INHALT Editorial Björn Hagen 202 Familienentlastende Gruppe in München 203 Dominik König Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche Ewald Zauner 214 EREV: Dialog-Politik Gespräch mit Antje Tillmann (MdB), CDU-Finanzexpertin Björn Hagen 239 Rückschau: EREV-Praxisforschungsworkshop »Erziehungshilfen« am 3. Juli 2008 in Hannover Björn Hagen 241 Leben lernen – Freiräume nutzen: 224 Ein neues Angebot hilft jugendlichen Sexualstraftätern nach der ersten Therapie Tobias Häßner Dialogveranstaltung »Euer Leben hat 244 Gewicht«: Bundesgesundheitsministerium lud zum Thema »Essstörungen« ein Annette Bremeyer Fehlmeldung der 226 Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) Björn Hagen »Geht denn da überhaupt noch was?« Information zum Fachtag des Eylarduswerkes am 28. Mai 2008 Klaus ter Horst 246 Hinweise 248 Glossar: Komplex – kompliziert Harald Tornow 252 Verändern statt wegsehen – offener Umgang mit Sucht in der Einrichtung? Ingeburg Brandt 228 Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges auf Jugendhilfeleistungen Wolf Onnasch 230 Gesetze und Gerichte Christian Müller 234 Die Glosse Schwein muss man haben. Harald Tornow 238 Auf ein Wort Spätsommerlicher Streifzug Jürgen Rollin U3 TIPP: NeFF – ein Netzwerk für Familien Das Dormagener Modell »Willkommen im Leben« Gerd Trzeszkowski Dieser Ausgabe liegen das EREV–Fortbildungsprogramm 2009, das Programm der EREV–Bundesfachtagung 2009 sowie die Programme der EREV–Foren »Ambulante, flexible Hilfen 2008« und »Erziehungshilfe und Schule 2008« bei. E J 4/2008 201 Editorial Dieser Ausgabe der Zeitschrift »Evangelische Jugendhilfe« liegt das EREV-Fortbildungsprogramm bei. Es wird von sozialpolitischen Entwicklungsprozessen beeinflusst, von denen zwei beispielhaft anzuführen sind. In zunehmendem Maß erfolgt die »Kommunalisierung von Entscheidungen« zum einen mit der Konsequenz für den EREV, Netzwerke der Einrichtungen zu knüpfen. Ein entscheidendes Motiv für die Beteiligung an den Fortbildungen ist eben auch die Möglichkeit, Anregungen, Impulse und Entwicklungen über den eigenen Horizont hinaus zu erfahren. Zum zweiten erweitern sich die Zielgruppen. In der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion wird vom Ende der Mittelschicht gesprochen. Der Zusammenhang zwischen Einkommensarmut und weitreichenden Benachteiligungen von Kindern wie zum Beispiel geringeren Bildungschancen sind bekannt. Nun sieht sich eine wachsende Schicht von Menschen diesem Risiko ausgesetzt. Soziologen beschreiben, dass das Problem darin besteht, dass eine neue Scheidelinie entstehe: die zwischen drinnen und draußen. Zwischen denen, die dazugehören, und denen, die nicht dazugehören. Zwischen denen, die gebraucht, und denen, die nicht gebraucht werden. Zu diesen Ausgeschlossenen gehören Migranten, gescheiterte Autoren der eigenen Bastelbiografie oder Alleinerziehende. Ihnen allen sei gemein, dass sie in einen nach unten ziehenden Strudel geraten seien und nicht mehr die Kraft aufbringen, gegen das Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit anzugehen. Aufgabe der Fortbildungen im Evangelischen Erziehungsverband ist es, diese Entwicklungen in die fachliche Arbeit einzubeziehen. Die klassi202 schen Zielgruppen der benachteiligten, bildungsfernen Familien verändern sich und neue kommen hinzu. Natürlich steht das Fortbildungsjahr 2009 ganz im Banne der EREV-Bundesfachtagung vom 12. bis 14. Mai 2009 in Karlsruhe mit dem Titel: »Lernende Jugendhilfe«. Veränderte Lebensbedingungen junger Menschen und Familien erfordern passende Hilfekonzepte. Dafür ist eine Jugendhilfe, die sich analog zu den gesellschaftlichen Veränderungen in einem stetigen Lernprozess befindet, unabdingbar. Die in dieser Zeitschrift dargestellte Soziale Gruppenarbeit ist ein Beispiel dafür, wie die erweiterten Zielgruppen der Erziehungshilfen erreicht werden können. Es finden hier verschiedene Methoden der Sozialen Arbeit Anwendung, um auf unterschiedliche Situationen adäquat reagieren zu können. Die Elternarbeit ist hierbei ein wesentlicher Bestandteil zur sozialen Integration der Kinder in ihr Lebensumfeld. Ein weiteres Thema sind traumatisierte Jugendliche. Sie bringen die Pädagogen an den Rand ihrer Möglichkeiten. Die Auseinandersetzungen kosten Kraft und sind oft Angst machend. Die dargestellten Möglichkeiten der Arbeit mit den jungen Menschen stellen keine Garantie für das Gelingen dar. Aber die Soziale Arbeit hat die Aufgabe, den Beteiligten eine Chance zur Bewältigung der Traumata zu geben. Ihr Björn Hagen E J 4/2008 FEG – Familien Entlastende Gruppe Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit Dominik König, München Der vorliegende Artikel begreift sich als bescheidene Anregung und kleiner Diskussionsbeitrag für eine Profession, die sich traditionell über Art, Um fang, Für und Wider von Sozialer Gruppenarbeit (SGA) berät und die sich gleichzeitig, im Rahmen eines sich reduzierenden Sozialstaates, bei wach senden, innergesellschaftlichen Spannungen1, der Frage gegenübersieht, mit welchen Methoden gesellschaftliche Kohäsion erzeugt werden kann. Parallel dazu wurde SGA im Zuge der sich entwickelnden Tiefenpsychologie therapeutisiert. Individualistische Gruppentheorien wie »Encounter Gruppen« (Rogers, Watzlawick), »Psychodrama« (Moreno) oder die »Themenzentrierte Interaktion« (Cohen) hielten in dieser Zeit Einzug in die Gruppenarbeit, zugleich kamen therapeutische Zusatzausbildungen für Gruppenarbeiter in Mode.5 Wie SGA im Rahmen der Hilfen zur Erziehung praktisch genutzt werden kann, um schulische, soziale und familiäre Probleme zu bearbeiten, ist Gegenstand der folgenden Ausführung, welche von der Arbeit einer »Familienentlastenden Gruppe« (FEG) der Flexiblen Jugendhilfe München berichtet. »Auch als Reaktion auf die vorwiegend therapeutische Ausrichtung und damit Psychologisierung Sozialer Arbeit findet seit Mitte der achtziger Jahre allerorten ein Nachdenken über die Eigenständigkeit Sozialer Arbeit (...) statt. Mit der Hinwendung zu sozialwissenschaftlichen Ansätzen, die mit den Schlüsselwörtern ›Alltagsorientierung‹ und ›Lebensweltorientierung‹ verbunden sind, wird seit Beginn der neunziger Jahre ein Perspektivwechsel in der Sozialen Arbeit gefordert. Die Methodenentwicklung wird als Forschungsaufgabe diskutiert (...). Hierunter fällt auch die weitere wissenschaftliche Fundierung und damit Fortentwicklung sozialer Gruppenarbeit.«6 1. Kurzer historischer Abriss Soziale Gruppenarbeit (SGA) ist neben Einzelfallhilfe und Gemeinwesenarbeit traditionell einer der drei großen Bereiche in der Sozialen Arbeit. Bereits um die vorletzte Jahrhundertwende kamen erste methodische Impulse aus den USA nach Europa.2 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war sie in Deutschland als vorprofessionelle Gruppenarbeit Teil einer »speziellen Pädagogik, die sich um die Gruppe zentrierte und in späteren Jahren in der sozialen Ausbildung etabliert wurde«.3 In den siebziger Jahren und im Zuge von Bestrebungen, Soziale Arbeit zu professionalisieren, wurde sie jedoch wegen des vermeintlichen Fehlens einer didaktischen Konzeption kritisiert. Zeitgleich wurde ihr aus dem Lager der 68er angelastet, dass sie soziale Einbindung in eine Gesellschaft erzeuge, die eigentlich zu verändern sei.4 E J 4/2008 Es ist demnach weder eine neue noch brillante Erkenntnis, dass SGA für die Entwicklung von Persönlichkeit und Sozialverhalten wichtig sein kann. Nicht umsonst steht dieses Gruppenangebot im Kanon der Hilfen zur Erziehung. Das bayerische Landesjugendamt formuliert: »Als Angebote zum sozialen Lernen soll sie (SGA, Anmerkung des Verfassers) positive Erfahrungen, Erlebnisse und Einsichten vermitteln, die zur Achtung des Anderen, zu Selbstbewusstsein und zur Überwindung von Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensproblemen verhelfen, mit dem Gesamtziel einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit«.7 203 FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit Im Folgenden wird unter Punkt 2 das theoretische Konzept der FEG vorgestellt, wie es in der Leistungsbeschreibung für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Flexiblen Jugendhilfe München festgeschrieben ist. Unter den Punkten 3 und 4 wird dargestellt, wie diese theoretische Konzeption in der Praxis umgesetzt wird. Dabei konzentrieren sich die Ausführungen in Punkt 3 auf die unmittelbare Arbeit am Klienten in der FEG, während unter Punkt 4 erläutert wird, wie mit dem System des Klienten gearbeitet wird. 2. Das Konzept der Familienentlastenden Gruppe (FEG) 2.1 Rahmendaten und Zielgruppe Die FEG ist ein ambulantes Gruppenangebot, welches die gesetzlichen Leistungen nach den Paragraphen 27 und 29 KJHG anbietet. Träger ist die Flexible Jugendhilfe München, ein Geschäftsbereich des Diakonischen Werks Rosenheim. Gegründet wurde die FEG auf Initiative der Abteilung Erziehungsangebote, Produktteam Erziehungshilfe und Kinderschutz des Stadtjugendamtes München. Die dort tätigen Fachkräfte erkannten den großen Bedarf nach einem ambulanten Gruppenangebot, welches gleichzeitig niederschwellig und trotzdem verbindlich-strukturiert sein sollte. Die nachfolgenden Rahmendaten entsprechen den ursprünglichen Vorstellungen des Stadtjugendamts: Zur Zielgruppe gehören Kinder und Jugendliche zwischen neun und 14 Jahren sowie deren Familien, bei denen Bedarf nach ambulanter Hilfe besteht, der durch andere Angebote der Jugendhilfe (beispielsweise Beratung durch Bezirkssozialarbeit, Horte, Jugendzentren) nicht ausreichend beziehungsweise zu hochschwellig oder dem erzieherischen Bedarf nicht gerecht werdend gedeckt wird (vergleiche Paragraph 29 KJHG). Dabei handelt es sich insbesondere um Entwicklungsauffälligkeiten und Verhaltensprobleme. 204 Konkret sind dies in der Regel eine oder mehrere der nachfolgenden sozialen und/oder psychischen Problemlagen: • Überforderung der Sorgeberechtigten in der Erziehung, • drohende Verwahrlosung, • Schwierigkeiten oder Verweigerung in der Schule, • Traumatisierung durch psychische, sexualisierte oder physische Gewalt, • Auffälligkeiten des Sozialverhaltens, • Kontakt- und Beziehungsschwierigkeiten, • Auffälligkeiten des Essverhaltens, • Probleme mit der Affektkontrolle (unter anderem Gewaltbereitschaft), • delinquentes Verhalten. Die Zielgruppe der FEG unterscheidet sich vom Klientel heilpädagogischer Tagesstätten dadurch, dass auch und vor allem Kinder ohne Indikation nach den Paragraphen 35a KJHG (seelische Behinderung) und 32 KJHG (Entwicklungsdefizite) aufgenommen werden. Damit wird zusätzlich weniger intensiven Fällen die Möglichkeit zu Sozialer Gruppenarbeit gegeben und eine Lücke geschlossen, die zumindest in München noch an vielen Stellen weit klaffte. Im Rahmen sozialräumlichen Arbeitens8 ist die Flexible Jugendhilfe München in verschiedene Sozialraumbüros aufgeteilt, die ausschließlich für bestimmte Stadtteile zuständig sind. Die FEG ist hierbei an ein Sozialraumbüro angegliedert und nimmt dementsprechend überwiegend Klientinnen und Klienten aus der jeweiligen Sozialregion auf. Durch sozialräumliches Arbeiten soll gewährt werden, dass die Klienten flexible Hilfen aus einer Hand erhalten.9 In der FEG arbeiten zwei pädagogische Fachkräfte (ein Mann, eine Frau) in Vollzeit. Sie leiten den Gruppenalltag, sind für die Arbeit mit den jeweiligen Familien zuständig und übernehmen administrative und koordinierende Aufgaben in ZuE J 4/2008 FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit sammenarbeit mit Schulen, Sozialbürgerhäusern und anderen Einrichtungen wie Sportvereinen, Jugendzentren oder vorangegangenen Hilfen. Die FEG bietet an fünf Tagen in der Woche je zwölf Plätze für maximal 18 Kinder und Jugendliche. Konkret bedeutet dies, dass 60 Nachmittagseinheiten (fünf Mal zwölf) bedarfsgerecht mit den Klienten vereinbart werden können. Klienten können somit das Angebot der FEG flexibel wahrnehmen, da es nicht verpflichtend an fünf Tagen pro Woche, sondern tageweise in Anspruch genommen werden kann, entsprechend dem individuellen Bedarf an Hilfe zur Erziehung. Der Gruppentag beginnt nach Schulschluss und endet um 16:30 Uhr, er umfasst also den gesamten Nachmittag. Dabei folgt er einer festen Tagesstruktur, die freies und angeleitetes Spiel, gemeinsames Mittagessen, Hausaufgabenhilfe und eine Abschlussreflexion beinhaltet. In den Schulferien bietet die FEG unter Leitung eines Mitarbeiters einer kleineren Gruppe aus der FEG (rund sechs Kinder pro Tag) ein ganztägiges Ferienprogramm. Die Teilnahme in den Ferien wird mit den Kindern und ihren Familien je nach Bedarf und Möglichkeiten individuell vereinbart. 2.2 Ziele der FEG Zu den Zielen der FEG zählt es, junge Menschen in ihrer Entwicklung und in ihrem Recht auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern. Sie hilft dem jungen Menschen und den Sorgeberechtigten dabei, eine Lebenswelt10 (wieder-)herzustellen, in der ein kind- und jugendgerechtes Leben ohne wesentliche Konflikte mit gesellschaftlichen Institutionen oder verbindlichen Normen und ohne externe professionelle Hilfe möglich ist. Die Maßnahmen stärken die familiäre Kompetenz und fördern die Selbstheilungskräfte der Familie. Der junge Mensch und seine Familie sollen durch die Hilfe möglichst schnell von professioneller E J 4/2008 Unterstützung unabhängig werden. In der Praxis bedeutet dies, dass die Kinder und Jugendlichen ein bis maximal zwei Jahre in der FEG verbleiben. In dieser Zeit gehen die Bestrebungen der Mitarbeiter dorthin, intensive Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.11 Die konkreten individuellen Ziele orientieren sich dabei an den Wünschen und Vorstellungen des jungen Menschen und der Personensorgeberechtigten sowie am durch die Mitarbeitenden der Sozialbürgerhäuser und der Flexiblen Jugendhilfe München festgestellten erzieherischen Bedarf. Grundlage hierfür ist ein systemisches Verständnis von Sozialer Arbeit12, wonach bisherige Anpassungsleistungen als individuelle Ressource im System wahrgenommen werden. Demgemäß und in Übereinstimmung mit dem Leitbild des Diakonischen Werks Rosenheim, wonach jeder Mensch eine einmalige, wertvolle, von Gott geschaffene und geliebte Persönlichkeit ist, wird das auffällige Verhalten der jungen Menschen als aktive und kreative Problemlösungsstrategie verstanden, an welche im weiteren Verlauf der Zusammenarbeit angeknüpft wird. Individuelle Ziele können unter anderem sein: • Stabilisierung und/oder Erweiterung der emotionalen Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen, • Verbesserung der psychosozialen Kompetenz des Kindes oder Jugendlichen, • Entwicklung einer gelungenen Nähe-DistanzRegulierung und eines angemessenen Sozialverhaltens, • Hinführung zur selbstständigen Bewältigung lebenspraktischer Anforderungen, • Stärkung der Selbsthilfepotenziale des Kindes oder Jugendlichen. Einem systemischen Arbeitsverständnis entsprechend werden auch familienunterstützende Ziele anvisiert: • Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Familie, 205 FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit • Förderung der Erziehungsfähigkeit der Eltern, • Stärkung der Selbsthilfepotenziale der Bezugspersonen, • Entlastung der Herkunftsfamilie. 2.3 Methoden der FEG Im Rahmen der FEG finden verschiedene Methoden der Sozialen Arbeit Anwendung, um auf verschiedene Situationen passgenau reagieren zu können. Essenziell sind hierbei die Strukturmerkmale: verbindliche Öffnungszeiten, Mittagessen, Hausaufgabenbetreuung und Freizeitgestaltung. Mit diesem festen Rahmen wird die Entwicklung älterer Kinder und Jugendlicher durch soziales Lernen in der Gruppe gefördert. Diese sozialen Lernprozesse können als allgegenwärtige MetaMethode der FEG bezeichnet werden. Darüber hinaus arbeiten die Mitarbeiter der FEG mit Techniken der Themenzentrierten Interaktion13, der Erlebnispädagogik14 und LSCI (= Life Space Crisis Intervention; Methoden zur Krisenintervention bei Kindern und Jugendlichen)15. Die Familienarbeit orientiert sich an der Methode der Systemischen Familienberatung16, umfasst aber auch Elemente der Lösungsorientierten Beratung17, des Video-Home-Trainings (VHT) sowie der Klientenzentrierten Interaktion18 und vermittelt elterliche Präsenz. Bei der Leistungserbringung gelten für die Mitarbeiter der FEG dieselben Grundprämissen wie für ihre Kollegen aus den anderen Bereichen der Flexiblen Jugendhilfe München. Diese beinhalten sozialarbeiterische Haltungen, die methodisch ausgefüllt werden. Sozialarbeiterische Haltungen • Beziehungskontinuität: Wechselnde Ziele, Formen und Inhalte der Betreuung bei gleichen Bezugspersonen • Bedarfsorientierung: So wenig wie möglich, so viel wie nötig • Flexibilität: Hilfeform und -intensität passen sich der Entwicklung an. 206 • Nachrangigkeit: Eltern in der Erziehung unterstützen, anstatt sie zu ersetzen • Professionalität: Ausschließlich pädagogisches Fachpersonal • Zielorientierung: Durch traditionelle und innovative Methoden der sozialen Einzel-, Familien-, Gruppen- und Projektarbeit werden die vereinbarten Ziele erreicht. • Lebensweltorientierung: Die Betreuung findet dort statt, wo der Klient oder die Klientin lebt. • Alltagsorientierung: Der Lebensalltag wird gemeinsam bewältigt und nachhaltig stabilisiert. • Sozialraumorientierung: Soziale Probleme werden dort gelöst, wo sie entstehen. • Ressourcenorientierung: Nutzung und Stärkung vorhandener, individueller und sozialräumlicher Ressourcen. • Lösungsorientierung: Aktuelle und langfristige Probleme werden gelöst. • Netzwerkorientierung: Professionelle und soziale Netzwerke werden erhalten und ausgebaut. • Niederschwelligkeit: Aufsuchende und nachgehende Hilfen werden angeboten. • Toleranz: Problematisches Verhalten führt nicht zu einem vorzeitigen Maßnahmenende. • Effizienz: Pädagogisches und wirtschaftliches Controlling • Nachhaltigkeit: Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit 3. Die FEG als Lernfeld für Kinder und Jugendliche 3.1 Vom Teufelskreis negativer Erlebnisse Wie bereits unter Punkt 2.1 dargestellt, haben die jungen Menschen, welche die FEG besuchen, soziale Probleme verschiedenster Ausprägungen. Dabei haben sie oft eine Karriere hinter sich, in welcher sie aus Regeleinrichtungen wie beispielsweise der Regelschule oder dem Regelkindergarten ausgesondert wurden oder zu ihnen erst gar keinen Zugang erhielten beziehungsweise dort zu »Versagern« und/oder auffälligen Außenseitern wurden. E J 4/2008 FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit Diese kontinuierliche Kette von Misserfolgserlebnissen, welche sich wie ein roter Faden über Jahre hinweg durch ihre Biografien zieht, wirkt sich in aller Regel negativ auf das Selbstwertgefühl dieser Kinder aus. Ängste, Aggressionen, Leistungsverweigerungen, destruktive Selbstbilder und soziale Isolation sind nur eine kleine Auswahl aus der langen Reihe von Folgeerscheinungen. Damit setzt sich in den Lebensgeschichten dieser Menschen ein Muster fort, welches von der Wechselseitigkeit negativer Bedingungen (zum Beispiel Armut, geringes Bildungsniveau der Eltern, Erziehung mit Abwertung, Gewalt und Vernachlässigung oder verhaltensbeeinflussende Erkrankungen wie ADHS19 und dem daraus resultierenden problematischen Verhalten geprägt ist. In diesem Teufelskreis ist der junge Mensch gleichzeitig aktives Subjekt und passives Objekt: Mit ihm geschieht etwas; er wird durch etwas geprägt und im Ausleben dieser Prägung schafft er fortlaufend negative Bedingungen. Als Beispiel mag hier der Schüler dienen, welcher aufgrund seiner häuslichen Erziehung und seines nahen sozialen Umfelds des Wohnblocks oder der Nachbarschaft Gewalt als Opfer erlebte und dabei lernte, dass auf diese Weise Konflikte »geregelt« und Probleme »gelöst« werden. Setzt er diese Erfahrungen nun um, etwa, indem er auf dem Pausenhof andere Kinder schlägt, weil dies im Rahmen seiner Streitkultur ein probates Mittel ist, wird er dafür von der Schule sanktioniert. Im Rahmen eines Schulverweises dürfte sich dies negativ auf sein Selbstwertgefühl auswirken. Dieses hat nun bereits mehrfach Erniedrigungen erfahren, nicht zuletzt aufgrund der Gewalterfahrungen, die der Schüler selbst erleiden musste. Da seine Fähigkeiten, Frust auszuleben, jedoch begrenzt sind, braucht es nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wie dieser Schüler mit seinen Misserfolgserlebnissen umgeht und auf welche Weise er versuchen wird, sein Selbstwertgefühl zu stärken.20 E J 4/2008 An dieser Stelle geraten Regeleinrichtungen oft an ihre Grenzen und die Jugendhilfe tritt auf den Plan. Die FEG bietet den Kindern und Jugendlichen einen klar und kontinuierlich strukturierten Alltag, in welchem leicht verständliche Regeln gelten und eine Atmosphäre der allgemeinen Wertschätzung herrscht. Sie erleben dort einen Alltag, der alle Elemente eines fürsorglichen, familiären Nachmittags beinhaltet. Dies beginnt mit dem gemeinsamen Mittagessen, bei dem man sich unterhalten, vom Tag erzählen und scherzen kann. Im Anschluss erhalten die Kinder einen ruhigen, konzentrationsfördernden Rahmen, in dem sie mit Unterstützung von den Mitarbeitern der FEG ihre Hausaufgaben erledigen können. Danach können sie mit Gleichaltrigen spielen, toben und gemeinsam den restlichen Nachmittag verbringen. Konzentriert man sich auf die Ereignisse, die sich in der FEG vordergründig und auf den ersten Blick abspielen, so könnte man sie als »Normalitäts-Simulator« bezeichnen. Dabei muss man sich bewusst sein, dass der Begriff »Normalität« im Rahmen von mittelschichtsorientiertem Denken differenziert zu verstehen ist. Keinesfalls darf er dazu führen, eigene Sozialisationserfahrungen als entscheidendes Kriterium zu benutzen, um andere zu bewerten und mit Erwartungen zu belegen wie etwa »du musst zumindest die Realschule besuchen«. Vielmehr soll er als Orientierungshilfe dienen, wonach bestimmte Erfahrungen (zum Beispiel regelmäßig warmes Mittagessen zu bekommen) wünschenswert und positiv sind. Die FEG wirkt als »Simulator«, weil die Mitarbeiter der FEG zwar tun, was Eltern tun sollten, sie aber nicht selbst die Eltern der Kinder sind, die Gruppenräume sind nicht das Elternhaus, die anderen Kinder nicht die Geschwister. Dennoch wirkt sich das Umfeld der FEG positiv aus – vor allen Dingen durch Beständigkeit und tägliche Wiederholung. 