EJ 4 / 2008

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INHALT
Editorial
Björn Hagen
202
Familienentlastende Gruppe in München 203
Dominik König
Wenn die Krise zum Alltag wird –
Jugendhilfe und traumatisierte
Jugendliche
Ewald Zauner
214
EREV: Dialog-Politik
Gespräch mit Antje Tillmann (MdB),
CDU-Finanzexpertin
Björn Hagen
239
Rückschau:
EREV-Praxisforschungsworkshop
»Erziehungshilfen« am 3. Juli 2008
in Hannover
Björn Hagen
241
Leben lernen – Freiräume nutzen:
224
Ein neues Angebot hilft jugendlichen
Sexualstraftätern nach der ersten Therapie
Tobias Häßner
Dialogveranstaltung »Euer Leben hat
244
Gewicht«: Bundesgesundheitsministerium
lud zum Thema »Essstörungen« ein
Annette Bremeyer
Fehlmeldung der
226
Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK)
Björn Hagen
»Geht denn da überhaupt noch was?«
Information zum Fachtag des
Eylarduswerkes am 28. Mai 2008
Klaus ter Horst
246
Hinweise
248
Glossar: Komplex – kompliziert
Harald Tornow
252
Verändern statt wegsehen – offener
Umgang mit Sucht in der Einrichtung?
Ingeburg Brandt
228
Auswirkungen des
Bevölkerungsrückganges auf
Jugendhilfeleistungen
Wolf Onnasch
230
Gesetze und Gerichte
Christian Müller
234
Die Glosse
Schwein muss man haben.
Harald Tornow
238
Auf ein Wort
Spätsommerlicher Streifzug
Jürgen Rollin
U3
TIPP: NeFF – ein Netzwerk für Familien
Das Dormagener Modell
»Willkommen im Leben«
Gerd Trzeszkowski
Dieser Ausgabe liegen das EREV–Fortbildungsprogramm 2009, das Programm der EREV–Bundesfachtagung 2009 sowie die Programme der
EREV–Foren »Ambulante, flexible Hilfen 2008«
und »Erziehungshilfe und Schule 2008« bei.
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201
Editorial
Dieser Ausgabe der Zeitschrift »Evangelische Jugendhilfe« liegt das EREV-Fortbildungsprogramm
bei. Es wird von sozialpolitischen Entwicklungsprozessen beeinflusst, von denen zwei beispielhaft anzuführen sind.
In zunehmendem Maß erfolgt die »Kommunalisierung von Entscheidungen« zum einen mit der
Konsequenz für den EREV, Netzwerke der Einrichtungen zu knüpfen. Ein entscheidendes Motiv für
die Beteiligung an den Fortbildungen ist eben
auch die Möglichkeit, Anregungen, Impulse und
Entwicklungen über den eigenen Horizont hinaus
zu erfahren.
Zum zweiten erweitern sich die Zielgruppen. In
der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion wird
vom Ende der Mittelschicht gesprochen. Der Zusammenhang zwischen Einkommensarmut und
weitreichenden Benachteiligungen von Kindern
wie zum Beispiel geringeren Bildungschancen
sind bekannt. Nun sieht sich eine wachsende
Schicht von Menschen diesem Risiko ausgesetzt.
Soziologen beschreiben, dass das Problem darin
besteht, dass eine neue Scheidelinie entstehe: die
zwischen drinnen und draußen. Zwischen denen,
die dazugehören, und denen, die nicht dazugehören. Zwischen denen, die gebraucht, und denen,
die nicht gebraucht werden. Zu diesen Ausgeschlossenen gehören Migranten, gescheiterte
Autoren der eigenen Bastelbiografie oder Alleinerziehende. Ihnen allen sei gemein, dass sie in einen nach unten ziehenden Strudel geraten seien
und nicht mehr die Kraft aufbringen, gegen das
Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit anzugehen.
Aufgabe der Fortbildungen im Evangelischen Erziehungsverband ist es, diese Entwicklungen in
die fachliche Arbeit einzubeziehen. Die klassi202
schen Zielgruppen der benachteiligten, bildungsfernen Familien verändern sich und neue kommen
hinzu.
Natürlich steht das Fortbildungsjahr 2009 ganz
im Banne der EREV-Bundesfachtagung vom 12.
bis 14. Mai 2009 in Karlsruhe mit dem Titel: »Lernende Jugendhilfe«. Veränderte Lebensbedingungen junger Menschen und Familien erfordern passende Hilfekonzepte. Dafür ist eine Jugendhilfe,
die sich analog zu den gesellschaftlichen Veränderungen in einem stetigen Lernprozess befindet,
unabdingbar.
Die in dieser Zeitschrift dargestellte Soziale
Gruppenarbeit ist ein Beispiel dafür, wie die erweiterten Zielgruppen der Erziehungshilfen erreicht werden können. Es finden hier verschiedene Methoden der Sozialen Arbeit Anwendung, um
auf unterschiedliche Situationen adäquat reagieren zu können. Die Elternarbeit ist hierbei ein wesentlicher Bestandteil zur sozialen Integration der
Kinder in ihr Lebensumfeld.
Ein weiteres Thema sind traumatisierte Jugendliche. Sie bringen die Pädagogen an den Rand ihrer Möglichkeiten. Die Auseinandersetzungen kosten Kraft und sind oft Angst machend. Die dargestellten Möglichkeiten der Arbeit mit den jungen Menschen stellen keine Garantie für das Gelingen dar. Aber die Soziale Arbeit hat die Aufgabe, den Beteiligten eine Chance zur Bewältigung
der Traumata zu geben.
‰
Ihr
Björn Hagen
E
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FEG – Familien Entlastende Gruppe
Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit
Dominik König, München
Der vorliegende Artikel begreift sich als bescheidene Anregung und kleiner Diskussionsbeitrag für
eine Profession, die sich traditionell über Art, Um fang, Für und Wider von Sozialer Gruppenarbeit
(SGA) berät und die sich gleichzeitig, im Rahmen
eines sich reduzierenden Sozialstaates, bei wach senden, innergesellschaftlichen Spannungen1, der
Frage gegenübersieht, mit welchen Methoden gesellschaftliche Kohäsion erzeugt werden kann.
Parallel dazu wurde SGA im Zuge der sich entwickelnden Tiefenpsychologie therapeutisiert.
Individualistische Gruppentheorien wie »Encounter Gruppen« (Rogers, Watzlawick), »Psychodrama« (Moreno) oder die »Themenzentrierte Interaktion« (Cohen) hielten in dieser Zeit Einzug in
die Gruppenarbeit, zugleich kamen therapeutische Zusatzausbildungen für Gruppenarbeiter in
Mode.5
Wie SGA im Rahmen der Hilfen zur Erziehung
praktisch genutzt werden kann, um schulische, soziale und familiäre Probleme zu bearbeiten, ist Gegenstand der folgenden Ausführung, welche von
der Arbeit einer »Familienentlastenden Gruppe«
(FEG) der Flexiblen Jugendhilfe München berichtet.
»Auch als Reaktion auf die vorwiegend therapeutische Ausrichtung und damit Psychologisierung
Sozialer Arbeit findet seit Mitte der achtziger Jahre allerorten ein Nachdenken über die Eigenständigkeit Sozialer Arbeit (...) statt. Mit der Hinwendung zu sozialwissenschaftlichen Ansätzen, die
mit den Schlüsselwörtern ›Alltagsorientierung‹
und ›Lebensweltorientierung‹ verbunden sind,
wird seit Beginn der neunziger Jahre ein Perspektivwechsel in der Sozialen Arbeit gefordert. Die
Methodenentwicklung wird als Forschungsaufgabe diskutiert (...). Hierunter fällt auch die weitere
wissenschaftliche Fundierung und damit Fortentwicklung sozialer Gruppenarbeit.«6
1. Kurzer historischer Abriss
Soziale Gruppenarbeit (SGA) ist neben Einzelfallhilfe und Gemeinwesenarbeit traditionell einer
der drei großen Bereiche in der Sozialen Arbeit.
Bereits um die vorletzte Jahrhundertwende kamen erste methodische Impulse aus den USA
nach Europa.2 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war sie in Deutschland als vorprofessionelle Gruppenarbeit Teil einer »speziellen Pädagogik, die sich um die Gruppe zentrierte und in späteren Jahren in der sozialen Ausbildung etabliert
wurde«.3
In den siebziger Jahren und im Zuge von Bestrebungen, Soziale Arbeit zu professionalisieren, wurde sie jedoch wegen des vermeintlichen Fehlens einer didaktischen Konzeption
kritisiert. Zeitgleich wurde ihr aus dem Lager
der 68er angelastet, dass sie soziale Einbindung in eine Gesellschaft erzeuge, die eigentlich zu verändern sei.4
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Es ist demnach weder eine neue noch brillante Erkenntnis, dass SGA für die Entwicklung von Persönlichkeit und Sozialverhalten wichtig sein
kann. Nicht umsonst steht dieses Gruppenangebot im Kanon der Hilfen zur Erziehung. Das bayerische Landesjugendamt formuliert:
»Als Angebote zum sozialen Lernen soll sie (SGA,
Anmerkung des Verfassers) positive Erfahrungen,
Erlebnisse und Einsichten vermitteln, die zur Achtung des Anderen, zu Selbstbewusstsein und zur
Überwindung von Entwicklungsschwierigkeiten
und Verhaltensproblemen verhelfen, mit dem Gesamtziel einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit«.7
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FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit
Im Folgenden wird unter Punkt 2 das theoretische
Konzept der FEG vorgestellt, wie es in der Leistungsbeschreibung für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Flexiblen Jugendhilfe München festgeschrieben ist.
Unter den Punkten 3 und 4 wird dargestellt, wie
diese theoretische Konzeption in der Praxis umgesetzt wird. Dabei konzentrieren sich die Ausführungen in Punkt 3 auf die unmittelbare Arbeit am
Klienten in der FEG, während unter Punkt 4 erläutert wird, wie mit dem System des Klienten gearbeitet wird.
2. Das Konzept der Familienentlastenden
Gruppe (FEG)
2.1 Rahmendaten und Zielgruppe
Die FEG ist ein ambulantes Gruppenangebot, welches die gesetzlichen Leistungen nach den Paragraphen 27 und 29 KJHG anbietet. Träger ist die
Flexible Jugendhilfe München, ein Geschäftsbereich des Diakonischen Werks Rosenheim. Gegründet wurde die FEG auf Initiative der Abteilung Erziehungsangebote, Produktteam Erziehungshilfe und Kinderschutz des Stadtjugendamtes München. Die dort tätigen Fachkräfte erkannten den großen Bedarf nach einem ambulanten
Gruppenangebot, welches gleichzeitig niederschwellig und trotzdem verbindlich-strukturiert
sein sollte. Die nachfolgenden Rahmendaten entsprechen den ursprünglichen Vorstellungen des
Stadtjugendamts:
Zur Zielgruppe gehören Kinder und Jugendliche
zwischen neun und 14 Jahren sowie deren Familien, bei denen Bedarf nach ambulanter Hilfe besteht, der durch andere Angebote der Jugendhilfe (beispielsweise Beratung durch Bezirkssozialarbeit, Horte, Jugendzentren) nicht ausreichend beziehungsweise zu hochschwellig oder dem erzieherischen Bedarf nicht gerecht werdend gedeckt
wird (vergleiche Paragraph 29 KJHG). Dabei handelt es sich insbesondere um Entwicklungsauffälligkeiten und Verhaltensprobleme.
204
Konkret sind dies in der Regel eine oder mehrere
der nachfolgenden sozialen und/oder psychischen
Problemlagen:
• Überforderung der Sorgeberechtigten in der Erziehung,
• drohende Verwahrlosung,
• Schwierigkeiten oder Verweigerung in der
Schule,
• Traumatisierung durch psychische, sexualisierte oder physische Gewalt,
• Auffälligkeiten des Sozialverhaltens,
• Kontakt- und Beziehungsschwierigkeiten,
• Auffälligkeiten des Essverhaltens,
• Probleme mit der Affektkontrolle (unter anderem Gewaltbereitschaft),
• delinquentes Verhalten.
Die Zielgruppe der FEG unterscheidet sich vom
Klientel heilpädagogischer Tagesstätten dadurch,
dass auch und vor allem Kinder ohne Indikation
nach den Paragraphen 35a KJHG (seelische Behinderung) und 32 KJHG (Entwicklungsdefizite)
aufgenommen werden. Damit wird zusätzlich weniger intensiven Fällen die Möglichkeit zu Sozialer Gruppenarbeit gegeben und eine Lücke geschlossen, die zumindest in München noch an
vielen Stellen weit klaffte.
Im Rahmen sozialräumlichen Arbeitens8 ist die
Flexible Jugendhilfe München in verschiedene Sozialraumbüros aufgeteilt, die ausschließlich für
bestimmte Stadtteile zuständig sind. Die FEG ist
hierbei an ein Sozialraumbüro angegliedert und
nimmt dementsprechend überwiegend Klientinnen und Klienten aus der jeweiligen Sozialregion
auf.
Durch sozialräumliches Arbeiten soll gewährt
werden, dass die Klienten flexible Hilfen aus einer
Hand erhalten.9
In der FEG arbeiten zwei pädagogische Fachkräfte (ein Mann, eine Frau) in Vollzeit. Sie leiten den
Gruppenalltag, sind für die Arbeit mit den jeweiligen Familien zuständig und übernehmen administrative und koordinierende Aufgaben in ZuE
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FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit
sammenarbeit mit Schulen, Sozialbürgerhäusern
und anderen Einrichtungen wie Sportvereinen, Jugendzentren oder vorangegangenen Hilfen.
Die FEG bietet an fünf Tagen in der Woche je
zwölf Plätze für maximal 18 Kinder und Jugendliche. Konkret bedeutet dies, dass 60 Nachmittagseinheiten (fünf Mal zwölf) bedarfsgerecht mit
den Klienten vereinbart werden können. Klienten
können somit das Angebot der FEG flexibel wahrnehmen, da es nicht verpflichtend an fünf Tagen
pro Woche, sondern tageweise in Anspruch genommen werden kann, entsprechend dem individuellen Bedarf an Hilfe zur Erziehung.
Der Gruppentag beginnt nach Schulschluss und
endet um 16:30 Uhr, er umfasst also den gesamten Nachmittag. Dabei folgt er einer festen Tagesstruktur, die freies und angeleitetes Spiel, gemeinsames Mittagessen, Hausaufgabenhilfe und eine
Abschlussreflexion beinhaltet.
In den Schulferien bietet die FEG unter Leitung eines Mitarbeiters einer kleineren Gruppe aus der
FEG (rund sechs Kinder pro Tag) ein ganztägiges
Ferienprogramm. Die Teilnahme in den Ferien wird
mit den Kindern und ihren Familien je nach Bedarf und Möglichkeiten individuell vereinbart.
2.2 Ziele der FEG
Zu den Zielen der FEG zählt es, junge Menschen in
ihrer Entwicklung und in ihrem Recht auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern.
Sie hilft dem jungen Menschen und den Sorgeberechtigten dabei, eine Lebenswelt10 (wieder-)herzustellen, in der ein kind- und jugendgerechtes
Leben ohne wesentliche Konflikte mit gesellschaftlichen Institutionen oder verbindlichen
Normen und ohne externe professionelle Hilfe
möglich ist. Die Maßnahmen stärken die familiäre Kompetenz und fördern die Selbstheilungskräfte der Familie.
Der junge Mensch und seine Familie sollen durch
die Hilfe möglichst schnell von professioneller
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Unterstützung unabhängig werden. In der Praxis
bedeutet dies, dass die Kinder und Jugendlichen
ein bis maximal zwei Jahre in der FEG verbleiben.
In dieser Zeit gehen die Bestrebungen der Mitarbeiter dorthin, intensive Hilfe zur Selbsthilfe zu
leisten.11
Die konkreten individuellen Ziele orientieren sich
dabei an den Wünschen und Vorstellungen des
jungen Menschen und der Personensorgeberechtigten sowie am durch die Mitarbeitenden der Sozialbürgerhäuser und der Flexiblen Jugendhilfe
München festgestellten erzieherischen Bedarf.
Grundlage hierfür ist ein systemisches Verständnis von Sozialer Arbeit12, wonach bisherige Anpassungsleistungen als individuelle Ressource im
System wahrgenommen werden.
Demgemäß und in Übereinstimmung mit dem
Leitbild des Diakonischen Werks Rosenheim, wonach jeder Mensch eine einmalige, wertvolle, von
Gott geschaffene und geliebte Persönlichkeit ist,
wird das auffällige Verhalten der jungen Menschen als aktive und kreative Problemlösungsstrategie verstanden, an welche im weiteren Verlauf
der Zusammenarbeit angeknüpft wird.
Individuelle Ziele können unter anderem sein:
• Stabilisierung und/oder Erweiterung der emotionalen Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen,
• Verbesserung der psychosozialen Kompetenz
des Kindes oder Jugendlichen,
• Entwicklung einer gelungenen Nähe-DistanzRegulierung und eines angemessenen Sozialverhaltens,
• Hinführung zur selbstständigen Bewältigung
lebenspraktischer Anforderungen,
• Stärkung der Selbsthilfepotenziale des Kindes
oder Jugendlichen.
Einem systemischen Arbeitsverständnis entsprechend werden auch familienunterstützende Ziele
anvisiert:
• Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der
Familie,
205
FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit
• Förderung der Erziehungsfähigkeit der Eltern,
• Stärkung der Selbsthilfepotenziale der Bezugspersonen,
• Entlastung der Herkunftsfamilie.
2.3 Methoden der FEG
Im Rahmen der FEG finden verschiedene Methoden der Sozialen Arbeit Anwendung, um auf verschiedene Situationen passgenau reagieren zu
können. Essenziell sind hierbei die Strukturmerkmale: verbindliche Öffnungszeiten, Mittagessen,
Hausaufgabenbetreuung und Freizeitgestaltung.
Mit diesem festen Rahmen wird die Entwicklung
älterer Kinder und Jugendlicher durch soziales
Lernen in der Gruppe gefördert. Diese sozialen
Lernprozesse können als allgegenwärtige MetaMethode der FEG bezeichnet werden.
Darüber hinaus arbeiten die Mitarbeiter der FEG
mit Techniken der Themenzentrierten Interaktion13, der Erlebnispädagogik14 und LSCI (= Life
Space Crisis Intervention; Methoden zur Krisenintervention bei Kindern und Jugendlichen)15.
Die Familienarbeit orientiert sich an der Methode
der Systemischen Familienberatung16, umfasst
aber auch Elemente der Lösungsorientierten Beratung17, des Video-Home-Trainings (VHT) sowie
der Klientenzentrierten Interaktion18 und vermittelt elterliche Präsenz.
Bei der Leistungserbringung gelten für die Mitarbeiter der FEG dieselben Grundprämissen wie für
ihre Kollegen aus den anderen Bereichen der Flexiblen Jugendhilfe München. Diese beinhalten sozialarbeiterische Haltungen, die methodisch ausgefüllt werden.
Sozialarbeiterische Haltungen
• Beziehungskontinuität: Wechselnde Ziele, Formen und Inhalte der Betreuung bei gleichen
Bezugspersonen
• Bedarfsorientierung: So wenig wie möglich, so
viel wie nötig
• Flexibilität: Hilfeform und -intensität passen
sich der Entwicklung an.
206
• Nachrangigkeit: Eltern in der Erziehung unterstützen, anstatt sie zu ersetzen
• Professionalität: Ausschließlich pädagogisches
Fachpersonal
• Zielorientierung: Durch traditionelle und innovative Methoden der sozialen Einzel-, Familien-, Gruppen- und Projektarbeit werden die
vereinbarten Ziele erreicht.
• Lebensweltorientierung: Die Betreuung findet
dort statt, wo der Klient oder die Klientin lebt.
• Alltagsorientierung: Der Lebensalltag wird gemeinsam bewältigt und nachhaltig stabilisiert.
• Sozialraumorientierung: Soziale Probleme werden dort gelöst, wo sie entstehen.
• Ressourcenorientierung: Nutzung und Stärkung
vorhandener, individueller und sozialräumlicher
Ressourcen.
• Lösungsorientierung: Aktuelle und langfristige
Probleme werden gelöst.
• Netzwerkorientierung: Professionelle und soziale Netzwerke werden erhalten und ausgebaut.
• Niederschwelligkeit: Aufsuchende und nachgehende Hilfen werden angeboten.
• Toleranz: Problematisches Verhalten führt nicht
zu einem vorzeitigen Maßnahmenende.
• Effizienz: Pädagogisches und wirtschaftliches
Controlling
• Nachhaltigkeit: Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit
3. Die FEG als Lernfeld für Kinder und
Jugendliche
3.1 Vom Teufelskreis negativer Erlebnisse
Wie bereits unter Punkt 2.1 dargestellt, haben die
jungen Menschen, welche die FEG besuchen, soziale Probleme verschiedenster Ausprägungen.
Dabei haben sie oft eine Karriere hinter sich, in
welcher sie aus Regeleinrichtungen wie beispielsweise der Regelschule oder dem Regelkindergarten ausgesondert wurden oder zu ihnen erst gar
keinen Zugang erhielten beziehungsweise dort zu
»Versagern« und/oder auffälligen Außenseitern
wurden.
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FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit
Diese kontinuierliche Kette von Misserfolgserlebnissen, welche sich wie ein roter Faden über
Jahre hinweg durch ihre Biografien zieht, wirkt
sich in aller Regel negativ auf das Selbstwertgefühl dieser Kinder aus. Ängste, Aggressionen,
Leistungsverweigerungen, destruktive Selbstbilder und soziale Isolation sind nur eine kleine
Auswahl aus der langen Reihe von Folgeerscheinungen.
