ist damit wesentlich eine metaphysische (auf nichts direkt Messbares gerichtete), die auf Gerechtigkeit zielt (sowohl Gerechtigkeit als auch Individuum
erscheinen als metaphysische Grössen). Präventionsorientierte Ansätze könnte man
dieser Dichotomie entsprechend als „physisch“ bezeichnen, weil sie auf die messbare
Wirklichkeit gerichtet sind.
(2) Während positive Generalprävention Normstabilisierung anstrebt, zielt eine absolute
Position auf Ausgleich, auf Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist v.a. Gleichheit, wie RAD70
BRUCH völlig korrekt feststellt. Weil der Täter eine Regel verletzt, die andere respektieren, gilt es, Ausgleich zu finden und herzustellen. Wollen absolute Theorien also Gerechtigkeit, so umgekehrt relative kriminalitätsfreie Gesellschaft.
Insofern als Gerechtigkeit angestrebt wird, ist auch Vergeltung als „absolute“ Position
nicht gänzlich absolut (losgelöst). Denn auch Gerechtigkeit dient der gesellschaftlichen
Stabilisierung bzw. der Normstabilisierung (analog der positiven Generalprävention), ist
doch eine „gerechte“ Gesellschaft stabiler als eine ungerechte, ebenso wie als gerecht
empfundene Normen eher befolgt werden als ungerechte.
Mit diesen beiden Achsen Gerechtigkeit vs. Norm- bzw. Gesellschaftsstabilisierung
einerseits und Individuum vs. Gesellschaft andererseits ist das Problem umrissen. Solange sich Strafrecht mit „Taten“ befasst, Verhalten von Einzelnen, muss es auf das Individuum orientiert bleiben, auch wenn es (beliebige) gesellschaftliche Ziele verfolgt. Und
solange es auf das Individuum orientiert bleibt, muss die Schuld im Zentrum stehen oder
Strafrecht muss untergehen. Das ist denn auch, was gegenwärtig zu beobachten ist: Die
zunehmend verbreitete Position, nach welcher der Einzelne zum gesellschaftlichen Wohle eben gewisse (auch massivste) Eingriffe hinzunehmen habe. Dabei wird – ganz merkwürdiger- und tatsachenwidrigerweise – die zunehmende Punitivität fast ausnahmslos
über die Sicherheit, also das gesellschaftliche Wohl bzw. die konkrete, physische Wirkung legitimiert, die mit der bzw. mehr Strafe zu erreichen sei, obwohl dies einerseits mit
Strafe überhaupt nichts zu tun hat und andererseits damit auch nicht zu erreichen ist. Vor
alle dem bewahrt uns – wenn überhaupt – nur die Schuld. Schuld ist dabei nicht eine
messbare (physische oder psychische) Grösse, die über Empirie eruiert und fixiert werden könnte, oder die gar von der Willensfreiheit abhinge (auch wenn das in der neueren
70
GUSTAV RADBRUCH, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in GUSTAV RADBRUCH,
Rechtsphilosophie, Studienausgabe, Heidelberg 2003, S. 211 ff., S. 216.
316
Die funktionale Stellung der Schuld in absoluten und relativen Straftheorien
neurologischen Diskussion immer wieder unterstellt wird). Vielmehr ist sie eine gesellschaftlich notwendige Fiktion, ein Konstrukt (einzig hier ergibt sich der Konnex zur
Gesellschaft und ihren Bedingungen). All dies wusste bemerkenswerterweise bereits
ERNST THEODOR AMADEUS HOFFMANN,71 Jurist, Kammergerichtsrat und phantastischer
Schriftsteller, der sich auf das Verhältnis von Wahnsinn und Wirklichkeit doch durchaus
verstand und – so würde man meinen – der Humanisierung doch offen gegenüberstehen
musste und es dennoch nicht tut:
„Die Konsequenzen, die der Jurist Hoffmann daraus ziehen muss, wirken auf den ersten
Blick weniger ‘human’: Er plädiert für Verantwortlichkeit und Strafe, wo die romantische Medizin Sicherheitsverwahrung oder Therapie vorschlägt. Doch hat die Humanität
der medizinischen Perspektive ihre Kehrseite: Der verengte Begriff geistiger Gesundheit
und Normalität lässt in der Verbindung mit staatlicher Macht das Netz der allgegenwärtigen Normalitätskontrolle engmaschiger werden. Indem das Besserungs- und Heilungsmotiv das Strafmotiv zu überlagern beginnt, gerät das abweichende, regelverletzende
Verhalten in den Bannkreis einer neuen ‘Machttechnologie’: Therapeutisierung und
schliesslich Psychiatrisierung.“72
Und was ist nun mit der Schuld? Absolute Theorien streben Ausgleich an, Gerechtigkeit.
Dieser Ausgleich ist denknotwendig auf das Individuum fixiert. Weil Strafrecht Handlungen erfasst bzw. individuelles Verhalten, ist die Bindung an das Individuum eigentlich
bereits im Handlungsbegriff vorgegeben und Schuld erscheint als blosse Konkretisierung
desselben (was ein ander Mal auszuführen sein wird). Schuld fungiert hier essentiell als
Strafbegrenzungsmechanismus und zwar ausschliesslich im Hinblick auf Vergangenes.
In relativen bzw. Präventionstheorien dagegen – man könnte auch von Psychiatrisierungstheorien sprechen – hat Schuld keine theorieimmanente Funktion, sie ist für diese
Positionen nicht zwingend oder denknotwendig. Auch hier fungiert sie essentiell als
Strafbegrenzungsmechanismus, muss aber – aus welchen Gründen dies auch immer
geschehe – exogen hinzugegeben werden, leitet sich also nicht aus der theoretischen
Position selbst ab. Geschieht dies, so wird damit auch zwingend und unmittelbar der
Bezug hergestellt zu Ausgleich und Gerechtigkeit (in der Schweiz würde das Vereinigungstheorie heissen), den diese Positionen ja typischerweise sonst gerade nicht enthalten würden. Schuld ist also Dreh- und Angelpunkt des Strafrechts und unterscheidet es
vom übrigen Verwaltungsrecht.
71
72
E.T.A. HOFFMANN (1776-1822).
So sein Biograph RÜDIGER SAFRANSKI, E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten,
München/Wien 1984, 434; vgl. dazu auch die Ausführungen von Hoffmann selbst, insbesondere sein
Gutachten über die Mordtat des Tabaksspinnergesellen Daniel Schmolling, der 1817 ohne erkennbares Motiv seine Geliebte Henriette Lehne erstochen hatte, in: E.T.A. HOFFMANN, Juristische Arbeiten, herausgegeben von Friedrich Schnapp, München 1973, 83 ff.
317
S. 434
S. 83 ff.
MARCEL ALEXANDER NIGGLI, STEFAN MAEDER
Und das führt uns zum Schluss: Dort, wo Strafrecht nicht auf Ausgleich, Gerechtigkeit
und damit notwendig Schuld orientiert ist, hört es auf, Strafrecht zu sein, wird zum Sozialrecht, Gesundheitsrecht, Verwaltungsrecht, zu einem allgemeinen Lenkungs- oder
Sicherungs- und Polizeirecht. Das klingt freundlich und nett, aber Gott beschütze uns vor
solcher Freundlichkeit.
318
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