207 FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit Viele Kinder erleben im häuslichen Umfeld einen unstrukturierten Alltag, in dem sie weitgehend sich selbst überlassen sind oder den sie als »Schlüsselkinder« gänzlich alleine und oft vor dem Fernseher verbringen müssen. Demgegenüber stellt die FEG für Kinder die täglich wichtige Grundversorgung (Essen, Lernhilfe, Spielkameraden, wohlwollende Ansprache) konkret sicher. Damit wird gewährleistet, dass sich die Situation der Kinder stabilisiert und nicht noch weiter eskaliert. Diese Stabilität soll über den gesamten Zeitraum, in dem das Kind die FEG besucht, aufrechterhalten bleiben, um sich im Alltag des Kindes so fest zu verwurzeln, dass das Kind sie selbst reproduzieren kann, beispielsweise, indem ein Kind bei der Erledigung der Hausaufgaben zum Aufbau eines neuen Arbeitsverhaltens angeleitet wird, welches es in Zukunft selbstständig anwenden kann. Ebenso soll im Verlauf der Hilfe die elterliche Erziehungskompetenz dauerhaft gefestigt und ausgebaut werden, damit den Eltern in Zukunft neue und erfolgreiche Wege zum Umgang mit ihren Kindern zur Verfügung stehen. Näheres zur Elternarbeit steht unter Punkt 4.1. Die FEG nimmt das ganze Jahr über neue Klienten auf (solange Platz ist) und ist somit flexibel. Dennoch ist es in diesem eng strukturierten Rahmen möglich, eine offene Gruppe zu sein, die sich durch hohe Kontinuität auszeichnet. Durch den gelegentlichen Wechsel der Kinder entsteht eine hohe Gruppendynamik, die von den Mitarbeitern konstruktiv gesteuert wird, so dass ein sozialer Lernprozess für die Gruppe stattfindet. Die stabile Tagesstruktur liefert hierbei den Rahmen, in dem alle Kinder mit ihren individuellen Bedürfnissen und Problemen aufgefangen und geleitet werden. Selbstverständlich lebt ein Kind nicht isoliert, sondern in Wechselwirkung mit seinem häuslichen und sozialen Umfeld, welches für einige Probleme mit-konstitutiv sein kann. Im Rahmen von Nachhaltigkeit und Hilfe zur Selbsthilfe müssen auch dort Veränderungen stattfinden. Wie diese 208 Aufgabe im Rahmen der FEG bearbeitet werden kann, wird unter Punkt 4 dargestellt. 3.2 Gemeinsame Regeln gestalten den Alltag In der FEG gewährleisten Gruppenregeln wie keine Gewalt, keine Drohungen, während den Hausaufgaben leise sein, beim Essen sitzen bleiben, bis alle fertig sind, dass für die Kinder über die Grundversorgung hinaus ein sozialer Lernprozess stattfindet. Aus diesem Grund sind die Regeln bewusst kleinschrittig und kindgerecht gehalten und verzichten auf abstrakte Forderungen wie »sich gegenseitig respektieren«. Jeder FEG-Tag endet mit einer Reflexionsrunde. Wird im Alltag auf das Befolgen der Regeln konkret und von Fall zu Fall geachtet, bietet sich hier ein Rahmen, um das Verhalten der einzelnen Gruppenmitglieder allgemein zu besprechen sowie um die Gruppenstimmung zu thematisieren. Da der Tag auf diese Weise endet, wird gewährleistet, dass sich die Kinder ihrer sozialen Lernaufgaben bewusst bleiben. Auch hier ist die Stärke der FEG die tägliche Wiederholung: Die Regeln für das gemeinsame Miteinander bleiben immer gleich. Somit wird für die Kinder ein hohes Maß an Verbindlichkeit, aber auch an Verlässlichkeit hergestellt. Gerade in der Phase des Heranwachsens ist eine klare Orientierung, die transparent und nachvollziehbar aufgestellt wird, eine förderliche Entwicklungsbedingung für Kinder und Jugendliche. Aus diesem Grund werden die Gruppenregeln auch nicht von den Mitarbeitern festgelegt, sondern sind ein gemeinsames Produkt von Mitarbeitern und Kindern. Einmal aufgestellt, sind sie für jeden verbindlich und werden beibehalten. Im wiederkehrenden Prozess des demokratischen Aushandelns erleben die Kinder, dass ihre Meinung zählt, dass sie mitbestimmen und ihr Leben im positiven Sinn selbst beeinflussen können. Im Sinne von stärkeorientiertem Arbeiten nehmen die Mitarbeiter hierbei die Rolle von Förderern und Moderatoren ein, während die Impulse und Ideen von den Kindern selbst kommen. E J 4/2008 FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit Die Regeln, welche auf diese Weise entstehen, haben für die Kinder einen anderen Wert als anonyme und autoritäre Vorschriftensysteme wie etwa eine Schulordnung oder der Verbotskatalog in ihrem Wohnblock. Dementsprechend ist die Bereitschaft, sich daran zu halten, erheblich höher. Selbstverständlich lassen sich die Schwierigkeiten vieler Kinder nicht darauf reduzieren, dass sie sich nicht an Regeln halten können. Erlerntes Verhalten, wie zum Beispiel Gewalt als Ventil zu nutzen, spielt eine erhebliche Rolle. Die Gruppenregeln beziehungsweise ihre konstante Einhaltung sind also nicht nur Selbstzweck oder sollen einen reibungslosen Tagesablauf gewährleisten, sondern sie sollen eine Verhaltensmodifikation im besten Sinne von Erziehung bewirken. Unerwünschtes Verhalten wie verbale und motorische Unruhe bei den Hausaufgaben oder das Bedrohen anderer Kinder wird vor dem Hintergrund der Gruppenregeln unmittelbar und konkret thematisiert. Die Kinder sollen sich mit ihrem Verhalten auseinandersetzen und lernen, die Zusammenhänge zwischen ihren Gefühlen und Bedürfnissen und ihrem Verhalten zu erkennen. Ist dies gelungen, so können sie steuern, auf welche Weise sie ihre Ziele konstruktiv erreichen wollen. In der FEG bietet sich Kindern die Möglichkeit, alternative Verhaltensweisen in einem geschützten Rahmen auszuprobieren, wobei sie Unterstützung und Rückmeldung von den Mitarbeitern und der Gruppe bekommen. 4. Die FEG als Lernfeld für das soziale Umfeld von Kindern und Jugendlichen Gemäß einem systemischen Verständnis von Sozialer Arbeit lebt kein Mensch isoliert, sondern ist in seinem Erleben, Verhalten und Handeln ständig wechselseitig an ein soziales Umfeld gekoppelt. Im Fall der jungen Menschen, welche die FEG besuchen, lässt sich feststellen, dass ihre Probleme in der Mehrheit auf familiäre Ursachen zurückzuführen sind. Die Familien dieser Kinder sind wieE J 4/2008 derum häufig in einem gesellschaftlichen Milieu angesiedelt, das sich mit Begriffen wie »Armut« oder »Minderheit« beschreiben lässt. Erfahrungen von Gewalt, Flucht, Vertreibung, sozialer Ächtung und Diskriminierung gehören oft zum Erlebnishorizont dieser Familien. Eine zentrale Leistung der FEG besteht daher auch in dem warmen Mittagessen, welches die Kinder bekommen. Damit wird sie ihrem Namen »familienentlastend« konkret gerecht und schafft gleichzeitig eine hohe Motivation seitens der Klienten, das Angebot wahrzunehmen. Viele Familien, mit denen wir arbeiten, befinden sich in existenziellen Nöten, was nicht zuletzt auch durch die reale Schlechterstellung von Kindern durch das Hartz-IV-Gesetz verursacht wurde. Die Klienten der FEG sollen täglich für das warme Essen sowie für Obst und Getränke, die tagsüber gereicht werden, eine Eigenbeteiligung von zwei Euro bezahlen. In vielen Fällen ist dies aber bereits nicht mehr leistbar, weswegen dieser Betrag auf bis zu 50 Cent gesenkt wird, beziehungsweise in Einzelfällen sogar ganz entfällt. Dies verdeutlicht das Ausmaß der Armut dieser Familien und auch die Verhältnisse, in denen die Kinder aufwachsen. Für den Familienalltag bedeutet dies konkret, dass sich die Eltern in Überforderungssituationen befinden, die sich wiederum auf das Erziehungsverhalten auswirken. Dementsprechend lassen sich die Problemsituationen der Kinder auch nicht ausschließlich mit den unter Punkt 3 beschriebenen Maßnahmen beheben. Soll Nachhaltigkeit erzeugt werden, so ist die Arbeit im und am sozialen System unerlässlich. 4.1. Elternarbeit im Hilfeplanprozess Elternarbeit ist ein wesentlicher Teil der FEG. Dies beginnt bereits beim Aufnahmegespräch, in dem die Mitarbeiter der Flexiblen Jugendhilfe München gemeinsam mit den Fallverantwortlichen der Sozialbürgerhäuser, den Eltern und den Kindern über die Ziele der Maßnahme sprechen. 209 FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit Dabei werden stets Ziele für die Kinder vereinbart: Zum Beispiel X erwirbt friedliche Konfliktlösungsstrategien, Y ist in der Lage, 45 Minuten konzentriert Hausaufgaben zu erledigen. Es werden aber auch Ziele für die Eltern vereinbart: Zum Beispiel Herr Y verzichtet bei der Erziehung seiner Kinder auf Schläge, Frau Z unterstützt ihr Kind bei den Hausaufgaben. Zur Zielerreichung werden ihnen konkrete Methoden zugeordnet. Maßnahmen der FEG wie die Hausaufgabenzeit sind dabei immer nur ein Teil des Methodenkatalogs für ein bestimmtes Ziel. Ein gleichfalls wichtiger Teil, der im Hilfeverlauf eine stetig größer werdende Bedeutung erhalten soll, ist die Elternarbeit. Die Elternarbeit wird also im Rahmen der FEG als entscheidende Methode betrachtet, mit der Ziele erreicht werden sollen. Verantwortung, Kompetenz und Macht der Eltern werden wieder in den Mittelpunkt gerückt. Mit der Beschreibung von konkretem Erziehungsverhalten als Methode (Herr X spielt täglich mindestens 20 Minuten mit seinen Kindern, Frau Z lernt jeden Tag 30 Minuten mit ihrem Kind für die Schule) wird ein wünschenswerter Zustand festgelegt, auf den sich alle an der Hilfe Beteiligten einigen können. Diese Ziele werden in regelmäßigen Abständen mit allen Beteiligten überprüft und gegebenenfalls fortgeschrieben. So wird gewährleistet, dass von Anfang bis Ende der Maßnahme verbindliche Ziele mit einer genauen Aufgabenteilung und ausgewählten Methoden festgelegt werden. Dieser Prozess wird partnerschaftlich mit Eltern und Kind gestaltet und ist von hoher Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Kontinuität geprägt. Das bedeutet, dass lieber einmal zu viel als zu wenig erklärt, nachgefragt und diskutiert wird. In einigen Fällen bedeutet bereits diese erste Form der Auseinandersetzung der Eltern mit ihrer Familie eine erhebliche Steigerung ihres Erziehungsaufwands. Damit beginnt Entwicklung. 210 4.2. Elternarbeit im Alltag der FEG Um die Zielerreichung auch außerhalb des Hilfeplanprozesses gewährleisten zu können, ist eine enge Kooperation mit den Eltern erforderlich. Aus diesem Grund finden jeden Monat Elternabende statt, deren Teilnahme verbindlich ist. Dort bietet sich den Eltern ein Forum, in dem sie sich mit anderen über ihre Situation austauschen können. Für viele ist es eine Erleichterung festzustellen, dass sie nicht die Einzigen sind, die bestimmte Probleme haben. Auch hier steht der Erfahrungsaustausch der Eltern ganz im Zeichen der Hilfe zur Selbsthilfe. Wenn Eltern erkennen, wie ihnen Gespräche mit anderen Eltern bei ihren eigenen Lebens- und Erziehungsschwierigkeiten weiterhelfen können, dann sind ihre Erfahrungen auch ohne institutionelle Unterstützung reproduzierbar. Zudem werden in den Elternabenden erziehungsrelevante Themen zum Erziehungsverhalten wie Erziehungsstile und Medienkonsum der Sprösslinge oder Taschengeld, familiäre Freizeitgestaltung und Kommunikation besprochen. Die Mitarbeiter der FEG übernehmen die Rolle von Workshop-Leitern und Moderatoren. Die Themenauswahl findet gemeinsam mit den Eltern statt, sodass gewährleistet wird, dass Themen besprochen werden, die für die Betroffenen relevant beziehungsweise problematisch sind. Darüber hinaus bietet der Elternabend auch die Möglichkeit, über gemeinsame Aktivitäten wie mit den Kindern spielen oder basteln den Eltern den Wert von familiärem Miteinander sowie die dafür relevanten Fähigkeiten zu vermitteln. Die Prämisse lautet dabei stets: So nah am Alltag wie nötig, um in der Lebenswelt der Betroffenen zu bleiben, so weit weg vom Alltag wie möglich, um Alternative und Hoffnung zu sein. Zusätzlich zu den Elternabenden finden viele Einzelkontakte mit den Eltern statt, bei denen sich die FEG von der Methode Gruppenarbeit entfernt, um Einzelhilfe leisten zu können. Damit soll gewährleistet werden, dass individuelle und eventuE J 4/2008 FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit ell intime Problemlagen ebenfalls besprochen und bearbeitet werden können. An dieser Stelle erhalten die Mitarbeiter der FEG oft einen tiefen Einblick in die Nöte und Sorgen der betroffenen Familien. Zuvor, am Beginn der Hilfe, drehen sich Einzelgespräche oder Telefonate mit den Eltern jedoch oft noch um »Kleinigkeiten« des Alltags und Verbindlichkeiten, die in Zusammenhang mit der FEG entstehen (»Warum sind Sie gestern nicht zum Elternabend erschienen?«, »Bitte denken Sie auch morgen wieder daran, Ihrem Kind einen Euro für das Essen mitzugeben.«). Auf diese Weise werden die Eltern von Anfang an durch die FEG an ihre Erziehungsverantwortung erinnert und dazu angehalten, diese wahrzunehmen. Die Mitarbeiter der FEG fördern die Kinder und fordern die Eltern: Sie fordern, dass die Eltern dafür sorgen, dass ihre Kinder regelmäßig, pünktlich und zuverlässig an den vereinbarten Tagen in der FEG erscheinen; sie fordern, dass die Eltern regelmäßig an den Elternabenden teilnehmen und dass im Hilfeplan getroffene Absprachen insgesamt eingehalten werden. Gibt es dabei Schwierigkeiten, beispielsweise wenn die Eltern die vereinbarte Spiel- oder Lernzeit mit ihren Kindern nicht einhalten, dann ist es Aufgabe der Mitarbeiter, die Eltern bei der Umsetzung von Zielen durch Gespräche oder Anleitung zu unterstützen. An diesem Punkt wird oft recht schnell deutlich, ob die im Hilfeplangespräch gemachten Vereinbarungen tatsächlich dem Willen der Eltern entsprechen oder ob es sich um bloße Lippenbekenntnisse handelte, um die Fachkräfte zu beruhigen. So oder so sind diese Situationen sehr aufschlussreich und bedeuten oft eine Phase der Hilfe, in der entscheidende Fortschritte erzielt werden oder in der Absprachen noch einmal genau auf ihre Gültigkeit hin geprüft werden können. Nach den ersten Monaten der Hilfe beginnen dann in der Regel themenzentrierte Einzelgespräche, bei denen die Mitarbeiter gemeinsam mit den Eltern Lösungen für ihre Problemlagen entwickeln Der Erfolg dieser Gespräche hängt wesentlich davon ab, welchen Nutzen die Eltern aus der Arbeit der FEG bis zu diesem Zeitpunkt gezogen haben. E J 4/2008 Je mehr sie bei akuten Problemen entlastet wurden, umso offener werden sie für die Bearbeitung von nicht akuten und trotzdem wichtigen Themen und desto kompetenter schätzen sie die Mitarbeiter hierfür ein. Im Klartext heißt dies: Wenn das Kind seit es die FEG besucht, mittags satt wird, sich seine schulischen Leistungen verbessern und Verhaltensauffälligkeiten zu verschwinden beginnen, können die Eltern aufatmen und sich um ihre eigenen Probleme kümmern. Das bedeutet, dass durch die FEG ein niederschwelliger Einstieg in Lebens- und Erziehungsberatung für die Eltern stattfinden kann, sofern diese dazu bereit sind. Davon unabhängig und flankierend finden über den gesamten Zeitraum der Hilfe die bereits beschriebenen kurzen Gespräche statt, mit denen die Erziehungsverantwortung der Eltern gestärkt werden soll, und die Einhaltung der im Hilfeplan vereinbarten Ziele wird gemeinsam mit den Eltern verfolgt. 4.3. Arbeit am weiteren sozialen Umfeld Die Familie ist nicht das einzige soziale Umfeld, welches für das Schicksal von Kindern eine große Bedeutung hat. Die Schule und der Freundeskreis wirken sich ebenfalls prägend aus. Gerade in der Schule entstehen oft Probleme und Konflikte. Teil der Arbeit der FEG ist es daher, engen Kontakt zu den Schulen und den jeweiligen Lehrern der Kinder zu halten. Dabei geht es nicht nur darum, sich bei den Lehrkräften zu informieren, wie der Leistungsstand des Kindes ist, wo es Lücken hat und gefördert werden muss, sondern auch, zu verdeutlichen, dass die Schwierigkeiten der Kinder auch an anderer Stelle erkannt und bearbeitet werden. Oft erleben die Mitarbeiter der FEG bei den ersten Kontaktaufnahmen mit der Schule »entnervte« Lehrer, wenn die Sprache auf die betroffenen Kinder kommt. Diese Kinder nehmen häufig die Rolle des ewig störenden Klassenclowns, des Pausenhofschlägers oder des schulischen Totalverweigerers ein. In den meisten Fällen ist die Lehrkraft froh und motiviert, wenn sie die Probleme mit 211 FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit diesen Schülern mit einem Außenstehenden besprechen kann. Die FEG trifft enge Absprachen hinsichtlich der Kinder mit den Schulen und steht mit diesen in fortwährendem Kontakt. Im Idealfall werden die Eltern in diesen Prozess einbezogen und übernehmen nach und nach die Rolle der FEG. Eine Situation, in der sich Eltern selbstständig, konstruktiv und verantwortungsvoll mit den schulischen Belangen ihrer Kinder auseinandersetzen, kann sicherlich als angestrebter Wunschzustand bezeichnet werden. Dem stehen leider oft sprachliche Barrieren seitens der Eltern sowie gegenseitige Vorurteile zwischen Eltern und Schule im Wege. Diese Hindernisse durch fortlaufendes Bemühen aus dem Weg zu räumen, zählt ebenfalls zum Aufgabenbereich der FEG. In ihrer Freizeit sind viele Kinder in Vereinen oder Jugendzentren verortet. In diesen Umfeldern erleben sie oft wichtige Erfolgserlebnisse, wodurch diese zu bedeutenden Faktoren für ihr Wohlbefinden werden. Im Rahmen der FEG werden Schwierigkeiten, die sich in solchen Freizeiteinrichtungen ergeben, zeitnah besprochen, um den Kindern eine möglichst reibungslose Nutzung dieser Angebote zu ermöglichen. Bekommen sie beispielsweise im Jugendzentrum Hausverbot, so bedeutet dies für sie den Verlust von Freunden und Betätigungsfeldern und im weiteren Verlauf damit gegebenenfalls erhebliche Beeinträchtigungen. Die Lösung dieser Probleme gehört zu den fallspezifischen Leistungen der FEG. Dabei wird stets versucht, die Eltern mit ins Boot zu holen. Sind die Eltern befähigt, auftretende Schwierigkeiten im Interesse ihres Kindes konstruktiv zu lösen, weil sie dies am Modell des Sozialpädagogen lernen konnten, so wurden für die weitere Entwicklung des »Falls« entscheidende Erfolge erzielt. 5. Grenzen und Perspektiven der FEG Die FEG existiert bei der Flexiblen Jugendhilfe München seit dem Schuljahresbeginn 2005. In 212 dieser kurzen Zeit konnte bereits eine hohe Wirksamkeit hinsichtlich der Zielerreichung festgestellt werden. So wurden in den Jahren 2006 und 2007 80 Prozent der Fälle regulär nach Hilfeplan beendet, weil die anvisierten Ziele erreicht werden konnten. Bei allen Erfolgen kann auch festgestellt werden, dass es für viele Familien ein mühsamer Prozess ist, über Empowerment so gestärkt zu werden, dass sie ohne fremde Hilfe ihren Alltag bewältigen können. Dennoch kamen 50 Prozent der beendeten Fälle ohne intensive Anschlussmaßnahmen aus oder diese waren deutlich in ihrer Intensität reduziert. Nichtsdestotrotz sind die Möglichkeiten, mittels Ressourcenaktivierung und Netzwerkarbeit starke, nicht-institutionelle Hilfesysteme um die Familien zu weben, im Rahmen der FEG sicherlich noch nicht ausgeschöpft. Gleichzeitig (und dies trifft auf Soziale Arbeit womöglich grundsätzlich zu) stellt sich vielerorts das Problem von großen, innergesellschaftlichen Unterschieden. Die Adressaten Sozialer Arbeit, die von der FEG betreuten Familien, sind in vielerlei Hinsicht gegenüber der Mehrheit stark benachteiligt – daran können auch Theorien und Methoden von Empowerment und Ressourcenaktivierung nichts ändern. Sicherlich muss es stets das Ziel Sozialer Arbeit sein, diese Benachteiligten zu stärken. Dazu sind die erwähnten Methoden zweifellos bestens geeignet. Dennoch wird sich Soziale Arbeit überfordern, wenn sie versucht, diese Last alleine zu stemmen. Ohne gesamtgesellschaftliches Bewusstsein bezüglich der relativen Chancenlosigkeit von bestimmten Bevölkerungsgruppen und des darin enthaltenen Zündstoffs werden von Sozialer Arbeit stets nur Einzelfälle und deren Systeme bearbeitet. Aus diesem Grund (und dazu soll dieser Artikel letztendlich einen kleinen Beitrag liefern) ist es für Soziale Arbeit wichtig, sich Gehör zu verschaffen und eine Lobby für die (fast) abgehängten Teile der Gesellschaft zu sein. Denn auch in der sozialanwaltschaftlichen Rolle liegt letztendlich ein Aufgabenfeld für die Profession der Sozialen Arbeit. E J 4/2008 FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit Literatur Stimmer, Franz (Hrsg.): Lexikon der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit, Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München 2000 Bayerisches Landesjugendamt: http://www.blja.bayern.de/Aufgaben/HilfenzurErziehung/§_29/SozialeGruppenarbeit.Startseite.htm, Stand: 03.07.2007 Thiersch, Hans: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel, Juventa Verlag GmbH, Weinheim 1992, 6. Auflage: 2005 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1986 Weinberger, Sabine: Klientenzentrierte Gesprächsführung. Lern- und Praxisanleitung für Personen in psychosozialen Berufen, Juventa Verlag GmbH, Weinheim 2006 Berg, Insoo Kim: Familien-Zusammenhalt(en). Ein kurz-therapeutisches und lösungsorientiertes Arbeitsbuch, Verlag Modernes Lernen, Dortmund 1999 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Handbuch Sozialpädagogische Familienhilfe, Nomos Verlag GmbH, Baden-Baden 2004 Dominik König Sozialraumbüro Laim/Schwanthalerhöhe Heimeranstraße 64 und 53 80339 München [email protected] Bürgi, Andreas / Eberhardt, Herbert: Beratung als strukturierter und kreativer Prozess. Ein Lehrbuch für die ressourcenorientierte Praxis, Göttingen 2004 Gehrmann, Gerd / Müller, Klaus D. (Hrsg.): Aktivierende Soziale Arbeit mit nichtmotivierten Klienten. Mit Arbeitshilfen für Ausbildung und Praxis, Walhalla Fachverlag, Berlin, Regensburg 2005 Gilsdorf, Rüdiger / Kistner, Günter: Kooperative Abenteuerspiele 1, Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung GmbH, SeelzeVelber 1995 Hinte, Wolfgang: Von der Stadtteilarbeit zum Stadtteilmanagement – Sozialraumorientierung als methodisches Prinzip sozialer Arbeit, in: Blätter der Wohlfahrtspflege Heft 5, S. 119-122, 1992 Hinte, Wolfgang / Lüttringhaus, Maria / Oelschlägel, Dieter: Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. Ein Reader für Studium, Lehre und Praxis, Juventa Verlag GmbH, Weinheim 2001 Hinte, Wolfgang / Treeß, Helga: Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe. Theoretische Grundlagen, Handlungsprinzipien und Praxisbeispiele einer kooperativ-integrativen Pädagogik, Juventa Verlag GmbH, Weinheim 2006 1 vgl. Beck (1986), S. 115 ff. 2 vgl. Schmidt-Grunert (2002), S. 26 3 ebd., S. 27 4 ebd., S. 32 ff. 5 vgl. ebd., S. 36 ff. 6 ebd., S. 38 7 Bayerisches Landesjugendamt (2007) 8 Zu zentralen Aussagen über die Theorie sozialräumlichen Arbeitens siehe Hinte (1992). 