Damit setzt sich in den Lebensgeschichten dieser
Menschen ein Muster fort, welches von der
Wechselseitigkeit negativer Bedingungen (zum
Beispiel Armut, geringes Bildungsniveau der Eltern, Erziehung mit Abwertung, Gewalt und Vernachlässigung oder verhaltensbeeinflussende Erkrankungen wie ADHS19 und dem daraus resultierenden problematischen Verhalten geprägt ist. In
diesem Teufelskreis ist der junge Mensch gleichzeitig aktives Subjekt und passives Objekt: Mit
ihm geschieht etwas; er wird durch etwas geprägt
und im Ausleben dieser Prägung schafft er fortlaufend negative Bedingungen.
Als Beispiel mag hier der Schüler dienen, welcher
aufgrund seiner häuslichen Erziehung und seines
nahen sozialen Umfelds des Wohnblocks oder der
Nachbarschaft Gewalt als Opfer erlebte und dabei
lernte, dass auf diese Weise Konflikte »geregelt«
und Probleme »gelöst« werden. Setzt er diese Erfahrungen nun um, etwa, indem er auf dem Pausenhof andere Kinder schlägt, weil dies im Rahmen seiner Streitkultur ein probates Mittel ist,
wird er dafür von der Schule sanktioniert. Im Rahmen eines Schulverweises dürfte sich dies negativ auf sein Selbstwertgefühl auswirken. Dieses
hat nun bereits mehrfach Erniedrigungen erfahren, nicht zuletzt aufgrund der Gewalterfahrungen, die der Schüler selbst erleiden musste. Da
seine Fähigkeiten, Frust auszuleben, jedoch begrenzt sind, braucht es nicht viel Phantasie, um
sich auszumalen, wie dieser Schüler mit seinen
Misserfolgserlebnissen umgeht und auf welche
Weise er versuchen wird, sein Selbstwertgefühl zu
stärken.20
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An dieser Stelle geraten Regeleinrichtungen oft
an ihre Grenzen und die Jugendhilfe tritt auf den
Plan.
Die FEG bietet den Kindern und Jugendlichen einen klar und kontinuierlich strukturierten Alltag,
in welchem leicht verständliche Regeln gelten
und eine Atmosphäre der allgemeinen Wertschätzung herrscht. Sie erleben dort einen Alltag, der
alle Elemente eines fürsorglichen, familiären
Nachmittags beinhaltet. Dies beginnt mit dem
gemeinsamen Mittagessen, bei dem man sich unterhalten, vom Tag erzählen und scherzen kann.
Im Anschluss erhalten die Kinder einen ruhigen,
konzentrationsfördernden Rahmen, in dem sie mit
Unterstützung von den Mitarbeitern der FEG ihre
Hausaufgaben erledigen können. Danach können
sie mit Gleichaltrigen spielen, toben und gemeinsam den restlichen Nachmittag verbringen. Konzentriert man sich auf die Ereignisse, die sich in
der FEG vordergründig und auf den ersten Blick
abspielen, so könnte man sie als »Normalitäts-Simulator« bezeichnen.
Dabei muss man sich bewusst sein, dass der Begriff »Normalität« im Rahmen von mittelschichtsorientiertem Denken differenziert zu verstehen ist.
Keinesfalls darf er dazu führen, eigene Sozialisationserfahrungen als entscheidendes Kriterium zu
benutzen, um andere zu bewerten und mit Erwartungen zu belegen wie etwa »du musst zumindest
die Realschule besuchen«. Vielmehr soll er als Orientierungshilfe dienen, wonach bestimmte Erfahrungen (zum Beispiel regelmäßig warmes Mittagessen zu bekommen) wünschenswert und positiv
sind.
Die FEG wirkt als »Simulator«, weil die Mitarbeiter der FEG zwar tun, was Eltern tun sollten, sie
aber nicht selbst die Eltern der Kinder sind, die
Gruppenräume sind nicht das Elternhaus, die anderen Kinder nicht die Geschwister.
Dennoch wirkt sich das Umfeld der FEG positiv
aus – vor allen Dingen durch Beständigkeit und
tägliche Wiederholung.
207
FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit
Viele Kinder erleben im häuslichen Umfeld einen
unstrukturierten Alltag, in dem sie weitgehend
sich selbst überlassen sind oder den sie als
»Schlüsselkinder« gänzlich alleine und oft vor dem
Fernseher verbringen müssen. Demgegenüber
stellt die FEG für Kinder die täglich wichtige
Grundversorgung (Essen, Lernhilfe, Spielkameraden, wohlwollende Ansprache) konkret sicher. Damit wird gewährleistet, dass sich die Situation der
Kinder stabilisiert und nicht noch weiter eskaliert.
Diese Stabilität soll über den gesamten Zeitraum,
in dem das Kind die FEG besucht, aufrechterhalten bleiben, um sich im Alltag des Kindes so fest
zu verwurzeln, dass das Kind sie selbst reproduzieren kann, beispielsweise, indem ein Kind bei der
Erledigung der Hausaufgaben zum Aufbau eines
neuen Arbeitsverhaltens angeleitet wird, welches
es in Zukunft selbstständig anwenden kann.
Ebenso soll im Verlauf der Hilfe die elterliche Erziehungskompetenz dauerhaft gefestigt und ausgebaut werden, damit den Eltern in Zukunft neue
und erfolgreiche Wege zum Umgang mit ihren
Kindern zur Verfügung stehen. Näheres zur Elternarbeit steht unter Punkt 4.1.
Die FEG nimmt das ganze Jahr über neue Klienten
auf (solange Platz ist) und ist somit flexibel. Dennoch ist es in diesem eng strukturierten Rahmen
möglich, eine offene Gruppe zu sein, die sich
durch hohe Kontinuität auszeichnet. Durch den
gelegentlichen Wechsel der Kinder entsteht eine
hohe Gruppendynamik, die von den Mitarbeitern
konstruktiv gesteuert wird, so dass ein sozialer
Lernprozess für die Gruppe stattfindet. Die stabile Tagesstruktur liefert hierbei den Rahmen, in
dem alle Kinder mit ihren individuellen Bedürfnissen und Problemen aufgefangen und geleitet
werden.
Selbstverständlich lebt ein Kind nicht isoliert,
sondern in Wechselwirkung mit seinem häuslichen und sozialen Umfeld, welches für einige Probleme mit-konstitutiv sein kann. Im Rahmen von
Nachhaltigkeit und Hilfe zur Selbsthilfe müssen
auch dort Veränderungen stattfinden. Wie diese
208
Aufgabe im Rahmen der FEG bearbeitet werden
kann, wird unter Punkt 4 dargestellt.
3.2 Gemeinsame Regeln gestalten den Alltag
In der FEG gewährleisten Gruppenregeln wie keine Gewalt, keine Drohungen, während den Hausaufgaben leise sein, beim Essen sitzen bleiben, bis
alle fertig sind, dass für die Kinder über die Grundversorgung hinaus ein sozialer Lernprozess stattfindet. Aus diesem Grund sind die Regeln bewusst
kleinschrittig und kindgerecht gehalten und verzichten auf abstrakte Forderungen wie »sich gegenseitig respektieren«.
Jeder FEG-Tag endet mit einer Reflexionsrunde.
Wird im Alltag auf das Befolgen der Regeln konkret und von Fall zu Fall geachtet, bietet sich
hier ein Rahmen, um das Verhalten der einzelnen Gruppenmitglieder allgemein zu besprechen
sowie um die Gruppenstimmung zu thematisieren. Da der Tag auf diese Weise endet, wird gewährleistet, dass sich die Kinder ihrer sozialen
Lernaufgaben bewusst bleiben. Auch hier ist die
Stärke der FEG die tägliche Wiederholung: Die
Regeln für das gemeinsame Miteinander bleiben
immer gleich. Somit wird für die Kinder ein hohes Maß an Verbindlichkeit, aber auch an Verlässlichkeit hergestellt. Gerade in der Phase des
Heranwachsens ist eine klare Orientierung, die
transparent und nachvollziehbar aufgestellt
wird, eine förderliche Entwicklungsbedingung
für Kinder und Jugendliche.
Aus diesem Grund werden die Gruppenregeln
auch nicht von den Mitarbeitern festgelegt, sondern sind ein gemeinsames Produkt von Mitarbeitern und Kindern. Einmal aufgestellt, sind sie für
jeden verbindlich und werden beibehalten. Im
wiederkehrenden Prozess des demokratischen
Aushandelns erleben die Kinder, dass ihre Meinung zählt, dass sie mitbestimmen und ihr Leben
im positiven Sinn selbst beeinflussen können. Im
Sinne von stärkeorientiertem Arbeiten nehmen
die Mitarbeiter hierbei die Rolle von Förderern
und Moderatoren ein, während die Impulse und
Ideen von den Kindern selbst kommen.
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FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit
Die Regeln, welche auf diese Weise entstehen,
haben für die Kinder einen anderen Wert als anonyme und autoritäre Vorschriftensysteme wie
etwa eine Schulordnung oder der Verbotskatalog
in ihrem Wohnblock. Dementsprechend ist die
Bereitschaft, sich daran zu halten, erheblich höher.
Selbstverständlich lassen sich die Schwierigkeiten
vieler Kinder nicht darauf reduzieren, dass sie sich
nicht an Regeln halten können. Erlerntes Verhalten, wie zum Beispiel Gewalt als Ventil zu nutzen,
spielt eine erhebliche Rolle. Die Gruppenregeln
beziehungsweise ihre konstante Einhaltung sind
also nicht nur Selbstzweck oder sollen einen reibungslosen Tagesablauf gewährleisten, sondern
sie sollen eine Verhaltensmodifikation im besten
Sinne von Erziehung bewirken. Unerwünschtes
Verhalten wie verbale und motorische Unruhe bei
den Hausaufgaben oder das Bedrohen anderer
Kinder wird vor dem Hintergrund der Gruppenregeln unmittelbar und konkret thematisiert. Die
Kinder sollen sich mit ihrem Verhalten auseinandersetzen und lernen, die Zusammenhänge zwischen ihren Gefühlen und Bedürfnissen und ihrem
Verhalten zu erkennen. Ist dies gelungen, so können sie steuern, auf welche Weise sie ihre Ziele
konstruktiv erreichen wollen. In der FEG bietet
sich Kindern die Möglichkeit, alternative Verhaltensweisen in einem geschützten Rahmen auszuprobieren, wobei sie Unterstützung und Rückmeldung von den Mitarbeitern und der Gruppe bekommen.
4. Die FEG als Lernfeld für das soziale Umfeld
von Kindern und Jugendlichen
Gemäß einem systemischen Verständnis von Sozialer Arbeit lebt kein Mensch isoliert, sondern ist
in seinem Erleben, Verhalten und Handeln ständig
wechselseitig an ein soziales Umfeld gekoppelt.
Im Fall der jungen Menschen, welche die FEG besuchen, lässt sich feststellen, dass ihre Probleme
in der Mehrheit auf familiäre Ursachen zurückzuführen sind. Die Familien dieser Kinder sind wieE
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derum häufig in einem gesellschaftlichen Milieu
angesiedelt, das sich mit Begriffen wie »Armut«
oder »Minderheit« beschreiben lässt. Erfahrungen
von Gewalt, Flucht, Vertreibung, sozialer Ächtung
und Diskriminierung gehören oft zum Erlebnishorizont dieser Familien.
Eine zentrale Leistung der FEG besteht daher auch
in dem warmen Mittagessen, welches die Kinder
bekommen. Damit wird sie ihrem Namen »familienentlastend« konkret gerecht und schafft gleichzeitig eine hohe Motivation seitens der Klienten,
das Angebot wahrzunehmen. Viele Familien, mit
denen wir arbeiten, befinden sich in existenziellen Nöten, was nicht zuletzt auch durch die reale Schlechterstellung von Kindern durch das
Hartz-IV-Gesetz verursacht wurde.
Die Klienten der FEG sollen täglich für das warme
Essen sowie für Obst und Getränke, die tagsüber
gereicht werden, eine Eigenbeteiligung von zwei
Euro bezahlen. In vielen Fällen ist dies aber bereits
nicht mehr leistbar, weswegen dieser Betrag auf
bis zu 50 Cent gesenkt wird, beziehungsweise in
Einzelfällen sogar ganz entfällt. Dies verdeutlicht
das Ausmaß der Armut dieser Familien und auch
die Verhältnisse, in denen die Kinder aufwachsen.
Für den Familienalltag bedeutet dies konkret, dass
sich die Eltern in Überforderungssituationen befinden, die sich wiederum auf das Erziehungsverhalten auswirken.
Dementsprechend lassen sich die Problemsituationen der Kinder auch nicht ausschließlich mit
den unter Punkt 3 beschriebenen Maßnahmen
beheben. Soll Nachhaltigkeit erzeugt werden, so
ist die Arbeit im und am sozialen System unerlässlich.
4.1. Elternarbeit im Hilfeplanprozess
Elternarbeit ist ein wesentlicher Teil der FEG. Dies
beginnt bereits beim Aufnahmegespräch, in dem
die Mitarbeiter der Flexiblen Jugendhilfe München gemeinsam mit den Fallverantwortlichen der
Sozialbürgerhäuser, den Eltern und den Kindern
über die Ziele der Maßnahme sprechen.
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FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit
Dabei werden stets Ziele für die Kinder vereinbart:
Zum Beispiel X erwirbt friedliche Konfliktlösungsstrategien, Y ist in der Lage, 45 Minuten konzentriert Hausaufgaben zu erledigen. Es werden aber
auch Ziele für die Eltern vereinbart: Zum Beispiel
Herr Y verzichtet bei der Erziehung seiner Kinder
auf Schläge, Frau Z unterstützt ihr Kind bei den
Hausaufgaben.
Zur Zielerreichung werden ihnen konkrete Methoden zugeordnet. Maßnahmen der FEG wie die
Hausaufgabenzeit sind dabei immer nur ein Teil
des Methodenkatalogs für ein bestimmtes Ziel.
Ein gleichfalls wichtiger Teil, der im Hilfeverlauf
eine stetig größer werdende Bedeutung erhalten
soll, ist die Elternarbeit.
Die Elternarbeit wird also im Rahmen der FEG als
entscheidende Methode betrachtet, mit der Ziele
erreicht werden sollen. Verantwortung, Kompetenz und Macht der Eltern werden wieder in den
Mittelpunkt gerückt. Mit der Beschreibung von
konkretem Erziehungsverhalten als Methode (Herr
X spielt täglich mindestens 20 Minuten mit seinen
Kindern, Frau Z lernt jeden Tag 30 Minuten mit ihrem Kind für die Schule) wird ein wünschenswerter Zustand festgelegt, auf den sich alle an der
Hilfe Beteiligten einigen können.
Diese Ziele werden in regelmäßigen Abständen
mit allen Beteiligten überprüft und gegebenenfalls fortgeschrieben. So wird gewährleistet, dass
von Anfang bis Ende der Maßnahme verbindliche
Ziele mit einer genauen Aufgabenteilung und
ausgewählten Methoden festgelegt werden. Dieser Prozess wird partnerschaftlich mit Eltern und
Kind gestaltet und ist von hoher Transparenz,
Nachvollziehbarkeit und Kontinuität geprägt. Das
bedeutet, dass lieber einmal zu viel als zu wenig
erklärt, nachgefragt und diskutiert wird. In einigen Fällen bedeutet bereits diese erste Form der
Auseinandersetzung der Eltern mit ihrer Familie
eine erhebliche Steigerung ihres Erziehungsaufwands. Damit beginnt Entwicklung.
210
4.2. Elternarbeit im Alltag der FEG
Um die Zielerreichung auch außerhalb des Hilfeplanprozesses gewährleisten zu können, ist eine
enge Kooperation mit den Eltern erforderlich. Aus
diesem Grund finden jeden Monat Elternabende
statt, deren Teilnahme verbindlich ist. Dort bietet
sich den Eltern ein Forum, in dem sie sich mit anderen über ihre Situation austauschen können.
Für viele ist es eine Erleichterung festzustellen,
dass sie nicht die Einzigen sind, die bestimmte
Probleme haben. Auch hier steht der Erfahrungsaustausch der Eltern ganz im Zeichen der Hilfe zur
Selbsthilfe. Wenn Eltern erkennen, wie ihnen Gespräche mit anderen Eltern bei ihren eigenen Lebens- und Erziehungsschwierigkeiten weiterhelfen können, dann sind ihre Erfahrungen auch
ohne institutionelle Unterstützung reproduzierbar.
Zudem werden in den Elternabenden erziehungsrelevante Themen zum Erziehungsverhalten wie
Erziehungsstile und Medienkonsum der Sprösslinge oder Taschengeld, familiäre Freizeitgestaltung
und Kommunikation besprochen. Die Mitarbeiter
der FEG übernehmen die Rolle von Workshop-Leitern und Moderatoren. Die Themenauswahl findet
gemeinsam mit den Eltern statt, sodass gewährleistet wird, dass Themen besprochen werden, die
für die Betroffenen relevant beziehungsweise problematisch sind.
Darüber hinaus bietet der Elternabend auch die
Möglichkeit, über gemeinsame Aktivitäten wie
mit den Kindern spielen oder basteln den Eltern
den Wert von familiärem Miteinander sowie die
dafür relevanten Fähigkeiten zu vermitteln. Die
Prämisse lautet dabei stets: So nah am Alltag wie
nötig, um in der Lebenswelt der Betroffenen zu
bleiben, so weit weg vom Alltag wie möglich, um
Alternative und Hoffnung zu sein.
Zusätzlich zu den Elternabenden finden viele Einzelkontakte mit den Eltern statt, bei denen sich
die FEG von der Methode Gruppenarbeit entfernt,
um Einzelhilfe leisten zu können. Damit soll gewährleistet werden, dass individuelle und eventuE
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FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit
ell intime Problemlagen ebenfalls besprochen und
bearbeitet werden können. An dieser Stelle erhalten die Mitarbeiter der FEG oft einen tiefen Einblick in die Nöte und Sorgen der betroffenen Familien. Zuvor, am Beginn der Hilfe, drehen sich
Einzelgespräche oder Telefonate mit den Eltern
jedoch oft noch um »Kleinigkeiten« des Alltags
und Verbindlichkeiten, die in Zusammenhang mit
der FEG entstehen (»Warum sind Sie gestern nicht
zum Elternabend erschienen?«, »Bitte denken Sie
auch morgen wieder daran, Ihrem Kind einen Euro
für das Essen mitzugeben.«). Auf diese Weise werden die Eltern von Anfang an durch die FEG an
ihre Erziehungsverantwortung erinnert und dazu
angehalten, diese wahrzunehmen. Die Mitarbeiter
der FEG fördern die Kinder und fordern die Eltern:
Sie fordern, dass die Eltern dafür sorgen, dass ihre
Kinder regelmäßig, pünktlich und zuverlässig an
den vereinbarten Tagen in der FEG erscheinen; sie
fordern, dass die Eltern regelmäßig an den Elternabenden teilnehmen und dass im Hilfeplan getroffene Absprachen insgesamt eingehalten werden. Gibt es dabei Schwierigkeiten, beispielsweise wenn die Eltern die vereinbarte Spiel- oder
Lernzeit mit ihren Kindern nicht einhalten, dann
ist es Aufgabe der Mitarbeiter, die Eltern bei der
Umsetzung von Zielen durch Gespräche oder Anleitung zu unterstützen. An diesem Punkt wird oft
recht schnell deutlich, ob die im Hilfeplangespräch gemachten Vereinbarungen tatsächlich
dem Willen der Eltern entsprechen oder ob es sich
um bloße Lippenbekenntnisse handelte, um die
Fachkräfte zu beruhigen. So oder so sind diese Situationen sehr aufschlussreich und bedeuten oft
eine Phase der Hilfe, in der entscheidende Fortschritte erzielt werden oder in der Absprachen
noch einmal genau auf ihre Gültigkeit hin geprüft
werden können.
Nach den ersten Monaten der Hilfe beginnen
dann in der Regel themenzentrierte Einzelgespräche, bei denen die Mitarbeiter gemeinsam mit den
Eltern Lösungen für ihre Problemlagen entwickeln
Der Erfolg dieser Gespräche hängt wesentlich davon ab, welchen Nutzen die Eltern aus der Arbeit
der FEG bis zu diesem Zeitpunkt gezogen haben.
E
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Je mehr sie bei akuten Problemen entlastet wurden, umso offener werden sie für die Bearbeitung
von nicht akuten und trotzdem wichtigen Themen
und desto kompetenter schätzen sie die Mitarbeiter hierfür ein. Im Klartext heißt dies: Wenn das
Kind seit es die FEG besucht, mittags satt wird,
sich seine schulischen Leistungen verbessern und
Verhaltensauffälligkeiten zu verschwinden beginnen, können die Eltern aufatmen und sich um ihre
eigenen Probleme kümmern.
Das bedeutet, dass durch die FEG ein niederschwelliger Einstieg in Lebens- und Erziehungsberatung für die Eltern stattfinden kann, sofern diese dazu bereit sind. Davon unabhängig und flankierend finden über den gesamten Zeitraum der
Hilfe die bereits beschriebenen kurzen Gespräche
statt, mit denen die Erziehungsverantwortung der
Eltern gestärkt werden soll, und die Einhaltung
der im Hilfeplan vereinbarten Ziele wird gemeinsam mit den Eltern verfolgt.
4.3. Arbeit am weiteren sozialen Umfeld
Die Familie ist nicht das einzige soziale Umfeld,
welches für das Schicksal von Kindern eine große
Bedeutung hat. Die Schule und der Freundeskreis
wirken sich ebenfalls prägend aus. Gerade in der
Schule entstehen oft Probleme und Konflikte. Teil
der Arbeit der FEG ist es daher, engen Kontakt zu
den Schulen und den jeweiligen Lehrern der Kinder zu halten. Dabei geht es nicht nur darum, sich
bei den Lehrkräften zu informieren, wie der Leistungsstand des Kindes ist, wo es Lücken hat und
gefördert werden muss, sondern auch, zu verdeutlichen, dass die Schwierigkeiten der Kinder
auch an anderer Stelle erkannt und bearbeitet
werden.