9 vgl. Hinte / Treeß (2006) 10 Eine Zusammenfassung der Theorie der Lebensweltorientierung findet sich bei Stimmer (2000), S. 415 11 vgl. Herriger in ebd., S. 174 ff. 12 vgl. Staub-Bernasconi in ebd., S. 737 ff. 13 vgl. Stimmer (2000), S. 749 ff. 14 vgl. Senninger (2000) 15 vgl. Long / Wood / Fecser (1991) 16 vgl. Bürgi, Eberhardt (2004) Metzinger, Adalbert: Verhaltensprobleme erkennen, verstehen und behandeln, Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2005 17 vgl. Berg (1999) 18 vgl. Weinberger (2006) Schmidt-Grunert, Marianne: Soziale Arbeit mit Gruppen. Eine Einführung, Lambertus Verlag, Freiburg 2002 19 Konopka, Gisela: Soziale Gruppenarbeit – ein helfender Prozess, Verlag Julius Beltz, Weinheim, Berlin und Basel, 1968 Long, Nicholas J. / Wood, Mary M. / Fecser, Frank A.: Life Space Crisis Intervention – Talking with students in conflict, PRO-ED Inc., Austin 1991, 2. Auflage: 2001 Metzinger, Adalbert: Arbeit mit Gruppen, Lambertus Verlag, Freiburg 1999 Senninger, Tom: Abenteuer leiten – in Abenteuern lernen. Ökotopia Verlag, Münster 2000 E J 4/2008 ADHS = Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom 20 vgl. Metzinger (2005) S. 42 ff 213 Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche Ewald Zauner, Öhringen Die im Folgenden dargestellte Erörterung eines kleinen Ausschnitts zum großen Thema »Krisen macher« erhielt ihren Impuls einerseits aus poli tisch und gesellschaftlich geführten Diskussionen u m J u ge n d k r i m i n a l i t ä t u n d G e w a l t d u r c h J u gendliche und andererseits aus Beobachtungen d e s n a h e n b e r u f l i ch e n U m f e l d s . D a s d i r e k t e E r l e ben konfliktbereiter Jugendlicher, die Grenzen setzende Auseinandersetzung mit ihnen und der Versuch, einen gemeinsamen produktiv-rich t u n g w e i s e n d e n W e g z u f i n d e n , g e h ör e n z u d e n anspruchsvollsten, aber auch belastendsten Tä tigkeiten im Bereich der erzieherischen Hil fen. Um nicht Gefahr zu laufen, sich einer polemisch geführten Diskussion stellen zu müssen, aber au c h u n d u m d a s H e f t d e s H a n d e l n s i n d e r H a n d zu behalten, ist eine Auseinandersetzung mit den möglichen Gründen und den sich ergebenden Chancen unumgänglich. Die Realität von Kindern und Jugendlichen, die in Jugendhilfeeinrichtungen abgebildet wird, ist in aller Regel diejenige von jungen Menschen, die in ihrem kurzen seitherigen Leben nicht immer gute Erfahrungen gemacht haben. Schlechte Erfahrungen können unzureichende Lebensbedingungen der Familie sein und/oder unzureichende Erziehung und Förderung des Kindes. Diese Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen können zu dem grundlegenden Gefühl führen, auf der Seite der »Zu-kurz-Gekommenen« zu stehen und zu den Verlierern zu gehören. Sie bringen mit sich, dass sie in weiten Lebensbereichen keine wertvollen und schönen Erfahrungen machen können, und resultieren in dem sehr realistischen Eindruck, dem Schönen, dem Guten und Wertvollen gar nicht begegnet zu sein. Einige dieser Kinder haben gar eine katastrophale Vergangenheit hinter sich und – aus ihrer Sicht 214 und momentanen Lage – keine gute Zukunft vor sich. Im schlimmsten Fall wird ihnen nicht nur die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Teilhabe vorenthalten, sondern sie müssen zusätzlich Erniedrigung, Deprivation und Gewalt ertragen. Sie gehören »zu den Geschlagenen«, wie Konstantin Wekker es einst in einem Lied ausgedrückt hat, und »wer dauernd (ge-)treten wird, der tritt halt auch einmal zurück« (Konstantin Wecker: Willi). Sie glauben nicht an das Gute in der Welt, weil sie es kaum erfahren haben, und sie entwickeln schließlich Strategien, die ihnen helfen, in ihrer Situation zu überleben, die aber im weiteren gesellschaftlichen Kontext nicht hilfreich sind. Traumatisierte Kinder, die teilweise schwer unter den Folgen erdrückender Erlebnisse zu leiden haben, sind und waren ganz besonders belasteten Situationen ausgesetzt. Ihre Verhaltensweisen sind nicht selten bizarr, unvorhersehbar und kaum zu ertragen. Sie stellen ihre Umgebung und auch die Pädagoginnen und Pädagogen in den Einrichtungen vor größte Herausforderungen. 1. Wie entwickelt sich ein Mensch? Der Säugling kommt mit einem angeborenen Bedürfnis nach dem Kontakt zu betreuenden Menschen zur Welt, die ihm dreierlei gewähren: Nahrung, Pflege und liebevolle, verlässliche Zuwendung. Die Basis dafür bildet das natürliche, biologisch begründete Bedürfnis nach sicherer Zugehörigkeit. Das Kind bindet sich an seine Eltern und die Eltern binden sich an das Kind. Dies geschieht umso rascher und selbstverständlicher, je ungestörter die Eltern von Geburt an täglich mit dem Säugling in Kontakt sind und seine Bedürfnisse befriedigen. E J 4/2008 Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche Der Bindungsprozess ist ein erstaunlich entwicklungsfähiger Vorgang. Gelingt er, ist die Basis für die künftige, seelisch-geistige Entfaltung geschaffen. Gelingt er nicht, ist dies von schicksalhafter Bedeutung für das ganze spätere Leben. Die folgende Entdeckung des NEIN-Sagens ist ein wichtiger Schritt zur Entwicklung des eigenen Willens: Die ersten nicht nur nehmenden, sondern auch gebenden Sozialbeziehungen, die Fähigkeit der Selbstbeherrschung und zur Steuerung des eigenen Handelns, all dies ist ein »mitreißender Prozess der Steigerung und Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit« (Hassenstein, 1987). Das Spielen, der Wiederholungsdrang, die Fähigkeit, durch Nachahmen fremde Fertigkeiten gleichsam in eigenes Können zu verwandeln: Das Nervensystem des Kindes ist nach jeder Eigenaktivität im Erwartungszustand für das Wahrnehmen und Aufsaugen von Antworten und Reaktionen auf das eigene Handeln. Das Kind macht fundamentale Erfahrungen über eine Grundlage menschlichen Zusammenspiels: Was kann ich durch eigene Aktivität bewirken? Schon diese wenigen, hier sehr verkürzt dargestellten Abläufe verdeutlichen, welche wunderbar angelegten Mechanismen in dieser Lebensphase dafür sorgen, dass das Kind grundlegende Erfahrungen macht sowie Wissen und Können speichert. Kinder erbringen diese Leistungen mit Leichtigkeit und Vergnügen – und das trotz der Komplexität der physiologischen Voraussetzungen. Im weiteren Prozess der Entwicklung der Selbstständigkeit erweitert sich das Umsorgtwerden hin zur eigenen Aktivität. Versagen und Scheitern werden mit produktiver elterlicher Unterstützung zu neuem Mut; das für spätere Abschnitte so wichtige Durchhaltvermögen entwickelt sich. 2. Bindungsstörungen und ihre Folgen Doch all diese Entwicklungstendenzen sind extrem empfindlich gegen beunruhigende ErschütE J 4/2008 terungen: Sie sind durch angstauslösende Ereignisse leicht zu unterdrücken. Biologisch gesehen ist das durchaus sinnvoll: Die Angst steuert das Verhalten in einer bestehenden Gefahr, die Verhaltenweisen des aktiven Erfahrungserwerbs erweisen ihren Vorteil dagegen erst in der Zukunft. Es ist deswegen ökonomisch und sinnvoll, wenn sie im Hier und Jetzt nicht in Konkurrenz mit der gegenwärtigen biologischen Notwendigkeit zur Gefahrenvermeidung und Selbsterhaltung treten. Diese Unterdrückbarkeit der Exploration, der Neugierde, des Lernenwollens kann sich unglücklicherweise zu einer besonderen Gefahrenquelle entwickeln, und zwar dann, wenn in der Folge wegen vermehrter Unsicherheit frühkindliche Betreuungs- und Bindungsmängel entstehen. Die spätere geistige Entwicklung, der Gewinn an Lern- und Konzentrationsfähigkeit, Selbstständigkeit und sozialer Selbstsicherheit werden schwer beeinträchtigt. Ist es nicht möglich, eine feste Vertrauensbindung aufzubauen, so können sich zumindest allmählich Unsicherheit und Misstrauen einschleichen. »Das gesamte Lebensgefühl erhält die Tönung ängstlich beunruhigter Erregtheit. Die resultierende bleibende Unsicherheit prägt die Struktur der Persönlichkeit. Dies unterbindet eine funktionierende Gefühlsentwicklung. Viele dieser Kinder sind später unempfänglich gegenüber zwischenmenschlichen Regungen wie Mitgefühl, Liebe, Achtung, und Ehrfurcht. Sie verstehen keine Appelle an Menschlichkeit und Rücksicht. Man spricht von Gefühlsarmut.« (Hassenstein: Verhaltensbiologie des Kindes, 1973). Die hier beschriebenen Bindungsstörungen gehören gemäß ICD 10 in eine heterogene Gruppe gestörter sozialer Funktionen, die offensichtlich nicht konstitutionell bedingt sind. Ursache sind schwerwiegende Milieuschäden oder Deprivationen. Schwere Bindungsstörungen ziehen vor allem Störungen sozialer Funktionen nach sich: • abnorme Beziehungsmuster zu Betreuungsper215 Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche • • • • • sonen mit einer Mischung aus Annäherung und Vermeidung, inadäquate Reaktionen auf Beziehungsangebote, nicht-selektives Bindungsverhalten, eingeschränkte Interaktionsmuster mit Gleichaltrigen, Beeinträchtigung des sozialen Spielens, gegen sich selbst und andere gerichtete Aggressionen. Begleitstörungen können sein: • Intelligenzminderungen, • Entwicklungsverzögerungen, • Störung des Sozialverhaltens, • hyperkinetische Störungen, • altersspezifische emotionale Störungen. Bindungsgestörte Kinder sind permanent gefordert und deshalb im Stress. Neben der Überforderung, mit der emotionalen Situation zurechtzukommen, drohen sie in ihrer Entwicklung gegenüber Gleichaltrigen zurückzufallen. Kinder entwickeln sich nervös und unruhig, Sprachfehler können auftreten, sie wirken hektisch und überaktiv, können sich nicht gut konzentrieren und entwickeln wenig Durchhaltevermögen. Ein Kreislauf tut sich auf: Diese Kinder überfordern ihre Umwelt und werden von ihr überfordert. Nach dem ersten Lebensjahr können sich Aggressionen gegenüber Dingen und Personen entwickeln. Sie sind durchgängig Ausdruck von Angst. Ängstlich geprägtes Empfinden wird sich noch wie ein roter Faden durch den Werdegang solcher Kinder ziehen. Die Ursache dafür liegt oft in erlebter Gewalt, sei es gegenüber seiner eigenen Person oder zwischen beziehungsweise gegenüber seinen Bezugspersonen. Gewalttätig aggressives Verhalten durch die Bindungspersonen hat besonders für das spätere Sozialverhalten einen starken Modellcharakter. 216 3. Trauma und Persönlichkeitsentwicklung Traumata sind Erlebnisse, von denen Menschen mit einer Heftigkeit, Plötzlichkeit von Ereignissen überrascht werden, die ihnen in einer ungeschützten Situation zugefügt werden und die sie in einen Schock (Angst, Schreck) versetzen und einen alles überlagernden Stresszustand auslösen. Diese traumatische Situation kann plötzlich auftreten, sie kann sich aber auch allmählich entwickeln oder kontinuierlich ansteigen. Der ihr ausgelieferte Mensch ist einer bedrohlichen Situation ausgeliefert, auf die er sich nicht (mehr) einstellen kann und der er auch nicht entkommen kann. Die Bedrohung ist so umfassend, dass ihr ausgesetzte Personen in einen ausgeprägten Verwirrungszustand geraten. Dazu gehören Unfälle, Natur- und Verkehrskatastrophen, Kriege, Vertreibung, Flucht, körperliche oder sexuelle Gewalt, Misshandlungen und andere Schockerlebnisse. Zwei Qualitäten von Traumata können unterschieden werden: • Big-T-Traumata (nach Francis Shapiro) sind Erlebnisse existenzieller äußerer oder innerer Bedrohung durch Gewalteinwirkung auf den Körper wie physische und sexuelle Misshandlungen und andere Angriffe auf die Existenz. Das können Foltererlebnisse, Katastrophen, Unfälle, schwere Erkrankungen, plötzliche Verluste vertrauter Menschen sein. • Small-t-Traumata, also Bedrohungen im weiteren Sinne, sind scheinbar weniger desaströse Ereignisse. Sie stehen in Verbindung mit Schreck und oft einem hohen Maß an bestürzender Beschämung und tiefer Verunsicherung. Was sie auszeichnet, ist vor allem die gleiche Unausweichlichkeit, wie sie die vom großen Trauma Betroffenen erfahren. »Innerlich katastrophische von Menschen verursachte t-Traumata sind vor allem physische Misshandlungen (und insbesondere sexuelle Gewalterfahrungen), seelische Grausamkeit und E J 4/2008 Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche schwere Vernachlässigungen durch nahe, vertraute Menschen, noch dazu, wenn die Traumatisierungen sehr früh in der Kindheit beginnen, über längere Zeiträume wiederholt auftreten, nie anund ausgesprochen werden können und niemals Schutz und Trost erfahren wurde.« (L.U. Besser, 2008) Für das Opfer entsteht eine Situation völligen Ausgeliefertseins, das Wissen: Jetzt ist alles aus. Es kommt zu einem regelrechten Kollaps aus einem Erfahrungsgefühl der Todesangst, der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins. Das Fatale: Die bei allen Lebewesen angelegten Reaktionsmöglichkeiten – Flucht oder Kampf – sind blockiert und fallen aus. Dieser im Englischen als Freeze-Situation (no fight, no flight) bezeichnete Zustand führt dazu, dass keine der bislang hilfreichen Handlungskonzepte abgerufen werden kann. Auch die Schutzfunktionen der Angst und Aggression, als psychomotorische Anpassungsmöglichkeiten stehen nicht als gezielte einsetzbare Reaktion und vorsätzlich gesteuerte Handlung zur Verfügung. Freeze Angst/Verzweiflung no flight no fight Hilflosigkeit Erstarrung Ohnmacht TRAUMA Die Situation kann sich noch dramatischer entwickeln: Über das Ereignis des Erstarrens hinaus kommt es zu einer Aufsplitterung des Erlebten: Die übermächtig bedrohliche Erfahrung kann als Ganzes nicht ertragen werden und wird deshalb im Gedächtnis unter verschiedenen körperlichen, kognitiven und emotionalen Erlebensperspektiven zerstückelt. E J 4/2008 Ein sehr sinnvoller Schutzmechanismus der Natur sorgt, unter anderem durch das Anspringen des körpereigenen Opiatsystems, für eine betäubende Verringerung von Schmerz und Angst, die bis zu deren Auslöschung führen kann. Durch den ungeheuren Stresspegel ist der Anstieg der Stresshormone bei gleichzeitiger Unmöglichkeit der Fluchtoder Kampfbereitschaft so hoch, dass es zu einer Lähmung des Denkens, Fühlens und Handelns kommen kann und zum Zerreißen der Wahrnehmung des Erlebnisses. Es kommt zu autoprotektiven Wahrnehmungsveränderungen, die den betroffenen Menschen weniger leiden lassen, bis hin zur Umkehr des schrecklichen Erlebens, zu einem Gefühl von Leichtigkeit, Schmerz- und Furchtlosigkeit. »In einer akuten Situation sprechen wir von peritraumatischer Dissoziation (psychotische Abspaltung zusammengehöriger Dinge). Das kann vom Entfremdungserleben der Umgebung (Derealistaion), der eigenen Person (Depersonalisation), der erlösenden Ohnmacht bis zur Fragmentierung des traumatischen Geschehens gehen, in die alle Sinneseindrücke eingebunden sind.« (L.U. Besser, a.a.O.) Die in der Folge auftretende Posttraumatische Belastungsstörung lässt Betroffene unter verschiedensten, zum Teil schwerwiegenden Reaktionen leiden. Typisch sind: • das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, »Flashbacks«), Träumen oder Alpträumen, • das Gefühl des Betäubtseins und emotionaler Stumpfheit, • Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen • Teilnahmslosigkeit und Freudlosigkeit, • Vermeidung von Aktivitäten, die an das Trauma erinnern könnten. Oft tritt auch ein Zustand von andauernder Übererregtheit und Reaktionsbereitschaft ein, der weitere Folgen mit sich bringt: 217 Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche • Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen, • Angst und Depressionen bis hin zu Suizidgedanken, • Konzentrationsschwierigkeiten, • Aggressivität, Reizbarkeit und Wutausbrüche. Insbesondere die Symptome des Wiedererlebens sind spezifische Aspekte einer tief greifenden seelischen Verletzung. Immer wieder sich aufdrängende, beängstigend-belastende Vorstellungen, die meist gar nicht in der bewusst erlebten Erinnerung erscheinen, führen zu manchmal chaotischen, emotional intensivst erlebten Situationen. Neben den Alpträumen können das Bilder, Erinnerungen (Bruchstücke), Gedanken(-fetzen) sein; Nachhallerlebnisse rufen heftigste Erregungen und Verhaltensweisen wach. Die Symptome des Wiedererlebens können durch so genannte Trigger ausgelöst werden. Es handelt sich dabei um Phänomene, die in irgendeiner Weise an das Ereignis als Ganzes oder in Teilen erinnern, diesem ähnlich sind oder dieses symbolisieren. Eine Konfrontation mit einem solchen Trigger kann sowohl auf psychischer wie auf körperlicher Ebene heftige Reaktionen mit großem Leidensdruck auslösen. Pur und ungefiltert können Stressreaktionen übergangslos wieder auftreten, wie das Beispiel »Moritz« zeigt: Moritz weist sich 15-jährig selbst in die Psychiatrie ein, weil er »mit dem Leben nicht mehr zurechtkommt«. Die Mutter lehnt ihn offen ab, der Vater hält nur vordergründig zu ihm. Die Zeit in der Klinik hat Moritz sehr positiv in Erinnerung, er hat eine Ordnung, geregelte Mahlzeiten und Menschen, die sich um ihn kümmern. Nach der Entlassung hält er sich für jeweils wenige Tage in sozialpädagogischen Einrichtungen auf; auf seinen Wunsch hin, »weiter von zu Hause weg zu kommen«, gelangt er zu uns. Moritz ist ein eher schüchterner, freundlicher und aufgeweckter Junge. Mit der Wahrheit nimmt er es nicht immer so genau, aber »die Phantasie ging schon früher mit ihm durch«, so der Vater. Moritz besucht die Schule, hält regen Kontakt zu Mädchen, ist zuvor218 kommend, hilfsbereit und angepasst. Auf dem Weg vom Sportplatz zurück zur Schule entführt er mit einem jüngeren Mitschüler ein herumstehendes Fahrrad und wirft es in den Bach. Als der Lehrer darauf aufmerksam wird, mahnt er die Jungen, das Rad wieder zu holen und zurückzubringen. Am Bach angekommen fällt Moritz über seinen Kameraden her und schlägt ihn so lange und heftig, bis der bewusstlos am Boden liegt. 4. Traumatisierte Kinder und Jugendliche in sozialpädagogischen Einrichtungen Offensichtlich verbleiben Traumafragmente als solche verbindungslos gespeichert und summieren sich mit von außen kommenden Eindrücken zu Stressoren, die höchsten Alarm auslösen können und den Betroffenen mental sofort auf Flucht und Kampf umschalten lassen. Die Dramatik ist, dass die Person selbst nicht in der Lage ist, irritierende und verwirrende Sinneseindrücke einzuordnen und das eigene Verhalten entsprechend vernünftig und angepasst zu steuern. So tauchen für die Umwelt beängstigend und unverständlich die fatalsten Lebensäußerungen unerwartet und vermeintlich ohne Zusammenhang mit gegebenen Umständen auf: Aggressionen, Weinerlichkeit, Hilflosigkeit, Suizidgedanken, Ängstlichkeit. Fatal ist weiterhin, dass solche Phänomene nicht immer alleine auftauchen, sondern durchaus gebündelt präsent werden. Der oben erwähnte Moritz kann nicht nur scheinbar aus dem Nichts explodieren, er klagt auch über Schlaflosigkeit, trinkt eine Flasche Reinigungsmittel, verweigert die Hilfe, »weil ihr mir sowieso nicht helfen könnt«. Auch weniger ausagierende junge Menschen stellen ihre Umgebung vor erhebliche Rätsel, da für die auftretenden Phänomene auf den ersten Blick keine passenden Erklärungen zu finden sind. Immer haben die Helfer mit einem beinahe unüberwindbaren Widerstand zu kämpfen, der auf beiden Seiten Kränkungen zur Folge hat. Gutgemeinte Aktionen laufen ins Leere, viel Energie bleibt auf der Strecke, ohne dass zählbare Ergebnisse zu konstatieren sind. E J 4/2008 Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche Jugendliche entwickeln also nicht nur in pubertären Zusammenhängen sonderbare Verhaltensweisen. Ein Teil des in der öffentlichen Diskussion für Aufmerksamkeit sorgenden Themas »Gewalt von beziehungsweise unter Jugendlichen« spielt sich auch in sozialpädagogischen Einrichtungen ab. Ausagierende Jugendliche stammen oft aus Familien, die mit erheblichen Belastungen aller Art zu kämpfen haben und in denen eben nicht im erforderlichen Maße die Fähigkeiten vorhanden sind, adäquat zu handeln und den Kindern die notwendige und hinreichende Unterstützung zu geben. Mehr noch, schlechtestenfalls entsteht eine Kaskade sich negativ gegenseitig beeinflussender Gegebenheiten, wie oben aufgezeigt, mit der Folge einer Schädigung (früh-)kindlicher Entwicklung, die die dargestellten Folgen haben kann. Das Beispiel »Max« Max kam mit seiner Sozialarbeiterin zur Tür herein. Er war groß für seine 16 Jahre, und erst seine Turnschuhe: riesig. Max trug den Kopf tief, die Schultern eingezogen, Hände in den Taschen, dem Blick ausweichend. Die vorhergehende Einrichtung hatte ihn nur drei Wochen ertragen, dann kam das Aus. An einem Auto war die Bremsleitung durchgeschnitten, unter der Tür des Bereitschaftsdienstzimmers war plötzlich eine Stichflamme durchgeschossen, eines Abends fiel die komplette Telefonanlage aus. Der Stresspegel war durchweg hoch, dabei konnte ihm niemand etwas nachweisen. Es fiel nur auf, dass, seit er da war, die Stimmung kippte. Unter manchen Jugendlichen machte sich Angst breit, andere, die in seinem Dunstkreis sein durften, sonnten sich in einem neuen Selbstbewusstsein. Auf meine Frage, was er hier wolle, meinte er nur: »Schlagen, Euch alle.« Und, wo soll das hinführen: »Weiß nicht, ist auch egal.« Und wie können wir es hinbekommen dass es keinen Stress gibt? »Weiß nicht. Mich in Ruhe lassen.« Das haben wir erst einmal auch getan. Max war leidlich freundlich, doch immer »an der Grenze«: Er ging nicht aus dem Weg, wenn jemand kam, E J 4/2008 hatte immer das letzte Wort, breitete sich in jeder Hinsicht aus. Die Bedürfnisse anderer gingen ihn nichts an und das ließ er sie auch spüren. Da er den engen Rahmen der vorherigen Einrichtung nicht einhalten konnte, ließen wir ihn erst einmal gewähren, in der vagen Hoffnung, dass er schon von sich aus kommen würde. Er kam nicht. Er verschanzte sich in seinem Zimmer, war überwiegend nachts unterwegs. Sachschäden und die Klagen der anderen Jugendlichen nahmen zu. Schließlich stellte er sich gegen die Erzieher/-innen, die Grenze war – wieder einmal – erreicht. In der Folge zogen wir ihn aus seinem verdreckten Zimmer. Er flüchtete in die nahe Wohnsiedlung. In der »Wohngruppe für Jugendliche mit erhöhtem Förderbedarf« sah er sich einige Tage um und begann dann wieder sein Programm. Scheiben gingen zu Bruch, eine Tür fehlte, er verweigerte sich gemeinsamen Unternehmungen. Als einige Jugendliche mit Äpfeln eine nahe Scheune beschädigten, stand er lächelnd im Hintergrund. Schulunterricht verunmöglichte er allein durch seine Anwesenheit, Jugendliche bekamen es mit der Angst, Sozialpädagogen auch. Er erhielt zwei Auszeiten, jeweils einige Tage mit einem Betreuer. Ziel war, mit ihm eine Perspektive und Möglichkeit erarbeiten zu können, zu bleiben und den – seinen – Weg eine gewisse Zeit gemeinsam zurückzulegen. Eine Vereinbarung wurde getroffen, ein Vertrag unterschrieben: Er kann bleiben, wenn er sich an die geltenden Vorgaben hält. Ausschlusskriterien wurden erörtert, die Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz klargestellt. Nach einigen Tagen kam sein Ja: »Ich will bleiben, denn ich weiß nicht wohin, und ich werde verrückt, wenn ich alle paar Wochen woanders hin soll. Aber ihr müsst mir dabei helfen!« Max kann sich nicht erinnern, irgendwann ein angstfreies Leben gehabt zu haben. Immer war laut Max »trouble« in der Familie. Vor allem der Vater »hat richtig Gas gegeben«. Er war lustig, humorvoll, witzig, jähzornig, rücksichtslos, bösartig. Das Schlimme: Max konnte nie voraussehen, wann die Stimmung kippte. Schläge kamen aus 219 Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche heiterem Himmel. Übergangslos und nicht einschätzbar wurde es dem Vater zu viel. Er kam in aufgeräumter Stimmung nach der Arbeit nach Hause und spielte mit seinen Kindern. Oder er kam nach Hause und schlug erbarmungslos zu. Seine Kinder. Seine Frau. Er führte mit dem Auto die waghalsigsten Manöver durch. Er sang, er jubilierte, er schwieg. Nichts war voraussehbar. Als Max wegen einer Kleinigkeit den Mund aufmachte, fuhr der Rest der Familie zwei Wochen lang ohne ihn in den Urlaub. Er wurde bestraft und wusste nicht warum. Um seine Ängste in den Griff zu bekommen, wurde Max zum Zerstörer. Wenigstens die Bestrafung war berechenbar. Er provozierte im Kindergarten, in der Schule, die Nachbarn. Er wurde eingeschult, er wurde ausgeschult. Der Vater hob ihn in den Himmel, er prügelte ihn durch den Garten. Die Mutter sah zu, sie weinte und schwieg. Eines Tages schlug Max zurück. Als er erkannte, dass er die Schlacht gewinnen könnte, überkam ihn ein Gefühl grenzenloser Freiheit, das ihn ängstigte und das ihn leichtsinnig machte: Jetzt war er es, der dem Vater Angst bereiten konnte. Dieser verließ eines Morgens mit seiner Frau das Haus, und eine Stunde später stand die Polizei in der Tür und holte ihn ab. Von da an entwickelte sich in Max die Vorstellung, seinen Vater umzubringen. Grenzen sprengende Jugendliche entstammen auch aus dem Umfeld posttraumatischer Belastungsstörungen. Sie fordern die Umgebung im hohen Maße heraus. In Einrichtungen sind sie nicht nur Opfer, sie sind fast immer auch Täter. In erstaunlichem Maße sind sie resistent gegenüber erzieherischen Einflussversuchen. Die bewährten »Erziehungsversuche« wie Maßnahmen und Unternehmungen zur Beeinflussung von Verhaltensweisen junger Menschen erreichen diese oft nicht. Und so bringen diese Jugendliche Erzieher/-innen und Sozialpädagogen/-innen an den Rand ihrer Möglichkeiten: Die Auseinandersetzungen mit ihnen sind anstrengend, Kraft raubend und auch Angst machend. 