Oft erleben die Mitarbeiter der FEG bei den ersten
Kontaktaufnahmen mit der Schule »entnervte«
Lehrer, wenn die Sprache auf die betroffenen Kinder kommt. Diese Kinder nehmen häufig die Rolle des ewig störenden Klassenclowns, des Pausenhofschlägers oder des schulischen Totalverweigerers ein. In den meisten Fällen ist die Lehrkraft
froh und motiviert, wenn sie die Probleme mit
211
FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit
diesen Schülern mit einem Außenstehenden besprechen kann.
Die FEG trifft enge Absprachen hinsichtlich der
Kinder mit den Schulen und steht mit diesen in
fortwährendem Kontakt. Im Idealfall werden die
Eltern in diesen Prozess einbezogen und übernehmen nach und nach die Rolle der FEG. Eine Situation, in der sich Eltern selbstständig, konstruktiv
und verantwortungsvoll mit den schulischen Belangen ihrer Kinder auseinandersetzen, kann sicherlich als angestrebter Wunschzustand bezeichnet werden. Dem stehen leider oft sprachliche Barrieren seitens der Eltern sowie gegenseitige Vorurteile zwischen Eltern und Schule im
Wege. Diese Hindernisse durch fortlaufendes Bemühen aus dem Weg zu räumen, zählt ebenfalls
zum Aufgabenbereich der FEG.
In ihrer Freizeit sind viele Kinder in Vereinen oder
Jugendzentren verortet. In diesen Umfeldern erleben sie oft wichtige Erfolgserlebnisse, wodurch
diese zu bedeutenden Faktoren für ihr Wohlbefinden werden. Im Rahmen der FEG werden Schwierigkeiten, die sich in solchen Freizeiteinrichtungen
ergeben, zeitnah besprochen, um den Kindern
eine möglichst reibungslose Nutzung dieser Angebote zu ermöglichen. Bekommen sie beispielsweise im Jugendzentrum Hausverbot, so bedeutet
dies für sie den Verlust von Freunden und Betätigungsfeldern und im weiteren Verlauf damit gegebenenfalls erhebliche Beeinträchtigungen. Die
Lösung dieser Probleme gehört zu den fallspezifischen Leistungen der FEG. Dabei wird stets versucht, die Eltern mit ins Boot zu holen.
Sind die Eltern befähigt, auftretende Schwierigkeiten im Interesse ihres Kindes konstruktiv zu lösen, weil sie dies am Modell des Sozialpädagogen
lernen konnten, so wurden für die weitere Entwicklung des »Falls« entscheidende Erfolge erzielt.
5. Grenzen und Perspektiven der FEG
Die FEG existiert bei der Flexiblen Jugendhilfe
München seit dem Schuljahresbeginn 2005. In
212
dieser kurzen Zeit konnte bereits eine hohe Wirksamkeit hinsichtlich der Zielerreichung festgestellt werden. So wurden in den Jahren 2006 und
2007 80 Prozent der Fälle regulär nach Hilfeplan
beendet, weil die anvisierten Ziele erreicht werden konnten. Bei allen Erfolgen kann auch festgestellt werden, dass es für viele Familien ein mühsamer Prozess ist, über Empowerment so gestärkt
zu werden, dass sie ohne fremde Hilfe ihren Alltag bewältigen können. Dennoch kamen 50 Prozent der beendeten Fälle ohne intensive Anschlussmaßnahmen aus oder diese waren deutlich
in ihrer Intensität reduziert. Nichtsdestotrotz sind
die Möglichkeiten, mittels Ressourcenaktivierung
und Netzwerkarbeit starke, nicht-institutionelle
Hilfesysteme um die Familien zu weben, im Rahmen der FEG sicherlich noch nicht ausgeschöpft.
Gleichzeitig (und dies trifft auf Soziale Arbeit womöglich grundsätzlich zu) stellt sich vielerorts das
Problem von großen, innergesellschaftlichen Unterschieden. Die Adressaten Sozialer Arbeit, die
von der FEG betreuten Familien, sind in vielerlei
Hinsicht gegenüber der Mehrheit stark benachteiligt – daran können auch Theorien und Methoden
von Empowerment und Ressourcenaktivierung
nichts ändern. Sicherlich muss es stets das Ziel
Sozialer Arbeit sein, diese Benachteiligten zu stärken. Dazu sind die erwähnten Methoden zweifellos bestens geeignet. Dennoch wird sich Soziale
Arbeit überfordern, wenn sie versucht, diese Last
alleine zu stemmen.
Ohne gesamtgesellschaftliches Bewusstsein bezüglich der relativen Chancenlosigkeit von bestimmten Bevölkerungsgruppen und des darin
enthaltenen Zündstoffs werden von Sozialer Arbeit stets nur Einzelfälle und deren Systeme bearbeitet.
Aus diesem Grund (und dazu soll dieser Artikel
letztendlich einen kleinen Beitrag liefern) ist es für
Soziale Arbeit wichtig, sich Gehör zu verschaffen
und eine Lobby für die (fast) abgehängten Teile der
Gesellschaft zu sein. Denn auch in der sozialanwaltschaftlichen Rolle liegt letztendlich ein Aufgabenfeld für die Profession der Sozialen Arbeit. ‰
E
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FEG – Familien Entlastende Gruppe, Zwei Jahre innovative Soziale Gruppenarbeit
Literatur
Stimmer, Franz (Hrsg.): Lexikon der Sozialpädagogik und der
Sozialarbeit, Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München 2000
Bayerisches Landesjugendamt:
http://www.blja.bayern.de/Aufgaben/HilfenzurErziehung/§_29/SozialeGruppenarbeit.Startseite.htm, Stand:
03.07.2007
Thiersch, Hans: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel, Juventa Verlag GmbH,
Weinheim 1992, 6. Auflage: 2005
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1986
Weinberger, Sabine: Klientenzentrierte Gesprächsführung.
Lern- und Praxisanleitung für Personen in psychosozialen
Berufen, Juventa Verlag GmbH, Weinheim 2006
Berg, Insoo Kim: Familien-Zusammenhalt(en). Ein kurz-therapeutisches und lösungsorientiertes Arbeitsbuch, Verlag
Modernes Lernen, Dortmund 1999
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(Hrsg.): Handbuch Sozialpädagogische Familienhilfe, Nomos
Verlag GmbH, Baden-Baden 2004
Dominik König
Sozialraumbüro Laim/Schwanthalerhöhe
Heimeranstraße 64 und 53
80339 München
[email protected]
Bürgi, Andreas / Eberhardt, Herbert: Beratung als strukturierter und kreativer Prozess. Ein Lehrbuch für die ressourcenorientierte Praxis, Göttingen 2004
Gehrmann, Gerd / Müller, Klaus D. (Hrsg.): Aktivierende Soziale Arbeit mit nichtmotivierten Klienten. Mit Arbeitshilfen
für Ausbildung und Praxis, Walhalla Fachverlag, Berlin, Regensburg 2005
Gilsdorf, Rüdiger / Kistner, Günter: Kooperative Abenteuerspiele 1, Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung GmbH, SeelzeVelber 1995
Hinte, Wolfgang: Von der Stadtteilarbeit zum Stadtteilmanagement – Sozialraumorientierung als methodisches Prinzip sozialer Arbeit, in: Blätter der Wohlfahrtspflege Heft 5, S.
119-122, 1992
Hinte, Wolfgang / Lüttringhaus, Maria / Oelschlägel, Dieter:
Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. Ein Reader für Studium, Lehre und Praxis, Juventa Verlag GmbH,
Weinheim 2001
Hinte, Wolfgang / Treeß, Helga: Sozialraumorientierung in
der Jugendhilfe. Theoretische Grundlagen, Handlungsprinzipien und Praxisbeispiele einer kooperativ-integrativen Pädagogik, Juventa Verlag GmbH, Weinheim 2006
1
vgl. Beck (1986), S. 115 ff.
2
vgl. Schmidt-Grunert (2002), S. 26
3
ebd., S. 27
4
ebd., S. 32 ff.
5
vgl. ebd., S. 36 ff.
6
ebd., S. 38
7
Bayerisches Landesjugendamt (2007)
8
Zu zentralen Aussagen über die Theorie sozialräumlichen
Arbeitens siehe Hinte (1992).
9
vgl. Hinte / Treeß (2006)
10
Eine Zusammenfassung der Theorie der Lebensweltorientierung findet sich bei Stimmer (2000), S. 415
11
vgl. Herriger in ebd., S. 174 ff.
12
vgl. Staub-Bernasconi in ebd., S. 737 ff.
13
vgl. Stimmer (2000), S. 749 ff.
14
vgl. Senninger (2000)
15
vgl. Long / Wood / Fecser (1991)
16
vgl. Bürgi, Eberhardt (2004)
Metzinger, Adalbert: Verhaltensprobleme erkennen, verstehen und behandeln, Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2005
17
vgl. Berg (1999)
18
vgl. Weinberger (2006)
Schmidt-Grunert, Marianne: Soziale Arbeit mit Gruppen.
Eine Einführung, Lambertus Verlag, Freiburg 2002
19
Konopka, Gisela: Soziale Gruppenarbeit – ein helfender Prozess, Verlag Julius Beltz, Weinheim, Berlin und Basel, 1968
Long, Nicholas J. / Wood, Mary M. / Fecser, Frank A.: Life
Space Crisis Intervention – Talking with students in conflict,
PRO-ED Inc., Austin 1991, 2. Auflage: 2001
Metzinger, Adalbert: Arbeit mit Gruppen, Lambertus Verlag,
Freiburg 1999
Senninger, Tom: Abenteuer leiten – in Abenteuern lernen.
Ökotopia Verlag, Münster 2000
E
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ADHS = Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom
20
vgl. Metzinger (2005) S. 42 ff
213
Wenn die Krise zum Alltag wird –
Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche
Ewald Zauner, Öhringen
Die im Folgenden dargestellte Erörterung eines
kleinen Ausschnitts zum großen Thema »Krisen macher« erhielt ihren Impuls einerseits aus poli tisch und gesellschaftlich geführten Diskussionen
u m J u ge n d k r i m i n a l i t ä t u n d G e w a l t d u r c h J u gendliche und andererseits aus Beobachtungen
d e s n a h e n b e r u f l i ch e n U m f e l d s . D a s d i r e k t e E r l e ben konfliktbereiter Jugendlicher, die Grenzen
setzende Auseinandersetzung mit ihnen und der
Versuch, einen gemeinsamen produktiv-rich t u n g w e i s e n d e n W e g z u f i n d e n , g e h ör e n z u d e n
anspruchsvollsten, aber auch belastendsten Tä tigkeiten im Bereich der erzieherischen Hil fen.
Um nicht Gefahr zu laufen, sich einer polemisch
geführten Diskussion stellen zu müssen, aber
au c h u n d u m d a s H e f t d e s H a n d e l n s i n d e r H a n d
zu behalten, ist eine Auseinandersetzung mit den
möglichen Gründen und den sich ergebenden
Chancen unumgänglich.
Die Realität von Kindern und Jugendlichen, die in
Jugendhilfeeinrichtungen abgebildet wird, ist in
aller Regel diejenige von jungen Menschen, die in
ihrem kurzen seitherigen Leben nicht immer gute
Erfahrungen gemacht haben. Schlechte Erfahrungen können unzureichende Lebensbedingungen
der Familie sein und/oder unzureichende Erziehung und Förderung des Kindes. Diese Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen können zu
dem grundlegenden Gefühl führen, auf der Seite
der »Zu-kurz-Gekommenen« zu stehen und zu den
Verlierern zu gehören. Sie bringen mit sich, dass
sie in weiten Lebensbereichen keine wertvollen
und schönen Erfahrungen machen können, und
resultieren in dem sehr realistischen Eindruck,
dem Schönen, dem Guten und Wertvollen gar
nicht begegnet zu sein.
Einige dieser Kinder haben gar eine katastrophale Vergangenheit hinter sich und – aus ihrer Sicht
214
und momentanen Lage – keine gute Zukunft vor
sich. Im schlimmsten Fall wird ihnen nicht nur die
Möglichkeit zu gesellschaftlicher Teilhabe vorenthalten, sondern sie müssen zusätzlich Erniedrigung, Deprivation und Gewalt ertragen. Sie gehören »zu den Geschlagenen«, wie Konstantin Wekker es einst in einem Lied ausgedrückt hat, und
»wer dauernd (ge-)treten wird, der tritt halt auch
einmal zurück« (Konstantin Wecker: Willi).
Sie glauben nicht an das Gute in der Welt, weil sie
es kaum erfahren haben, und sie entwickeln
schließlich Strategien, die ihnen helfen, in ihrer
Situation zu überleben, die aber im weiteren gesellschaftlichen Kontext nicht hilfreich sind.
Traumatisierte Kinder, die teilweise schwer unter
den Folgen erdrückender Erlebnisse zu leiden haben, sind und waren ganz besonders belasteten
Situationen ausgesetzt. Ihre Verhaltensweisen
sind nicht selten bizarr, unvorhersehbar und kaum
zu ertragen. Sie stellen ihre Umgebung und auch
die Pädagoginnen und Pädagogen in den Einrichtungen vor größte Herausforderungen.
1. Wie entwickelt sich ein Mensch?
Der Säugling kommt mit einem angeborenen Bedürfnis nach dem Kontakt zu betreuenden Menschen zur Welt, die ihm dreierlei gewähren: Nahrung, Pflege und liebevolle, verlässliche Zuwendung. Die Basis dafür bildet das natürliche, biologisch begründete Bedürfnis nach sicherer Zugehörigkeit. Das Kind bindet sich an seine Eltern und
die Eltern binden sich an das Kind. Dies geschieht
umso rascher und selbstverständlicher, je ungestörter die Eltern von Geburt an täglich mit dem
Säugling in Kontakt sind und seine Bedürfnisse
befriedigen.
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Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche
Der Bindungsprozess ist ein erstaunlich entwicklungsfähiger Vorgang. Gelingt er, ist die Basis für
die künftige, seelisch-geistige Entfaltung geschaffen. Gelingt er nicht, ist dies von schicksalhafter Bedeutung für das ganze spätere Leben.
Die folgende Entdeckung des NEIN-Sagens ist ein
wichtiger Schritt zur Entwicklung des eigenen
Willens: Die ersten nicht nur nehmenden, sondern
auch gebenden Sozialbeziehungen, die Fähigkeit
der Selbstbeherrschung und zur Steuerung des eigenen Handelns, all dies ist ein »mitreißender Prozess der Steigerung und Entfaltung der kindlichen
Persönlichkeit« (Hassenstein, 1987).
Das Spielen, der Wiederholungsdrang, die Fähigkeit, durch Nachahmen fremde Fertigkeiten
gleichsam in eigenes Können zu verwandeln: Das
Nervensystem des Kindes ist nach jeder Eigenaktivität im Erwartungszustand für das Wahrnehmen und Aufsaugen von Antworten und Reaktionen auf das eigene Handeln. Das Kind macht fundamentale Erfahrungen über eine Grundlage
menschlichen Zusammenspiels: Was kann ich
durch eigene Aktivität bewirken?
Schon diese wenigen, hier sehr verkürzt dargestellten Abläufe verdeutlichen, welche wunderbar angelegten Mechanismen in dieser Lebensphase dafür sorgen, dass das Kind grundlegende Erfahrungen macht sowie Wissen und Können speichert.
Kinder erbringen diese Leistungen mit Leichtigkeit
und Vergnügen – und das trotz der Komplexität der
physiologischen Voraussetzungen.
Im weiteren Prozess der Entwicklung der Selbstständigkeit erweitert sich das Umsorgtwerden hin
zur eigenen Aktivität. Versagen und Scheitern
werden mit produktiver elterlicher Unterstützung
zu neuem Mut; das für spätere Abschnitte so
wichtige Durchhaltvermögen entwickelt sich.
2. Bindungsstörungen und ihre Folgen
Doch all diese Entwicklungstendenzen sind extrem empfindlich gegen beunruhigende ErschütE
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terungen: Sie sind durch angstauslösende Ereignisse leicht zu unterdrücken. Biologisch gesehen
ist das durchaus sinnvoll: Die Angst steuert das
Verhalten in einer bestehenden Gefahr, die Verhaltenweisen des aktiven Erfahrungserwerbs erweisen ihren Vorteil dagegen erst in der Zukunft.
Es ist deswegen ökonomisch und sinnvoll, wenn
sie im Hier und Jetzt nicht in Konkurrenz mit der
gegenwärtigen biologischen Notwendigkeit zur
Gefahrenvermeidung und Selbsterhaltung treten.
Diese Unterdrückbarkeit der Exploration, der
Neugierde, des Lernenwollens kann sich unglücklicherweise zu einer besonderen Gefahrenquelle
entwickeln, und zwar dann, wenn in der Folge
wegen vermehrter Unsicherheit frühkindliche Betreuungs- und Bindungsmängel entstehen. Die
spätere geistige Entwicklung, der Gewinn an
Lern- und Konzentrationsfähigkeit, Selbstständigkeit und sozialer Selbstsicherheit werden schwer
beeinträchtigt.
Ist es nicht möglich, eine feste Vertrauensbindung
aufzubauen, so können sich zumindest allmählich
Unsicherheit und Misstrauen einschleichen. »Das
gesamte Lebensgefühl erhält die Tönung ängstlich
beunruhigter Erregtheit. Die resultierende bleibende Unsicherheit prägt die Struktur der Persönlichkeit. Dies unterbindet eine funktionierende
Gefühlsentwicklung. Viele dieser Kinder sind später unempfänglich gegenüber zwischenmenschlichen Regungen wie Mitgefühl, Liebe, Achtung,
und Ehrfurcht. Sie verstehen keine Appelle an
Menschlichkeit und Rücksicht. Man spricht von
Gefühlsarmut.« (Hassenstein: Verhaltensbiologie
des Kindes, 1973).
Die hier beschriebenen Bindungsstörungen gehören gemäß ICD 10 in eine heterogene Gruppe gestörter sozialer Funktionen, die offensichtlich
nicht konstitutionell bedingt sind. Ursache sind
schwerwiegende Milieuschäden oder Deprivationen.
Schwere Bindungsstörungen ziehen vor allem
Störungen sozialer Funktionen nach sich:
• abnorme Beziehungsmuster zu Betreuungsper215
Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche
•
•
•
•
•
sonen mit einer Mischung aus Annäherung und
Vermeidung,
inadäquate Reaktionen auf Beziehungsangebote,
nicht-selektives Bindungsverhalten,
eingeschränkte Interaktionsmuster mit Gleichaltrigen,
Beeinträchtigung des sozialen Spielens,
gegen sich selbst und andere gerichtete Aggressionen.
Begleitstörungen können sein:
• Intelligenzminderungen,
• Entwicklungsverzögerungen,
• Störung des Sozialverhaltens,
• hyperkinetische Störungen,
• altersspezifische emotionale Störungen.
Bindungsgestörte Kinder sind permanent gefordert und deshalb im Stress. Neben der
Überforderung, mit der emotionalen Situation
zurechtzukommen, drohen sie in ihrer Entwicklung gegenüber Gleichaltrigen zurückzufallen. Kinder entwickeln sich nervös und unruhig, Sprachfehler können auftreten, sie wirken hektisch und überaktiv, können sich nicht
gut konzentrieren und entwickeln wenig
Durchhaltevermögen. Ein Kreislauf tut sich
auf: Diese Kinder überfordern ihre Umwelt
und werden von ihr überfordert.
Nach dem ersten Lebensjahr können sich Aggressionen gegenüber Dingen und Personen entwickeln. Sie sind durchgängig Ausdruck von
Angst. Ängstlich geprägtes Empfinden wird sich
noch wie ein roter Faden durch den Werdegang
solcher Kinder ziehen.
Die Ursache dafür liegt oft in erlebter Gewalt, sei
es gegenüber seiner eigenen Person oder zwischen beziehungsweise gegenüber seinen Bezugspersonen. Gewalttätig aggressives Verhalten
durch die Bindungspersonen hat besonders für
das spätere Sozialverhalten einen starken Modellcharakter.
216
3. Trauma und Persönlichkeitsentwicklung
Traumata sind Erlebnisse, von denen Menschen
mit einer Heftigkeit, Plötzlichkeit von Ereignissen
überrascht werden, die ihnen in einer ungeschützten Situation zugefügt werden und die sie
in einen Schock (Angst, Schreck) versetzen und
einen alles überlagernden Stresszustand auslösen.
Diese traumatische Situation kann plötzlich auftreten, sie kann sich aber auch allmählich entwickeln oder kontinuierlich ansteigen. Der ihr
ausgelieferte Mensch ist einer bedrohlichen Situation ausgeliefert, auf die er sich nicht (mehr)
einstellen kann und der er auch nicht entkommen kann. Die Bedrohung ist so umfassend, dass
ihr ausgesetzte Personen in einen ausgeprägten
Verwirrungszustand geraten. Dazu gehören Unfälle, Natur- und Verkehrskatastrophen, Kriege,
Vertreibung, Flucht, körperliche oder sexuelle
Gewalt, Misshandlungen und andere Schockerlebnisse.
Zwei Qualitäten von Traumata können unterschieden werden:
• Big-T-Traumata (nach Francis Shapiro) sind Erlebnisse existenzieller äußerer oder innerer Bedrohung durch Gewalteinwirkung auf den Körper wie physische und sexuelle Misshandlungen
und andere Angriffe auf die Existenz. Das können Foltererlebnisse, Katastrophen, Unfälle,
schwere Erkrankungen, plötzliche Verluste vertrauter Menschen sein.
• Small-t-Traumata, also Bedrohungen im weiteren Sinne, sind scheinbar weniger desaströse
Ereignisse. Sie stehen in Verbindung mit
Schreck und oft einem hohen Maß an bestürzender Beschämung und tiefer Verunsicherung.