220 Aber nicht nur die Pädagogen sind frustriert. Auch Kinder und mehr noch Jugendliche machen sich nach eigener Einschätzung erneutem Versagen schuldig, wo doch so viel investiert wird und nichts aus ihnen wird. Die manchmal beeindruckend auftretende Resistenz einiger junger Menschen erklärt sich aus früh aufgetretenen Schädigungen, die zudem im ungünstigen Fall lange angehalten haben. Doch unter anderem durch die Erkenntnisse der Traumaforschung um problematisches Verhalten lassen sich ein anderes Verhältnis und eine andere Verständigung gegenüber den jungen Menschen entwickeln. Das Wissen, dass hier jemand nicht »kann«, lässt eine andere Zugehensweise zu, als der (implizite) Vorwurf des Nicht-Wollens. Auch für die, die nicht können, gelten Regeln und Anforderungen. Manchmal sind sie im hohen Maße notwendig, wenn Kinder und Jugendliche sich nicht ausreichend selbst steuern können. Klarheit und Verlässlichkeit sorgen dort für Übersicht, wo bisher eher Chaos herrschte. Transparenz und Berechenbarkeit setzten der verunsichernden Welt einen Pol der Sicherheit gegenüber. Ein klar gegliederter Alltag mit übersichtlichen Konstellationen setzt einen Gegenentwurf zur erlebten Ohnmacht und Willkür. Insofern kommt schon dem gelingenden Alltag therapeutische Bedeutung zu. Aber aus dem Schatzkästchen pädagogischer Interventionen lässt sich noch einiges mehr hervorzaubern: • Das gemeinsame Erarbeiten alternativer Handlungsmuster nimmt die jungen Menschen ernst und lässt erste Strukturen legen zur aktiven Bewältigung von Aufgaben als ein positives Erleben von Selbstwirksamkeit. • Behindernde Selbstbilder lassen sich mit Elementen der Erlebnispädagogik wenigstens teilweise korrigieren. • Der Zusammenhang zwischen erdrückenden Erfahrungen und den augenblicklichen Problemen E J 4/2008 Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche wie beispielsweise Fremdunterbringung, Scheitern in der Schule oder Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen, denen sich junge Menschen gegenübersehen, muss hergestellt und zugänglich gemacht werden. Erst dies ermöglicht es, gemeinsam Lösungen zu finden. • Das Erlebte muss enttabuisiert werden, vor allem wenn es aus dem Umfeld der Familie kommt. Auch dann ist der Weg steinig. Diese Kinder und Jugendlichen sind misstrauisch und ängstlich allem Neuen gegenüber, weil sie es nicht einschätzen können. Alles, was sie kennen, und sei es noch so belastend, ist vermeintlich besser als die Unsicherheit des Neuen, die nicht bewertet werden kann. So kommt es, dass Kinder und Jugendliche Auseinandersetzungen provozieren, obwohl »man es gut mit ihnen meint«. Dieses (Er-)Leben ist ihnen vertraut, auf diesem Terrain sind sie zu Hause. Für Pädagogen ist gerade das die große Herausforderung. Aber: Wenn wir uns nicht engagiert und fachlich dieser Herausforderung stellen, verlieren wir diese Jugendlichen aus den Hilfesystemen, ohne dass wir ihnen helfen konnten. Spätestens wenn aus dem Kind ein Jugendlicher wird und er uns aufgrund seiner gewachsenen Physis bedrohlich wird und sich zumindest in der Lage wähnt, seine Situation selbst zu entscheiden, wird er das auch tun. Schon das vordergründig zur Schau gestellte Selbstbewusstsein (»ich darf nicht verlieren«) zwingt einen jungen Menschen, Zeichen zu setzen. Das Dargestellte kann als Möglichkeit gewertet werden, einem schwierigen Personenkreis brauchbare Hilfen zur Verfügung zu stellen. Eine Gewähr fürs Gelingen ist es nicht. Zu komplex sind die Lebensläufe junger Menschen, ihre familiären Hintergründe mit Erfahrungen, die oft über Generationen zurückreichen, und die individuelle Entwicklungsdynamik. Die Abgrenzung zu anderen Störungsbildern muss gezogen werden, damit hier kein Durcheinander entsteht. Aber es ist viel mehr E J 4/2008 als ein Versuch, es ist eine Chance, für Kinder und Jugendliche und für professionelle Helfer. 5. Wege aus dem Dilemma – Ein Ausblick 1. Verschaffen Sie sich einen Überblick: Sorgfältige anamnestische Erhebungen und die Mühe einer gewissenhaft erstellten Diagnose sind die Basis für eine erfolgreiche Arbeit mit traumatisierten Jugendlichen. (Leider wird dieser Aspekt immer noch nicht ausreichend gründlich ausgeführt. Anders als psychiatrische Fachärzte verfügen Sozialpädagogen nicht über ein Regelwerk wie das ICD 10 und auch nicht immer über das Selbstverständnis der Durchführung einer adäquaten Exploration). Ohne die Hintergründe zu kennen und zu verstehen, ist es kaum möglich, für solcherart belastete jungen Menschen geeignete Hilfen zu installieren und die umfassende Aufarbeitung des Problems anzugehen. Der Alltag sieht leider oft so aus, dass ASD-Mitarbeiterinnen und Gruppenpädagogen mit der anstrengenden Tagesarbeit (Strukturieren, Begrenzen, Planen, Dokumentieren, Auseinandersetzen ...) so gefordert sind, dass über den Tellerrand hinausreichende, aber notwendige Detektivarbeit, Elternarbeit oder Kooperationen allzu oft nur unzureichend erfolgen können. 2. Unterstützung der pädagogischen Bemühungen durch eine spezielle (Trauma-)Therapie für Kinder und Jugendliche, in der sie lernen, Erlebtes zu berichten und die Sprachhemmung sowie die zersplitterte Gedächtnisleistung zu überwinden. Sie erleben die Unterstützung wissender, wohlmeinender und »neugieriger« Therapeuten/-innen und Erzieher/-innen. In dieser Therapie können sie Techniken erlernen, die es ihnen ermöglichen, beunruhigende Sachverhalte zu verschließen, sie wegzustecken, mit ihnen umzugehen: aus der passiven Rolle des Opfers gelangen sie in die aktive dessen, der lernt, sein Schicksal in die Hand zu nehmen. 3. Schaffen eines sicheren Ortes als pädagogische Antwort auf die Erlebnissituation des Kin221 Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche des oder Jugendlichen: Ein geordneter Platz, entsprechend eingerichtet und ausgestattet als Umgebung und Beheimatung für den jungen Menschen mit stabilen, erwachsenen Erwachsenen, die Halt geben, verstehen (wollen) und in der Lage sind, einen äußeren Rahmen als beständiges Gerüst zu schaffen, der als inneres Gerüst den Kindern und Jugendlichen nicht zur Verfügung steht. Erwachsene, die die oft extremen und eskalierenden Jugendlichen aushalten, sich mit ihnen auseinandersetzen, die standhalten und auch in Krisen und nach Konflikten zu den Kindern und Jugendlichen stehen, auf die sie sich, als Muster und Gegenstück zu gemachten Erfahrungen, verlassen können. Erwachsene, die Kinder und Jugendliche nicht abschieben (»... der passt nicht in unser Konzept«), sondern die geeignet sind, über die durchlebten Konflikte hinaus wieder Beziehung entstehen zu lassen. Durch Stabilität, Verlässlichkeit und Unbedingtheit wird am ehesten vermieden, dass die Kinder und Jugendlichen vom Helfersystem noch einmal »sekundär traumatisiert« werden, indem sie wiederum die Ohnmacht und die Hilflosigkeit erfahren und das scheinbare Ausgeliefertsein an das Schicksal (»ihr könnt mir doch nicht helfen«, siehe oben). Zu diesem Rahmen gehört auch die konzeptionelle Freiheit, den Rahmen entsprechend der Notwendigkeit flexibilisieren zu können. 4. Arbeit mit traumatisierten Jugendlichen ist immer auch Arbeit mit dem familiären Umfeld. Diese sozialpädagogische Binsenweisheit muss jeder, der sich diesem Personenkreis stellen will, ganz bewusst in die strukturell-inhaltliche Ausgestaltung der Arbeit integrieren. Oft kommen Stressoren aus dem familiären Milieu und doch ist es beinahe immer der größte Wunsch junger Menschen, wieder in die Familie zurückzukehren. Die Aufarbeitung des Traumas, den Schutz des Kindes oder Jugendlichen zu gewährleisten, die Wiederholung belastender Ereignisse so weit es geht auszuschließen und letztlich eine Aussöhnung sowie die Möglichkeit des Verzeihens und somit der Weiterentwicklung sicherzustellen, gehören in diesen Aufgabenkatalog 222 5. Sicherstellung entsprechender Rahmenbedingungen: So lapidar das klingen mag, die Struktur muss stehen, von der sachlich-finanziellen Ausstattung bis zur Unterstützung durch Leitung, begleitende Dienste und Fachkräfte von außen und geeigneten Kooperationsstrukturen. In diesen Punkt gehört naturgemäß der Abgleich mit den öffentlichen Trägern. Eine falsch verstandene Einsparpolitik konterkariert jedwede professionelle Anstrengung und stellt die Beteiligten vor weitere, nicht hilfreiche Schwierigkeiten. 6. Und: Die mit der Erziehung und Förderung dieser jungen Menschen verbundenen Aufgaben sind allein, das heißt, nur von einer Profession, nicht zu leisten. Zu unerklärlich, bizarr, hartnäkkig und bedrohlich sind im Einzelfall die Begleiterscheinungen, als dass sie im sozialpädagogischen Setting einer Wohngruppe allein aufgefangen werden können. Hier ist strukturierte, über den Einzelfall hinausreichende Kooperation mit den Diensten der Kinder- und Jugendpsychiatrie und mit Therapeuten anzustreben, aber auch mit Polizei und Justiz, damit für das einzelne Kind und den einzelnen Jugendlichen umfassend Hilfestellung erreicht werden kann, auch im Vorfeld großer, belastender Krisen. Die subtile Betrachtung multifaktorieller Beeinflussung der menschlichen Entwicklung und der Wechselwirkung von körperlichen, seelischen und sozialen Zuständen gelingt im Zusammenspiel der Professionen sehr viel besser. In diesem Selbstverständnis lassen sich auch krisenhafte Ereignisse, hervorgerufen durch entsprechende Aktionen der Kinder und Jugendlichen, in produktiver, für die jungen Menschen gewinnbringender Art und Weise, bewältigen. Ewald Zauner Distriktleitung Ev. Jugendhilfe Friedenshort Tiele-Winckler-Str. 72 74613 Öhringen regionsued.schwaebischhall@ jhfh.friedenshort.de E J 4/2008 Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche Liegl, W: Was tun mit den »besonders Schwierigen«? In: jugendhilfe (Hrsg.), 1/2000 Literatur Besser, L und Hofmann, A: Psychotraumatologie bei Kindern und Jugendlichen. Grundlagen und Behandlungsmethoden. In: Bindung und Trauma, Stuttgart, 2008 Schwabe, M: Unerzogen – Verunsichert – Fasziniert oder Wahnhaft? In: EREV (Hrsg.), Schriftenreihe 3/2002 Hassenstein, B: Was Kindern zusteht, München, 1990 Uttendörfer, J: Traumazentrierte Pädagogik. Von der Entwicklung einer Kultur eines »Sicheren Ortes«. In: unsere jugend, München 2/2008 Hassenstein, B: Verhaltensbiologie des Kindes, München, 1987 Wecker, K: Genug ist nicht genug, Team Musikon, 1977 Huber, M: Wege der Traumabehandlung, Paderborn, 2006 Wolf, K: Machtprozesse in der Heimerziehung, Münster, 1999 Krieger, W: »Gewaltprävention im Alltag der stationären Jugendhilfe – pädagogische und ästhetische Aspekte«. In: EREV (Hrsg.), Evangelische Jugendhilfe, 5/2007 Zywicki, C: Wollen sie nicht oder können sie nicht anders? In EREV (Hrsg.), Evangelische Jugendhilfe, 1/2006 Nr.: 43/2008 EREV – FREIE SEMINARPLÄTZE– FREIE SEMINARPLÄTZE Pendeltür – Kinder und Jugendliche Eine besondere pädagogische Herausforderung zwischen den Hilfesystemen Inhalt und Zielsetzung Einige Kinder und Jugendliche zeigen sich wie Bälle in einem Flipperautomaten: Kaum kommen sie auf uns zu, entfaltet sich ein Dynamik, dass es nur so funkt. Schon steuern sie neuen Zielen entgegen, »titschen« von einem Ende zum anderen, kommen selten zur Ruhe. Und wenn wir nicht schnell und flexibel genug reagieren, sind sie gar nicht zu halten. Kinder und Jugendliche mit diesem Beziehungs- und Symptomverhalten beschäftigen meist mehrere Hilfesysteme (Jugendhilfe, Psychiatrie, sonderpädagogische Beschulung, Strafinstanzen) und bringen diese in eine spannungsreiche Zusammenarbeit. Sie werden häufig mit Bindungsstörungen, Dissozialität oder einer Borderline-Persönlichkeit diagnostiziert, Nähe und Distanz mit ihnen ausbalancieren ist besonders schwierig. Das zentrale Paradigma der Jugendhilfe, die bezugspädagogische Betreuung, scheint fast nicht umsetzbar. In diesem Seminar werden wir versuchen, Zugänge des Verstehens zu diesen Kindern und Jugendlichen zu finden und Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Methodik Das Seminar hat einen Werkstattcharakter. Ausgangspunkt werden Fallarbeiten und Praxiserfahrungen sein, bei deren Reflexion theoretische Bezüge vermittelt und auf ihre Handlungstauglichkeit hin überprüft werden. Zielgruppe Interessierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus der Erziehungshilfe, die sich mit dem Thema beschäftigen und sich weiterbilden möchten. Leitung Heide Roscher-Degener, Münster; Andreas Kuchenbecker, Erkrath Termin/Ort 10. – 12.11.2008 in Mülheim/Ruhr Teilnahmebeitrag 249,- € für Mitglieder / 289,- € für Nichtmitglieder inkl. Unterbringung und Verpflegung Teilnehmerzahl 14 E J 4/2008 223 Leben lernen – Freiräume nutzen Ein neues Angebot hilft jugendlichen Sexualstraftätern nach der ersten Therapie Tobias Häßner, Neukirchen-Vluyn »Kein Toast und Nutella bis Montag!« Gleich über zwei Spalten geht diese Anweisung auf der großen Tafel des Mitarbeiterbüros. Zwei Spalten heißt: Hier wird das Verhalten von zwei Jungen gleich zeitig sanktioniert. Die beiden Jugendlichen der Gruppe »Freiraum« in Kamp-Lintfort hatten genau diese Dinge – Toast und Nutella – aus dem nahe gelegenen Supermarkt gestohlen. Das allerdings ist nicht ihr eigentliches Problem. Offensichtlich bedeutet der Einkauf im Supermarkt ebenso eine Risikosituation für die Heranwachsenden wie die Erreichbarkeit von Alkohol und Drogen. Deshalb hat das gemeinsame Besprechen eben dieser Situationen seinen Platz in der Gruppe. »Im Bereich der Sexualität können die Jungen mittlerweile sehr gut das Gefährdungspotenzial verschiedener Situationen benennen und abschätzen«, erzählt Gruppenleiterin Sandra Schmitz. »Doch daneben gibt es andere typische Gefahren für Jungen in diesem Alter, die nicht ausgeblendet werden dürfen.« Schließlich gelte es, ergänzt die Sozialpädagogin, die Jugendlichen an die Selbstständigkeit heranzuführen. Alternative: Jugendstrafvollzug Die Gruppe »Freiraum« besteht seit einem Jahr. Als Jugendhilfemaßnahme ist sie nicht isoliert konzipiert, sondern baut auf einem anderen Angebot der Neukirchener Kinder- und Jugendhilfe auf, der Therapeutischen Interventionsgruppe (TIG). Etwa 25 Kinder und Jugendliche haben seit 2004 das sechsstufige Therapieprogramm der TIG (siehe NM Dezember 2005) durchlaufen. Sie alle – ob unter 14 Jahren und damit strafunmündig oder älter – haben eines gemeinsam: Andere Kinder wurden Opfer ihrer sexuellen Übergriffe, bis hin zur Vergewaltigung. Dass die Bewohner der TIG in 224 den meisten Fällen selbst zuerst Opfer von Erwachsenen waren, wird nicht ausgeblendet. Dennoch geht es in der TIG in erster Linie darum, die jugendlichen Täter mit ihrem Fehlverhalten zu konfrontieren. Deshalb sind in der ersten Phase auch freiheitsbeschränkende Maßnahmen vorgesehen; die enge Regelorientierung zieht sich durch die gesamte Therapie. Schließlich ist für die Älteren der Jugendstrafvollzug eine drohende Alternative. Doch was passiert mit den Jugendlichen, die erfolgreich das Programm durchlaufen haben? »Häufig gibt es für sie kein Zurück in das elterliche Umfeld«, weiß Sandra Schmitz. Allerdings seien sie für eine eigene Wohnung noch zu jung. »Und welche anderen Heimgruppen sind für eine Arbeit mit Jungen dieser speziellen Problematik geeignet?«, fragt die Gruppenleiterin. Die Herausforderung bestand also darin, einen Übergang von einem stark strukturierten Tagesablauf hin zu einem Konzept zu entwickeln, in dessen Rahmen die Jugendlichen zu einem selbstverantworteten Leben befähigt werden. Das Ergebnis war das Konzept für die Gruppe Freiraum mit insgesamt vier Phasen. Die Bewohner sollen lernen, sich in einem weniger kontrollierten und strukturierten Umfeld zu bewegen. Vertraute Anknüpfungspunkte Sieben Jugendliche im Alter zwischen 16 und 18 Jahren leben derzeit in der Gruppe. Phase 1, so ihr fast einhelliges Urteil, ist zunächst ein Rückschritt gegenüber der letzten TIG-Phase. Der Ausgang ist enger reglementiert. So müssen sich die Jungen, wenn sie das Haus verlassen möchten, wieder abmelden. Auch die allabendlichen Reflektionen mit den Therapeuten sind Pflicht. Sandra Schmitz beE J 4/2008 Leben lernen – Freiräume nutzen gründet dies mit dem hohen »Wiedererkennungswert« aus der TIG. Außerdem können die Jugendlichen auf diese Weise an gelernte Abläufe anknüpfen, was ihnen zudem Stabilität vermittelt. Am Anfang der ersten Phase steht ein Zielvereinbarungsgespräch zwischen den Betreuern und den Jugendlichen. Dabei geht es natürlich auch noch einmal um den sexuellen Missbrauch, den sie begangen haben. In diesem Zusammenhang müssen die Jungen einen Selbsteinschätzungsbogen ausfüllen, auf dem sie eigenständig ihre Stärken und Schwächen sowie die noch zu entwickelnden Fähigkeiten benennen sollen. Der Weg in die nächst höhere Phase führt ausschließlich über das Erreichen der gemeinsam festgelegten Wochenziele. Dies wird durch einen grünen Bilderrahmen dokumentiert. Ein gelber steht für Stillstand und rot heißt: Das Ziel wurde nicht erreicht – Neustart. Das passiere, wenn die Jungen nicht konsequent an ihren Wochenzielen arbeiteten, so Sandra Schmitz. Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass sie keine Absprachen einhalten, ihre Bücher – so zum Beispiel das Wegebuch und das Gefühls- und Gedankenbuch – nicht lückenlos führen oder schlichtweg unpünktlich sind. Eigentlich ist Phase 1 auf sechs Wochen angelegt. Doch einige Jungen haben selbst nach sechs Monaten die zweite Phase noch nicht erreicht. Die Gruppenleiterin führt dies auch darauf zurück, dass die Jugendlichen nach dem Wechsel in die städtische Umgebung ein größeres Sicherheitsbedürfnis haben. Und das Verharren in einer Phase bedeute zunächst ein längeres Verbleiben in der vertrauten Gruppe. Ein respektvoller Umgang Dennoch sind Erzieher und Therapeuten, aber auch die Bewohner selber davon überzeugt, dass das gesamte Therapieprogramm ihnen weiterhilft. Die TIG habe ihn weitergebracht, die erste Phase in Freiraum auch, so der 16-jährige Martin (alle Namen geändert). Er gehe mittlerweile noch selbstständiger mit der Freiheit um, lautet seine Selbsteinschätzung. Und seine gleichaltrigen MitE J 4/2008 bewohner Torben und Rafael legen, wie Martin auch, Wert darauf, dass man gelernt habe, mehr Respekt vor dem Anderen aufzubringen. Torben ist Gymnasiast. Für ihn bedeutet es viel, dass er sich inzwischen besser in das jeweilige Gegenüber hineinversetzen kann. Schließlich ist Empathie für die Opfer bereits in der TIG ein wichtiger Schwerpunkt. Doch auch die Tatsache, dass Torben nicht mehr bei jeder Anweisung sofort in die Diskussion mit seinen Betreuern gehen muss, ist für ihn ein Erfolg. Den Beweis, dass die Jugendlichen respektvoll und wertschätzend miteinander umgehen können, bleiben sie nicht schuldig. Als Rafael über seine Erfahrungen berichtet, ergänzt ihn Torben positiv und in freundschaftlicher Weise. Er sei offener und mutiger geworden und könne – wenn er denn wolle – besser mit Geld umgehen. Martin, Torben, Rafael und die anderen brauchen noch für einige Monate den Rahmen der Gruppe. Das beinhaltet auch die Inanspruchnahme von Sport- und Kreativangeboten sowie hier und da Anleitung für eine sinnvolle Freizeitgestaltung. Gerade die Nutzung der modernen Medien und die Gefahren des Internets bergen einige Risiken. Doch die Perspektive ist klar. Alle wollen die Selbstständigkeit, einen Schulabschluss und eine Ausbildung beginnen: Martin als Schreiner, Rafael als KfZ-Mechatroniker und Torben möchte studieren. Sandra Schmitz zieht jedenfalls nach fast einem Jahr ein positives Fazit: »Unsere bisherigen Erfahrungen machen uns Mut für die Zukunft. Wir erleben, dass die Jungen von diesem Konzept profitieren und sich weiter stabilisieren. Im Herbst 2008 werden voraussichtlich die ersten Jungen in eine eigene Wohnung ziehen und ihr Leben dann in Eigenregie weiterführen« – mit Toast, Nutella und vielen anderen und selbstverständlichen Dingen des Alltags. Tobias Häßner Leiter Kommunikation (bis Juni 2008) Neukirchener Erziehungsverein Andreas-Bräm-Straße 18/20 47506 Neukirchen-Vluyn 225 Fehlmeldung der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) Björn Hagen, Hannover In ihrem Newsletter der Ausgabe 1/2008 berichtet die BPtK darüber, dass mit der Heimerziehung die Kosten explodieren. In dieser Kurzmeldung werden die Kosten der Erziehungsberatung und der stationären Betreuung miteinander verglichen. Hierbei gelangt die BPtK zu der Aussage: »Die präventive Arbeit der Erziehungsberatung ist gesundheitsökonomisch deutlich günstiger als die Heimunterbringung. Theoretisch rechnet sich die Beratung und Behandlung in einer Erziehungsberatung schon, wenn durch ihre Arbeit bei einem bis drei Prozent der Kinder eine Heimunterbringung verhindert werden könnte«. Hierbei bezieht sich die BPtK auf die Ergebnisse einer Pilotstudie von Prof. Dr. Jürgen Wasem (Universität Duisburg/Essen) und Privatdozent Dr. Christian Krauth (Medizinische Hochschule Hannover) im Auftrag des BPtK-Ausschusses »Psychotherapie in Institutionen«. In der Kurzmeldung heißt es zum Schluss: »fiskalisch begründete Einsparungen bei der Erziehungsberatung haben nach dieser Berechnung eine gegenteilige Wirkung. Für jeden Euro, den Länder und Kommunen bei der Erziehungsberatung einsparen, entsteht Ihnen ein Vielfaches an Kosten an anderer Stelle.« Bei allem Verständnis dafür, sich für die jeweiligen Arbeitsbereiche einzusetzen, darf es nicht dazu kommen, die Hilfearten miteinander aufzuwiegen. So hat sich Rolf Schüler-Brandenburger als Mitarbeiter der Jugendhilfe gegenüber der BptK über diese Verlautbarung entsetzt geäußert. In seiner Stellungnahme beschreibt Schüler-Brandenburger »aber eine Heimunterbringung sollte nie »verhindert« werden dürfen, wie in Ihrer Meldung dargestellt, nämlich genau dann nicht, wenn sie indiziert ist. Sonst verhält man sich zumindest fahrlässig. Die Frage der Kosten muss dabei zweitrangig sein. Wer aus ökonomischen Gründen eine Hilfeart protegiert, handelt missbräuchlich. Rolf 226 Schüler-Brandenburger bittet die Bundespsychotherapeutenkammer darum, die Stellungnahme zu veröffentlichen. Dieses wurde von der BPtK mit der Begründung abgelehnt, dass das Format des Newsletters eine Veröffentlichung von Leserbriefen nicht vorsieht. Auch eine Richtigstellung wird nicht erfolgen. In einem Schreiben an SchülerBrandenburger versichert die BPtK, dass eine »Diffamierung« der stationären Jugendhilfe nicht die Intention dieser Kurznachricht war. Auch ging es nicht darum, zu suggerieren, die ambulante Jugendhilfe könne die stationäre Jugendhilfe grundsätzlich ersetzen. Wenn aufgrund der Kürze der Meldung auf der letzten Seite unseres Newsletters dieser Eindruck entstanden sein sollte, wird dies bedauert. Die Fachzeitschrift »Evangelische Jugendhilfe« hat diese Meldung zum Anlass genommen, bei der Bundespsychotherapeutenkammer nachzufragen. In dem Gespräch mit dem wissenschaftlichen Referenten, Dr. Johannes Klein-Heßling, nahm dieser Stellung zu der Kurznachricht und bedauerte die Veröffentlichung. Sie sei »ein bisschen provokant«. Keinesfalls sei es Absicht der Bundespsychotherapeutenkammer, beide Hilfearten miteinander aufzurechnen. Ebenso kann keine Aussage aufgrund der kurzen Pilotstudie zu der Effektivität von ambulanten oder stationären Hilfen getroffen werden. Die in dem Newsletter veröffentlichten Aussagen seien alle im »Konjunktiv« gesprochen. Wenn es demnach gelingen würde, in Einzelfällen Heimunterbringungen zu vermeiden, lohne sich eben der Einsatz für die Erziehungsberatung. Hierum könne es bloß überhaupt nicht gehen. In Abhängigkeit von der Hilfeplanung müssen die jeweils adäquaten Unterstützungsmöglichkeiten für die Kinder, Jugendlichen und Familien im Einzelfall greifen. Die gesundheitsökonomische Vorstudie beschäftigt sich ausschließlich mit den Effekten von BeE J 4/2008 Fehlmeldung der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) ratung und psychotherapeutischer Behandlung von aggressiven Kindern (vier bis 14 Jahren in Erziehungs- und Familienberatungsstellen). Sie hatte also gar nicht die Aufgabe, ambulante und stationäre Hilfen miteinander zu vergleichen. In der Zielsetzung der Studie wird beschrieben, dass es darum geht, neben dem unmittelbaren Nutzen einer erfolgten Beratung oder Behandlung für die ratsuchenden Klienten die Frage zu beantworten, ob sich auch ein ökonomischer Nutzen für die Allgemeinheit plausibel darstellen lässt. Die Pilotstudie sollte prüfen, ob eine realistische Kosteneinschätzung verschiedener Beratungs- und Behandlungsformen vorzunehmen sei. Andererseits sollte der Versuch unternommen werden, diesen Kosten beispielhaft die möglichen gesellschaftlichen Nutzenaspekte, im Sinne von Kosten, die durch erfolgreiche Beratung vermieden, beziehungsweise eingespart werden können, gegenüberzustellen. Die Studie kommt zu beispielhaften Aussagemöglichkeiten: »In der Beratungsstelle C muss nur eine von 78 Einzelpsychotherapien dazu beitragen, dass ein Schüler mit aggressiver Problematik seinen Realschulabschluss und anschließend eine Berufsausbildung macht. Er wird bis zu seinem 40. Lebensjahr statistisch gesehen 155.000,- Euro mehr an Einkommen akkumulieren, als wenn er nach dem Schulabgang keine Berufsausbildung hätte machen können. Sein persönlicher finanzieller Gewinn wird die Kosten für die 78 Einzeltherapien aufwiegen«. Eine zweite Aussage lautet, »führen in der Beratungsstelle B nur zwei von 114 Elternberatungen dazu, dass eine spätere Straffälligkeit des Jugendlichen vermieden wird, hat die Beratungsarbeit Kosteneinsparungen bewirkt, die im Falle einer Inhaftierung bei Männern durchschnittliche Kosten in Höhe von 72.000,- Euro und bei Frauen durchschnittliche Kosten von 47.000,- Euro auslöst«. Die dritte Aussage: »kann im Rahmen einer Familientherapie in Beratungsstelle A mehr als einmal in 58 Fällen eine Alkoholabhängigkeit eines Jugendlichen vorgebeugt werden, bewirkt diese BeE J 4/2008 ratungsarbeit Kosteneinsparungen im Sinne gesellschaftlichen Nutzens«. In den Schlussfolgerungen dieser Pilotstudie wird beschrieben, dass die Praktikabilität des gesundheitsökonomischen Ansatzes im Bereich der psychotherapeutischen Arbeit von Erziehungsberatungsstellen geprüft werden konnte. Da die sehr kleine Stichprobe der beteiligten Einrichtungen keine Repräsentativität beanspruchen kann, sind die vorliegenden Zahlen nicht zu generalisieren oder zu verallgemeinern. Auch die Gleichsetzung von durchgeführten Behandlungen mit erfolgreichen Behandlungen war für die vorliegende Auswertung zwar praktikabel – ist aber eben nicht übertragbar. Dieses entspricht einer vereinfachten Annahme, die der Wirklichkeit nicht gerecht wird und in Folgestudien neu überlegt werden muss. Die hilfsweise Operationalisierung von Erfolg durch das Kriterium »Behandlung wurde einvernehmlich beendet« ist ebenfalls zu überprüfen. Die Studie geht davon aus, dass die vorliegenden Ergebnisse erwarten lassen, dass gesamtgesellschaftlich zu tragende Kosten vermieden werden könnten. Ziel der Studie ist es, für anschließende Untersuchungen Mittel zu akquirieren und die Aussagemöglichkeiten des Projekts näher zu prüfen. Der Vergleich des Berichtes über die Pilotstudie mit dem Bericht der Bundespsychotherapeutenkammer ergibt, dass keine Übereinstimmung vorliegt. Die Studie selber relativiert die Ergebnisse hinsichtlich ihrer Vergleichbarkeit der Aussagekraft und der Repräsentativität. Bedauerlich ist hierbei, dass die Bundespsychotherapeutenkammer nicht zu einer Korrektur ihrer Kurzdarstellung bereit war. Hannover, 12. Juni 2008 Dr. Björn Hagen Geschäftsführer, EREV Flüggestr. 21 30161 Hannover [email protected] 227 Verändern statt wegsehen – offener Umgang mit Sucht in der Einrichtung? Ingeburg Brandt, Trier Sucht ist nach wie vor ein Tabu-Thema in der Arbeitswelt. Alkohol zu trinken, Medikamente einzunehmen oder Drogen zu konsumieren ist eine ganz persönliche Entscheidung, die aber erhebliche Auswirkungen auf die Arbeit haben kann. Wie reagiere ich als Kollege oder Vorgesetzter, wenn ich den Verdacht habe, dass ein Mitarbeiter berauscht ist? Sehe ich lieber weg? Ob und wie reagiert wird, hängt davon ab, ob ein Problembewusstsein im Unternehmen vorhanden ist, ob es klare verbindliche Regelungen gibt und von der Kompetenz der Vorgesetzten im Umgang mit Suchtproblemen. Sucht ist ein Thema, das vor der Arbeitswelt nicht halt macht. Nach Aussage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sind zehn Prozent aller Werktätigen alkoholkrank. Drogenprobleme spielen zwar zurzeit noch eine untergeordnete Rolle im Arbeitsleben, es ist aber mit einer stetig wachsenden Zahl missbräuchlich Konsumierender, beziehungsweise Abhängiger zu rechnen (vgl. »Schritt für Schritt«, BZgA 2000). Wegsehen ist einfacher? In Betrieben und Einrichtungen, in denen keine Anzeichen für Suchtprobleme vorliegen, ist davon auszugehen, dass die Wahrnehmung für dieses Thema nicht vorhanden ist, beziehungsweise Auffälligkeiten solange wie möglich ignoriert werden. Unerklärliche Fehlzeiten, verändertes Sozialverhalten sowie ein rapider Leistungsabfall können zahlreiche Gründe haben; nicht selten handelt es sich um suchtmittelbedingte Auffälligkeiten. Vorgesetzte, Betriebsräte und Kollegen reagieren oft unsicher und hilflos. Ein Teamleiter formulier228 te sein Dilemma wie folgt: »Erst schicke ich eine Mitarbeiterin nach Hause, dann kriege ich Ärger mit den anderen Mitarbeitern, weil die Schicht unterbesetzt ist und meinem Vorgesetzten mache ich zusätzliche Arbeit. Ignoriere ich das Problem – hoffe, dass es sich von selbst löst – muss ich keine unangenehmen Gespräche führen und spare Zeit.« Langfristig führt diese Strategie zu erheblichen Problemen. Der Vorgesetzte wird zum Mitwisser und kann die Problematik nicht mehr ansprechen, ohne selbst in eine unangenehme Situation zu geraten. Die übrigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen reagieren mit Unzufriedenheit, das Betriebsklima leidet. Es treten vermehrt Fehler auf, die Krankheitszeiten steigen. Suchtmittelprobleme werden zu einem erheblichen Kostenfaktor und können den guten Ruf der Einrichtung gefährden. Das Tabu brechen »Nachdem ich auf der Beerdigung von einem suchtkranken Mitarbeiter war, habe ich mich entschlossen, das Thema Sucht offensiv in unserer Einrichtung anzugehen«, berichtet ein Geschäftsführer. Über Suchtmittel und Suchterkrankungen nachzudenken, sie nicht mehr als Tabu zu behandeln, ist der Anfang für einen bewussten Umgang mit diesem Thema (vgl. Substanzbezogene Störungen am Arbeitsplatz, DHS 2001). Es geht nicht darum, den Genuss des Feierabendbiers zu vermiesen, sondern darum, die so genannte »Punktnüchternheit« zu erreichen, das heißt beispielsweise, am Arbeitsplatz keine Suchtmittel zu konsumieren und auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit keinen Restalkohol im Blut zu haben. E J 4/2008 Verändern statt wegsehen – offener Umgang mit Sucht in der Einrichtung? Der Arbeitsplatz ist wichtiger als die Familie Ein weiterer, wichtiger Aspekt für einen konstruktiven Umgang mit Suchtproblemen ist die Erarbeitung eines – der betrieblichen Organisation angepassten – Stufenplans. Der Umgang mit betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird verbindlich geregelt. Mit dem strukturierten Vorgehen wird Druck ausgeübt, aber auch gleichzeitig Hilfe und Unterstützung angeboten, damit sich der Betroffene in Behandlung begibt. Für viele Menschen ist der Verlust des Arbeitsplatzes eine sehr bedrohliche Perspektive, häufiger sogar belastender als eine anstehende Trennung von der Partnerin oder dem Partner (vgl. Lenfers, 1993). Hier kommt die zentrale Rolle der direkten Vorgesetzten erneut zum Zuge. Fühlt sich der Vorgesetzte in der Lage ein derart unangenehmes Thema anzusprechen? Kann er kompetent reagieren, wenn der Mitarbeiter leugnet oder aggressiv wird? Konstruktiv und offensiv mit Suchtproblemen umgehen Es bestehen gute Aussichten, dass bei Suchtproblemen im Betrieb nicht mehr weggesehen wird, wenn: • ein Problembewusstsein entwickelt wird, • in einer Betriebsvereinbarung das Vorgehen für alle verbindlich fixiert ist, • Vorgesetzte in Seminaren gelernt haben, Anzeichen einer Suchterkrankung zu erkennen und in angemessener Form ein Konfliktgespräch zum Thema Sucht zu führen. Ingeburg Brandt Supervisorin und Suchtberaterin, Betriebliche Gesundheitsförderung Diakonisches Werk Trier gGmbH Theobaldstr. 10 54292 Trier [email protected] Impressionen aus dem EREV-Fachausschuss »Jugendhilfepolitik« E J 4/2008 229 Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges auf Jugendhilfeleistungen Wolf Onnasch, Leer In Deutschland ist die demografische Entwicklung seit 1965 von einem Geburtenrückgang gekenn zeichnet. Dieser Rückgang verläuft nicht kontinuierlich, sondern er beschleunigt sich. Der folgende Artikel geht der Frage nach, ob weniger Kinder zur Verringerung von Leistungen der Jugendhilfe führen und Einrichtungen und Dienste ihre Kapazitäten verringern müssen. Verliefe die Entwicklung so weiter, werden dies in rund 15 Jahren 65 Prozent aller Neugeborenen sein. Auf die Gesamtbevölkerung bezogen, nehmen derzeit die Mädchengeburten innerhalb eines Generationenzeitraumes um rund 30 Prozent ab. Politische Konsequenzen Daten und Fakten Obwohl sich die absolute Zahl der Geburten in Deutschland stetig verringert, so dass wir im Jahre 2050 eine Gesamtbevölkerungszahl von 69 Millionen gegenüber derzeit 82 Millionen haben werden, wird der Anstieg der Geburtenrate von 1,33 Kindern pro Frau im Jahre 2006 auf 1,45 Kinder im Jahr 2007 als Erfolg der Familienpolitik gefeiert (»Der Spiegel«, Heft 18, 2008, Seite 30). Wie passen diese Informationen zusammen? Auch wenn die Statistik den Geburtendurchschnitt pro gebärfähige Frau richtig wiedergibt, so verringert sich die absolute Zahl der Geburten mit den ersten geburtenschwachen Jahrgängen und damit auch die Zahl gebärfähiger Frauen. Es ist zu begrüßen, dass sich die Politik zu einer intensiveren kinder- und familienfreundlichen Gestaltung unserer Gesellschaft durchgerungen hat. Für die, die dies schon seit vielen Jahren gefordert haben, ist es eine Genugtuung. Dies reicht jedoch nicht aus, sondern notwendig ist auch eine kinderfreundlichere Infrastruktur auf regionaler Ebene wie beispielsweise • wirtschaftliche Sicherung der Familien, • Verbesserung der Kinderbetreuungsangebote, • Weiterentwicklung schulischer Bildungsangebote (inklusive räumlicher Verbesserungen), • Zukunftssicherung für Jugendliche durch adäquate Arbeits- und Ausbildungsangebote, • Unterstützung der Familien durch präventive Beratung. Die geburtenschwachen Jahrgänge setzten kriegsfolgenbedingt 1965 ein. Bis 1975 halbierte sich in der alten Bundesrepublik die Zahl der Geburten. Diese und die folgenden Jahrgänge stehen jetzt zur »Reproduktion« an, wenn man für eine Generation den Zeitraum von 30 Jahren annimmt. Die Bevölkerungsentwicklung lässt sich damit aber nicht so schnell umkehren, wie es uns mit statistischen Durchschnittswerten anders verkauft wird. Seit 1990 gab es im wiedervereinigten Deutschland in jedem Jahr mehr Sterbefälle als Geburten. 2005 betrug dieses Defizit 143 000. Interessant ist die Entwicklung bei Frauen mit Migrationshintergrund, die einen Anteil von 19 Prozent an der Gesamtbevölkerung haben: 2005 haben diese Frauen 35 Prozent aller Babys geboren. 230 Neben den abnehmenden Geburtenzahlen und den zunehmenden Sterbeziffern gibt es die Auswanderung als weiteren Faktor in dieser Entwicklung. Jährlich wandern 150 000 Menschen aus der Bundesrepublik aus. Auch wenn sich Fernsehsendungen in der vergangenen Zeit zunehmend mit diesem Thema befassen und die Schwierigkeiten, die mit Auswanderung verbunden sind, deutlich darstellen. E J 4/2008 Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges auf Jugendhilfeleistungen Um ein Absinken der Bevölkerungszahl von 69 Millionen auf 50 Millionen bis zum Jahr 2050 zu verhindern, müssten jetzt schon jährlich 100 000 Menschen einwandern und gleichzeitig 140 000 Menschen am Auswandern gehindert werden. Auch andere Länder – vor allem Industrienationen – sind mit einigen Ausnahmen wie Afrika, China und den USA von dieser Entwicklung betroffen. 2050 werden in den europäischen Industrienationen 40 Millionen Menschen weniger leben als 2008. Bedeutung für die Jugendhilfe Jugendhilfe spiegelt von je her gesellschaftliche Entwicklungen wider. Die Frage ist, wie sich die oben beschriebene Entwicklung auf die Notwendigkeit der Dienste und Einrichtungen auswirkt. Können Jugendhilfeleistungen abgebaut werden, weil weniger Kinder geboren werden? Eine Vorhersage bis zum Jahre 2050 wie bei der Bevölkerungsentwicklung ist nicht möglich. Ulrich Bürger verweist darauf, dass die Auswirkungen der demografischen Entwicklung bezogen auf die Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen nur bis zum Jahr 2020 vorausgeschätzt werden können (»Forum Erziehungshilfen«, Nr.5/2007, S. 262). Die Inanspruchnahme von Jugendhilfeleistungen ist von anderen Faktoren als der Bevölkerungsentwicklung abhängig. Diese sind: • Wandel soziostruktureller Bedingungen und familialer Strukturen • Arbeitsbedingungen, Arbeitsweisen und Ressourcen der Jugendämter und die Wirksamkeit ihrer Steuerungsmodelle • Politische Vorgaben für die Jugendhilfe einschließlich der Veränderungen der Rechtsgrundlagen • Entwicklung der Regionen zur familien- und kinderfreundlichen Kommune • Entwicklung von Armut und Bildungschancen. Die Momentaufnahme der Inanspruchnahme von Jugendhilfeleistungen zeigt einen Anstieg der Fallzahlen. Der Anstieg wirkt sich insbesondere E J 4/2008 bei teilstationären und ambulanten Erziehungshilfen aus. Für die stationären Hilfen bleiben die Fallzahlen konstant. Allerdings ist in der Praxis festzustellen, dass das Aufnahmealter von Kindern in Heimen deutlich niedriger wird. Kollegen berichten von Aufnahmeanfragen von unter sechsjährigen Kindern. Offensichtlich eine Reaktion auf die skandalöse Situation unversorgter und misshandelter Kinder. Die Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik begann in einigen Regionen unseres Landes schon vor 30 Jahren. Eine ganze Generation ist von dieser sozialen Katastrophe betroffen. Die Folge ist eine zunehmende Armut und insbesondere Kinderarmut in unserem Land. 2007 galten laut Kinderreport des Kinderhilfswerkes 14 Prozent aller jungen Menschen als arm. Seit Einführung von Hartz IV hat sich die Anzahl der Kinder für die Sozialhilfe gezahlt wird fast verdoppelt. Derzeit leben 2,5 Millionen Kinder von Sozialhilfe. 1965 war jedes 75. Kind und 2007 schon jedes siebte Kind auf Sozialhilfe angewiesen. Besonders Kinder von Migrantenfamilien sind betroffen. Eine Folge dieser Armut ist ein eklatanter Bildungsmangel. Jedes dritte von Armut betroffene Kind war 2004 bei der Einschulung förder- beziehungsweise therapiebedürftig. Jedes vierte Kind hat die Hauptschule ohne Beherrschung des Mindestmaßes an Kulturtechniken verlassen. Jährlich 80.000 Jugendliche werden ohne Hauptschulabschluss aus der Schule entlassen. Diese jungen Menschen sind aufgrund ihrer Benachteiligungen künftig und wohl sehr lange auf staatliche Hilfe angewiesen. Für sie wird es keine Arbeitsstelle geben. Die Ausführungen verdeutlichen, dass die demografische Entwicklung in unserem Land ein Reduzieren sozialer Leistungen so lange nicht zur Folge haben kann, wie sich die sozioökonomischen Bedingungen nicht zum Positiven ändern. Im kommunalen Bereich gibt es eine interessante Entwicklung, über die sich die Dienste und 231 Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges auf Jugendhilfeleistungen Einrichtungen informieren müssen. Jugendhilfe arbeitet zunehmend regionalspezifisch. In Zusammenarbeit mit der Bertelsmann-Stiftung arbeiten Kommunen an der Entwicklung der Kinder-, Jugend- und Familienpolitik. Der demographische Wandel wird als Herausforderung und Chance gesehen. Mir ist bekannt, dass die Stadt Bielefeld und der Landkreis Leer über Demographiebeauftragte verfügen, die als Bindeglied zwischen ihrer Kommune und der BertelsmannStiftung fungieren und darüber hinaus für die Kooperation verschiedener Bereiche in ihrer Kommune sorgen, die mit dem demographischen Wandel zu tun haben. Eine weitere Folge der Bevölkerungsentwicklung ist der Fachkräftemangel auch im pädagogischen Bereich. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat berechnet, dass bei 500.000 einzurichtenden Krippenplätzen rund 100.000 Erzieherinnen und Erzieher eingestellt werden müssen. Der Fachkräftemangel für Jugendhilfeeinrichtungen wird sehr kurzfristig ein ziemlich großes Problem. So entwickelt beispielsweise der Landkreis Leer Handlungsansätze zur Gestaltung des Handlungsfeldes Kinder-, Jugend- und Familienpolitik. Es geht dabei um Folgendes: • Mitarbeiterfreundliches Klima. (Die Begriffe »Personal«, »Personalbüro«, »Personalservice« sollte es in der Diakonie nicht mehr geben. Dies wäre ein erster wertschätzender Schritt.) • Aufgeschlossenheit gegenüber Auszubildenden, Praktikantinnen und Praktikanten. Anbieten von bezahlten Volontariatsstellen. • Überprüfen der Arbeitsbedingungen. Im Rahmen eigenverantwortlicher Arbeit haben viele Mitarbeitende Aufgaben mit hoher Verantwortung übernommen, die sich in der Bezahlung widerspiegeln müssen. • Bündelung der Angebote im Jugendhilfebereich • Transparenz der Angebotsstrukturen (beispielsweise eine Kinderbetreuungsbörse) • Probleme des grenznahen Zuzuges (hier: Niederlande – Landkreis Leer) • Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Flexible Kinderbetreuung und deren Qualitätssteigerung) • Förderung von sozial benachteiligten Familien • Beobachtungen der kleinräumlichen Bevölkerungsentwicklung und Schlussfolgerung für die Jugendhilfe • Aufbau von Betriebskindertagesstätten • Austausch der Kommunen innerhalb des Landkreises. Verbunden ist damit sicher ein weiterer Ausbau präventiver Arbeit. Hier müssen sich freie Träger einbringen. Wobei präventive Arbeit nicht nur einer Erziehungshilfenotwendigkeit vorbeugt, sondern auch Hilfenotwendigkeiten aufdeckt. Über zwei Internetadressen gibt es hierzu Informationen: • www.bertelsmann-stiftung.de • www.wegweiserdemographie.de 232 Das heißt, es wird ein Kampf um gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entbrennen. Die künftigen Mitarbeitenden haben die Auswahl. Folgende Kriterien könnten die Auswahl bestimmen: Die Einrichtungen und Dienste müssen sich stärker auf Mitarbeitende mit Migrationshintergrund einstellen. Dies erfordert von Einrichtungen der Diakonie und Kirche einen anderen, flexibleren Umgang mit nicht christlich geprägten Mitarbeitenden. Ob bei dieser Entwicklung die »ACK-Klausel« noch eine Berechtigung hat, darf bezweifelt werden. Die demographische Entwicklung ist zu lange nur als ein Problem der Zukunftssicherung im versicherungstechnischen Sinne gesehen und diskutiert worden. Erinnert sei an die Äußerung des damaligen Arbeitsministers Norbert Blüm: »Die Rente ist sicher«. Die Bevölkerungsentwicklung wirkt sich aber auf alle Lebensbereiche zum Teil mit negativen aber auch positiven Folgen aus. Jugendhilfeeinrichtungen sind gut beraten, sich um E J 4/2008 Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges auf Jugendhilfeleistungen die verschiedenen Facetten dieser Entwicklung besonders im regionalen Bereich zu kümmern, sich zu informieren und sich an der Diskussion und der Entwicklung kinder- und familienfreundlicher Konzepte zu beteiligen. Literatur »Der Spiegel«, Heft 18, 2008, Seite 30 Schneider, Stefan (Hrsg.): »Die demografische Herausforderung« Frankfurt/Main 2002 Bürger, Ulrich: »Demografischer Wandel und Hilfen zur Erziehung«, in Forum Erziehungshilfen Nr. 5/2007 Weinheim Freigang, Werner u. Schone, Reinhold: »Ja, mach nur einen Plan ...«, in Forum Erziehungshilfen« Nr. 5/2007 Weinheim Koch, Josef u. Peters, Friedhelm: »Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern vor dem Hintergrund der Demografie und Abwanderung« Ein Interview mit Kerstin Dellemann, in: Forum Erziehungshilfen Nr. 5/2007 Weinheim Pavkovic, Gari: »Demografie und Migration: Anforderungen, Erwartungen und Chancen für die Jugendhilfe«, in: Forum Erziehungshilfen Nr. 5/2007 Weinheim Fendrich, Sandra u. Pothmann, Jens: »Rückgang der öffentlichen Ersatzerziehung«, in: »Datenanalysen der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik«. Bereich: Hilfen zur Erziehung, o. Datum ders.: »Ambulante Hilfen sind wichtiger werdende Ergänzungs- und Unterstützungsleistungen für Familien« veröffentl. s.o. o. Datum Heinsohn, Gunnar: »Die demografische Kapitulation«, in: Cicero 6/2007 Riemann, Katja: »Warum wir zu viele Kinder haben«, in: Cicero 4/2006 Hondrich, Karl Otto: »Die Bevölkerung schrumpft? Wunderbar!«, in: Cicero 8/2005 Schornstheimer, Michael: »Kinderlosigkeit in DeutschlandWas die Forschung darüber weiß« Sendemanuskript Deutschlandradio Kultur o. Datum Große Starmann, Carsten u. Schmidt, Kerstin: »Demographischer Wandel-Herausforderung und Chance« Demographiebericht Teil 1 – Darstellung der Datenbasis Landkreis Leer und Bertelsmann-Stiftung 8/2007 Gütersloh Wolf Onnasch Dipl. Rel. Päd. (FH) Dipl. Soz. arb.