Was sie auszeichnet, ist vor allem die gleiche
Unausweichlichkeit, wie sie die vom großen
Trauma Betroffenen erfahren.
»Innerlich katastrophische von Menschen verursachte t-Traumata sind vor allem physische
Misshandlungen (und insbesondere sexuelle Gewalterfahrungen), seelische Grausamkeit und
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J 4/2008
Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche
schwere Vernachlässigungen durch nahe, vertraute Menschen, noch dazu, wenn die Traumatisierungen sehr früh in der Kindheit beginnen, über
längere Zeiträume wiederholt auftreten, nie anund ausgesprochen werden können und niemals
Schutz und Trost erfahren wurde.« (L.U. Besser,
2008)
Für das Opfer entsteht eine Situation völligen
Ausgeliefertseins, das Wissen: Jetzt ist alles aus.
Es kommt zu einem regelrechten Kollaps aus einem Erfahrungsgefühl der Todesangst, der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins. Das Fatale: Die
bei allen Lebewesen angelegten Reaktionsmöglichkeiten – Flucht oder Kampf – sind blockiert
und fallen aus.
Dieser im Englischen als Freeze-Situation (no
fight, no flight) bezeichnete Zustand führt dazu,
dass keine der bislang hilfreichen Handlungskonzepte abgerufen werden kann. Auch die Schutzfunktionen der Angst und Aggression, als psychomotorische Anpassungsmöglichkeiten stehen
nicht als gezielte einsetzbare Reaktion und vorsätzlich gesteuerte Handlung zur Verfügung.
Freeze
Angst/Verzweiflung
no flight
no fight
Hilflosigkeit
Erstarrung
Ohnmacht
TRAUMA
Die Situation kann sich noch dramatischer entwickeln: Über das Ereignis des Erstarrens hinaus
kommt es zu einer Aufsplitterung des Erlebten:
Die übermächtig bedrohliche Erfahrung kann als
Ganzes nicht ertragen werden und wird deshalb
im Gedächtnis unter verschiedenen körperlichen,
kognitiven und emotionalen Erlebensperspektiven
zerstückelt.
E
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Ein sehr sinnvoller Schutzmechanismus der Natur
sorgt, unter anderem durch das Anspringen des
körpereigenen Opiatsystems, für eine betäubende
Verringerung von Schmerz und Angst, die bis zu
deren Auslöschung führen kann. Durch den ungeheuren Stresspegel ist der Anstieg der Stresshormone bei gleichzeitiger Unmöglichkeit der Fluchtoder Kampfbereitschaft so hoch, dass es zu einer
Lähmung des Denkens, Fühlens und Handelns
kommen kann und zum Zerreißen der Wahrnehmung des Erlebnisses.
Es kommt zu autoprotektiven Wahrnehmungsveränderungen, die den betroffenen Menschen
weniger leiden lassen, bis hin zur Umkehr des
schrecklichen Erlebens, zu einem Gefühl von
Leichtigkeit, Schmerz- und Furchtlosigkeit.
»In einer akuten Situation sprechen wir von peritraumatischer Dissoziation (psychotische Abspaltung zusammengehöriger Dinge). Das kann vom
Entfremdungserleben der Umgebung (Derealistaion), der eigenen Person (Depersonalisation), der
erlösenden Ohnmacht bis zur Fragmentierung des
traumatischen Geschehens gehen, in die alle Sinneseindrücke eingebunden sind.« (L.U. Besser,
a.a.O.)
Die in der Folge auftretende Posttraumatische
Belastungsstörung lässt Betroffene unter verschiedensten, zum Teil schwerwiegenden Reaktionen leiden. Typisch sind:
• das wiederholte Erleben des Traumas in sich
aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, »Flashbacks«), Träumen oder Alpträumen,
• das Gefühl des Betäubtseins und emotionaler
Stumpfheit,
• Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen
• Teilnahmslosigkeit und Freudlosigkeit,
• Vermeidung von Aktivitäten, die an das Trauma
erinnern könnten.
Oft tritt auch ein Zustand von andauernder Übererregtheit und Reaktionsbereitschaft ein, der weitere Folgen mit sich bringt:
217
Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche
• Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen,
• Angst und Depressionen bis hin zu Suizidgedanken,
• Konzentrationsschwierigkeiten,
• Aggressivität, Reizbarkeit und Wutausbrüche.
Insbesondere die Symptome des Wiedererlebens
sind spezifische Aspekte einer tief greifenden seelischen Verletzung. Immer wieder sich aufdrängende, beängstigend-belastende Vorstellungen,
die meist gar nicht in der bewusst erlebten Erinnerung erscheinen, führen zu manchmal chaotischen, emotional intensivst erlebten Situationen.
Neben den Alpträumen können das Bilder, Erinnerungen (Bruchstücke), Gedanken(-fetzen) sein;
Nachhallerlebnisse rufen heftigste Erregungen
und Verhaltensweisen wach.
Die Symptome des Wiedererlebens können durch
so genannte Trigger ausgelöst werden. Es handelt
sich dabei um Phänomene, die in irgendeiner
Weise an das Ereignis als Ganzes oder in Teilen erinnern, diesem ähnlich sind oder dieses symbolisieren. Eine Konfrontation mit einem solchen Trigger kann sowohl auf psychischer wie auf körperlicher Ebene heftige Reaktionen mit großem Leidensdruck auslösen. Pur und ungefiltert können
Stressreaktionen übergangslos wieder auftreten,
wie das Beispiel »Moritz« zeigt:
Moritz weist sich 15-jährig selbst in die Psychiatrie ein, weil er »mit dem Leben nicht mehr zurechtkommt«. Die Mutter lehnt ihn offen ab, der
Vater hält nur vordergründig zu ihm. Die Zeit in
der Klinik hat Moritz sehr positiv in Erinnerung, er
hat eine Ordnung, geregelte Mahlzeiten und
Menschen, die sich um ihn kümmern. Nach der
Entlassung hält er sich für jeweils wenige Tage in
sozialpädagogischen Einrichtungen auf; auf seinen Wunsch hin, »weiter von zu Hause weg zu
kommen«, gelangt er zu uns. Moritz ist ein eher
schüchterner, freundlicher und aufgeweckter Junge. Mit der Wahrheit nimmt er es nicht immer so
genau, aber »die Phantasie ging schon früher mit
ihm durch«, so der Vater. Moritz besucht die
Schule, hält regen Kontakt zu Mädchen, ist zuvor218
kommend, hilfsbereit und angepasst. Auf dem
Weg vom Sportplatz zurück zur Schule entführt er
mit einem jüngeren Mitschüler ein herumstehendes Fahrrad und wirft es in den Bach. Als der Lehrer darauf aufmerksam wird, mahnt er die Jungen,
das Rad wieder zu holen und zurückzubringen.
Am Bach angekommen fällt Moritz über seinen
Kameraden her und schlägt ihn so lange und heftig, bis der bewusstlos am Boden liegt.
4. Traumatisierte Kinder und Jugendliche in
sozialpädagogischen Einrichtungen
Offensichtlich verbleiben Traumafragmente als
solche verbindungslos gespeichert und summieren sich mit von außen kommenden Eindrücken
zu Stressoren, die höchsten Alarm auslösen können und den Betroffenen mental sofort auf Flucht
und Kampf umschalten lassen. Die Dramatik ist,
dass die Person selbst nicht in der Lage ist, irritierende und verwirrende Sinneseindrücke einzuordnen und das eigene Verhalten entsprechend vernünftig und angepasst zu steuern. So tauchen für
die Umwelt beängstigend und unverständlich die
fatalsten Lebensäußerungen unerwartet und vermeintlich ohne Zusammenhang mit gegebenen
Umständen auf: Aggressionen, Weinerlichkeit,
Hilflosigkeit, Suizidgedanken, Ängstlichkeit. Fatal
ist weiterhin, dass solche Phänomene nicht immer
alleine auftauchen, sondern durchaus gebündelt
präsent werden. Der oben erwähnte Moritz kann
nicht nur scheinbar aus dem Nichts explodieren,
er klagt auch über Schlaflosigkeit, trinkt eine Flasche Reinigungsmittel, verweigert die Hilfe, »weil
ihr mir sowieso nicht helfen könnt«.
Auch weniger ausagierende junge Menschen
stellen ihre Umgebung vor erhebliche Rätsel, da
für die auftretenden Phänomene auf den ersten
Blick keine passenden Erklärungen zu finden sind.
Immer haben die Helfer mit einem beinahe unüberwindbaren Widerstand zu kämpfen, der auf
beiden Seiten Kränkungen zur Folge hat. Gutgemeinte Aktionen laufen ins Leere, viel Energie
bleibt auf der Strecke, ohne dass zählbare Ergebnisse zu konstatieren sind.
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Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche
Jugendliche entwickeln also nicht nur in pubertären Zusammenhängen sonderbare Verhaltensweisen. Ein Teil des in der öffentlichen Diskussion für
Aufmerksamkeit sorgenden Themas »Gewalt von
beziehungsweise unter Jugendlichen« spielt sich
auch in sozialpädagogischen Einrichtungen ab.
Ausagierende Jugendliche stammen oft aus Familien, die mit erheblichen Belastungen aller Art zu
kämpfen haben und in denen eben nicht im erforderlichen Maße die Fähigkeiten vorhanden sind,
adäquat zu handeln und den Kindern die notwendige und hinreichende Unterstützung zu geben.
Mehr noch, schlechtestenfalls entsteht eine Kaskade sich negativ gegenseitig beeinflussender Gegebenheiten, wie oben aufgezeigt, mit der Folge
einer Schädigung (früh-)kindlicher Entwicklung,
die die dargestellten Folgen haben kann.
Das Beispiel »Max«
Max kam mit seiner Sozialarbeiterin zur Tür herein. Er war groß für seine 16 Jahre, und erst seine Turnschuhe: riesig. Max trug den Kopf tief, die
Schultern eingezogen, Hände in den Taschen, dem
Blick ausweichend. Die vorhergehende Einrichtung hatte ihn nur drei Wochen ertragen, dann
kam das Aus. An einem Auto war die Bremsleitung durchgeschnitten, unter der Tür des Bereitschaftsdienstzimmers war plötzlich eine Stichflamme durchgeschossen, eines Abends fiel die
komplette Telefonanlage aus. Der Stresspegel war
durchweg hoch, dabei konnte ihm niemand etwas
nachweisen. Es fiel nur auf, dass, seit er da war,
die Stimmung kippte. Unter manchen Jugendlichen machte sich Angst breit, andere, die in seinem Dunstkreis sein durften, sonnten sich in einem neuen Selbstbewusstsein.
Auf meine Frage, was er hier wolle, meinte er nur:
»Schlagen, Euch alle.« Und, wo soll das hinführen:
»Weiß nicht, ist auch egal.« Und wie können wir
es hinbekommen dass es keinen Stress gibt?
»Weiß nicht. Mich in Ruhe lassen.«
Das haben wir erst einmal auch getan. Max war
leidlich freundlich, doch immer »an der Grenze«:
Er ging nicht aus dem Weg, wenn jemand kam,
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hatte immer das letzte Wort, breitete sich in jeder Hinsicht aus. Die Bedürfnisse anderer gingen
ihn nichts an und das ließ er sie auch spüren. Da
er den engen Rahmen der vorherigen Einrichtung
nicht einhalten konnte, ließen wir ihn erst einmal
gewähren, in der vagen Hoffnung, dass er schon
von sich aus kommen würde. Er kam nicht. Er verschanzte sich in seinem Zimmer, war überwiegend
nachts unterwegs. Sachschäden und die Klagen
der anderen Jugendlichen nahmen zu. Schließlich
stellte er sich gegen die Erzieher/-innen, die Grenze war – wieder einmal – erreicht. In der Folge zogen wir ihn aus seinem verdreckten Zimmer. Er
flüchtete in die nahe Wohnsiedlung.
In der »Wohngruppe für Jugendliche mit erhöhtem Förderbedarf« sah er sich einige Tage um und
begann dann wieder sein Programm. Scheiben
gingen zu Bruch, eine Tür fehlte, er verweigerte
sich gemeinsamen Unternehmungen. Als einige
Jugendliche mit Äpfeln eine nahe Scheune beschädigten, stand er lächelnd im Hintergrund.
Schulunterricht verunmöglichte er allein durch
seine Anwesenheit, Jugendliche bekamen es mit
der Angst, Sozialpädagogen auch. Er erhielt zwei
Auszeiten, jeweils einige Tage mit einem Betreuer. Ziel war, mit ihm eine Perspektive und Möglichkeit erarbeiten zu können, zu bleiben und den
– seinen – Weg eine gewisse Zeit gemeinsam zurückzulegen. Eine Vereinbarung wurde getroffen,
ein Vertrag unterschrieben: Er kann bleiben, wenn
er sich an die geltenden Vorgaben hält. Ausschlusskriterien wurden erörtert, die Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz klargestellt. Nach einigen Tagen kam sein Ja: »Ich will bleiben, denn
ich weiß nicht wohin, und ich werde verrückt,
wenn ich alle paar Wochen woanders hin soll.
Aber ihr müsst mir dabei helfen!«
Max kann sich nicht erinnern, irgendwann ein
angstfreies Leben gehabt zu haben. Immer war
laut Max »trouble« in der Familie. Vor allem der
Vater »hat richtig Gas gegeben«. Er war lustig, humorvoll, witzig, jähzornig, rücksichtslos, bösartig.
Das Schlimme: Max konnte nie voraussehen,
wann die Stimmung kippte. Schläge kamen aus
219
Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche
heiterem Himmel. Übergangslos und nicht einschätzbar wurde es dem Vater zu viel. Er kam in
aufgeräumter Stimmung nach der Arbeit nach
Hause und spielte mit seinen Kindern. Oder er
kam nach Hause und schlug erbarmungslos zu.
Seine Kinder. Seine Frau. Er führte mit dem Auto
die waghalsigsten Manöver durch. Er sang, er jubilierte, er schwieg. Nichts war voraussehbar. Als
Max wegen einer Kleinigkeit den Mund aufmachte, fuhr der Rest der Familie zwei Wochen lang
ohne ihn in den Urlaub. Er wurde bestraft und
wusste nicht warum.
Um seine Ängste in den Griff zu bekommen, wurde Max zum Zerstörer. Wenigstens die Bestrafung
war berechenbar. Er provozierte im Kindergarten,
in der Schule, die Nachbarn. Er wurde eingeschult,
er wurde ausgeschult. Der Vater hob ihn in den
Himmel, er prügelte ihn durch den Garten. Die
Mutter sah zu, sie weinte und schwieg. Eines Tages schlug Max zurück. Als er erkannte, dass er
die Schlacht gewinnen könnte, überkam ihn ein
Gefühl grenzenloser Freiheit, das ihn ängstigte
und das ihn leichtsinnig machte: Jetzt war er es,
der dem Vater Angst bereiten konnte. Dieser verließ eines Morgens mit seiner Frau das Haus, und
eine Stunde später stand die Polizei in der Tür und
holte ihn ab. Von da an entwickelte sich in Max
die Vorstellung, seinen Vater umzubringen.
Grenzen sprengende Jugendliche entstammen
auch aus dem Umfeld posttraumatischer Belastungsstörungen. Sie fordern die Umgebung im
hohen Maße heraus. In Einrichtungen sind sie
nicht nur Opfer, sie sind fast immer auch Täter. In
erstaunlichem Maße sind sie resistent gegenüber
erzieherischen Einflussversuchen. Die bewährten
»Erziehungsversuche« wie Maßnahmen und Unternehmungen zur Beeinflussung von Verhaltensweisen junger Menschen erreichen diese oft nicht.
Und so bringen diese Jugendliche Erzieher/-innen
und Sozialpädagogen/-innen an den Rand ihrer
Möglichkeiten: Die Auseinandersetzungen mit ihnen sind anstrengend, Kraft raubend und auch
Angst machend.
220
Aber nicht nur die Pädagogen sind frustriert. Auch
Kinder und mehr noch Jugendliche machen sich
nach eigener Einschätzung erneutem Versagen
schuldig, wo doch so viel investiert wird und
nichts aus ihnen wird.
Die manchmal beeindruckend auftretende Resistenz einiger junger Menschen erklärt sich aus früh
aufgetretenen Schädigungen, die zudem im ungünstigen Fall lange angehalten haben.
Doch unter anderem durch die Erkenntnisse der
Traumaforschung um problematisches Verhalten
lassen sich ein anderes Verhältnis und eine andere Verständigung gegenüber den jungen Menschen entwickeln. Das Wissen, dass hier jemand
nicht »kann«, lässt eine andere Zugehensweise zu,
als der (implizite) Vorwurf des Nicht-Wollens.
Auch für die, die nicht können, gelten Regeln und
Anforderungen. Manchmal sind sie im hohen
Maße notwendig, wenn Kinder und Jugendliche
sich nicht ausreichend selbst steuern können.
Klarheit und Verlässlichkeit sorgen dort für Übersicht, wo bisher eher Chaos herrschte. Transparenz und Berechenbarkeit setzten der verunsichernden Welt einen Pol der Sicherheit gegenüber. Ein klar gegliederter Alltag mit übersichtlichen Konstellationen setzt einen Gegenentwurf
zur erlebten Ohnmacht und Willkür. Insofern
kommt schon dem gelingenden Alltag therapeutische Bedeutung zu.
Aber aus dem Schatzkästchen pädagogischer Interventionen lässt sich noch einiges mehr hervorzaubern:
• Das gemeinsame Erarbeiten alternativer Handlungsmuster nimmt die jungen Menschen ernst
und lässt erste Strukturen legen zur aktiven Bewältigung von Aufgaben als ein positives Erleben von Selbstwirksamkeit.
• Behindernde Selbstbilder lassen sich mit Elementen der Erlebnispädagogik wenigstens teilweise korrigieren.
• Der Zusammenhang zwischen erdrückenden Erfahrungen und den augenblicklichen Problemen
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Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche
wie beispielsweise Fremdunterbringung, Scheitern in der Schule oder Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen, denen sich
junge Menschen gegenübersehen, muss hergestellt und zugänglich gemacht werden. Erst dies
ermöglicht es, gemeinsam Lösungen zu finden.
• Das Erlebte muss enttabuisiert werden, vor allem wenn es aus dem Umfeld der Familie
kommt.
Auch dann ist der Weg steinig. Diese Kinder und
Jugendlichen sind misstrauisch und ängstlich allem Neuen gegenüber, weil sie es nicht einschätzen können. Alles, was sie kennen, und sei es noch
so belastend, ist vermeintlich besser als die Unsicherheit des Neuen, die nicht bewertet werden
kann. So kommt es, dass Kinder und Jugendliche
Auseinandersetzungen provozieren, obwohl »man
es gut mit ihnen meint«. Dieses (Er-)Leben ist ihnen vertraut, auf diesem Terrain sind sie zu Hause. Für Pädagogen ist gerade das die große Herausforderung.
Aber: Wenn wir uns nicht engagiert und fachlich
dieser Herausforderung stellen, verlieren wir diese Jugendlichen aus den Hilfesystemen, ohne dass
wir ihnen helfen konnten. Spätestens wenn aus
dem Kind ein Jugendlicher wird und er uns aufgrund seiner gewachsenen Physis bedrohlich
wird und sich zumindest in der Lage wähnt, seine Situation selbst zu entscheiden, wird er das
auch tun. Schon das vordergründig zur Schau gestellte Selbstbewusstsein (»ich darf nicht verlieren«) zwingt einen jungen Menschen, Zeichen zu
setzen.
Das Dargestellte kann als Möglichkeit gewertet
werden, einem schwierigen Personenkreis brauchbare Hilfen zur Verfügung zu stellen. Eine Gewähr
fürs Gelingen ist es nicht. Zu komplex sind die Lebensläufe junger Menschen, ihre familiären Hintergründe mit Erfahrungen, die oft über Generationen zurückreichen, und die individuelle Entwicklungsdynamik. Die Abgrenzung zu anderen
Störungsbildern muss gezogen werden, damit hier
kein Durcheinander entsteht. Aber es ist viel mehr
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als ein Versuch, es ist eine Chance, für Kinder und
Jugendliche und für professionelle Helfer.
5. Wege aus dem Dilemma – Ein Ausblick
1. Verschaffen Sie sich einen Überblick: Sorgfältige anamnestische Erhebungen und die Mühe einer gewissenhaft erstellten Diagnose sind die Basis für eine erfolgreiche Arbeit mit traumatisierten Jugendlichen. (Leider wird dieser Aspekt immer noch nicht ausreichend gründlich ausgeführt.
Anders als psychiatrische Fachärzte verfügen Sozialpädagogen nicht über ein Regelwerk wie das
ICD 10 und auch nicht immer über das Selbstverständnis der Durchführung einer adäquaten Exploration). Ohne die Hintergründe zu kennen und
zu verstehen, ist es kaum möglich, für solcherart
belastete jungen Menschen geeignete Hilfen zu
installieren und die umfassende Aufarbeitung des
Problems anzugehen. Der Alltag sieht leider oft so
aus, dass ASD-Mitarbeiterinnen und Gruppenpädagogen mit der anstrengenden Tagesarbeit
(Strukturieren, Begrenzen, Planen, Dokumentieren, Auseinandersetzen ...) so gefordert sind, dass
über den Tellerrand hinausreichende, aber notwendige Detektivarbeit, Elternarbeit oder Kooperationen allzu oft nur unzureichend erfolgen können.
2. Unterstützung der pädagogischen Bemühungen durch eine spezielle (Trauma-)Therapie für
Kinder und Jugendliche, in der sie lernen, Erlebtes
zu berichten und die Sprachhemmung sowie die
zersplitterte Gedächtnisleistung zu überwinden.