(FH) Heisfelder Str. 135 A 26789 Leer Impressionen aus dem EREV-Fachausschuss »Jugendhilfepolitik« E J 4/2008 233 Gesetze und Gerichte Christian Müller, Hannover Verschärfungen der Erwerbsobliegenheit trotz Betreuung von Kindern im Rahmen des nach1 ehelichen Unterhalts Urteil des OLG Hamm vom 6.3.2008 – NJW 2008, 2049 – Sachverhalt und Entscheidungsgründe (stark gekürzt) Die Klägerin ist die geschiedene Ehefrau des Beklagten und nimmt diesen nach Ehescheidung und Wegfall des Bezuges von Arbeitslosengeld im Wege der Abänderungsklage auf höheren Betreuungsunterhalt gemäß Paragraph 1570 GBG wegen der Betreuung des gemeinsamen, im Jahre 2002 geborenen Sohnes K in Anspruch. Sie ist gelernte Bäckereifachverkäuferin und bezieht für K, der seit 2006 mindestens an vier Tagen in der Woche regelmäßig von 8.15 Uhr bis mindestens 12 Uhr (montags und dienstags bis 14.45 Uhr) einen heilpädagogischen Kindergarten besucht, Pflegegeld der Pflegestufe 1 in Höhe von monatlich 205 Euro. Der Beklagte, der erneut geheiratet hat und aus dessen Ehe ein Kind hervorgegangen ist, vertritt unter Umständen die Ansicht, seine geschiedene Ehefrau müsse einer halbschichtigen Tätigkeit nachgehen. Das OLG hat der Klage für die Zeit bis zum 31.12.2007 weitestgehend stattgegeben und die Klage für die Zeit ab 1.1.2008 mit der Begründung abgewiesen, der Klägerin sei ab Januar 2008 ein fiktives Einkommen von rund 300 Euro monatlich zuzurechnen. Durch das Unterhaltsrechtsänderungsgesetz vom 9.11.2007 bestehe gemäß Paragraph 1570 BGB neue Fassung bei Betreuung von Kindern über drei Jahren nur dann ein Unterhaltsanspruch, solange und soweit dies unter Berücksichtigung der Belange des Kindes, der bestehenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung sowie der Gestaltung von Kinderbetreuung und Erwerbstä234 tigkeit in der Ehe und der Dauer der Ehe der Billigkeit entspreche. Eine umfassende Gesamtabwägung ergäbe im vorliegenden Fall, dass sich die Klägerin um eine Beschäftigung im Geringverdienerbereich hätte bemühen müssen, zumal sich K. mittlerweile in den Kindergarten eingelebt habe und nur noch in Ausnahmefällen vorzeitig wegen gesundheitlicher Probleme aus dem Kindergarten abgeholt werden müsse. Stellungnahme Die Entscheidung des OLG Hamm2 ist eine der ersten Entscheidungen zu Paragraph 1570 BGB in der ab 1.1.2008 geltenden Fassung. Sie zeigt, dass das bisherige »Altersphasenmodell« (Obliegenheit zur halbschichtigen Erwerbstätigkeit in der Regel erst ab dem achten beziehungsweise zehnten Lebensjahr des Kindes und Zumutbarkeit einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit in der Regel ab dem 15. beziehungsweise 16. Lebensjahr des Kindes) keinen Bestand mehr haben kann und dass den tatsächlich vorhandenen (zumutbaren) Betreuungsmöglichkeiten3 in Zukunft vermehrt Bedeutung zukommen wird. Ob sich das vom OLG Hamm in seinen Leitlinien4 enthaltene »neue« Altersphasenmodell (teilschichtige Tätigkeit nach Ablauf des Basiszeit von drei Jahren, halbschichtige Tätigkeit nach Ende des ersten Grundschuljahres; vollschichtige Tätigkeit nach Endes des ersten Schuljahres auf der weiterführenden Schule) durchsetzen wird, bleibt allerdings abzuarten, obwohl die Hinweise in dem Urteil des BGH vom 17.7.2008 hierfür sprechen könnten.5 Zwar besteht der Vorteil eines solchen Altersphasenmodells darin, dass der Ausgang von Unterhaltverfahren leichter kalkulierbar ist. Andererseits kann die Fixierung auf ein neues Altersphasenmodell jedoch den Blick für besondere Billigkeitsgründe trüben. So ist in diesem Zusammenhang zumindest erwähnenswert, dass das OLG Hamm den durch Fachärzte bescheiE J 4/2008 Gesetze und Gerichte nigten Befunden, wonach K. an einer allgemeinen Entwicklungsstörung verbunden mit Intelligenzminderung, Sprachentwicklungsverzögerungen und leichten autistischen Zügen leide und deswegen einen erhöhten Förderungs- und Betreuungsbedarf habe, keine Bedeutung beigemessen hat. Ob an eine Mutter, die, wie im vorliegenden Fall, ein pflegebedürftiges Kind betreut, bei teilweiser Fremdbetreuung die gleichen Anforderungen bezüglich der Zumutbarkeit einer teilschichtigen Erwerbstätigkeit gestellt werden können, wie an eine Mutter, die kein Problemkind zu betreuen hat, erscheint zumindest fraglich. Grundsätzlich keine zwangsweise Durchsetzung der Umgangspflicht gegenüber dem umgangsunwilligen Elternteil Urteil des BVG vom 1.4.2008 – NJW 2008, 845 ffSachverhalt und Entscheidungsgründe (stark gekürzt) Der verheiratete Beschwerdeführer ist Vater von zwei aus seiner Ehe hervor gegangenen Kindern und eines im Jahre 1999 geborenen nichtehelichen Sohnes, für welchen er regelmäßig Unterhalt zahlt. Im Rahmen eines von der Kindesmutter angestrengten Umgangsverfahrens hatte das OLG Brandenburg einen zeitlich begrenzten Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Kind (alle drei Monate zwei Stunden) angeordnet und für den Fall der Weigerung, seiner Umgangsverpflichtung nachzukommen, ein Zwangsgeld angedroht. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde des Vaters hatte Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht sieht zwar in der in Paragraph 1684 BGB seit 1998 normierten Umgangspflicht eine zulässige Konkretisierung der den Eltern vom Grundgesetz zugewiesenen Elternverantwortung. Auch verfolge der Gesetzgeber mit der in Paragraph 33 Absatz 1 Satz 1 in Verbindung mit 3 FGG für die Gerichte eröffneten Möglichkeit zur Durchsetzung der Umgangspflicht ein Zwangsgeld anzudrohen, einen legitimen Zweck. E J 4/2008 Wenn ein Elternteil sich jedoch auch nach Verurteilung zum Umgang mit seinem Kind beharrlich weigere, seiner Verpflichtung nachzukommen, sei der erzwungene Umgang mit dem Kind dem Kindeswohl in der Regel nicht dienlich6, so dass der mit der Zwangsgeldandrohung verbundene Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des sich weigernden Elternteils nicht gerechtfertigt sei. Die fragliche Bestimmung des FGG sei von daher verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass eine zwangsweise Durchsetzung der Umgangspflicht eines umgangsunwilligen Elternteils zu unterbleiben habe, sofern nicht konkrete Anhaltspunkte dafür vorhanden seien, dass die zwangsweise Durchsetzung dem Kindeswohl diene. Dies könne beispielsweise dann der Fall sein, wenn insbesondere ältere Kinder7 nachdrücklich den Wunsch äußern, Kontakt zu dem Elternteil aufzunehmen, und sich dabei bewusst seien, dass die erzwungene Kontaktaufnahme auch mit dem Frustrationserlebnis verbunden sein könne, erfahren zu müssen, nicht erwünscht zu sein und sogar abgelehnt zu werden. Stellungnahme Auch wenn die bis dato herrschende Rechtsprechung8 und die meisten im Rahmen des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht um Stellungnahmen gebetenen Organisationen und Verbände die Vollstreckbarkeit gerichtlich angeordneter Umgangsverpflichtungen gegenüber dem umgangsunwilligen Elternteil für verfassungskonform gehalten haben, hat sich das Bundesverfassungsgericht meines Erachtens zu Recht9 dafür ausgesprochen, dass eine zwangsweise Durchsetzung grundsätzlich nicht dem Kindeswohl dient und von daher in der Regel zu unterbleiben habe.10 Den schon in EJ 2003, 121 f. enthaltenen Ausführungen ist nichts hinzuzufügen: »In den Fällen, in denen sich ein Elternteil trotz vorangegangener Überzeugungsarbeit durch das Gericht und ggf. das Jugendamt beharrlich weigert, Umgangstermine mit seinem Kind wahrzunehmen, sollte von Zwangsmaßnahmen abgesehen werden, da fehlende elterliche Gesinnung und Fürsorge nicht per Dekret ersetzt und erzwungen werden kann und 235 Gesetze und Gerichte mit Zwangsmitteln durchgesetzte Umgangskontakte für das Kind voraussichtlich belastender sein dürften als das Unterbleiben solcher Begegnungen (so auch: OLG Nürnberg, a.a.O.).« Kosten für ganztägigen Kindergartenbesuch als Unterhaltsbedarf des Kindes Urteil des BGH vom 5.3.2008 ( XII ZR 150/05) - FamRZ 2008, 1152 ff, Sachverhalt und Entscheidungsgründe (stark gekürzt) Der Beklagte ist Vater der im Jahre 2001 geborenen nichtehelichen Klägerin und verheiratet. Aus seiner Ehe sind drei Kinder hervorgegangen. Der Beklagte verpflichtete sich in einer Jugendamtsurkunde zu monatlichen Unterhaltszahlungen von 100 Prozent des Regelbetrages der jeweiligen Alterstufe. Die Klägerin besucht ganztags einen Kindergarten. Die Kosten hierfür werden von der erwerbstätigen Mutter der Klägerin getragen. Die Klägerin nimmt den Beklagten für die Zeit ab April 2004 auf Mehrbedarf in Höhe von monatlich 90 Euro (ohne Essensgeld) in Anspruch. Das Amtsgericht und das Oberlandesgericht haben die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Kosten für den halbtägigen Besuch des Kindergartens seien durch den vom Beklagten gezahlten Unterhalt gedeckt und die darüber hinaus anfallenden Kosten für den Kindergartenbesuch seien allenfalls als berufsbedingte Aufwendungen des das Kind betreuenden Elternteils zu berücksichtigen. Demgegenüber hat der BGH als Revisionsinstanz entschieden, dass die für den Besuch eines Kindergartens anfallenden Kosten zum Bedarf eines Kindes zu rechnen sind und grundsätzlich keine berufsbedingten Aufwendungen des betreuenden Elternteils darstellen. Die Kosten für einen halbtägigen Kindergartenbesuch seien grundsätzlich im laufenden Unterhalt enthalten, sofern das Existenzminimum des Kindes nicht unterschritten sei. Die Kosten die den Aufwand für einen halbtägigen Kindergartenbesuch übersteigen, stellten hingegen einen Mehrbedarf des Kindes dar, für den beide Elternteile anteilig nach ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen aufkommen müssten. 236 Stellungnahme Mit der Grundsatzentscheidung hat der BGH eine alte Streitfrage entschieden, die nicht nur wegen der beträchtlichen Zunahme von aushäusiger Ganztagsbetreuung der Kinder unter sechs Jahren11 sondern auch im Hinblick auf das zum 1.1.2008 in Kraft getretene Unterhaltsrecht von Bedeutung ist. Da der das Kind betreuende Elternteil seit 1.1.2008 im Unterhaltsrang den minderjährigen Kindern und den ihnen gleichgestellten privilegierten Volljährigen nachgeht, werden insbesondere für Frauen die durch die Unterhaltsrechtsreform wegen der erhöhten Erwerbsobliegenheit und der Erleichterungen bezüglich der zeitlichen und höhenmäßigen Begrenzung des Betreuungsunterhalts zu verzeichnenden Verschlechterungen zumindest teilweise kompensiert.12 Nicht nur vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung zu begrüßen, sondern auch im Hinblick darauf, dass ihr ein adäquates Verständnis der Funktion eines Kindergartenbesuchs zu Grunde liegt. Kindergärten sind keine Aufbewahrungsanstalten von Kindern zur Ermöglichung einer Erwerbstätigkeit ihrer Eltern, sondern ein Kindergartenbesuch erfolgt, worauf der BGH zu Recht hinweist, in erster Linie zu erzieherischen Zwecken, weshalb die Kosten hierfür auch zum Lebensbedarf eines Kinder zu rechnen sind, der auch die Kosten der Erziehung umfasst. Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen bei Zusammenleben mit neuem Lebensgefährten Urteil des BGH vom 9.1.2008 – XII ZR 170/205 – NJW 2008, 1373 Der Bundesgerichtshof hat in einer Grundsatzentscheidung, bei der es um Kindesunterhalt ging, entschieden, dass der Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen, der mit einer neuen Lebensgefährtin und deren beiden Kindern (unverheiratet) zusammenlebt, wegen Ersparung der durch die neue Lebensgemeinschaft zu verzeichnenden Haushaltskosten gekürzt wegen kann. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der neue Partner sich angesichts seiner eigenen finanziellen Situation (im vorliegenden Fall verdiente die Lebensgefährtin monatE J 4/2008 Gesetze und Gerichte lich rund 1.200 – 1.400 Euro netto) an den Lebenshaltungskosten beteiligen kann. Die Herabsetzung des Selbstbehalts, der sich derzeit für nicht erwerbstätige Unterhaltsschuldner auf 770 Euro beläuft, ist bis auf das Existenzminimum nach sozialhilferechtlichen Kriterien (= 347 Euro Regelsatz + Anteil an den tatsächlichen Unterkunftskosten) möglich, wodurch mitunter höhere Unterhaltszahlungen durchgesetzt werden können. Die Entscheidung des BGH stützt sich unter anderem auf die neue Rangfolge des Paragraph 1609 BGB, wonach Unterhaltsansprüche minderjähriger Kinder gegenüber allen anderen Unterhaltsansprüchen vorrangig sind. Mit der Entscheidung ist ein alter Streit ausgeräumt13, sodass die Entscheidung für mehr Rechtssicherheit sorgt. Der Hinweis des BGH, wonach beim Unterhalt minderjähriger Kinder der Unterhaltspflichtige gemäß Paragraph 1603 Absatz 2 BGB gehalten ist, alle verfügbaren Mittel zu seinem und der minderjährigen Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden, dürfte allerdings dafür sprechen, dass eine Herabsetzung des Selbstbehalts wegen der durch die gemeinsame Haushaltsführung mit dem Lebenspartner zu verzeichnenden Kostenersparnis beim Ehegattenunterhalt und beim Elternunterhalt nicht in Betracht kommt. Prof. Dr. Christian Müller Fachhochschule Hannover Fakultät V – Diakonie, Gesundheit und Soziales Blumhardtstr. 2, 30625 Hannover [email protected] 1 Inzwischen hat der Bundesgerichtshof am 16.7.2008 eine Grundsatzentscheidung zum neuen Unterhaltsrecht gefällt (XII ZR 109/05). Die Urteilsgründe lagen bei Redaktionsschluss jedoch noch nicht vor. Nach einer Mitteilung der Pressestelle des Bundesgerichtshofs vom 17.7.2008 hat der BGH jedoch in seiner Entscheidung u. a. zum Ausdruck gebracht, dass selbst dann, wenn ein Kind im Kindergarten ganztags betreut wird, dies nicht notwendig zu einer vollschichtigen Erwerbspflicht des betreuenden Elternteils führe und dass das Berufungsgericht werde prüfen müssen, ob ungeachtet des gesetzlichen Regelfalls eines dreijährigen Betreuungsunterhalts Fallgruppen gebildet werden könnten, die einer gewissen Pauschalierung zugänglich sind. E J 4/2008 2 Die Entscheidung setzt sich u. a. mit zahlreichen weiteren durch das Unterhaltsrechtsänderungsgesetz aufgetretenen Problemen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, sorgfältig auseinander (beispielsweise Vorwegabzug des Zahlbetrages beim Ehegattenunterhalt; Berechnungsmodalitäten bei Konkurrenz zwischen der Kinder betreuenden geschiedenen und neuen Ehefrau). 3 Und auch den Kosten institutioneller Kinderbetreuung (siehe hierzu die unten besprochene Entscheidung des BGH vom 5.3.2008). 4 Und offensichtlich auch bei der vorliegenden Entscheidung zu Grunde gelegte »neue« Altersphasenmodell. 5 Siehe hierzu Fußn. 1. 6 Das Bundesverfassungsgericht stellt somit – anders als das OLG Brandenburg – nicht maßgeblich darauf ab, ob ein erzwungenen Umgangskontakt dem Kindeswohl schadet und führt in diesem Zusammenhang aus, dass hierfür ausreichende sozialwissenschaftliche Erkenntnisse nicht vorliegen. 7 In diesem Zusammenhang erscheint es interessant, dass auch während des Gesetzgebungsverfahrens zum Kindschaftsrechtsreformgesetz vom 16.12.1997 (BGBl. I, 2942) der Bundesrat vorgeschlagen hatte, dass einem Kind erst ab Vollendung des 14. Lebensjahres ein Umgangsrecht eingeräumt werden solle, das dieses nur höchstpersönlich solle geltend machen können ( BT-Drucks. 13/4899, S. 153,161 f.) 8 Siehe hierzu: BVerfG, NJW 2008, 845 (846). 9 So wohl auch die Einschätzung von Luthin (NJW 2008, 853) in seiner Anmerkung zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die tragende Begründung des Gerichts »praktikabel« sei. 10 Ob das Bundesverfassungsgericht durch die vorliegende Entscheidung allerdings ein »Kindergrundrecht« geschaffen hat, wie Adelmann in JAmt 2008, 289 ff. ausführt, sei dahingestellt. 11 Nach Mitteilung des Statistischen Bundesamtes haben im Jahr 2007 bundesweit Eltern von rund 681.000 Kindern unter sechs Jahre ganztägige Betreuungsangebote wahrgenommen, was allein gegenüber dem Vorjahr einen Zuwachs von rund acht Prozent bedeutet. 12 So wohl auch Born (Anmerkung zum Urteil des BGH in FamRZ 2008, 1155, 1156), wonach die Fälle ohne Unterhaltsanspruch des betreuenden Elternteils zunehmen werden und der vom Gesetzgeber geforderte angemessene Berücksichtigung der Kinderbetreuungskosten ( BT-Drucks. 16/1830, S. 17 ) durch die Zurechnung der Kindergartenkosten zum Bedarf des Kindes Rechnung getragen wird. 13 Für die Berücksichtigung des Zusammenlebens mit einem neuen Partner beim Selbstbehalt siehe unter anderem OLG Hamm, FamRZ 2005, 53, OLG München, FamRZ 2004, 485; dagegen u. a.: OLG Oldenburg, FamRZ 2004, 1669. 237 Die Glosse Schwein muss man haben. Harald Tornow, Wülfrath In der Sozialen Arbeit gibt es ein bemerkenswert ambivalentes Verhältnis zum Schwein. Für mich in meinen ganz jungen Jahren, als ich auf dem Dorf mit Pumpe, Plumpsklo und ungeheizten Schlafräumen aufwuchs, war es eindeutig etwas Tolles, wenn morgens der Hirte durch die Dorfstraße ging, sein Kuhhorn blies, wenn sich dann die Stalltore öffneten und wenn er dann die Säue durchs Dorf trieb. Das stand für Wohlstand, verlässlichen Tagesablauf und – wie ich das später einordnen konnte – auch für einen Arbeitsplatz und biologische, naturnahe Tierhaltung. Also was ist denn so schlimm daran, wenn ab und zu ein Schwein die Dorfstraße entlang trottet? Ich höre diese Redensart immer einmal wieder, wenn einige Kollegen etwas Neues ausprobieren und diejenigen, die am Straßenrand der Sozialen Arbeit stehen, höhnisch bis genervt rufen: »Das ist auch nur wieder so eine Sau, die durchs Dorf getrieben wird!« Was heißt da »nur eine Sau«? Das Schwein gilt als klug, ist ein Allesfresser wie der Mensch und hat fast die gleichen inneren Organe. In Marzipan wird es als Glückbringer verschenkt. Und es bereichert unsere bildhafte Sprache mit Wendungen wie »Schwein gehabt«, »das stört doch kein Schwein«, natürlich auch weniger positiv »schweineteuer« und »kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich«. Ich glaube auch gar nicht, dass es die Leute wirklich stört, dass eine Sau durchs Dorf getrieben wird, sondern dass man später nichts mehr von ihr sieht. Wir hatten damals im Dorf wenigstens die Sicherheit, dass jeden Abend die Herde aus dem Eichenwald wieder zurückkam. Im Winter war dann auf den Höfen Schlachtfest, mit kleinen Leberwürsten als Geschenk für uns Kinder. Was hat man eigentlichen von den Säuen, die heute 238 durch die Landschaft der Organisationen und der Sozialen Arbeit getrieben werden? Die werden fett und sind dann weg. Nein, wir wissen noch nicht einmal, ob das Schwein fett wird. Wir sehen nur, dass der Schweinehirte fett geworden ist. Also ihr Stadtmenschen! Sorgt dafür, dass die Sau die Straße nicht nur ´rauf-, sondern auch ´runter läuft. Mehrmals. Bis zum Festessen. Aber dass der moderne Mensch eigentlich nichts mehr von Schweinen versteht, sieht man auch an der klug-kritisch gemeinten Feststellung »vom Wiegen wird das Schwein nicht fett«. Das richtet sich vor allem gegen jene in der Zunft, die behaupten, man könne den Erfolg einer Hilfe messen. In meinem Dorf hatte jedenfalls jeder Bauer eine Waage, so mit Gewichten zum Dranhängen. An denen habe ich schon vor der Einschulung die Hebelgesetze gelernt. Ich glaube auch, dass heute noch jeder moderne Schweinezuchtbetrieb eine Waage hat und regelmäßig das Gewicht der Schweine kontrolliert. Ob sie nicht vielleicht abnehmen, weil sie krank sind. Oder ob sich das teure Kraftfutter tatsächlich lohnt. Und von diesem Wiegen werden die Schweine auch fett. Also, wer sein Schwein liebt, wiegt es manchmal. Und wer seinen Nutzen von der Schweinezucht haben will, wiegt es auch deswegen regelmäßig. Das gehört zur Professionalität der Bauern. Dr. Harald Tornow e/l/s-Institut für Qualitätsentwicklung Diakonissenweg 44 42489 Wülfrath [email protected] E J 4/2008 EREV: Dialog-Politik Gespräch mit Antje Tillmann (MdB), CDU-Finanzexpertin Björn Hagen, Hannover In der Fortsetzung der Gesprächsreihe des Fachausschusses Jugendhilfepolitik des Evangelischen Erziehungsverbandes (EREV) führten die Mitglieder einen Austausch mit Antje Tillmann, Mitglied im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages. Der Arbeitsbereich des Finanzausschusses deckt sich im Wesentlichen mit den Zuständigkeiten des Bundesministeriums der Finanzen (mit Ausnahme der Haushaltspolitik). Aufgabe des Ausschusses ist es, Gesetzesentwürfe, Anträge, Berichte, Entschließungen sowie Vorlagen der Europäischen Union insbesondere aus dem Bereich der Steuerpolitik federführend zu beraten. Die Abgeordneten diskutieren im Ausschuss zudem Vorlagen aus den Bereichen Geld, Kredit-, Finanz- und Kapitalmarkt sowie Versicherungen. Im Rahmen der Erörterung der zunehmenden Finanzeinnahmen des Bundes ist oftmals die Annahme verbunden, dass ausreichende Finanzmittel zur Verfügung stehen. Antje Tillmann stellte im EREV-Fachausschuss klar, dass für 2009 eine Neuverschuldung des Bundes von neun Milliarden Euro geplant ist. Angesichts dieser Situation kann nicht davon gesprochen werden, dass die Finanzsituation sich entspannt hätte. Nach ihrer Einschätzung können bei einer Fortführung der Haushaltspolitik die Bedingungen des Sozialstaates 2030 nicht mehr aufrechterhalten werden können. Die aktuellen Rahmenbedingungen führten dazu, dass die Länder anerkanntermaßen im Verhältnis zu ihren Aufgaben aktuell über mehr Finanzmittel verfügen als der Bund. Es besteht ein Widerspruch zwischen den Forderungen der Länder, finanzielle Mittel zu erhalten und den gleichzeitigen Wunsch, die Aufgaben vom Bund immer weiter in die Regionen zu verlagern. Dies ist laut Frau Tillmann ein entscheidender Problempunkt im föderalen System und führt zu einer Verschuldungsspirale. E J 4/2008 Antje Tillmann (MdB), CDU-Finanzexpertin Im Rahmen der Föderalismusreform muss auch im Kontext der Novellierung von Gesetzen wie beispielsweise des Kinderschutzes (Paragraph 8a SGB VIII) nach Einschätzung der Bundestagsabgeordneten darauf geachtet werden, dass die Kommunen ihren Aufgaben nachkommen. »So lange die Kämmerer mit den Einsparungen oftmals die inhaltliche Ausgestaltung der Gesetze bestimmen, helfen auch keine Gesetzesänderungen«. Im Rahmen der Berichterstattung zur Jugendhilfe spielt oftmals das »Bildzeitungsniveau« eine entscheidende Rolle, beispielsweise unter dem Stichwort »Jugendliche gehen segeln«. Eine differenzierte Sichtweise ist für fachfremde Bürger, Politikerinnen und Politiker laut Einschät239 EREV: Dialog-Politik, Gespräch mit Antje Tillmann (MdB), CDU-Finanzexpertin zung von Antje Tillmann schwierig. Ihrer Meinung nach ist es Aufgabe der Fachverbände für Transparenz und Klarheit über die Leistungen und den Wert der Kinder- und Jugendhilfe zu sorgen. Ein weiterer Themenschwerpunkt war der Bereich »Kinderrechte«. Antje Tillmann sieht hier die Gefahr, dass »die Familien entmündigt« werden. Es gibt ihrer Meinung nach keine Entschuldigung dafür, warum ein Kind armer Eltern morgens ohne Brot zur Schule geht. Hier muss die Verantwortlichkeit bei den Familien gesehen werden und der Bund kann nicht die Ersatzaufgaben übernehmen. Grundsätzlich sind wir aktuell in der Situation, dass die Sozialleistungen ein Niveau erreicht haben, das einfache Arbeitsverhältnisse, beispielsweise von Verkäuferinnen, übersteigt. Die Diskussion im Fachausschuss Jugendhilfepolitik des EREV hat gezeigt, dass Antje Tillmann sich grundsätzlich gegen die pauschalisierten Äußerungen und Forderungen von mehr Ganztagsangeboten und dem »Wegorganisieren der Kinder« ausspricht. Im Rahmen der zukünftigen Besteuerung von Tagesmüttern führt die Abgeordnete aus, dass dieses eine Frage der Gerechtigkeit zu anderen pädagogischen Arbeitsfeldern darstellt. Wenn beispielsweise Erzieherinnen in Kindertagesstätten entsprechend einer Besteuerung unterliegen, muss dieses auch für den zunehmenden Ausbau des Feldes von Tagesmüttern geschehen. Die EREV-Forderung nach dem weiteren Verfolgen der Zielsetzung von gleichwertigen Lebensverhältnissen unterstützt Antje Tillmann. Gleiche Rahmenbedingungen für Kinder, Jugendliche und Familien wird es aufgrund der divergierenden föderalen Rahmenbedingungen jedoch nicht ge ben. Dr. Björn Hagen Geschäftsführer, EREV Flüggestr. 21 30161 Hannover [email protected] Impressionen aus dem EREV-Fachausschuss »Jugendhilfepolitik« 240 E J 4/2008 Rückschau: EREV-Praxisforschungsworkshop »Erziehungshilfen« am 3. Juli 2008 in Hannover - Vom Wiegen allein wird die Sau nicht fett Björn Hagen, Hannover Veränderte Lebensbedingungen junger Menschen und Familien erfordern passende Hilfekonzepte und eine Reflektion der Sozialarbeit. Dafür ist eine Jugendhilfe, die sich analog zu den gesellschaftlichen Veränderungen in einem stetigen Lernprozess befindet, unabdingbar. Ziel des Workshops war es, den Forschungsblick der Einrichtungen zu öffnen und das vorhandene implizite Wissen zu Tage zu bringen. Der Impuls, die Fachhochschulen und Praxisvertreter einzuladen, ging vom Fach ausschuss »Personal- und Organisationsentwicklung« des Evangelischen Erziehungsverbandes aus. Vertreten waren die Evangelischen Hochschulen aus Hannover, Freiburg und Nürnberg. Weitere Impulse gingen vom Institut e/l/s, Wülfrath und der Diakonischen Jugendhilferegion Heilbronn aus. Die Moderation des Workshops hatte Harald Meiß als Vorsitzender des Fachausschusses übernom men. Die Ausgangssituation der Arbeit in den Erziehungshilfen ist durch Veränderungen in den Leistungsgebieten, der Entsäulung der Hilfen und der Veränderungen der Schullandschaft gekennzeichnet. Klaus Fröhlich-Gildhoff, Evangelische Fachhochschule Freiburg, ging darauf ein, dass die Praxis sich weitgehend aus sich selber generiert oder auf Moden zurückgreift. Seiner Ansicht nach fehlen Kenntnisse über die Effekte des eigenen Handelns. Der Gegenstand der Forschung ist hochkomplex und es ist schwer, ihm gerecht zu werden. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass Evaluationsstudien mit Kontroll-/Vergleichsgruppen, wie beispielsweise der pharmakologischen Forschung, schwer zu realisieren sind. Wichtig ist bei der Forschung, die Güte-Kriterien der Transparenz über die Theorie und das eigene Vorgehen einzuhalten sowie die Dokumentation zu beachten. Es kommt darauf an, dass Design und MethoE J 4/2008 den des Gegenstandes angemessen zu wählen und hierbei sowohl die Ergebnisse als auch die Prozessevaluation zu beurteilen. Als Leitkriterien bezeichnet Fröhlich-Gildhoff die Merkmale Repräsentanz und Repräsentativität im Rahmen der Evaluationsstudien. Die Ergebnisse müssen nachvollziehbar sein und die Multiperspektivität berücksichtigen. Es sind also beispielsweise sowohl Kinder, Jugendliche als auch Familien sowie die öffentlichen und freien Träger mit einzubeziehen. Hierbei gilt es immer, die eigenen Grenzen zu benennen und zu erkennen. Am Beispiel der Erneuerung von Praxiskonzepten im Kontext der Jugendpflege stellte Achim Romppel von der Fachhochschule Hannover das Zusammenwirken von Verwaltung, Politik und Vereinen gemeinsam mit Kindern, Jugendlichen und der Polizei dar. Er bezeichnet das Forschungsteam als Schnittmenge zwischen diesen unterschiedlichen Konstellationen. Es kommt darauf an, sich nicht im Geflecht der Beziehungsebenen zu verlieren, sondern die Objektivität zu wahren. Insbesondere durch Videodokumentationen und aufgezeichnete Interviews können die Beteiligten auf die wesentlichen Kerninhalte der Forschungsvorhaben hingewiesen werden. Hierbei gilt es, die Interessen zu berücksichtigen und Fragen zu beantworten wie beispielsweise: • Welche Interessen/Erwartungen gibt es? • Wie kann Verständigung und Aushandlung gefördert werden? • Wie sieht das Forschungsdesign aus und wie wird der Erkenntnis- und Umsetzungsprozess gestaltet? Joachim König von der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg stellte am Beispiel der Selbstevaluationsprojekte dar, dass »vom Wiegen allein die 241 Rückschau: EREV-Praxisforschungsworkshop »Erziehungshilfen« Sau nicht fett wird«. Selbstevaluation meint in diesem Zusammenhang die Beschreibung/Bewertung von Ausschnitten des eigenen alltäglichen beruflichen Handelns und/oder seine Auswirkungen. Selbstevaluation muss zu Veränderungen führen. Es kommt darauf an, konzeptionelles Denken und Handeln mit empirischem Denken und Handeln zu verknüpfen. Hierzu gehören die Fragen, Warum tue ich etwas? Mit wem, wie und was ist wesentlich bei meinem Handeln? Harald Tornow, e/l/s-Institut Wülfrath, ging auf die Wissenschaftlichkeit von Wirkungsevaluation ein. Insbesondere wurde die Frage erörtert, ob tatsächlich ein Effekt zu beobachten ist oder die Veränderungen auf einem Zufall beruhen. In einer Simulation wurde auf die Frage eingegangen, wie groß eine Stichprobe von Beobachtungen sein muss, damit die Chance einer wahren Aussage oder einer richtigen Entscheidung verbessert wird. Zu kleine Stichproben können ebenso zu einer hohen Unsicherheit der Aussagen und Entscheidungen führen, wie zu große Stichproben darauf hinweisen können, dass sehr kleine und unbedeutende Effekte überbewertet werden. Es kommt von daher darauf an, nicht nur auf Signifikanz zu testen, sondern auch auf die Effektstärke zu achten. Es gilt, die Fragen zu stellen: Messen wir die richtigen Dinge, wenn Aussagen über die Effektivität von Hilfen zur Erziehung gestellt werden? Ist der Test gegen null richtig oder wäre bereits das Ergebnis »keine Veränderungen« positiv, weil im Fall »keine Heimerziehung« eine Verschlechterung eingetreten wäre? Im Rahmen der Darstellung von Forschungsschwerpunkten ging Fröhlich-Gildhoff auf die Untersuchung im Bereich der ambulanten Erziehungshilfen ein. Wesentlich hat sich hier herauskristallisiert, dass es auf eine Passung zwischen der Familienhelferin und der Familie ankommt, beziehungsweise auf die Zusammenarbeit zwischen Familienhelferin, ASD-Mitarbeiterin und Familie. Die Motivation der Familien ist teilweise zu Beginn der Hilfen gering und muss im Prozess erst hergestellt werden. Zur Qualifi242 zierung der SPFH muss ein besonderes Augenmerk auf die Planungs- und Einstiegsphase gerichtet werden. Bei der Bedeutung der Ziele kommt es darauf an, dass das Abstraktionsniveau im Hilfeplan nicht zu hoch ist, da die Familien ansonsten nicht erreicht werden. Die vereinbarten Ziele werden häufig durch den Alltag überlagert und treten kurz vor beziehungsweise nach dem Hilfeplangespräch stärker in den Hintergrund. Die inhaltliche Orientierung in der Arbeit erfolgt eher pragmatisch situationsorientiert. Eine systematische Planungs- und Prozesssteuerung auf der Grundlage operationalisierter Ziele mit entsprechender Auftragsklärung ist eher die Ausnahme. Der Zugang zu den Kindern erfolgt im Rahmen der SPFH meistens über Freizeitaktivitäten und zu den Erwachsenen über konkrete Alltagssituationen. Für den Einstieg ist es positiv, wenn eine Krise gut bewältigt werden kann. Zur Qualitätssicherung von SPFH ist ein kontinuierlicher Reflektionsrahmen unerlässlich. Eva-Maria Engel, Freiburg, führte die Ergebnisse zum SPFH-Forschungsprojekt weiter aus. Im Rahmen von strukturierten Leitfadeninterviews wurden Familien, Familienhelferinnen und ASD-Mitarbeiterinnen befragt. Insgesamt konnten 71 komplette Hilfeverläufe aus vier Perspektiven ausgewertet werden. Im Mittelpunkt standen hierbei die Ziele der SPFH, die Veränderungen und Erfolgskriterien. Bei den Kategorien des Leitfadens spielten beispielsweise folgende Bereiche eine Rolle: Trennung/Scheidung, Familienbeziehung, Erziehung, Ämter/Einrichtungen, Gesundheit, Finanzen und alltagspraktische Hilfe. Für alle Beteiligten wurde derselbe Leitfaden eingesetzt, um die unterschiedlichen Bereiche zu erfassen. Als Zielbereiche der SPFH zu Beginn wurden unter anderem am häufigsten genannt: angemessen auf das Kind eingehen, Konfliktlösefähigkeit der Eltern, Regeln aufstellen und Grenzen setzen. Der Unterstützungsbedarf im Kontext der Erziehung wird beispielsweise vom ASD am höchsten eingeschätzt, gefolgt von der Familienhelferin und von der Familie deutlich geringer. E J 4/2008 Rückschau: EREV-Praxisforschungsworkshop »Erziehungshilfen« Es erfolgt während der Hilfe kaum ein Austausch über diese unterschiedliche »Problembewertung«. Die Evaluation der Arbeit in Erziehungsstellen stand bei der Darstellung von Siegfried Gruhler, Diakonische Jugendhilfe Region Heilbronn, im Mittelpunkt. Am Beispiel der Einrichtung wird die Veränderung in der Erziehungshilfelandschaft deutlich. Das Betreuungsangebot bestand bis 1981 zu hundert Prozent aus stationären Wohngruppen. Bis zum Mai 2008 wird dieses wesentlich weiter differenziert und reicht von einer Schule für Erziehungshilfe über die Erziehungsstellen stationärer Krisenintervention zu sozialen Trainingskursen und Erziehungsbeistandschaften. Evaluation wird in der diakonischen Jugendhilfe als Instrument verstanden, um den Arbeitsprozess zu qualifizieren. Die Erziehungsstellen sollten in einem reflexiven Prozess hinsichtlich ihrer Methoden, Ziele und Wirkungen untersucht werden. Themen waren hierbei: Autonomes Handeln, räumliche Vereinzelung, Entscheidungskompetenzen, Identifikation/Verhältnis von professioneller und privater Rolle. Ein Ergebnis ist unter anderem hinsichtlich der Bedeutung des autonomen Handelns, dass als Folge der hohen positiven Bewertung Unterstützungsleistungen budgetiert wurden und Verwaltungsvorgaben hinsichtlich der Ermöglichung von autonomem Handeln vereinfacht worden sind. Die räumliche Vereinzelung führt zu einem unzureichenden kollegialen Austausch, sodass kollegiale Partnerschaften aufgebaut wurden, um die Vernetzung zu ermöglichen. Der regelmäßige Austausch mit externen Kollegen und die persönlichen Personalentwicklungspläne sollen zu einer Identifikation, respektive Reflektion des Verhältnisses zwischen professionellen und privaten Kontext führen. eine gemeinsame Plattform aufzubauen. Hierbei können kleinere Projekte gebündelt werden, um die Forschungsmittel effizient einzusetzen. Es besteht ein hohes Interesse an einer Konzeptbegleitung und Projektentwicklung. Die Forschung sollte sich hierbei an der Alltagspraxis orientieren. Wesentlich ist es, dass die Evaluation die Praxis qualifizieren kann aber nicht ausschließlich zur Legitimierung der Arbeit herangezogen werden darf. Dr. Björn Hagen Geschäftsführer, EREV Flüggestr. 21 30161 Hannover [email protected] In der Auswertung des Praxis-Forschungsworkshops wurde deutlich, dass es darauf ankommt, die Bereiche weiter miteinander zu vernetzen. Es kommt darauf an, Einrichtungen der Erziehungshilfen miteinander in Kontakt zu bringen, die Forschungsbedarf in der Praxis sehen, und so E J 4/2008 243 Dialogveranstaltung »Euer Leben hat Gewicht«: Bundesgesundheitsministerium lud zum Thema »Essstörungen« ein Annette Bremeyer, Hannover Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hat im Juni Berliner Schülerinnen und Schüler zu einer Dialogveranstaltung über das Thema »Essstörungen« eingeladen. Anschließend stand sie Jugendlichen und den Medien zu einem Interview zur Verfügung. 180 Jungen und Mädchen folgten der Einladung der Ministerin. Unter dem Motto »Euer Leben hat Gewicht« diskutierten sie in zwei Gesprächsrunden zusammen mit Ulla Schmidt und prominenten Gästen wie Jeannette Biedermann und der britischen Boy Group »Lexington Bridge« sowie Fachleuten über die Themen »Essstörungen«, »Schönheitsideale« und »positives Selbstwertgefühl«. Dabei setzte sich die Bundesgesundheitsministerin gegen den Schlankheitswahn und für eine bewusste und gesunde Ernährung ein. »Evangelische Jugendhilfe«: Was hat Sie zu dieser Veranstaltung bewogen? Ulla Schmidt: »Essstörungen sind keine Bagatelle, sondern ein unterschätztes gesellschaftliches Problem. Daher ist Aufklärungsarbeit sehr wichtig.« 1,4 Millionen und damit mehr als ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen zwischen elf und 17 Jahren leiden in Deutschland unter Essstörungen oder zeigen erste Symptome von Magersucht, Ess-Brech-Sucht oder Fettsucht. Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wollen 56 Prozent der 13- bis 14-Jährigen dünner sein, knapp ein Drittel würde gern besser aussehen und knüpft diese Bedingung an das Gewicht. Ulla Schmidt: »Wir wollen mit denjenigen diskutieren, die vom Alter her am ehesten gefährdet sein können. Die Initiative dient dazu, darauf auf244 merksam zu machen und im Dialog mit der Öffentlichkeit sowohl das Umfeld als auch die Betroffenen zu sensibilisieren.« Auf einer Podiumsdiskussion, an der neben Jeanette Biedermann und der Sängerin Jessica Wahls (No Angels) der Psychologe Hannes Niggenaber, Ratgeber bei der Jugendzeitschrift »Popcorn«, sowie Dr. med. Lisa Pecho, ärztliche Leiterin des Vereins ANAD, einer therapeutischen Einrichtung für Menschen mit Essstörungen, teilnahmen, betonte Pecho: »Es ist längst überfällig, dass sich auch die Politik engagiert, um langfristig das herrschende Schönheitsideal zu verändern. Die Gleichung: Wer dünn ist, ist schön, fit und erfolgreich, muss endlich ihre Gültigkeit verlieren.« Hannes Niggenaber ergänzte: »Das Problem hat sich verschärft, denn Mädchen scheitern heute am eigenen Perfektionsdenken«. Schönheitswahn dürfe allerdings nicht zum Schlankheitswahn führen. Aus dem Publikum äußerten sich zahlreiche Jugendliche zu dem Thema und fragten beispielsweise, was sie tun können, wenn eine Freundin stark abnimmt oder plädierten dafür, Modefotos nicht zu retuschieren. Besonders die Äußerung eines Jungen »Da wird einer Person nachgeeifert, die es gar nicht gibt, das will man doch nicht«, erntete kräftigen Applaus unter den vielen Jugendlichen und wenigen Erwachsenen. »Evangelische Jugendhilfe«: Liegen die Gründe für eine Essstörung nicht tiefer, als dem gängigen Schönheitsideal nacheifern zu wollen? Ulla Schmidt: »Das Problem einer Essstörung fängt früher an, und die Familienmitglieder müssten es getrennt voneinander bearbeiten.« E J 4/2008 Dialogveranstaltung »Euer Leben hat Gewicht«: Sie sprach sich des Weiteren für einen stärkeren Schutz von Kindern und Jugendlichen im Internet aus und begrüßte ein Vorgehen gegen unzulässige Angebote, das von der Internetplattform www.jugendschutz.net initiiert wurde. Mittelfristig sollen Internetanbieter in die Initiative einbezogen werden. Magersucht als Lebensstil Beispielweise gibt es Internetseiten, auf denen sich die zehn Gebote der Magersüchtigen mit ein paar Klicks im Internet finden lassen. Unter dem verniedlichenden Schlagwort Pro-Ana – für Anorexia nervosa, die Magersucht – präsentieren Betroffene im Netz stolz ihre vermeintlichen Erfolge im Kampf gegen das Fett, stacheln andere Magersüchtige zu immer neuen Negativrekorden an – und dokumentieren ihre Leidensgeschichte, im Zweifel bis in den Tod. »Die Krankheit Magersucht wird zu einem attraktiven Lifestyle verherrlicht«, erklärt Katja Rauchfuß von der Initiative jugendschutz.net, die seit Ende 2005 mehr als 300 ProAna-Internetseiten untersucht hat. 80 Prozent davon »haben einen destruktiven Inhalt«, so Rauchfuß. erarbeitet hat, in der sie sich verpflichten, die Öffentlichkeit für ein gesundes Körperbild zu sensibilisieren und einem extremen Schlankheitsideal entgegenzutreten. In der Charta heißt es unter anderem: Die deutsche Textil- und Modebranche ist überzeugt von der Wichtigkeit eines branchenübergreifenden Engagements für freie und vielfältige Körperbilder. Gemeinsam mit weiteren Branchen wird sie Botschaften entwickeln und Aktionen initiieren, die einen Beitrag zur Prävention von Essstörungen leisten. Zeitgleich zur Dialogveranstaltung wurde die neue Internetseite www.leben-hat-gewicht.de freigeschaltet. Die Plattform bündelt konkrete Maßnahmen sowie Informations-, Hilfs- und Beratungsangebote. Annette Bremeyer Referentin, EREV Flüggestr. 21 30161 Hannover [email protected] Ulla Schmidt ermutigte in der Veranstaltung die Jugendlichen, »aufeinander zu achten und es anzusprechen, wenn sie Veränderungen im Essverhalten der Freundin oder des Freundes feststellen«, und eine ehemals von Magersucht betroffene Frau ergänzte: »Die Krankheit war für mich auch Ausdruck eines Leistungsdrucks. Ich dachte immer, nicht auszureichen.« Die Nationale Charta der Textil- und Modebranche Neben der Sensibilisierung der Öffentlichkeit und verschiedenen Präventionsmaßnahmen setzt die Initiative »Leben hat Gewicht« auf freiwillige Selbstverpflichtungen. Ein Ergebnis dessen ist es, dass das Bundesgesundheitsministerium im Juli in Zusammenarbeit mit Vertretern der deutschen Textil- und Modebranche eine Nationale Charta E J 4/2008 245 »Geht denn da überhaupt noch was?« Information zum Fachtag des Eylarduswerkes am 28. Mai 2008 Klaus ter Horst, Bad Bentheim Das Eylarduswerk in Bad Bentheim veranstaltet seit über zehn Jahren Fachtage, zu denen neben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Eylarduswerkes auch externe Kooperationspartner eingeladen werden. Der diesjährige Fachtag war mit 350 TeilnehmerInnen sehr gut besucht. Wie schon in den vergangenen Jahren fanden die Hauptvorträge aufgrund der großen Teilnehmerzahl in der reformierten Kirche im Stadtteil Gildehaus statt. Der pädagogische Vorstand des Eylarduswerkes, Detlev Krause, begrüßte die 350 TeilnehmerInnen. Der therapeutische Leiter des Eylarduswerkes Klaus ter Horst führte in die Thematik ein und moderierte den Fachtag. Die wichtigste Frage des Fachtages lautete: Geht denn da überhaupt noch was?« Schädigen»G de frühkindliche Entwicklungsbedingungen, genetische Defekte, psychiatrische Erkrankungen und deren Folgen für die Kinder und Jugendlichen sowie für die Fachkräfte standen im Mittelpunkt der Vorträge und Workshops. Die Referentinnen und Referenten nahmen unter anderem Stellung zu nachfolgenden Themen: • Wie stark schädigt Alkohol in der Schwangerschaft das heranwachsende Baby? • Wie wirken sich Misshandlung und Vernachlässigung auf die Hirnentwicklung aus? • Welche Hilfen gibt es für schwer traumatisierte kleine Kinder? • Wie erkennen wir Grenzbereiche von genetischen Defekten, geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung? • Wo führen diese Störungsbilder die Pädagogik an Grenzen, welche Perspektiven haben diese jungen Menschen? 246 Dr. Reinhold Feldmann, Universität Münster Diesen Fragen liegt die Erfahrung zugrunde, dass wir bei unserer Arbeit auch an Grenzen stoßen – trotz allem Bemühen, unseren Kindern und Jugendlichen positive Lebensperspektiven zu ermöglichen. Grenzen von Sozialarbeit, Pädagogik und Psychologie werden dort aufgezeigt, wo Kinder schon krank auf die Welt kommen, wo Vernachlässigung und Misshandlung sich so schädigend auf die psychische und körperliche Entwicklung von Kindern auswirken, dass wir nur noch geringe Einflussmöglichkeiten haben. Grenzen werden auch da erreicht, wo hilfebedürftige Jugendliche oder junge Erwachsene die Jugendhilfe verlassen: Wenn kein familiärer Rahmen sie fördert und stützt, keine angemessene Wohnund Lebenssituation vorhanden ist und keine gesellschaftliche Institution diesen jungen Menschen Unterstützung, Begleitung und Schutz anbietet. Mit Albert Storcks, dem Neuropädiater und leitendem Fachbereichsarzt des St. Marienhospitals in Vechta, referierte ein ausgewiesener Fachmann zu der Frage »Wie wirken sich Vernachlässigungen und Misshandlungen auf die Hirnentwicklung aus?«. E J 4/2008 »Geht denn da überhaupt noch was?« Information zum Fachtag des Eylarduswerkes Dr. Reinhold Feldmann von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin in Münster referierte zum Thema »Das Problem, das man oft nicht sieht« über die Diagnostik und Auswirkung des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) auf die kindliche Entwicklung. Diese Behinderung ist eine Folge von starkem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und spielt in der Jugendhilfe eine zunehmend größere Rolle. Mit der Diplompsychologin Dagmar Eckers vom Traumaforum in Berlin ist es gelungen, eine Expertin für die Behandlung und Therapie von früh– und wiederholt traumatisierten kleinen Kindern für den Fachtag zu gewinnen. Nachmittags fanden elf Workshops statt. In den Workshops wurden weitere Beiträge zum Thema Grenzen der Pädagogik bearbeitet. So berichtete der Diplompsychologe Dr. Stephan Theiling vom Kinderhospital Osnabrück über die lebensbedrohlichen Auswirkungen bei der Unterschätzung von körperlichen Erkrankungen und der niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Zoran Babic zeigte die Möglichkeiten – aber vor allem auch die Grenzen – der medikamentösen Behandlungen aus kinderpsychiatrischer Sicht auf. beck zeigten anhand von Fallbeispielen Lebensperspektiven für Menschen auf, deren Störung im Grenzbereich zwischen Jugendhilfe und dem Behindertenbereich liegen. Die vielen Anmeldungen zum diesjährigen Fachtag sind ein Beleg dafür, dass das Thema des Fachtages für MitarbeiterInnen in Jugendhilfeeinrichtungen und in Jugendämtern, für Kinderärzte und Kinderpsychiater, in Schulen und Kindergärten praxisrelevant war. Die persönlichen Rückmeldungen zum Fachtag und die Auswertung der Evaluationsbögen ergaben ein positives Bild von der Veranstaltung. Die Beiträge der ReferentInnen und WorkshopleiterInnen sind auf der Homepage des Eylarduswerkes einzusehen: www.eylarduswerk.de. Klaus ter Horst Therapeutischer Leiter Eylarduswerk e.V. Teichkamp 34 48455 Bad Bentheim [email protected] Mit der Diplompsychologin Monika Biener und der Video-Home-Trainerin Marita Brümmer berichteten zwei Mitarbeiterinnen des Eylarduswerkes aus ihrem Alltag in der Arbeit mit kleinen Kindern. Beim Thema »Das unsichtbare Band sichtbar machen« ging es um das videounterstützte Erkennen und Behandeln von Bindungsstörungen (»Video-Interaktions-Diagnostik«) Gudrun Holl, Diplompsychologin und langjährige Mitarbeiterin des Therapiezentrums für autistische Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Meppen, behandelte im Workshop die Thematik des Asperger-Syndroms und gab Hinweise für den pädagogischen Umgang mit diesen jungen Menschen. Monika Lammers und Sigrid Stegemann vom Pädagogischen Fachdienst des Stift Tilbeck in HavixE J 4/2008 247 Hinweise Fachtagung zur Zukunft der Familienhilfe Das Neukirchener Jugendhilfeinstitut veranstaltet in Verbindung mit der evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe am 17. Oktober 2008 in Bochum eine Fachtagung zur Zukunft der Familienhilfe. Hintergrund sind neben dem unscharf gewordenen Bezugsrahmen »Familie« die starken Veränderungen im Familienverständnis und in den Familienstrukturen, welche Rückwirkungen auf unsere Gesellschaft haben. Die Fachtagung möchte auf »Spurensuche« gehen und lädt Fachkräfte der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe freier und öffentlicher Träger zur Teilnahme ein. Neben Professor Benjamin Benz wird Oberkirchenrat Klaus Eberl sowie Ulrike Bavendiek zum Thema referieren, Arbeitsgruppen zum Thema und eine Podiumsdiskussion schließen diese Fachtagung ab. Die Tagung findet im Audimax der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe statt. Die Gesamtleitung hat der wissenschaftliche Leiter des Neukirchener Jugendhilfeinstituts, Prof. Dr. Ulrich Huster. Weitere Informationen sowie den Programmfalter erhalten Sie unter [email protected] oder telefonisch unter 02845 / 392-570. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit (BAG EJSA) legt Praxisleitfaden zu Freiwilligendienste vor Die BAG EJSA gibt zum Abschluss eines dreijährigen Modellprojekts zum Thema »Freiwilligendienste von jungen Menschen mit Migrationshintergrund in den Jugendmigrationsdiensten« eine Handreichung heraus. Unter dem Titel »freiwillig? – na klar! – Freiwilligendienste von jungen Menschen mit Migrationshintergrund in den Jugendmigrationdiensten« informiert der Praxisleitfaden über Informationen zu den wichtigsten Aspekten 248 und Erfahrungen aus dem Modellprojekt. Er wurde von der Bundeskoordinatorin Kira Funke und den ProjektleiterInnen der zehn Standorte gemeinsam erstellt. Er steht als PDF-Datei zum Download unter www.jmd-portal.de bei »freiwillig? – na klar!« zur Verfügung. Tagung: Psychotische Welten verstehen Die »Gesellschaft zur Förderung empirisch begründeter Therapieansätze bei schizophrenen Menschen« (GFTS) veranstaltet am 16./17.Oktober 2008 in Stuttgart eine Fachtagung zum Thema »Psychotische Welten verstehen«. Themen der Referate sind unter anderem »Need Adapted Treatment – verstehende Zugänge in der Behandlung« sowie »Die psychotische Ersterkrankung – subjektives Erleben und therapeutische Aufforderungen«. Nähere Informationen finden Sie unter www.gfts.de. Neuer Praxisleitfaden für betriebliche Kinderbetreuung Das Bundesfamilienministerium gibt eine Broschüre über Kinderbetreuung im Betrieb heraus, die sich an Unternehmen aller Branchen und Größen richtet, die entsprechende Angebote für ihre Belegschaft schaffen wollen. Der neue Leitfaden fasst die verschiedenen Möglichkeiten betrieblich unterstützter Kinderbetreuung zusammen und ergänzt diese durch anschauliche Praxisbeispiele. Die Broschüre erläutert in zehn Schritten, wie Unternehmen in die betrieblich unterstützte Kinderbetreuung einsteigen können – angefangen mit kompetenten Ansprechpartnern über die Ermittlung des Betreuungsbedarfs bis hin zur Entscheidung für eine individuell passende Lösung der betrieblichen Kinderbetreuung. E J 4/2008 Hinweise Der Leitfaden steht unter www.erfolgsfaktor-familie.de zum Download bereit. Außerdem ist er beim Publikationsversand der Bundesregierung, Postfach 481009, 18132 Rostock, Telefon 0180 / 577 80 90 kostenlos erhältlich. Fachtagung zur Vielfalt systemischer Sozialarbeit An der Hochschule Merseburg (Sachsen-Anhalt) findet am 14. und 15. November 2008 die Fachtagung »Mindestens sieben Möglichkeiten – die Vielfalt systemischer Sozialarbeit« statt. Rund 25 ReferentInnen aus Praxis und Wissenschaft stellen in Workshops und Vorträgen praktische und theoretische Konzepte zur systemischen Sozialarbeit vor. Daneben kommen auch die Ressourcen der TeilnehmerInnen zur Geltung. Am Freitagabend liest die Berliner Autorin Felicia Zeller aus ihrem Stück »Kaspar Häuser Meer«, das die Situation von Mitarbeiterinnen in Jugendämtern auf eindrückliche Weise darstellt. Veranstalter der Fachtagung sind Johannes Herwig-Lempp, Hochschule Merseburg, in Kooperation mit dem Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Merseburg (FH), der Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie und Familientherapie (DGSF), der Deutschen Gesellschaft für systemische Soziale Arbeit (DSSA), der Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit der Hochschule Coburg (FH) und dem Fachbereich Soziale Arbeit der Uni Bamberg. Die Fachtagung richtet sich an Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter aller Arbeitsbereiche. Weitere Informationen sowie die Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie unter www.systemische-sozialarbeit.de/fachtagung.htm. Unternehmensvergleich »Top 100« startet in eine neue Runde Mittelständler können sich ab sofort wieder um die Aufnahme in die Riege der 100 innovativsten Unternehmen bewerben. Bundesweit und branchenübergreifend vergleicht Prof. Dr. Nikolaus Franke von der Wirtschaftsuniversität Wien das Innovationsmanagement der Teilnehmer und erE J 4/2008 mittelt die »Top 100«. Außerdem wird der Titel »Innovator des Jahres« verliehen. Angesprochen sind auch beim 17. Durchgang des renommierten Unternehmensvergleichs Produktionsbetriebe und Dienstleister gleichermaßen. Untersucht wird insbesondere, wie innovationsförderlich die Strukturen sind und wie erfolgreich das innovative Engagement ist. Entscheidend für die Aufnahme des Teilnehmers in den Kreis der 100 Besten ist das Ergebnis der wissenschaftlichen Analyse in den Kategorien »Innovationsförderndes Top-Management«, »Innovationsklima«, »Innovative Prozesse und Organisation«, »Innovationsmarketing« sowie »Innovationserfolg«. Startberechtigt sind Unternehmen aller Branchen mit bis zu 5.000 Mitarbeitern. Die Kosten für die Bewerbung betragen 600 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer. Interessenten bewerben sich direkt online unter www.top100.de. Bewerbungsschluss ist am 31. Oktober 2008. EKD veröffentlicht Handreichung zu Schulen in evangelischer Trägerschaft Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gibt eine Handreichung zu Schulen in evangelischer Trägerschaft heraus. Darin geht es um eine Bestandsaufnahme zum evangelischen Schulwesen und um Perspektiven der Weiterentwicklung. Darin wird insbesondere der Frage nachgegangen, was heute die Qualität einer guten Schule ausmacht. Einerseits wird gezeigt, was evangelische Schulen als besonderes Profil in das Bildungswesen einbringen können und wollen, andererseits beschreibt sie einen allgemeinen Anspruch, der sich an alle Schulen richtet und an dem sich deshalb auch Schulen in evangelischer Trägerschaft messen lassen müssen. Ausgehend von zehn Thesen zur Bedeutung, den Entwicklungsaufgaben und Zukunftsperspektiven evangelischer Schulen werden Fragen von Profil und Anspruch, Struktur und Leistung, Qualität und Ethos sowie der kirchlichen und staatlichen Bildungsverantwortung in Bezug auf evangelische Schulen behandelt. Adressaten der Handreichung sind einerseits die Beteiligten im evangelischen Schulwesen, Mitar249 Hinweise beitende an den Schulen, Schulträger wie Schulgründungsinitiativen, aber auch die bildungspolitische Öffentlichkeit. Das entspricht dem Selbstverständnis evangelischer Schulen, die sich durch ihre Beteiligung an der gesellschaftlichen Gesamtverantwortung für Kinder und Jugendliche auch als Teil des öffentlichen Schulwesens sehen. Die Handreichung wurde erarbeitet von der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend in Zusammenarbeit mit einer Expertengruppe. Sie ist erschienen im Gütersloher Verlagshaus und kann über den Buchhandel bezogen werden. Nähere Informationen gibt es unter www.ekd.de oder www.evangelische-schulen-indeutschland.de. Neue Fortbildungen des Burckhardthauses Das Burckhardthaus in Gelnhausen bietet in der zweiten Jahreshälfte neben einer zweijährigen Fortbildung zum Thema »Professionelle Gruppenleitung in sozialen und pädagogischen Arbeitsfeldern« die Fortbildungen »Struktur und Kreativität in individuellem und Team-Denken«, »Leben Sie schon – oder organisieren Sie noch?« sowie »Case-Management im Sozial- und Gesundheitswesen« an. Nähere Informationen finden Sie unter www.burckhardthaus.de. Fördermöglichkeiten: Neue Rubrik im Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe Ab sofort können sich Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe unter www.jugendhilfeportal.de gezielt über Fördermöglichkeiten und Wege zur Finanzierung von Projektideen informieren. Sie haben eine spannende Idee für eine Kampagne zur Gesundheitsförderung, möchten ein multilaterales Projekt zum Thema Antisemitismus oder einen Fachkräfteaustausch im Bereich Hilfen zur Erziehung durchführen? Aber Sie wissen nicht, wie Sie an das Geld dafür kommen können? Die neue Rubrik »Förderinformationen« bietet nun die Möglichkeit, sich detailliert über Finanzierungsmöglichkeiten für Projekte, Aktionen und Maßnahmen zu informieren. In der Infobox »Förderung durch 250 Bund, Länder und Kommunen« finden Sie eine systematische Auflistung der Zuständigkeiten auf den jeweiligen Ebenen mit Erläuterungen und Links zu Antragsformularen, Antragsfristen und weiterführenden Informationen. In einer weiteren Infobox werden europäische Fördermöglichkeiten und Programme zur Förderung der Internationalen Jugendarbeit gebündelt und Links zu Finanzierungsmöglichkeiten für bi- und multilaterale Projekte gesammelt. Unter »Förderung durch Stiftungen, Tipps zu Fundraising und Sponsoring« gibt es Anregungen und Hinweise zur Akquise von Stiftungsmitteln und anderen Geldern. Alle Infoboxen werden durch Verlinkungen zu entsprechenden Förderdatenbanken und zum Quellenpool des Fachkräfteportals ergänzt, wo Sie einschlägige Literatur zum Thema finden. Zusätzlich finden Sie in der neuen Rubrik Hinweise auf aktuelle Ausschreibungen und Wettbewerbe, die der Finanzierung Ihrer Projekte und Aktionen dienen könnten. Unser Kooperationspartner, das europäische Informationsnetzwerk Eurodesk, ergänzt das Angebot schließlich um eine monatliche Zusammenstellung von Ausschreibungen im Bereich Internationale Jugendarbeit und Europa. Das Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe ist eine Informations-, Kommunikations- und Kooperationsplattform und richtet sich an alle, die aus beruflichem oder ehrenamtlichem Interesse, Presseinformation ausbildungsbezogen mit wissenschaftlichem Hintergrund oder auch ganz allgemein zum Thema Kinder- und Jugendhilfe im Internet recherchieren. Träger des Gemeinschaftsprojektes sind die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ sowie die IJAB-Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V. Gefördert wird das Fachkräfteportal vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sowie von der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesjugend- und Familienbehörden (AGJF). Nähere Informationen geben E J 4/2008 Hinweise Antje Klemm, [email protected] oder Dr. Anneli Starzinger, [email protected]. ConSozial 2008: Programm liegt vor Unter dem Motto »Zukunft: Wertschöpfung durch Wertschätzung« feiert die ConSozial vom 5. bis 6. November 2008 mit Besuchern und Ausstellern ihr zehnjähriges Bestehen. Zu den Jubiläumshöhepunkten zählen ein Festabend im Messezentrum, der Auftritt des Autors und Zeichners Werner Tiki Küstenmacher sowie eine Podiumsdiskussion aller Präsidenten und Vorstände der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland. Denkanstöße zum Motto gibt Bischöfin Dr. Margot Käßmann im Rahmen der Eröffnung. Der Generaldirektor der EU, Nikolaus G. van der Pas, beleuchtet am zweiten Tag die europäischen Herausforderungen für die Sozialwirtschaft. In weiteren rund 40 Vorträgen, Podien und Workshops geht es um aktuelle Fragen wie die Neuorganisation im Bereich des SGB II, Jugendhilfe und Jugendkriminalität, Fachkräftegewinnung oder die Erschließung neuer Finanzquellen. Nähere Informationen finden Sie unter www.consozial.de. Neuveröffentlichung zum Thema »Streetwork« In einer neuen Veröffentlichung zum Thema Handlungsmöglichkeiten und Wirkungen von Streetwork stellt der Autor Stefan Gillich den aktuellen Diskussionsstand sowie die zugrunde liegenden Standards von Streetwork und Mobiler Jugendarbeit dar. Das Buch soll Anregungen zur Weiterentwicklung der Arbeitsfelder bieten und zeigen, dass Streetwork und Mobile Jugendarbeit sich den Herausforderungen stellen müssen, wie zu Menschen in ausgrenzenden oder ausgegrenzten Lebenssituationen Kontakte geknüpft werden können oder wie die konkreten Herausforderungen aussehen. Es informiert darüber, welche Erfahrungen hilfreich sind und welche Handlungsalternativen sich daraus ergeben. Nähere Informationen erhalten Sie unter www.burckhardthaus.de/neuebuecher.asp. ab E J 4/2008 251 Glossar: Komplex – kompliziert Harald Tornow, Wülfrath Kompliziert können Gedanken, Redeweisen, schriftliche Darstellungen, also geistige Produkte, aber auch die sozialen und technischen Artefakte sein (das, was Menschen herstellen). Menschen sind bemüht, unkomplizierte Modelle und Redeweisen und einfache (das ist das Gegenteil von kompliziert) Technologie und Organisationen herzustellen. Das hat mehrere Gründe. • Einfache Theorien: Sie gelten als eleganter und auch irgendwie als wahrer. Vor Galileo Galilei und vor Johannes Kepler war Astronomie eine hochkomplizierte Angelegenheit. Schauen Sie sich mal ein mittelalterliches Astrolabium oder die Aufzeichnung der Planetenbahnen an. Mit einem einfachen Modell (dem heliozentrischen Weltbild) und einfachen mathematischen Formeln wurde alles viel einfacher. Leider wird im deutschen Wissenschaftsbetrieb Kompliziertheit als Ausweis von Gelehrtheit angesehen. Vergleichen Sie mal ein amerikanisches Fachlehrbuch mit einem deutschen. • Einfache Technologie: Bill Gates hat sein milliardenschweres Microsoft-Imperium aufbauen können, weil er die komplizierten Sprachen zur Steuerung von Computern in eine einfache Bildsprache übersetzt hat, die schon Vorschulkinder verstehen können. • Einfache Rede: Sie verbraucht beim Sender und beim Empfänger weniger Energie und ist weniger fehleranfällig. • Einfache soziale Regeln: Sie lassen sich leichter merken und sie bieten schnellere Orientierung in unklaren Situationen. Man kann die Welt kompliziert beschreiben. Das macht man am besten so, dass alles, was direkt oder mit Instrumenten wahrgenommen wird, untereinander in Beziehung gesetzt wird und dann noch der Wandel über die Zeit berücksichtigt wird. Das Ergebnis gäbe ein Buch, das in unser Universum nicht hineingeht und bei dem jeder auf 252 der ersten Seite schon aussteigen müsste. Bereits bei dem Zusammenhang zwischen mehr als drei Dingen gerät unser Gehirn in Verwirrung. Eine einfachere Art, Wahrgenommenes zu beschreiben, ist das Aufdecken von Regeln, nach denen sich Dinge ereignen und entwickeln. Einige Dinge funktionieren nach trivialen (das ist das Gegenteil von komplex) Regeln: je mehr das eine, desto mehr das andere. Und umgekehrt. Und immer. Bis ins 19. Jahrhundert meinten Naturwissenschaftler, es sei nur eine Frage der Zeit und man werde die ganze Welt nach solchen Regeln erklären können. Aber in der Welt gelten überwiegend komplexe Regeln. Damit sind wir bei dem zweiten Begriff. Komplexität liegt immer dann vor, wenn das Ergebnis einer Veränderung die Ursache einer nächsten Veränderung ist. Das ist so beim Wetter, den Bewegungen der Wellen und in Populationen der Biosphäre. Ein weiteres Merkmal von Komplexität ist die Unbestimmtheit der Zusammenhänge (Chaos): Kleine Ursachen haben große Wirkungen. Diese kann man aber nicht vorhersehen. Die dritte Bedingung für Komplexität ist die Vernetztheit. Wenn nur hundert Dinge miteinander zusammenhängen, gibt es bereits mehrere Trilliarden Kombinationsmöglichkeiten. Komplexe Systeme lassen sich nicht steuern. Das liegt zum einen daran, dass alle Computer der Welt nicht die Informationen verarbeiten können, die in den Zusammenhängen stecken, in denen sich ein System im Inneren und zu seiner Umwelt befindet. Zusätzlich stehen lebendige komplexe Systeme einer Steuerung noch durch eine weitere Eigenart entgegen: Sie bauen sich selber regelmäßig um. Selbst wenn ein Supercomputer einen Steuerungsansatz finden könnte, sein Wissen wäre schon in der nächsten Runde überholt. E J 4/2008 Glossar: Komplex – kompliziert Angewandt auf die Sozialpädagogik bedeutet das: • Eine Theorie, ein Bericht und die Verfahrensvorschriften der Einrichtung können kompliziert oder einfach sein. Besser, sie wären einfach, dann käme es zu weniger Missverständnissen und das Reden und Denken wären nicht so anstrengend. • Ein junger Mensch, seine Familie, das Team und die Beziehungen zu Schule und Jugendamt sind immer komplex. Trivial geht nicht, weil es hier um das Leben selbst geht und nicht um die Theorie des Lebens. War das jetzt zu kompliziert? Dr. Harald Tornow e/l/s-Institut für Qualitätsentwicklung Diakonissenweg 44 42489 Wülfrath [email protected] Nr.: 50/2008 EREV – FREIE SEMINARPLÄTZE– FREIE SEMINARPLÄTZE »Man muss sich selbst verstehen, wenn man andere verstehen will« Einführung in die Typenlehre des ENNEAGRAMMS Inhalt und Zielsetzung In diesem Seminar wird in die Typenlehre des Enneagramms, ein Persönlichkeitsmodell, das Sie sowohl in Ihrem persönlichen als auch beruflichen Handeln weiterführt, eingeführt. Das Enneagramm beschreibt neun Persönlichkeitsmuster, die sich im Denken, Fühlen und Handeln grundlegend unterscheiden und dazu führen, dass Interpretationen von Lebenssituationen, Beziehungen und Lebenswelten völlig unterschiedlich ausfallen. Es soll darum gehen, sich und andere besser zu verstehen, warum man in bestimmten Situationen so reagiert, wie man reagiert, und auch zu verstehen, warum Menschen in bestimmten Situationen ganz anders reagieren. Wir wollen nach Wegen mit Hilfe des ENNEAGRAMMS suchen, die zur eigenen »gesunden« Persönlichkeitsentwicklung dienen. Spielerisch und mit heiterem Ernst werden wir uns an die neun Grundmuster, die neun Vermeidungen und die neun Idealisierungen annähern, wobei zwei Typentests (schriftlich und online) zur Selbsterforschung angeboten werden. Methodik Vortrag, Teilnehmer- und Teilnehmerinnenberichte, Übungen Zielgruppe Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die die ENNEAGRAMM-Arbeit kennen lernen möchten. Leitung Wilfried Knorr, Peiting Termin/Ort 01. – 03.12.2008, Augsburg Teilnahmebeitrag 249,- € für Mitglieder / 289,- € für Nichtmitglieder inkl. Unterbringung und Verpflegung Teilnehmerzahl 15 E J 4/2008 253 Anzeige Die EJF-Lazarus gAG ist als diakonischer Träger von Einrichtungen der Alten-, Jugend- und Behindertenhilfe in mehreren Bundesländern tätig. Ein Schwerpunkt in der Jugendhilfe ist die Arbeit mit delinquenten und sozial auffälligen Jugendlichen. Für die Erweiterung unseres stationären Angebots in Selb/Bayern suchen wir ab sofort pädagogische Fachkräfte Sie wollen einen aktiven Beitrag dazu leisten, die neuen Strukturen mit Leben zu füllen und weiter zu entwickeln. Die Arbeit mit schwierigen Jugendlichen sehen Sie als Herausforderung, Sie verfügen über fachlich fundiertes pädagogisches Wissen und setzen dieses in der Alltagsstruktur einer Wohngruppe mit sechs bis acht Jugendlichen professionell um. Sie schätzen die innovativen Ideen eines jungen Teams und bringen mit Begeisterung Ihre eigene Kreativität und Ihre Fähigkeiten ein. Wir erwarten: • eine qualifizierte pädagogische Ausbildung (Sozialpädagoge/in, Erzieher/in) • mehrjährige Berufserfahrung im Jugendhilfebereich • Selbständigkeit, Eigenverantwortung und Kommunikationsfähigkeit • Engagement, Zuverlässigkeit und Flexibilität • Entscheidungs- und Konfliktfähigkeit • EDV-Kenntnisse, Führerschein Wir bieten eine verantwortungsvolle Position mit Zukunftsperspektive. Die Vergütung erfolgt nach AVR-DWBO mit zusätzlichen Sozialleistungen. Die Stellen sind vorerst für zwei Jahre befristet. Ihre aussagekräftige Bewerbung senden Sie bitte mit frankierten Rückumschlag an: EJF-Lazarus gAG, Frau Krauss-Ranzinger, Franken 24, 95163 Weißenstadt, [email protected] 254 E J 4/2008 Nr.: 52/2008 EREV – FREIE SEMINARPLÄTZE– FREIE SEMINARPLÄTZE »Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …« PraktikantInnen anleiten, begleiten und beraten Für die Berufsqualifizierung von pädagogischen Fachkräften ist der Verlauf praktischer Ausbildungsabschnitte (Praktika) von großer Bedeutung. Für einen erfolgreichen Verlauf brauchen Auszubildende Anleitung, Begleitung und Beratung. Die Anleitung von PraktikantInnen ist aber kein Bestandteil der grundständigen Ausbildung von Fachkräften in der Sozialen Arbeit, obwohl diese Ausbildungsaufgabe fast jede/n Pädagoge/-in trifft. Die Einführung neuer (späterer) BerufskollegInnen in das eigene Arbeitsfeld nimmt eine Schlüsselposition in der Personalentwicklung ein. Methodisches Wissen wird vermittelt und erfahrbar gemacht. Aber auch Grundhaltungen, Werte und Normen, ethische Orientierungen und die Motivationsgrundlage werden geprägt. Anleiter/-innen brauchen personale Kompetenz, Selbstevaluation, Feldkompetenz und didaktische Kompetenz. Die dreitägige Fortbildung ist als praxisorientierter Lehr- und Lernprozess konzipiert und setzt die aktive Beteiligung der TeilnehmerInnen voraus. Das Angebot soll die Anleitungstätigkeit optimieren und unterstützen. Inhalte • Rollen, Selbstverständnis und Haltungen von PraktikantInnen • Chancen und Grenzen von PraktikantInnen • das Praktikum als Entwicklungsprozess (Ausbildungsplan) • Phasenorientierung im Praktikum • Praxisanleitung im Spannungsfeld unterschiedlicher Erwartungen • Umgang mit Krisen und Zweifeln von und an PraktikantInnen • Reflexionsgespräche und Feedback • Beurteilungen und Zeugnisse • Funktion und Rollenverständnis von Anleitung • eigenes Mentoren-Konzept Methodik Theoretische Impulse und Diskussion im Plenum, Kleingruppenarbeit, Übungen, Fallbesprechungen, Rollenspiele. Zielgruppe Erfahrene und unerfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Sozialen Arbeit, die PraktikantInnen anleiten (möchten). Leitung Sandra Grundmann, Bad Bentheim; Gertrud Meinzer, Osnabrück Termin/Ort 03. – 05.12.2008 in Lage Teilnahmebeitrag 249,- € für Mitglieder / 289,- € für Nichtmitglieder inkl. Unterbringung und Verpflegung Teilnehmerzahl 20 E J 4/2008 255 Nr.: 54/2008 EREV – FREIE SEMINARPLÄTZE– FREIE SEMINARPLÄTZE Selbstsicherheitstraining »Bullying, ›Abziehen‹, Erpressung, Drangsalierungen, Beleidigungen und Bedrohungen ...« Wissen und Fertigkeiten im Umgang mit Konflikten und Angriffen durch Kinder und Jugendliche Inhalt und Zielsetzung In den vergangenen Jahren hat sich der »soziale Raum Schule« ebenso wie die Bedingungen im Bereich der pädagogisch-erzieherischen Aufgaben in Erziehungseinrichtungen für alle Beteiligten verändert. Als ein Teil dieses Wandels dürfte das Phänomen des massiv grenzverletzenden Verhaltens von Kindern und Jugendlichen gewertet werden. Dabei variieren die einzelnen störenden Verhaltensweisen und Ausprägungsgrade, fast immer jedoch können aggressive Formen wie Bullying, ›Abziehen‹, Erpressung, Drangsalierungen, Beleidigungen und Bedrohungen sowie tätliche Attacken festgestellt werden. Solche Übergriffe beeinträchtigen nachhaltig eine förderliche Lernatmosphäre, gleichsam ist der erzieherische Umgang mit deutlich aggressiv auffälligen Betreuten für Pädagogen und Erzieher erheblich erschwert. So geraten immer öfter Lehrer und Lehrerinnen oder erzieherisch tätige Mitarbeiter/-innen in den Fokus von verbalen und körperlichen Attacken, die von Kindern und Jugendlichen ausgehen. Der Schwerpunkt der Trainerausbildung liegt darauf, Wissen und Fertigkeiten vermitteln zu können, sodass Betroffene sich im Vorfeld von Konflikten und Angriffen kompetent verhalten können und Techniken und Strategien zur Deeskalation von beginnenden Konflikten erlernen. Ferner werden Möglichkeiten zur Abwehr von akuten Attacken dargestellt, sodass konkrete Verteidigungstechniken erlernt werden, um sich ggf. kompetent zur Wehr setzen zu können. Methodik Impulsreferate, Rollenspiele, psychomotorische Übungselemente zum Körpergefühl, Spiele zur Persönlichkeitsförderung, Aufmerksamkeitsschulung, Abwehrtechniken Zielgruppe Lehrer und Lehrerinnen, pädagogische Fachkräfte, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten im Umgang mit aggressiven Kindern und Jugendlichen verbessern möchten. Leitung Dirk Baasch, Rendsburg Termin/Ort 08. – 12.12.2008 in Vlotho Teilnahmebeitrag 425,- € für Mitglieder / 475,- € für Nichtmitglieder inkl. Unterbringung und Verpflegung Teilnehmerzahl 18 256 E J 4/2008