Sie erleben die Unterstützung wissender, wohlmeinender und »neugieriger« Therapeuten/-innen
und Erzieher/-innen. In dieser Therapie können sie
Techniken erlernen, die es ihnen ermöglichen,
beunruhigende Sachverhalte zu verschließen, sie
wegzustecken, mit ihnen umzugehen: aus der
passiven Rolle des Opfers gelangen sie in die aktive dessen, der lernt, sein Schicksal in die Hand
zu nehmen.
3. Schaffen eines sicheren Ortes als pädagogische Antwort auf die Erlebnissituation des Kin221
Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche
des oder Jugendlichen: Ein geordneter Platz, entsprechend eingerichtet und ausgestattet als Umgebung und Beheimatung für den jungen Menschen mit stabilen, erwachsenen Erwachsenen,
die Halt geben, verstehen (wollen) und in der Lage
sind, einen äußeren Rahmen als beständiges Gerüst zu schaffen, der als inneres Gerüst den Kindern und Jugendlichen nicht zur Verfügung steht.
Erwachsene, die die oft extremen und eskalierenden Jugendlichen aushalten, sich mit ihnen auseinandersetzen, die standhalten und auch in Krisen und nach Konflikten zu den Kindern und Jugendlichen stehen, auf die sie sich, als Muster und
Gegenstück zu gemachten Erfahrungen, verlassen
können. Erwachsene, die Kinder und Jugendliche
nicht abschieben (»... der passt nicht in unser Konzept«), sondern die geeignet sind, über die durchlebten Konflikte hinaus wieder Beziehung entstehen zu lassen. Durch Stabilität, Verlässlichkeit und
Unbedingtheit wird am ehesten vermieden, dass
die Kinder und Jugendlichen vom Helfersystem
noch einmal »sekundär traumatisiert« werden, indem sie wiederum die Ohnmacht und die Hilflosigkeit erfahren und das scheinbare Ausgeliefertsein an das Schicksal (»ihr könnt mir doch nicht
helfen«, siehe oben). Zu diesem Rahmen gehört
auch die konzeptionelle Freiheit, den Rahmen
entsprechend der Notwendigkeit flexibilisieren zu
können.
4. Arbeit mit traumatisierten Jugendlichen ist
immer auch Arbeit mit dem familiären Umfeld.
Diese sozialpädagogische Binsenweisheit muss jeder, der sich diesem Personenkreis stellen will,
ganz bewusst in die strukturell-inhaltliche Ausgestaltung der Arbeit integrieren. Oft kommen
Stressoren aus dem familiären Milieu und doch ist
es beinahe immer der größte Wunsch junger
Menschen, wieder in die Familie zurückzukehren.
Die Aufarbeitung des Traumas, den Schutz des
Kindes oder Jugendlichen zu gewährleisten, die
Wiederholung belastender Ereignisse so weit es
geht auszuschließen und letztlich eine Aussöhnung sowie die Möglichkeit des Verzeihens und
somit der Weiterentwicklung sicherzustellen, gehören in diesen Aufgabenkatalog
222
5. Sicherstellung entsprechender Rahmenbedingungen: So lapidar das klingen mag, die Struktur
muss stehen, von der sachlich-finanziellen Ausstattung bis zur Unterstützung durch Leitung, begleitende Dienste und Fachkräfte von außen und
geeigneten Kooperationsstrukturen. In diesen
Punkt gehört naturgemäß der Abgleich mit den
öffentlichen Trägern. Eine falsch verstandene Einsparpolitik konterkariert jedwede professionelle
Anstrengung und stellt die Beteiligten vor weitere, nicht hilfreiche Schwierigkeiten.
6. Und: Die mit der Erziehung und Förderung
dieser jungen Menschen verbundenen Aufgaben
sind allein, das heißt, nur von einer Profession,
nicht zu leisten. Zu unerklärlich, bizarr, hartnäkkig und bedrohlich sind im Einzelfall die Begleiterscheinungen, als dass sie im sozialpädagogischen Setting einer Wohngruppe allein aufgefangen werden können. Hier ist strukturierte, über
den Einzelfall hinausreichende Kooperation mit
den Diensten der Kinder- und Jugendpsychiatrie
und mit Therapeuten anzustreben, aber auch mit
Polizei und Justiz, damit für das einzelne Kind und
den einzelnen Jugendlichen umfassend Hilfestellung erreicht werden kann, auch im Vorfeld großer, belastender Krisen. Die subtile Betrachtung
multifaktorieller Beeinflussung der menschlichen
Entwicklung und der Wechselwirkung von körperlichen, seelischen und sozialen Zuständen gelingt
im Zusammenspiel der Professionen sehr viel besser. In diesem Selbstverständnis lassen sich auch
krisenhafte Ereignisse, hervorgerufen durch entsprechende Aktionen der Kinder und Jugendlichen, in produktiver, für die jungen Menschen gewinnbringender Art und Weise, bewältigen. ‰
Ewald Zauner
Distriktleitung
Ev. Jugendhilfe Friedenshort
Tiele-Winckler-Str. 72
74613 Öhringen
regionsued.schwaebischhall@
jhfh.friedenshort.de
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Wenn die Krise zum Alltag wird – Jugendhilfe und traumatisierte Jugendliche
Liegl, W: Was tun mit den »besonders Schwierigen«? In: jugendhilfe (Hrsg.), 1/2000
Literatur
Besser, L und Hofmann, A: Psychotraumatologie bei Kindern
und Jugendlichen. Grundlagen und Behandlungsmethoden.
In: Bindung und Trauma, Stuttgart, 2008
Schwabe, M: Unerzogen – Verunsichert – Fasziniert oder
Wahnhaft? In: EREV (Hrsg.), Schriftenreihe 3/2002
Hassenstein, B: Was Kindern zusteht, München, 1990
Uttendörfer, J: Traumazentrierte Pädagogik. Von der Entwicklung einer Kultur eines »Sicheren Ortes«. In: unsere jugend, München 2/2008
Hassenstein, B: Verhaltensbiologie des Kindes, München,
1987
Wecker, K: Genug ist nicht genug, Team Musikon, 1977
Huber, M: Wege der Traumabehandlung, Paderborn, 2006
Wolf, K: Machtprozesse in der Heimerziehung, Münster,
1999
Krieger, W: »Gewaltprävention im Alltag der stationären Jugendhilfe – pädagogische und ästhetische Aspekte«. In:
EREV (Hrsg.), Evangelische Jugendhilfe, 5/2007
Zywicki, C: Wollen sie nicht oder können sie nicht anders? In
EREV (Hrsg.), Evangelische Jugendhilfe, 1/2006
Nr.: 43/2008
EREV – FREIE SEMINARPLÄTZE– FREIE SEMINARPLÄTZE
Pendeltür – Kinder und Jugendliche
Eine besondere pädagogische Herausforderung zwischen den
Hilfesystemen
Inhalt und Zielsetzung
Einige Kinder und Jugendliche zeigen sich wie Bälle in einem Flipperautomaten: Kaum kommen sie
auf uns zu, entfaltet sich ein Dynamik, dass es nur so funkt. Schon steuern sie neuen Zielen entgegen, »titschen« von einem Ende zum anderen, kommen selten zur Ruhe. Und wenn wir nicht schnell
und flexibel genug reagieren, sind sie gar nicht zu halten.
Kinder und Jugendliche mit diesem Beziehungs- und Symptomverhalten beschäftigen meist mehrere Hilfesysteme (Jugendhilfe, Psychiatrie, sonderpädagogische Beschulung, Strafinstanzen) und bringen diese in eine spannungsreiche Zusammenarbeit. Sie werden häufig mit Bindungsstörungen, Dissozialität oder einer Borderline-Persönlichkeit diagnostiziert, Nähe und Distanz mit ihnen ausbalancieren ist besonders schwierig. Das zentrale Paradigma der Jugendhilfe, die bezugspädagogische Betreuung, scheint fast nicht umsetzbar.
In diesem Seminar werden wir versuchen, Zugänge des Verstehens zu diesen Kindern und Jugendlichen zu finden und Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten.
Methodik
Das Seminar hat einen Werkstattcharakter. Ausgangspunkt werden Fallarbeiten und Praxiserfahrungen sein, bei deren Reflexion theoretische Bezüge vermittelt und auf ihre Handlungstauglichkeit hin
überprüft werden.
Zielgruppe
Interessierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus der Erziehungshilfe, die sich mit dem Thema beschäftigen und sich weiterbilden möchten.
Leitung
Heide Roscher-Degener, Münster; Andreas Kuchenbecker, Erkrath
Termin/Ort
10. – 12.11.2008 in Mülheim/Ruhr
Teilnahmebeitrag 249,- € für Mitglieder / 289,- € für Nichtmitglieder inkl. Unterbringung und
Verpflegung
Teilnehmerzahl 14
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Leben lernen – Freiräume nutzen
Ein neues Angebot hilft jugendlichen Sexualstraftätern nach der ersten Therapie
Tobias Häßner, Neukirchen-Vluyn
»Kein Toast und Nutella bis Montag!« Gleich über
zwei Spalten geht diese Anweisung auf der großen
Tafel des Mitarbeiterbüros. Zwei Spalten heißt:
Hier wird das Verhalten von zwei Jungen gleich zeitig sanktioniert. Die beiden Jugendlichen der
Gruppe »Freiraum« in Kamp-Lintfort hatten genau
diese Dinge – Toast und Nutella – aus dem nahe
gelegenen Supermarkt gestohlen. Das allerdings
ist nicht ihr eigentliches Problem.
Offensichtlich bedeutet der Einkauf im Supermarkt ebenso eine Risikosituation für die Heranwachsenden wie die Erreichbarkeit von Alkohol
und Drogen. Deshalb hat das gemeinsame Besprechen eben dieser Situationen seinen Platz in der
Gruppe. »Im Bereich der Sexualität können die
Jungen mittlerweile sehr gut das Gefährdungspotenzial verschiedener Situationen benennen und
abschätzen«, erzählt Gruppenleiterin Sandra
Schmitz. »Doch daneben gibt es andere typische
Gefahren für Jungen in diesem Alter, die nicht
ausgeblendet werden dürfen.« Schließlich gelte
es, ergänzt die Sozialpädagogin, die Jugendlichen
an die Selbstständigkeit heranzuführen.
Alternative: Jugendstrafvollzug
Die Gruppe »Freiraum« besteht seit einem Jahr. Als
Jugendhilfemaßnahme ist sie nicht isoliert konzipiert, sondern baut auf einem anderen Angebot
der Neukirchener Kinder- und Jugendhilfe auf, der
Therapeutischen Interventionsgruppe (TIG). Etwa
25 Kinder und Jugendliche haben seit 2004 das
sechsstufige Therapieprogramm der TIG (siehe
NM Dezember 2005) durchlaufen. Sie alle – ob
unter 14 Jahren und damit strafunmündig oder
älter – haben eines gemeinsam: Andere Kinder
wurden Opfer ihrer sexuellen Übergriffe, bis hin
zur Vergewaltigung. Dass die Bewohner der TIG in
224
den meisten Fällen selbst zuerst Opfer von Erwachsenen waren, wird nicht ausgeblendet. Dennoch geht es in der TIG in erster Linie darum, die
jugendlichen Täter mit ihrem Fehlverhalten zu
konfrontieren. Deshalb sind in der ersten Phase
auch freiheitsbeschränkende Maßnahmen vorgesehen; die enge Regelorientierung zieht sich
durch die gesamte Therapie. Schließlich ist für die
Älteren der Jugendstrafvollzug eine drohende Alternative.
Doch was passiert mit den Jugendlichen, die erfolgreich das Programm durchlaufen haben?
»Häufig gibt es für sie kein Zurück in das elterliche Umfeld«, weiß Sandra Schmitz. Allerdings seien sie für eine eigene Wohnung noch zu jung.
»Und welche anderen Heimgruppen sind für eine
Arbeit mit Jungen dieser speziellen Problematik
geeignet?«, fragt die Gruppenleiterin. Die Herausforderung bestand also darin, einen Übergang von
einem stark strukturierten Tagesablauf hin zu einem Konzept zu entwickeln, in dessen Rahmen
die Jugendlichen zu einem selbstverantworteten
Leben befähigt werden. Das Ergebnis war das
Konzept für die Gruppe Freiraum mit insgesamt
vier Phasen. Die Bewohner sollen lernen, sich in
einem weniger kontrollierten und strukturierten
Umfeld zu bewegen.
Vertraute Anknüpfungspunkte
Sieben Jugendliche im Alter zwischen 16 und 18
Jahren leben derzeit in der Gruppe. Phase 1, so ihr
fast einhelliges Urteil, ist zunächst ein Rückschritt
gegenüber der letzten TIG-Phase. Der Ausgang ist
enger reglementiert. So müssen sich die Jungen,
wenn sie das Haus verlassen möchten, wieder abmelden. Auch die allabendlichen Reflektionen mit
den Therapeuten sind Pflicht. Sandra Schmitz beE
J 4/2008
Leben lernen – Freiräume nutzen
gründet dies mit dem hohen »Wiedererkennungswert« aus der TIG. Außerdem können die Jugendlichen auf diese Weise an gelernte Abläufe anknüpfen, was ihnen zudem Stabilität vermittelt.
Am Anfang der ersten Phase steht ein Zielvereinbarungsgespräch zwischen den Betreuern und den
Jugendlichen. Dabei geht es natürlich auch noch
einmal um den sexuellen Missbrauch, den sie begangen haben. In diesem Zusammenhang müssen
die Jungen einen Selbsteinschätzungsbogen ausfüllen, auf dem sie eigenständig ihre Stärken und
Schwächen sowie die noch zu entwickelnden Fähigkeiten benennen sollen.
Der Weg in die nächst höhere Phase führt ausschließlich über das Erreichen der gemeinsam
festgelegten Wochenziele. Dies wird durch einen
grünen Bilderrahmen dokumentiert. Ein gelber
steht für Stillstand und rot heißt: Das Ziel wurde
nicht erreicht – Neustart. Das passiere, wenn die
Jungen nicht konsequent an ihren Wochenzielen
arbeiteten, so Sandra Schmitz. Konkret bedeutet
das zum Beispiel, dass sie keine Absprachen einhalten, ihre Bücher – so zum Beispiel das Wegebuch und das Gefühls- und Gedankenbuch – nicht
lückenlos führen oder schlichtweg unpünktlich
sind. Eigentlich ist Phase 1 auf sechs Wochen angelegt. Doch einige Jungen haben selbst nach
sechs Monaten die zweite Phase noch nicht erreicht. Die Gruppenleiterin führt dies auch darauf
zurück, dass die Jugendlichen nach dem Wechsel
in die städtische Umgebung ein größeres Sicherheitsbedürfnis haben. Und das Verharren in einer
Phase bedeute zunächst ein längeres Verbleiben
in der vertrauten Gruppe.
Ein respektvoller Umgang
Dennoch sind Erzieher und Therapeuten, aber
auch die Bewohner selber davon überzeugt, dass
das gesamte Therapieprogramm ihnen weiterhilft.
Die TIG habe ihn weitergebracht, die erste Phase
in Freiraum auch, so der 16-jährige Martin (alle
Namen geändert). Er gehe mittlerweile noch
selbstständiger mit der Freiheit um, lautet seine
Selbsteinschätzung. Und seine gleichaltrigen MitE
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bewohner Torben und Rafael legen, wie Martin
auch, Wert darauf, dass man gelernt habe, mehr
Respekt vor dem Anderen aufzubringen. Torben ist
Gymnasiast. Für ihn bedeutet es viel, dass er sich
inzwischen besser in das jeweilige Gegenüber
hineinversetzen kann. Schließlich ist Empathie für
die Opfer bereits in der TIG ein wichtiger Schwerpunkt. Doch auch die Tatsache, dass Torben nicht
mehr bei jeder Anweisung sofort in die Diskussion mit seinen Betreuern gehen muss, ist für ihn
ein Erfolg. Den Beweis, dass die Jugendlichen respektvoll und wertschätzend miteinander umgehen können, bleiben sie nicht schuldig. Als Rafael über seine Erfahrungen berichtet, ergänzt ihn
Torben positiv und in freundschaftlicher Weise. Er
sei offener und mutiger geworden und könne –
wenn er denn wolle – besser mit Geld umgehen.
Martin, Torben, Rafael und die anderen brauchen
noch für einige Monate den Rahmen der Gruppe.
Das beinhaltet auch die Inanspruchnahme von
Sport- und Kreativangeboten sowie hier und da
Anleitung für eine sinnvolle Freizeitgestaltung.
Gerade die Nutzung der modernen Medien und
die Gefahren des Internets bergen einige Risiken.
Doch die Perspektive ist klar. Alle wollen die
Selbstständigkeit, einen Schulabschluss und eine
Ausbildung beginnen: Martin als Schreiner, Rafael als KfZ-Mechatroniker und Torben möchte studieren.
Sandra Schmitz zieht jedenfalls nach fast einem
Jahr ein positives Fazit: »Unsere bisherigen Erfahrungen machen uns Mut für die Zukunft. Wir erleben, dass die Jungen von diesem Konzept profitieren und sich weiter stabilisieren. Im Herbst
2008 werden voraussichtlich die ersten Jungen in
eine eigene Wohnung ziehen und ihr Leben dann
in Eigenregie weiterführen« – mit Toast, Nutella
und vielen anderen und selbstverständlichen
Dingen des Alltags.
‰
Tobias Häßner
Leiter Kommunikation (bis Juni 2008)
Neukirchener Erziehungsverein
Andreas-Bräm-Straße 18/20
47506 Neukirchen-Vluyn
225
Fehlmeldung der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK)
Björn Hagen, Hannover
In ihrem Newsletter der Ausgabe 1/2008 berichtet die BPtK darüber, dass mit der Heimerziehung
die Kosten explodieren. In dieser Kurzmeldung
werden die Kosten der Erziehungsberatung und
der stationären Betreuung miteinander verglichen. Hierbei gelangt die BPtK zu der Aussage:
»Die präventive Arbeit der Erziehungsberatung ist
gesundheitsökonomisch deutlich günstiger als die
Heimunterbringung. Theoretisch rechnet sich die
Beratung und Behandlung in einer Erziehungsberatung schon, wenn durch ihre Arbeit bei einem
bis drei Prozent der Kinder eine Heimunterbringung verhindert werden könnte«. Hierbei bezieht
sich die BPtK auf die Ergebnisse einer Pilotstudie
von Prof. Dr. Jürgen Wasem (Universität Duisburg/Essen) und Privatdozent Dr. Christian Krauth
(Medizinische Hochschule Hannover) im Auftrag
des BPtK-Ausschusses »Psychotherapie in Institutionen«.
In der Kurzmeldung heißt es zum Schluss: »fiskalisch begründete Einsparungen bei der Erziehungsberatung haben nach dieser Berechnung
eine gegenteilige Wirkung. Für jeden Euro, den
Länder und Kommunen bei der Erziehungsberatung einsparen, entsteht Ihnen ein Vielfaches an
Kosten an anderer Stelle.«
Bei allem Verständnis dafür, sich für die jeweiligen
Arbeitsbereiche einzusetzen, darf es nicht dazu
kommen, die Hilfearten miteinander aufzuwiegen.
So hat sich Rolf Schüler-Brandenburger als Mitarbeiter der Jugendhilfe gegenüber der BptK über
diese Verlautbarung entsetzt geäußert. In seiner
Stellungnahme beschreibt Schüler-Brandenburger »aber eine Heimunterbringung sollte nie »verhindert« werden dürfen, wie in Ihrer Meldung dargestellt, nämlich genau dann nicht, wenn sie indiziert ist. Sonst verhält man sich zumindest fahrlässig. Die Frage der Kosten muss dabei zweitrangig sein. Wer aus ökonomischen Gründen eine
Hilfeart protegiert, handelt missbräuchlich. Rolf
226
Schüler-Brandenburger bittet die Bundespsychotherapeutenkammer darum, die Stellungnahme
zu veröffentlichen. Dieses wurde von der BPtK mit
der Begründung abgelehnt, dass das Format des
Newsletters eine Veröffentlichung von Leserbriefen nicht vorsieht. Auch eine Richtigstellung wird
nicht erfolgen. In einem Schreiben an SchülerBrandenburger versichert die BPtK, dass eine »Diffamierung« der stationären Jugendhilfe nicht die
Intention dieser Kurznachricht war. Auch ging es
nicht darum, zu suggerieren, die ambulante Jugendhilfe könne die stationäre Jugendhilfe grundsätzlich ersetzen. Wenn aufgrund der Kürze der
Meldung auf der letzten Seite unseres Newsletters dieser Eindruck entstanden sein sollte, wird
dies bedauert.
Die Fachzeitschrift »Evangelische Jugendhilfe« hat
diese Meldung zum Anlass genommen, bei der
Bundespsychotherapeutenkammer nachzufragen.
In dem Gespräch mit dem wissenschaftlichen Referenten, Dr. Johannes Klein-Heßling, nahm dieser Stellung zu der Kurznachricht und bedauerte
die Veröffentlichung. Sie sei »ein bisschen provokant«. Keinesfalls sei es Absicht der Bundespsychotherapeutenkammer, beide Hilfearten miteinander aufzurechnen. Ebenso kann keine Aussage
aufgrund der kurzen Pilotstudie zu der Effektivität von ambulanten oder stationären Hilfen getroffen werden. Die in dem Newsletter veröffentlichten Aussagen seien alle im »Konjunktiv« gesprochen. Wenn es demnach gelingen würde, in
Einzelfällen Heimunterbringungen zu vermeiden,
lohne sich eben der Einsatz für die Erziehungsberatung. Hierum könne es bloß überhaupt nicht
gehen. In Abhängigkeit von der Hilfeplanung
müssen die jeweils adäquaten Unterstützungsmöglichkeiten für die Kinder, Jugendlichen und
Familien im Einzelfall greifen.
Die gesundheitsökonomische Vorstudie beschäftigt sich ausschließlich mit den Effekten von BeE
J 4/2008
Fehlmeldung der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK)
ratung und psychotherapeutischer Behandlung
von aggressiven Kindern (vier bis 14 Jahren in Erziehungs- und Familienberatungsstellen). Sie hatte also gar nicht die Aufgabe, ambulante und stationäre Hilfen miteinander zu vergleichen. In der
Zielsetzung der Studie wird beschrieben, dass es
darum geht, neben dem unmittelbaren Nutzen einer erfolgten Beratung oder Behandlung für die
ratsuchenden Klienten die Frage zu beantworten,
ob sich auch ein ökonomischer Nutzen für die Allgemeinheit plausibel darstellen lässt. Die Pilotstudie sollte prüfen, ob eine realistische Kosteneinschätzung verschiedener Beratungs- und Behandlungsformen vorzunehmen sei. Andererseits sollte der Versuch unternommen werden, diesen Kosten beispielhaft die möglichen gesellschaftlichen
Nutzenaspekte, im Sinne von Kosten, die durch
erfolgreiche Beratung vermieden, beziehungsweise eingespart werden können, gegenüberzustellen. Die Studie kommt zu beispielhaften Aussagemöglichkeiten:
»In der Beratungsstelle C muss nur eine von 78
Einzelpsychotherapien dazu beitragen, dass ein
Schüler mit aggressiver Problematik seinen Realschulabschluss und anschließend eine Berufsausbildung macht. Er wird bis zu seinem 40. Lebensjahr statistisch gesehen 155.000,- Euro mehr an
Einkommen akkumulieren, als wenn er nach dem
Schulabgang keine Berufsausbildung hätte machen können. Sein persönlicher finanzieller Gewinn wird die Kosten für die 78 Einzeltherapien
aufwiegen«.
Eine zweite Aussage lautet, »führen in der Beratungsstelle B nur zwei von 114 Elternberatungen
dazu, dass eine spätere Straffälligkeit des Jugendlichen vermieden wird, hat die Beratungsarbeit
Kosteneinsparungen bewirkt, die im Falle einer Inhaftierung bei Männern durchschnittliche Kosten
in Höhe von 72.000,- Euro und bei Frauen durchschnittliche Kosten von 47.000,- Euro auslöst«.
Die dritte Aussage: »kann im Rahmen einer Familientherapie in Beratungsstelle A mehr als einmal
in 58 Fällen eine Alkoholabhängigkeit eines Jugendlichen vorgebeugt werden, bewirkt diese BeE
J 4/2008
ratungsarbeit Kosteneinsparungen im Sinne gesellschaftlichen Nutzens«.
In den Schlussfolgerungen dieser Pilotstudie wird
beschrieben, dass die Praktikabilität des gesundheitsökonomischen Ansatzes im Bereich der psychotherapeutischen Arbeit von Erziehungsberatungsstellen geprüft werden konnte. Da die sehr
kleine Stichprobe der beteiligten Einrichtungen
keine Repräsentativität beanspruchen kann, sind
die vorliegenden Zahlen nicht zu generalisieren
oder zu verallgemeinern. Auch die Gleichsetzung
von durchgeführten Behandlungen mit erfolgreichen Behandlungen war für die vorliegende Auswertung zwar praktikabel – ist aber eben nicht
übertragbar. Dieses entspricht einer vereinfachten
Annahme, die der Wirklichkeit nicht gerecht wird
und in Folgestudien neu überlegt werden muss.
Die hilfsweise Operationalisierung von Erfolg
durch das Kriterium »Behandlung wurde einvernehmlich beendet« ist ebenfalls zu überprüfen.
Die Studie geht davon aus, dass die vorliegenden
Ergebnisse erwarten lassen, dass gesamtgesellschaftlich zu tragende Kosten vermieden werden
könnten. Ziel der Studie ist es, für anschließende
Untersuchungen Mittel zu akquirieren und die
Aussagemöglichkeiten des Projekts näher zu prüfen.
Der Vergleich des Berichtes über die Pilotstudie
mit dem Bericht der Bundespsychotherapeutenkammer ergibt, dass keine Übereinstimmung vorliegt. Die Studie selber relativiert die Ergebnisse
hinsichtlich ihrer Vergleichbarkeit der Aussagekraft und der Repräsentativität. Bedauerlich ist
hierbei, dass die Bundespsychotherapeutenkammer nicht zu einer Korrektur ihrer Kurzdarstellung
bereit war.
Hannover, 12. Juni 2008
‰
Dr. Björn Hagen
Geschäftsführer, EREV
Flüggestr. 21
30161 Hannover
[email protected]
227
Verändern statt wegsehen –
offener Umgang mit Sucht in der Einrichtung?
Ingeburg Brandt, Trier
Sucht ist nach wie vor ein Tabu-Thema in der Arbeitswelt. Alkohol zu trinken, Medikamente einzunehmen oder Drogen zu konsumieren ist eine ganz
persönliche Entscheidung, die aber erhebliche
Auswirkungen auf die Arbeit haben kann. Wie reagiere ich als Kollege oder Vorgesetzter, wenn ich
den Verdacht habe, dass ein Mitarbeiter berauscht
ist? Sehe ich lieber weg?
Ob und wie reagiert wird, hängt davon ab, ob ein
Problembewusstsein im Unternehmen vorhanden
ist, ob es klare verbindliche Regelungen gibt und
von der Kompetenz der Vorgesetzten im Umgang
mit Suchtproblemen.
Sucht ist ein Thema, das vor der Arbeitswelt nicht
halt macht. Nach Aussage der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sind zehn Prozent aller Werktätigen alkoholkrank. Drogenprobleme spielen zwar zurzeit noch eine untergeordnete Rolle im Arbeitsleben, es ist aber mit einer
stetig wachsenden Zahl missbräuchlich Konsumierender, beziehungsweise Abhängiger zu rechnen (vgl. »Schritt für Schritt«, BZgA 2000).
Wegsehen ist einfacher?
In Betrieben und Einrichtungen, in denen keine
Anzeichen für Suchtprobleme vorliegen, ist davon
auszugehen, dass die Wahrnehmung für dieses
Thema nicht vorhanden ist, beziehungsweise
Auffälligkeiten solange wie möglich ignoriert
werden. Unerklärliche Fehlzeiten, verändertes
Sozialverhalten sowie ein rapider Leistungsabfall
können zahlreiche Gründe haben; nicht selten
handelt es sich um suchtmittelbedingte Auffälligkeiten.
Vorgesetzte, Betriebsräte und Kollegen reagieren
oft unsicher und hilflos. Ein Teamleiter formulier228
te sein Dilemma wie folgt: »Erst schicke ich eine
Mitarbeiterin nach Hause, dann kriege ich Ärger
mit den anderen Mitarbeitern, weil die Schicht unterbesetzt ist und meinem Vorgesetzten mache ich
zusätzliche Arbeit. Ignoriere ich das Problem –
hoffe, dass es sich von selbst löst – muss ich keine
unangenehmen Gespräche führen und spare Zeit.«
Langfristig führt diese Strategie zu erheblichen
Problemen. Der Vorgesetzte wird zum Mitwisser
und kann die Problematik nicht mehr ansprechen,
ohne selbst in eine unangenehme Situation zu
geraten. Die übrigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen reagieren mit Unzufriedenheit, das Betriebsklima leidet. Es treten vermehrt Fehler auf,
die Krankheitszeiten steigen. Suchtmittelprobleme werden zu einem erheblichen Kostenfaktor
und können den guten Ruf der Einrichtung gefährden.
Das Tabu brechen
»Nachdem ich auf der Beerdigung von einem
suchtkranken Mitarbeiter war, habe ich mich entschlossen, das Thema Sucht offensiv in unserer
Einrichtung anzugehen«, berichtet ein Geschäftsführer.
Über Suchtmittel und Suchterkrankungen nachzudenken, sie nicht mehr als Tabu zu behandeln,
ist der Anfang für einen bewussten Umgang mit
diesem Thema (vgl. Substanzbezogene Störungen
am Arbeitsplatz, DHS 2001). Es geht nicht darum,
den Genuss des Feierabendbiers zu vermiesen,
sondern darum, die so genannte »Punktnüchternheit« zu erreichen, das heißt beispielsweise, am
Arbeitsplatz keine Suchtmittel zu konsumieren
und auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit keinen Restalkohol im Blut zu haben.
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Verändern statt wegsehen – offener Umgang mit Sucht in der Einrichtung?
Der Arbeitsplatz ist wichtiger als die Familie
Ein weiterer, wichtiger Aspekt für einen konstruktiven Umgang mit Suchtproblemen ist die Erarbeitung eines – der betrieblichen Organisation
angepassten – Stufenplans. Der Umgang mit betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird
verbindlich geregelt. Mit dem strukturierten Vorgehen wird Druck ausgeübt, aber auch gleichzeitig Hilfe und Unterstützung angeboten, damit
sich der Betroffene in Behandlung begibt. Für viele Menschen ist der Verlust des Arbeitsplatzes
eine sehr bedrohliche Perspektive, häufiger sogar
belastender als eine anstehende Trennung von der
Partnerin oder dem Partner (vgl. Lenfers, 1993).
Hier kommt die zentrale Rolle der direkten Vorgesetzten erneut zum Zuge. Fühlt sich der Vorgesetzte in der Lage ein derart unangenehmes Thema anzusprechen? Kann er kompetent reagieren,
wenn der Mitarbeiter leugnet oder aggressiv
wird?
Konstruktiv und offensiv mit Suchtproblemen
umgehen
Es bestehen gute Aussichten, dass bei Suchtproblemen im Betrieb nicht mehr weggesehen wird,
wenn:
• ein Problembewusstsein entwickelt wird,
• in einer Betriebsvereinbarung das Vorgehen für
alle verbindlich fixiert ist,
• Vorgesetzte in Seminaren gelernt haben, Anzeichen einer Suchterkrankung zu erkennen und in
angemessener Form ein Konfliktgespräch zum
Thema Sucht zu führen.
‰
Ingeburg Brandt
Supervisorin und Suchtberaterin,
Betriebliche Gesundheitsförderung
Diakonisches Werk Trier gGmbH
Theobaldstr. 10
54292 Trier
[email protected]
Impressionen aus dem EREV-Fachausschuss »Jugendhilfepolitik«
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J 4/2008
229
Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges auf
Jugendhilfeleistungen
Wolf Onnasch, Leer
In Deutschland ist die demografische Entwicklung
seit 1965 von einem Geburtenrückgang gekenn zeichnet. Dieser Rückgang verläuft nicht kontinuierlich, sondern er beschleunigt sich. Der folgende
Artikel geht der Frage nach, ob weniger Kinder zur
Verringerung von Leistungen der Jugendhilfe führen und Einrichtungen und Dienste ihre Kapazitäten verringern müssen.
Verliefe die Entwicklung so weiter, werden dies in
rund 15 Jahren 65 Prozent aller Neugeborenen
sein.
Auf die Gesamtbevölkerung bezogen, nehmen
derzeit die Mädchengeburten innerhalb eines Generationenzeitraumes um rund 30 Prozent ab.
Politische Konsequenzen
Daten und Fakten
Obwohl sich die absolute Zahl der Geburten in
Deutschland stetig verringert, so dass wir im Jahre 2050 eine Gesamtbevölkerungszahl von 69
Millionen gegenüber derzeit 82 Millionen haben
werden, wird der Anstieg der Geburtenrate von
1,33 Kindern pro Frau im Jahre 2006 auf 1,45 Kinder im Jahr 2007 als Erfolg der Familienpolitik gefeiert (»Der Spiegel«, Heft 18, 2008, Seite 30). Wie
passen diese Informationen zusammen? Auch
wenn die Statistik den Geburtendurchschnitt pro
gebärfähige Frau richtig wiedergibt, so verringert
sich die absolute Zahl der Geburten mit den ersten geburtenschwachen Jahrgängen und damit
auch die Zahl gebärfähiger Frauen.
Es ist zu begrüßen, dass sich die Politik zu einer
intensiveren kinder- und familienfreundlichen
Gestaltung unserer Gesellschaft durchgerungen
hat. Für die, die dies schon seit vielen Jahren gefordert haben, ist es eine Genugtuung. Dies reicht
jedoch nicht aus, sondern notwendig ist auch eine
kinderfreundlichere Infrastruktur auf regionaler
Ebene wie beispielsweise
• wirtschaftliche Sicherung der Familien,
• Verbesserung der Kinderbetreuungsangebote,
• Weiterentwicklung schulischer Bildungsangebote (inklusive räumlicher Verbesserungen),
• Zukunftssicherung für Jugendliche durch adäquate Arbeits- und Ausbildungsangebote,
• Unterstützung der Familien durch präventive
Beratung.
Die geburtenschwachen Jahrgänge setzten
kriegsfolgenbedingt 1965 ein. Bis 1975 halbierte
sich in der alten Bundesrepublik die Zahl der Geburten. Diese und die folgenden Jahrgänge stehen
jetzt zur »Reproduktion« an, wenn man für eine
Generation den Zeitraum von 30 Jahren annimmt.
Die Bevölkerungsentwicklung lässt sich damit
aber nicht so schnell umkehren, wie es uns mit
statistischen Durchschnittswerten anders verkauft wird.
Seit 1990 gab es im wiedervereinigten Deutschland in jedem Jahr mehr Sterbefälle als Geburten.
2005 betrug dieses Defizit 143 000.
Interessant ist die Entwicklung bei Frauen mit Migrationshintergrund, die einen Anteil von 19 Prozent an der Gesamtbevölkerung haben: 2005 haben diese Frauen 35 Prozent aller Babys geboren.
230
Neben den abnehmenden Geburtenzahlen und
den zunehmenden Sterbeziffern gibt es die Auswanderung als weiteren Faktor in dieser Entwicklung. Jährlich wandern 150 000 Menschen aus
der Bundesrepublik aus. Auch wenn sich Fernsehsendungen in der vergangenen Zeit zunehmend
mit diesem Thema befassen und die Schwierigkeiten, die mit Auswanderung verbunden sind,
deutlich darstellen.
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Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges auf Jugendhilfeleistungen
Um ein Absinken der Bevölkerungszahl von 69
Millionen auf 50 Millionen bis zum Jahr 2050 zu
verhindern, müssten jetzt schon jährlich 100 000
Menschen einwandern und gleichzeitig 140 000
Menschen am Auswandern gehindert werden.
Auch andere Länder – vor allem Industrienationen
– sind mit einigen Ausnahmen wie Afrika, China
und den USA von dieser Entwicklung betroffen.
2050 werden in den europäischen Industrienationen 40 Millionen Menschen weniger leben als
2008.
Bedeutung für die Jugendhilfe
Jugendhilfe spiegelt von je her gesellschaftliche
Entwicklungen wider. Die Frage ist, wie sich die
oben beschriebene Entwicklung auf die Notwendigkeit der Dienste und Einrichtungen auswirkt.
Können Jugendhilfeleistungen abgebaut werden,
weil weniger Kinder geboren werden? Eine Vorhersage bis zum Jahre 2050 wie bei der Bevölkerungsentwicklung ist nicht möglich. Ulrich Bürger
verweist darauf, dass die Auswirkungen der demografischen Entwicklung bezogen auf die Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen nur bis zum
Jahr 2020 vorausgeschätzt werden können (»Forum Erziehungshilfen«, Nr.5/2007, S. 262). Die Inanspruchnahme von Jugendhilfeleistungen ist von
anderen Faktoren als der Bevölkerungsentwicklung abhängig. Diese sind:
• Wandel soziostruktureller Bedingungen und familialer Strukturen
• Arbeitsbedingungen, Arbeitsweisen und Ressourcen der Jugendämter und die Wirksamkeit
ihrer Steuerungsmodelle
• Politische Vorgaben für die Jugendhilfe einschließlich der Veränderungen der Rechtsgrundlagen
• Entwicklung der Regionen zur familien- und
kinderfreundlichen Kommune
• Entwicklung von Armut und Bildungschancen.
Die Momentaufnahme der Inanspruchnahme von
Jugendhilfeleistungen zeigt einen Anstieg der
Fallzahlen. Der Anstieg wirkt sich insbesondere
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J 4/2008
bei teilstationären und ambulanten Erziehungshilfen aus. Für die stationären Hilfen bleiben die
Fallzahlen konstant. Allerdings ist in der Praxis
festzustellen, dass das Aufnahmealter von Kindern in Heimen deutlich niedriger wird. Kollegen
berichten von Aufnahmeanfragen von unter
sechsjährigen Kindern. Offensichtlich eine Reaktion auf die skandalöse Situation unversorgter
und misshandelter Kinder.
Die Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik
begann in einigen Regionen unseres Landes
schon vor 30 Jahren. Eine ganze Generation ist
von dieser sozialen Katastrophe betroffen. Die
Folge ist eine zunehmende Armut und insbesondere Kinderarmut in unserem Land. 2007 galten
laut Kinderreport des Kinderhilfswerkes 14 Prozent aller jungen Menschen als arm. Seit Einführung von Hartz IV hat sich die Anzahl der Kinder
für die Sozialhilfe gezahlt wird fast verdoppelt.
Derzeit leben 2,5 Millionen Kinder von Sozialhilfe. 1965 war jedes 75. Kind und 2007 schon jedes
siebte Kind auf Sozialhilfe angewiesen. Besonders
Kinder von Migrantenfamilien sind betroffen. Eine
Folge dieser Armut ist ein eklatanter Bildungsmangel.
Jedes dritte von Armut betroffene Kind war 2004
bei der Einschulung förder- beziehungsweise therapiebedürftig. Jedes vierte Kind hat die Hauptschule ohne Beherrschung des Mindestmaßes an
Kulturtechniken verlassen. Jährlich 80.000 Jugendliche werden ohne Hauptschulabschluss aus
der Schule entlassen. Diese jungen Menschen sind
aufgrund ihrer Benachteiligungen künftig und
wohl sehr lange auf staatliche Hilfe angewiesen.
Für sie wird es keine Arbeitsstelle geben.
Die Ausführungen verdeutlichen, dass die demografische Entwicklung in unserem Land ein Reduzieren sozialer Leistungen so lange nicht zur Folge haben kann, wie sich die sozioökonomischen
Bedingungen nicht zum Positiven ändern.
Im kommunalen Bereich gibt es eine interessante Entwicklung, über die sich die Dienste und
231
Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges auf Jugendhilfeleistungen
Einrichtungen informieren müssen. Jugendhilfe
arbeitet zunehmend regionalspezifisch. In Zusammenarbeit mit der Bertelsmann-Stiftung arbeiten Kommunen an der Entwicklung der Kinder-, Jugend- und Familienpolitik. Der demographische Wandel wird als Herausforderung und
Chance gesehen. Mir ist bekannt, dass die Stadt
Bielefeld und der Landkreis Leer über Demographiebeauftragte verfügen, die als Bindeglied
zwischen ihrer Kommune und der BertelsmannStiftung fungieren und darüber hinaus für die
Kooperation verschiedener Bereiche in ihrer
Kommune sorgen, die mit dem demographischen
Wandel zu tun haben.
Eine weitere Folge der Bevölkerungsentwicklung
ist der Fachkräftemangel auch im pädagogischen
Bereich. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat berechnet, dass bei 500.000
einzurichtenden Krippenplätzen rund 100.000 Erzieherinnen und Erzieher eingestellt werden müssen. Der Fachkräftemangel für Jugendhilfeeinrichtungen wird sehr kurzfristig ein ziemlich großes
Problem.
So entwickelt beispielsweise der Landkreis Leer
Handlungsansätze zur Gestaltung des Handlungsfeldes Kinder-, Jugend- und Familienpolitik.
Es geht dabei um Folgendes:
• Mitarbeiterfreundliches Klima. (Die Begriffe
»Personal«, »Personalbüro«, »Personalservice«
sollte es in der Diakonie nicht mehr geben. Dies
wäre ein erster wertschätzender Schritt.)
• Aufgeschlossenheit gegenüber Auszubildenden, Praktikantinnen und Praktikanten. Anbieten von bezahlten Volontariatsstellen.
• Überprüfen der Arbeitsbedingungen. Im Rahmen eigenverantwortlicher Arbeit haben viele
Mitarbeitende Aufgaben mit hoher Verantwortung übernommen, die sich in der Bezahlung
widerspiegeln müssen.
• Bündelung der Angebote im Jugendhilfebereich
• Transparenz der Angebotsstrukturen (beispielsweise eine Kinderbetreuungsbörse)
• Probleme des grenznahen Zuzuges (hier: Niederlande – Landkreis Leer)
• Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Flexible
Kinderbetreuung und deren Qualitätssteigerung)
• Förderung von sozial benachteiligten Familien
• Beobachtungen der kleinräumlichen Bevölkerungsentwicklung und Schlussfolgerung für
die Jugendhilfe
• Aufbau von Betriebskindertagesstätten
• Austausch der Kommunen innerhalb des Landkreises.
Verbunden ist damit sicher ein weiterer Ausbau
präventiver Arbeit. Hier müssen sich freie Träger
einbringen. Wobei präventive Arbeit nicht nur einer Erziehungshilfenotwendigkeit vorbeugt, sondern auch Hilfenotwendigkeiten aufdeckt.
Über zwei Internetadressen gibt es hierzu Informationen:
• www.bertelsmann-stiftung.de
• www.wegweiserdemographie.de
232
Das heißt, es wird ein Kampf um gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entbrennen. Die künftigen
Mitarbeitenden haben die Auswahl. Folgende Kriterien könnten die Auswahl bestimmen:
Die Einrichtungen und Dienste müssen sich stärker auf Mitarbeitende mit Migrationshintergrund
einstellen. Dies erfordert von Einrichtungen der
Diakonie und Kirche einen anderen, flexibleren
Umgang mit nicht christlich geprägten Mitarbeitenden. Ob bei dieser Entwicklung die »ACK-Klausel« noch eine Berechtigung hat, darf bezweifelt
werden.
Die demographische Entwicklung ist zu lange nur
als ein Problem der Zukunftssicherung im versicherungstechnischen Sinne gesehen und diskutiert worden. Erinnert sei an die Äußerung des damaligen Arbeitsministers Norbert Blüm: »Die
Rente ist sicher«. Die Bevölkerungsentwicklung
wirkt sich aber auf alle Lebensbereiche zum Teil
mit negativen aber auch positiven Folgen aus. Jugendhilfeeinrichtungen sind gut beraten, sich um
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Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges auf Jugendhilfeleistungen
die verschiedenen Facetten dieser Entwicklung
besonders im regionalen Bereich zu kümmern,
sich zu informieren und sich an der Diskussion
und der Entwicklung kinder- und familienfreundlicher Konzepte zu beteiligen.
‰
Literatur
»Der Spiegel«, Heft 18, 2008, Seite 30
Schneider, Stefan (Hrsg.): »Die demografische Herausforderung« Frankfurt/Main 2002
Bürger, Ulrich: »Demografischer Wandel und Hilfen zur Erziehung«, in Forum Erziehungshilfen Nr. 5/2007 Weinheim
Freigang, Werner u. Schone, Reinhold: »Ja, mach nur einen
Plan ...«, in Forum Erziehungshilfen« Nr. 5/2007 Weinheim
Koch, Josef u. Peters, Friedhelm: »Kinder- und Jugendhilfe in
den neuen Bundesländern vor dem Hintergrund der Demografie und Abwanderung« Ein Interview mit Kerstin Dellemann, in: Forum Erziehungshilfen Nr. 5/2007 Weinheim
Pavkovic, Gari: »Demografie und Migration: Anforderungen,
Erwartungen und Chancen für die Jugendhilfe«, in: Forum
Erziehungshilfen Nr. 5/2007 Weinheim
Fendrich, Sandra u. Pothmann, Jens: »Rückgang der öffentlichen Ersatzerziehung«, in: »Datenanalysen der Dortmunder
Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik«. Bereich: Hilfen zur Erziehung, o. Datum
ders.: »Ambulante Hilfen sind wichtiger werdende Ergänzungs- und Unterstützungsleistungen für Familien« veröffentl. s.o. o. Datum
Heinsohn, Gunnar: »Die demografische Kapitulation«, in: Cicero 6/2007
Riemann, Katja: »Warum wir zu viele Kinder haben«, in: Cicero 4/2006
Hondrich, Karl Otto: »Die Bevölkerung schrumpft? Wunderbar!«, in: Cicero 8/2005
Schornstheimer, Michael: »Kinderlosigkeit in DeutschlandWas die Forschung darüber weiß«
Sendemanuskript Deutschlandradio Kultur o. Datum
Große Starmann, Carsten u. Schmidt, Kerstin: »Demographischer Wandel-Herausforderung und Chance«
Demographiebericht Teil 1 – Darstellung der Datenbasis
Landkreis Leer und Bertelsmann-Stiftung 8/2007 Gütersloh
Wolf Onnasch
Dipl. Rel. Päd. (FH)
Dipl. Soz. arb.(FH)
Heisfelder Str. 135 A
26789 Leer
Impressionen aus dem EREV-Fachausschuss »Jugendhilfepolitik«
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233
Gesetze und Gerichte
Christian Müller, Hannover
Verschärfungen der Erwerbsobliegenheit trotz
Betreuung von Kindern im Rahmen des nach1
ehelichen Unterhalts
Urteil des OLG Hamm vom 6.3.2008
– NJW 2008, 2049 –
Sachverhalt und Entscheidungsgründe (stark gekürzt)
Die Klägerin ist die geschiedene Ehefrau des Beklagten und nimmt diesen nach Ehescheidung
und Wegfall des Bezuges von Arbeitslosengeld im
Wege der Abänderungsklage auf höheren Betreuungsunterhalt gemäß Paragraph 1570 GBG wegen der Betreuung des gemeinsamen, im Jahre
2002 geborenen Sohnes K in Anspruch. Sie ist gelernte Bäckereifachverkäuferin und bezieht für K,
der seit 2006 mindestens an vier Tagen in der Woche regelmäßig von 8.15 Uhr bis mindestens 12
Uhr (montags und dienstags bis 14.45 Uhr) einen
heilpädagogischen Kindergarten besucht, Pflegegeld der Pflegestufe 1 in Höhe von monatlich 205
Euro. Der Beklagte, der erneut geheiratet hat und
aus dessen Ehe ein Kind hervorgegangen ist, vertritt unter Umständen die Ansicht, seine geschiedene Ehefrau müsse einer halbschichtigen Tätigkeit nachgehen.
Das OLG hat der Klage für die Zeit bis zum
31.12.2007 weitestgehend stattgegeben und die
Klage für die Zeit ab 1.1.2008 mit der Begründung
abgewiesen, der Klägerin sei ab Januar 2008 ein
fiktives Einkommen von rund 300 Euro monatlich
zuzurechnen. Durch das Unterhaltsrechtsänderungsgesetz vom 9.11.2007 bestehe gemäß Paragraph 1570 BGB neue Fassung bei Betreuung von
Kindern über drei Jahren nur dann ein Unterhaltsanspruch, solange und soweit dies unter Berücksichtigung der Belange des Kindes, der bestehenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung sowie der
Gestaltung von Kinderbetreuung und Erwerbstä234
tigkeit in der Ehe und der Dauer der Ehe der Billigkeit entspreche. Eine umfassende Gesamtabwägung ergäbe im vorliegenden Fall, dass sich die
Klägerin um eine Beschäftigung im Geringverdienerbereich hätte bemühen müssen, zumal sich
K. mittlerweile in den Kindergarten eingelebt
habe und nur noch in Ausnahmefällen vorzeitig
wegen gesundheitlicher Probleme aus dem Kindergarten abgeholt werden müsse.
Stellungnahme
Die Entscheidung des OLG Hamm2 ist eine der ersten Entscheidungen zu Paragraph 1570 BGB in
der ab 1.1.2008 geltenden Fassung. Sie zeigt, dass
das bisherige »Altersphasenmodell« (Obliegenheit
zur halbschichtigen Erwerbstätigkeit in der Regel
erst ab dem achten beziehungsweise zehnten Lebensjahr des Kindes und Zumutbarkeit einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit in der Regel ab dem
15. beziehungsweise 16. Lebensjahr des Kindes)
keinen Bestand mehr haben kann und dass den
tatsächlich vorhandenen (zumutbaren) Betreuungsmöglichkeiten3 in Zukunft vermehrt Bedeutung zukommen wird. Ob sich das vom OLG Hamm
in seinen Leitlinien4 enthaltene »neue« Altersphasenmodell (teilschichtige Tätigkeit nach Ablauf
des Basiszeit von drei Jahren, halbschichtige Tätigkeit nach Ende des ersten Grundschuljahres; vollschichtige Tätigkeit nach Endes des ersten Schuljahres auf der weiterführenden Schule) durchsetzen wird, bleibt allerdings abzuarten, obwohl die
Hinweise in dem Urteil des BGH vom 17.7.2008
hierfür sprechen könnten.5 Zwar besteht der Vorteil eines solchen Altersphasenmodells darin, dass
der Ausgang von Unterhaltverfahren leichter kalkulierbar ist. Andererseits kann die Fixierung auf
ein neues Altersphasenmodell jedoch den Blick für
besondere Billigkeitsgründe trüben. So ist in diesem Zusammenhang zumindest erwähnenswert,
dass das OLG Hamm den durch Fachärzte bescheiE
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Gesetze und Gerichte
nigten Befunden, wonach K. an einer allgemeinen
Entwicklungsstörung verbunden mit Intelligenzminderung, Sprachentwicklungsverzögerungen
und leichten autistischen Zügen leide und deswegen einen erhöhten Förderungs- und Betreuungsbedarf habe, keine Bedeutung beigemessen hat.
Ob an eine Mutter, die, wie im vorliegenden Fall,
ein pflegebedürftiges Kind betreut, bei teilweiser
Fremdbetreuung die gleichen Anforderungen bezüglich der Zumutbarkeit einer teilschichtigen Erwerbstätigkeit gestellt werden können, wie an
eine Mutter, die kein Problemkind zu betreuen hat,
erscheint zumindest fraglich.
Grundsätzlich keine zwangsweise Durchsetzung der Umgangspflicht gegenüber dem umgangsunwilligen Elternteil
Urteil des BVG vom 1.4.2008
– NJW 2008, 845 ffSachverhalt und Entscheidungsgründe (stark gekürzt)
Der verheiratete Beschwerdeführer ist Vater von
zwei aus seiner Ehe hervor gegangenen Kindern
und eines im Jahre 1999 geborenen nichtehelichen Sohnes, für welchen er regelmäßig Unterhalt
zahlt. Im Rahmen eines von der Kindesmutter angestrengten Umgangsverfahrens hatte das OLG
Brandenburg einen zeitlich begrenzten Umgang
des Beschwerdeführers mit seinem Kind (alle drei
Monate zwei Stunden) angeordnet und für den
Fall der Weigerung, seiner Umgangsverpflichtung
nachzukommen, ein Zwangsgeld angedroht. Die
hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde des
Vaters hatte Erfolg.
Das Bundesverfassungsgericht sieht zwar in der in
Paragraph 1684 BGB seit 1998 normierten Umgangspflicht eine zulässige Konkretisierung der
den Eltern vom Grundgesetz zugewiesenen Elternverantwortung. Auch verfolge der Gesetzgeber mit der in Paragraph 33 Absatz 1 Satz 1 in
Verbindung mit 3 FGG für die Gerichte eröffneten
Möglichkeit zur Durchsetzung der Umgangspflicht ein Zwangsgeld anzudrohen, einen legitimen Zweck.
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Wenn ein Elternteil sich jedoch auch nach Verurteilung zum Umgang mit seinem Kind beharrlich
weigere, seiner Verpflichtung nachzukommen, sei
der erzwungene Umgang mit dem Kind dem Kindeswohl in der Regel nicht dienlich6, so dass der
mit der Zwangsgeldandrohung verbundene Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des sich weigernden Elternteils nicht gerechtfertigt sei. Die fragliche Bestimmung des FGG sei von daher verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass eine
zwangsweise Durchsetzung der Umgangspflicht
eines umgangsunwilligen Elternteils zu unterbleiben habe, sofern nicht konkrete Anhaltspunkte
dafür vorhanden seien, dass die zwangsweise
Durchsetzung dem Kindeswohl diene. Dies könne
beispielsweise dann der Fall sein, wenn insbesondere ältere Kinder7 nachdrücklich den Wunsch
äußern, Kontakt zu dem Elternteil aufzunehmen,
und sich dabei bewusst seien, dass die erzwungene Kontaktaufnahme auch mit dem Frustrationserlebnis verbunden sein könne, erfahren zu müssen, nicht erwünscht zu sein und sogar abgelehnt
zu werden.
Stellungnahme
Auch wenn die bis dato herrschende Rechtsprechung8 und die meisten im Rahmen des Verfahrens
vor dem Bundesverfassungsgericht um Stellungnahmen gebetenen Organisationen und Verbände
die Vollstreckbarkeit gerichtlich angeordneter Umgangsverpflichtungen gegenüber dem umgangsunwilligen Elternteil für verfassungskonform gehalten haben, hat sich das Bundesverfassungsgericht meines Erachtens zu Recht9 dafür ausgesprochen, dass eine zwangsweise Durchsetzung
grundsätzlich nicht dem Kindeswohl dient und von
daher in der Regel zu unterbleiben habe.10 Den
schon in EJ 2003, 121 f. enthaltenen Ausführungen ist nichts hinzuzufügen: »In den Fällen, in denen sich ein Elternteil trotz vorangegangener
Überzeugungsarbeit durch das Gericht und ggf.
das Jugendamt beharrlich weigert, Umgangstermine mit seinem Kind wahrzunehmen, sollte von
Zwangsmaßnahmen abgesehen werden, da fehlende elterliche Gesinnung und Fürsorge nicht per
Dekret ersetzt und erzwungen werden kann und
235
Gesetze und Gerichte
mit Zwangsmitteln durchgesetzte Umgangskontakte für das Kind voraussichtlich belastender sein
dürften als das Unterbleiben solcher Begegnungen
(so auch: OLG Nürnberg, a.a.O.).«
Kosten für ganztägigen Kindergartenbesuch
als Unterhaltsbedarf des Kindes
Urteil des BGH vom 5.3.2008 ( XII ZR 150/05)
- FamRZ 2008, 1152 ff, Sachverhalt und Entscheidungsgründe (stark gekürzt)
Der Beklagte ist Vater der im Jahre 2001 geborenen
nichtehelichen Klägerin und verheiratet. Aus seiner Ehe sind drei Kinder hervorgegangen. Der Beklagte verpflichtete sich in einer Jugendamtsurkunde zu monatlichen Unterhaltszahlungen von
100 Prozent des Regelbetrages der jeweiligen Alterstufe. Die Klägerin besucht ganztags einen Kindergarten. Die Kosten hierfür werden von der erwerbstätigen Mutter der Klägerin getragen. Die
Klägerin nimmt den Beklagten für die Zeit ab April
2004 auf Mehrbedarf in Höhe von monatlich 90
Euro (ohne Essensgeld) in Anspruch. Das Amtsgericht und das Oberlandesgericht haben die Klage
mit der Begründung abgewiesen, die Kosten für
den halbtägigen Besuch des Kindergartens seien
durch den vom Beklagten gezahlten Unterhalt gedeckt und die darüber hinaus anfallenden Kosten
für den Kindergartenbesuch seien allenfalls als berufsbedingte Aufwendungen des das Kind betreuenden Elternteils zu berücksichtigen. Demgegenüber hat der BGH als Revisionsinstanz entschieden,
dass die für den Besuch eines Kindergartens anfallenden Kosten zum Bedarf eines Kindes zu rechnen
sind und grundsätzlich keine berufsbedingten Aufwendungen des betreuenden Elternteils darstellen.
Die Kosten für einen halbtägigen Kindergartenbesuch seien grundsätzlich im laufenden Unterhalt
enthalten, sofern das Existenzminimum des Kindes
nicht unterschritten sei. Die Kosten die den Aufwand für einen halbtägigen Kindergartenbesuch
übersteigen, stellten hingegen einen Mehrbedarf
des Kindes dar, für den beide Elternteile anteilig
nach ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen aufkommen müssten.
236
Stellungnahme
Mit der Grundsatzentscheidung hat der BGH
eine alte Streitfrage entschieden, die nicht nur
wegen der beträchtlichen Zunahme von aushäusiger Ganztagsbetreuung der Kinder unter sechs
Jahren11 sondern auch im Hinblick auf das zum
1.1.2008 in Kraft getretene Unterhaltsrecht von
Bedeutung ist. Da der das Kind betreuende Elternteil seit 1.1.2008 im Unterhaltsrang den
minderjährigen Kindern und den ihnen gleichgestellten privilegierten Volljährigen nachgeht,
werden insbesondere für Frauen die durch die
Unterhaltsrechtsreform wegen der erhöhten Erwerbsobliegenheit und der Erleichterungen bezüglich der zeitlichen und höhenmäßigen Begrenzung des Betreuungsunterhalts zu verzeichnenden Verschlechterungen zumindest teilweise
kompensiert.12 Nicht nur vor diesem Hintergrund
ist die Entscheidung zu begrüßen, sondern auch
im Hinblick darauf, dass ihr ein adäquates Verständnis der Funktion eines Kindergartenbesuchs
zu Grunde liegt. Kindergärten sind keine Aufbewahrungsanstalten von Kindern zur Ermöglichung einer Erwerbstätigkeit ihrer Eltern, sondern ein Kindergartenbesuch erfolgt, worauf der
BGH zu Recht hinweist, in erster Linie zu erzieherischen Zwecken, weshalb die Kosten hierfür
auch zum Lebensbedarf eines Kinder zu rechnen
sind, der auch die Kosten der Erziehung umfasst.
Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen bei
Zusammenleben mit neuem Lebensgefährten
Urteil des BGH vom 9.1.2008
– XII ZR 170/205 – NJW 2008, 1373
Der Bundesgerichtshof hat in einer Grundsatzentscheidung, bei der es um Kindesunterhalt ging,
entschieden, dass der Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen, der mit einer neuen Lebensgefährtin
und deren beiden Kindern (unverheiratet) zusammenlebt, wegen Ersparung der durch die neue Lebensgemeinschaft zu verzeichnenden Haushaltskosten gekürzt wegen kann. Voraussetzung hierfür
ist allerdings, dass der neue Partner sich angesichts
seiner eigenen finanziellen Situation (im vorliegenden Fall verdiente die Lebensgefährtin monatE
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Gesetze und Gerichte
lich rund 1.200 – 1.400 Euro netto) an den Lebenshaltungskosten beteiligen kann. Die Herabsetzung
des Selbstbehalts, der sich derzeit für nicht erwerbstätige Unterhaltsschuldner auf 770 Euro beläuft, ist bis auf das Existenzminimum nach sozialhilferechtlichen Kriterien (= 347 Euro Regelsatz +
Anteil an den tatsächlichen Unterkunftskosten)
möglich, wodurch mitunter höhere Unterhaltszahlungen durchgesetzt werden können.
Die Entscheidung des BGH stützt sich unter anderem auf die neue Rangfolge des Paragraph 1609
BGB, wonach Unterhaltsansprüche minderjähriger
Kinder gegenüber allen anderen Unterhaltsansprüchen vorrangig sind. Mit der Entscheidung ist
ein alter Streit ausgeräumt13, sodass die Entscheidung für mehr Rechtssicherheit sorgt. Der Hinweis des BGH, wonach beim Unterhalt minderjähriger Kinder der Unterhaltspflichtige gemäß Paragraph 1603 Absatz 2 BGB gehalten ist, alle verfügbaren Mittel zu seinem und der minderjährigen Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden,
dürfte allerdings dafür sprechen, dass eine Herabsetzung des Selbstbehalts wegen der durch die
gemeinsame Haushaltsführung mit dem Lebenspartner zu verzeichnenden Kostenersparnis beim
Ehegattenunterhalt und beim Elternunterhalt
nicht in Betracht kommt.
‰
Prof. Dr. Christian Müller
Fachhochschule Hannover
Fakultät V – Diakonie, Gesundheit und Soziales
Blumhardtstr. 2, 30625 Hannover
[email protected]
1
Inzwischen hat der Bundesgerichtshof am 16.7.2008 eine
Grundsatzentscheidung zum neuen Unterhaltsrecht gefällt
(XII ZR 109/05). Die Urteilsgründe lagen bei Redaktionsschluss jedoch noch nicht vor. Nach einer Mitteilung der
Pressestelle des Bundesgerichtshofs vom 17.7.2008 hat der
BGH jedoch in seiner Entscheidung u. a. zum Ausdruck gebracht, dass selbst dann, wenn ein Kind im Kindergarten
ganztags betreut wird, dies nicht notwendig zu einer vollschichtigen Erwerbspflicht des betreuenden Elternteils führe
und dass das Berufungsgericht werde prüfen müssen, ob ungeachtet des gesetzlichen Regelfalls eines dreijährigen Betreuungsunterhalts Fallgruppen gebildet werden könnten,
die einer gewissen Pauschalierung zugänglich sind.
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2
Die Entscheidung setzt sich u. a. mit zahlreichen weiteren
durch das Unterhaltsrechtsänderungsgesetz aufgetretenen
Problemen, auf die hier nicht näher eingegangen werden
kann, sorgfältig auseinander (beispielsweise Vorwegabzug
des Zahlbetrages beim Ehegattenunterhalt; Berechnungsmodalitäten bei Konkurrenz zwischen der Kinder betreuenden geschiedenen und neuen Ehefrau).
3
Und auch den Kosten institutioneller Kinderbetreuung (siehe hierzu die unten besprochene Entscheidung des BGH vom
5.3.2008).
4
Und offensichtlich auch bei der vorliegenden Entscheidung
zu Grunde gelegte »neue« Altersphasenmodell.
5 Siehe
hierzu Fußn. 1.
6
Das Bundesverfassungsgericht stellt somit – anders als das
OLG Brandenburg – nicht maßgeblich darauf ab, ob ein erzwungenen Umgangskontakt dem Kindeswohl schadet und
führt in diesem Zusammenhang aus, dass hierfür ausreichende sozialwissenschaftliche Erkenntnisse nicht vorliegen.
7
In diesem Zusammenhang erscheint es interessant, dass
auch während des Gesetzgebungsverfahrens zum Kindschaftsrechtsreformgesetz vom 16.12.1997 (BGBl. I, 2942)
der Bundesrat vorgeschlagen hatte, dass einem Kind erst ab
Vollendung des 14. Lebensjahres ein Umgangsrecht eingeräumt werden solle, das dieses nur höchstpersönlich solle
geltend machen können ( BT-Drucks. 13/4899, S. 153,161 f.)
8
Siehe hierzu: BVerfG, NJW 2008, 845 (846).
9
So wohl auch die Einschätzung von Luthin (NJW 2008,
853) in seiner Anmerkung zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die tragende Begründung des Gerichts »praktikabel« sei.
10
Ob das Bundesverfassungsgericht durch die vorliegende
Entscheidung allerdings ein »Kindergrundrecht« geschaffen
hat, wie Adelmann in JAmt 2008, 289 ff. ausführt, sei dahingestellt.
11
Nach Mitteilung des Statistischen Bundesamtes haben im
Jahr 2007 bundesweit Eltern von rund 681.000 Kindern unter sechs Jahre ganztägige Betreuungsangebote wahrgenommen, was allein gegenüber dem Vorjahr einen Zuwachs
von rund acht Prozent bedeutet.
12 So wohl auch Born (Anmerkung zum Urteil des BGH in
FamRZ 2008, 1155, 1156), wonach die Fälle ohne Unterhaltsanspruch des betreuenden Elternteils zunehmen werden und der vom Gesetzgeber geforderte angemessene Berücksichtigung der Kinderbetreuungskosten ( BT-Drucks.
16/1830, S. 17 ) durch die Zurechnung der Kindergartenkosten zum Bedarf des Kindes Rechnung getragen wird.
13 Für die Berücksichtigung des Zusammenlebens mit einem
neuen Partner beim Selbstbehalt siehe unter anderem OLG
Hamm, FamRZ 2005, 53, OLG München, FamRZ 2004, 485;
dagegen u. a.: OLG Oldenburg, FamRZ 2004, 1669.
237
Die Glosse
Schwein muss man haben.
Harald Tornow, Wülfrath
In der Sozialen Arbeit gibt es ein bemerkenswert
ambivalentes Verhältnis zum Schwein. Für mich in
meinen ganz jungen Jahren, als ich auf dem Dorf
mit Pumpe, Plumpsklo und ungeheizten Schlafräumen aufwuchs, war es eindeutig etwas Tolles,
wenn morgens der Hirte durch die Dorfstraße
ging, sein Kuhhorn blies, wenn sich dann die
Stalltore öffneten und wenn er dann die Säue
durchs Dorf trieb. Das stand für Wohlstand, verlässlichen Tagesablauf und – wie ich das später
einordnen konnte – auch für einen Arbeitsplatz
und biologische, naturnahe Tierhaltung.
Also was ist denn so schlimm daran, wenn ab
und zu ein Schwein die Dorfstraße entlang trottet? Ich höre diese Redensart immer einmal wieder, wenn einige Kollegen etwas Neues ausprobieren und diejenigen, die am Straßenrand der
Sozialen Arbeit stehen, höhnisch bis genervt rufen: »Das ist auch nur wieder so eine Sau, die
durchs Dorf getrieben wird!« Was heißt da »nur
eine Sau«? Das Schwein gilt als klug, ist ein Allesfresser wie der Mensch und hat fast die gleichen inneren Organe. In Marzipan wird es als
Glückbringer verschenkt. Und es bereichert unsere bildhafte Sprache mit Wendungen wie
»Schwein gehabt«, »das stört doch kein
Schwein«, natürlich auch weniger positiv
»schweineteuer« und »kein Schwein ruft mich
an, keine Sau interessiert sich für mich«.
Ich glaube auch gar nicht, dass es die Leute wirklich stört, dass eine Sau durchs Dorf getrieben
wird, sondern dass man später nichts mehr von
ihr sieht. Wir hatten damals im Dorf wenigstens
die Sicherheit, dass jeden Abend die Herde aus
dem Eichenwald wieder zurückkam. Im Winter
war dann auf den Höfen Schlachtfest, mit kleinen
Leberwürsten als Geschenk für uns Kinder. Was
hat man eigentlichen von den Säuen, die heute
238
durch die Landschaft der Organisationen und der
Sozialen Arbeit getrieben werden? Die werden
fett und sind dann weg. Nein, wir wissen noch
nicht einmal, ob das Schwein fett wird. Wir sehen
nur, dass der Schweinehirte fett geworden ist.
Also ihr Stadtmenschen! Sorgt dafür, dass die Sau
die Straße nicht nur ´rauf-, sondern auch ´runter
läuft. Mehrmals. Bis zum Festessen.
Aber dass der moderne Mensch eigentlich nichts
mehr von Schweinen versteht, sieht man auch an
der klug-kritisch gemeinten Feststellung »vom
Wiegen wird das Schwein nicht fett«. Das richtet
sich vor allem gegen jene in der Zunft, die behaupten, man könne den Erfolg einer Hilfe messen.
In meinem Dorf hatte jedenfalls jeder Bauer eine
Waage, so mit Gewichten zum Dranhängen. An
denen habe ich schon vor der Einschulung die Hebelgesetze gelernt. Ich glaube auch, dass heute
noch jeder moderne Schweinezuchtbetrieb eine
Waage hat und regelmäßig das Gewicht der
Schweine kontrolliert. Ob sie nicht vielleicht abnehmen, weil sie krank sind. Oder ob sich das teure Kraftfutter tatsächlich lohnt. Und von diesem
Wiegen werden die Schweine auch fett. Also, wer
sein Schwein liebt, wiegt es manchmal. Und wer
seinen Nutzen von der Schweinezucht haben will,
wiegt es auch deswegen regelmäßig. Das gehört
zur Professionalität der Bauern.
‰
Dr. Harald Tornow
e/l/s-Institut für Qualitätsentwicklung
Diakonissenweg 44
42489 Wülfrath
[email protected]
E
J 4/2008
EREV: Dialog-Politik
Gespräch mit Antje Tillmann (MdB), CDU-Finanzexpertin
Björn Hagen, Hannover
In der Fortsetzung der Gesprächsreihe des Fachausschusses Jugendhilfepolitik des Evangelischen
Erziehungsverbandes (EREV) führten die Mitglieder einen Austausch mit Antje Tillmann, Mitglied
im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages.
Der Arbeitsbereich des Finanzausschusses deckt
sich im Wesentlichen mit den Zuständigkeiten des
Bundesministeriums der Finanzen (mit Ausnahme
der Haushaltspolitik). Aufgabe des Ausschusses ist
es, Gesetzesentwürfe, Anträge, Berichte, Entschließungen sowie Vorlagen der Europäischen
Union insbesondere aus dem Bereich der Steuerpolitik federführend zu beraten. Die Abgeordneten
diskutieren im Ausschuss zudem Vorlagen aus den
Bereichen Geld, Kredit-, Finanz- und Kapitalmarkt
sowie Versicherungen.
Im Rahmen der Erörterung der zunehmenden Finanzeinnahmen des Bundes ist oftmals die Annahme verbunden, dass ausreichende Finanzmittel zur Verfügung stehen. Antje Tillmann stellte im
EREV-Fachausschuss klar, dass für 2009 eine
Neuverschuldung des Bundes von neun Milliarden
Euro geplant ist. Angesichts dieser Situation kann
nicht davon gesprochen werden, dass die Finanzsituation sich entspannt hätte. Nach ihrer Einschätzung können bei einer Fortführung der
Haushaltspolitik die Bedingungen des Sozialstaates 2030 nicht mehr aufrechterhalten werden
können. Die aktuellen Rahmenbedingungen führten dazu, dass die Länder anerkanntermaßen im
Verhältnis zu ihren Aufgaben aktuell über mehr
Finanzmittel verfügen als der Bund. Es besteht ein
Widerspruch zwischen den Forderungen der Länder, finanzielle Mittel zu erhalten und den gleichzeitigen Wunsch, die Aufgaben vom Bund immer
weiter in die Regionen zu verlagern. Dies ist laut
Frau Tillmann ein entscheidender Problempunkt
im föderalen System und führt zu einer Verschuldungsspirale.
E
J 4/2008
Antje Tillmann (MdB), CDU-Finanzexpertin
Im Rahmen der Föderalismusreform muss auch
im Kontext der Novellierung von Gesetzen wie
beispielsweise des Kinderschutzes (Paragraph 8a
SGB VIII) nach Einschätzung der Bundestagsabgeordneten darauf geachtet werden, dass die
Kommunen ihren Aufgaben nachkommen. »So
lange die Kämmerer mit den Einsparungen oftmals die inhaltliche Ausgestaltung der Gesetze
bestimmen, helfen auch keine Gesetzesänderungen«. Im Rahmen der Berichterstattung zur Jugendhilfe spielt oftmals das »Bildzeitungsniveau«
eine entscheidende Rolle, beispielsweise unter
dem Stichwort »Jugendliche gehen segeln«. Eine
differenzierte Sichtweise ist für fachfremde Bürger, Politikerinnen und Politiker laut Einschät239
EREV: Dialog-Politik, Gespräch mit Antje Tillmann (MdB), CDU-Finanzexpertin
zung von Antje Tillmann schwierig. Ihrer Meinung nach ist es Aufgabe der Fachverbände für
Transparenz und Klarheit über die Leistungen
und den Wert der Kinder- und Jugendhilfe zu
sorgen.
Ein weiterer Themenschwerpunkt war der Bereich
»Kinderrechte«. Antje Tillmann sieht hier die Gefahr, dass »die Familien entmündigt« werden. Es
gibt ihrer Meinung nach keine Entschuldigung
dafür, warum ein Kind armer Eltern morgens ohne
Brot zur Schule geht. Hier muss die Verantwortlichkeit bei den Familien gesehen werden und der
Bund kann nicht die Ersatzaufgaben übernehmen.
Grundsätzlich sind wir aktuell in der Situation,
dass die Sozialleistungen ein Niveau erreicht haben, das einfache Arbeitsverhältnisse, beispielsweise von Verkäuferinnen, übersteigt. Die Diskussion im Fachausschuss Jugendhilfepolitik des
EREV hat gezeigt, dass Antje Tillmann sich grundsätzlich gegen die pauschalisierten Äußerungen
und Forderungen von mehr Ganztagsangeboten
und dem »Wegorganisieren der Kinder« ausspricht.
Im Rahmen der zukünftigen Besteuerung von
Tagesmüttern führt die Abgeordnete aus, dass
dieses eine Frage der Gerechtigkeit zu anderen
pädagogischen Arbeitsfeldern darstellt. Wenn
beispielsweise Erzieherinnen in Kindertagesstätten entsprechend einer Besteuerung unterliegen,
muss dieses auch für den zunehmenden Ausbau
des Feldes von Tagesmüttern geschehen.
Die EREV-Forderung nach dem weiteren Verfolgen der Zielsetzung von gleichwertigen Lebensverhältnissen unterstützt Antje Tillmann. Gleiche
Rahmenbedingungen für Kinder, Jugendliche und
Familien wird es aufgrund der divergierenden
föderalen Rahmenbedingungen jedoch nicht ge‰
ben.
Dr. Björn Hagen
Geschäftsführer, EREV
Flüggestr. 21
30161 Hannover
[email protected]
Impressionen aus dem EREV-Fachausschuss »Jugendhilfepolitik«
240
E
J 4/2008
Rückschau: EREV-Praxisforschungsworkshop »Erziehungshilfen«
am 3. Juli 2008 in Hannover
- Vom Wiegen allein wird die Sau nicht fett Björn Hagen, Hannover
Veränderte Lebensbedingungen junger Menschen
und Familien erfordern passende Hilfekonzepte
und eine Reflektion der Sozialarbeit. Dafür ist eine
Jugendhilfe, die sich analog zu den gesellschaftlichen Veränderungen in einem stetigen Lernprozess befindet, unabdingbar. Ziel des Workshops
war es, den Forschungsblick der Einrichtungen zu
öffnen und das vorhandene implizite Wissen zu
Tage zu bringen. Der Impuls, die Fachhochschulen
und Praxisvertreter einzuladen, ging vom Fach ausschuss »Personal- und Organisationsentwicklung« des Evangelischen Erziehungsverbandes aus.
Vertreten waren die Evangelischen Hochschulen
aus Hannover, Freiburg und Nürnberg. Weitere Impulse gingen vom Institut e/l/s, Wülfrath und der
Diakonischen Jugendhilferegion Heilbronn aus.
Die Moderation des Workshops hatte Harald Meiß
als Vorsitzender des Fachausschusses übernom men.
Die Ausgangssituation der Arbeit in den Erziehungshilfen ist durch Veränderungen in den Leistungsgebieten, der Entsäulung der Hilfen und der
Veränderungen der Schullandschaft gekennzeichnet. Klaus Fröhlich-Gildhoff, Evangelische Fachhochschule Freiburg, ging darauf ein, dass die
Praxis sich weitgehend aus sich selber generiert
oder auf Moden zurückgreift. Seiner Ansicht nach
fehlen Kenntnisse über die Effekte des eigenen
Handelns. Der Gegenstand der Forschung ist
hochkomplex und es ist schwer, ihm gerecht zu
werden. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass
Evaluationsstudien mit Kontroll-/Vergleichsgruppen, wie beispielsweise der pharmakologischen
Forschung, schwer zu realisieren sind. Wichtig ist
bei der Forschung, die Güte-Kriterien der Transparenz über die Theorie und das eigene Vorgehen
einzuhalten sowie die Dokumentation zu beachten. Es kommt darauf an, dass Design und MethoE
J 4/2008
den des Gegenstandes angemessen zu wählen
und hierbei sowohl die Ergebnisse als auch die
Prozessevaluation zu beurteilen. Als Leitkriterien
bezeichnet Fröhlich-Gildhoff die Merkmale Repräsentanz und Repräsentativität im Rahmen der
Evaluationsstudien. Die Ergebnisse müssen nachvollziehbar sein und die Multiperspektivität berücksichtigen. Es sind also beispielsweise sowohl
Kinder, Jugendliche als auch Familien sowie die
öffentlichen und freien Träger mit einzubeziehen.
Hierbei gilt es immer, die eigenen Grenzen zu benennen und zu erkennen.
Am Beispiel der Erneuerung von Praxiskonzepten
im Kontext der Jugendpflege stellte Achim Romppel von der Fachhochschule Hannover das Zusammenwirken von Verwaltung, Politik und Vereinen
gemeinsam mit Kindern, Jugendlichen und der
Polizei dar. Er bezeichnet das Forschungsteam als
Schnittmenge zwischen diesen unterschiedlichen
Konstellationen. Es kommt darauf an, sich nicht
im Geflecht der Beziehungsebenen zu verlieren,
sondern die Objektivität zu wahren. Insbesondere durch Videodokumentationen und aufgezeichnete Interviews können die Beteiligten auf die
wesentlichen Kerninhalte der Forschungsvorhaben hingewiesen werden. Hierbei gilt es, die Interessen zu berücksichtigen und Fragen zu beantworten wie beispielsweise:
• Welche Interessen/Erwartungen gibt es?
• Wie kann Verständigung und Aushandlung gefördert werden?
• Wie sieht das Forschungsdesign aus und wie
wird der Erkenntnis- und Umsetzungsprozess
gestaltet?
Joachim König von der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg stellte am Beispiel der Selbstevaluationsprojekte dar, dass »vom Wiegen allein die
241
Rückschau: EREV-Praxisforschungsworkshop »Erziehungshilfen«
Sau nicht fett wird«. Selbstevaluation meint in
diesem Zusammenhang die Beschreibung/Bewertung von Ausschnitten des eigenen alltäglichen beruflichen Handelns und/oder seine Auswirkungen. Selbstevaluation muss zu Veränderungen führen. Es kommt darauf an, konzeptionelles
Denken und Handeln mit empirischem Denken
und Handeln zu verknüpfen. Hierzu gehören die
Fragen, Warum tue ich etwas? Mit wem, wie und
was ist wesentlich bei meinem Handeln?
Harald Tornow, e/l/s-Institut Wülfrath, ging auf
die Wissenschaftlichkeit von Wirkungsevaluation
ein. Insbesondere wurde die Frage erörtert, ob tatsächlich ein Effekt zu beobachten ist oder die Veränderungen auf einem Zufall beruhen. In einer Simulation wurde auf die Frage eingegangen, wie
groß eine Stichprobe von Beobachtungen sein
muss, damit die Chance einer wahren Aussage
oder einer richtigen Entscheidung verbessert
wird. Zu kleine Stichproben können ebenso zu einer hohen Unsicherheit der Aussagen und Entscheidungen führen, wie zu große Stichproben
darauf hinweisen können, dass sehr kleine und
unbedeutende Effekte überbewertet werden. Es
kommt von daher darauf an, nicht nur auf Signifikanz zu testen, sondern auch auf die Effektstärke zu achten. Es gilt, die Fragen zu stellen: Messen wir die richtigen Dinge, wenn Aussagen über
die Effektivität von Hilfen zur Erziehung gestellt
werden? Ist der Test gegen null richtig oder wäre
bereits das Ergebnis »keine Veränderungen« positiv, weil im Fall »keine Heimerziehung« eine Verschlechterung eingetreten wäre?
Im Rahmen der Darstellung von Forschungsschwerpunkten ging Fröhlich-Gildhoff auf die
Untersuchung im Bereich der ambulanten Erziehungshilfen ein. Wesentlich hat sich hier herauskristallisiert, dass es auf eine Passung zwischen der Familienhelferin und der Familie ankommt, beziehungsweise auf die Zusammenarbeit zwischen Familienhelferin, ASD-Mitarbeiterin und Familie. Die Motivation der Familien ist
teilweise zu Beginn der Hilfen gering und muss
im Prozess erst hergestellt werden. Zur Qualifi242
zierung der SPFH muss ein besonderes Augenmerk auf die Planungs- und Einstiegsphase gerichtet werden. Bei der Bedeutung der Ziele
kommt es darauf an, dass das Abstraktionsniveau
im Hilfeplan nicht zu hoch ist, da die Familien
ansonsten nicht erreicht werden. Die vereinbarten Ziele werden häufig durch den Alltag überlagert und treten kurz vor beziehungsweise nach
dem Hilfeplangespräch stärker in den Hintergrund. Die inhaltliche Orientierung in der Arbeit
erfolgt eher pragmatisch situationsorientiert.
Eine systematische Planungs- und Prozesssteuerung auf der Grundlage operationalisierter Ziele
mit entsprechender Auftragsklärung ist eher die
Ausnahme. Der Zugang zu den Kindern erfolgt im
Rahmen der SPFH meistens über Freizeitaktivitäten und zu den Erwachsenen über konkrete Alltagssituationen. Für den Einstieg ist es positiv,
wenn eine Krise gut bewältigt werden kann. Zur
Qualitätssicherung von SPFH ist ein kontinuierlicher Reflektionsrahmen unerlässlich.
Eva-Maria Engel, Freiburg, führte die Ergebnisse
zum SPFH-Forschungsprojekt weiter aus. Im Rahmen von strukturierten Leitfadeninterviews wurden Familien, Familienhelferinnen und ASD-Mitarbeiterinnen befragt. Insgesamt konnten 71
komplette Hilfeverläufe aus vier Perspektiven ausgewertet werden. Im Mittelpunkt standen hierbei
die Ziele der SPFH, die Veränderungen und Erfolgskriterien. Bei den Kategorien des Leitfadens
spielten beispielsweise folgende Bereiche eine
Rolle: Trennung/Scheidung, Familienbeziehung,
Erziehung, Ämter/Einrichtungen, Gesundheit, Finanzen und alltagspraktische Hilfe. Für alle Beteiligten wurde derselbe Leitfaden eingesetzt, um
die unterschiedlichen Bereiche zu erfassen. Als
Zielbereiche der SPFH zu Beginn wurden unter
anderem am häufigsten genannt: angemessen auf
das Kind eingehen, Konfliktlösefähigkeit der Eltern, Regeln aufstellen und Grenzen setzen.
Der Unterstützungsbedarf im Kontext der Erziehung wird beispielsweise vom ASD am höchsten
eingeschätzt, gefolgt von der Familienhelferin
und von der Familie deutlich geringer.
E
J 4/2008
Rückschau: EREV-Praxisforschungsworkshop »Erziehungshilfen«
Es erfolgt während der Hilfe kaum ein Austausch
über diese unterschiedliche »Problembewertung«.
Die Evaluation der Arbeit in Erziehungsstellen
stand bei der Darstellung von Siegfried Gruhler,
Diakonische Jugendhilfe Region Heilbronn, im
Mittelpunkt. Am Beispiel der Einrichtung wird
die Veränderung in der Erziehungshilfelandschaft deutlich. Das Betreuungsangebot bestand
bis 1981 zu hundert Prozent aus stationären
Wohngruppen. Bis zum Mai 2008 wird dieses
wesentlich weiter differenziert und reicht von
einer Schule für Erziehungshilfe über die Erziehungsstellen stationärer Krisenintervention zu
sozialen Trainingskursen und Erziehungsbeistandschaften. Evaluation wird in der diakonischen Jugendhilfe als Instrument verstanden, um
den Arbeitsprozess zu qualifizieren. Die Erziehungsstellen sollten in einem reflexiven Prozess
hinsichtlich ihrer Methoden, Ziele und Wirkungen untersucht werden. Themen waren hierbei:
Autonomes Handeln, räumliche Vereinzelung,
Entscheidungskompetenzen, Identifikation/Verhältnis von professioneller und privater Rolle.
Ein Ergebnis ist unter anderem hinsichtlich der
Bedeutung des autonomen Handelns, dass als
Folge der hohen positiven Bewertung Unterstützungsleistungen budgetiert wurden und Verwaltungsvorgaben hinsichtlich der Ermöglichung
von autonomem Handeln vereinfacht worden
sind. Die räumliche Vereinzelung führt zu einem
unzureichenden kollegialen Austausch, sodass
kollegiale Partnerschaften aufgebaut wurden,
um die Vernetzung zu ermöglichen. Der regelmäßige Austausch mit externen Kollegen und
die persönlichen Personalentwicklungspläne sollen zu einer Identifikation, respektive Reflektion
des Verhältnisses zwischen professionellen und
privaten Kontext führen.
eine gemeinsame Plattform aufzubauen. Hierbei
können kleinere Projekte gebündelt werden, um
die Forschungsmittel effizient einzusetzen. Es
besteht ein hohes Interesse an einer Konzeptbegleitung und Projektentwicklung. Die Forschung
sollte sich hierbei an der Alltagspraxis orientieren. Wesentlich ist es, dass die Evaluation die
Praxis qualifizieren kann aber nicht ausschließlich zur Legitimierung der Arbeit herangezogen
werden darf.
‰
Dr. Björn Hagen
Geschäftsführer, EREV
Flüggestr. 21
30161 Hannover
[email protected]
In der Auswertung des Praxis-Forschungsworkshops wurde deutlich, dass es darauf ankommt,
die Bereiche weiter miteinander zu vernetzen. Es
kommt darauf an, Einrichtungen der Erziehungshilfen miteinander in Kontakt zu bringen, die
Forschungsbedarf in der Praxis sehen, und so
E
J 4/2008
243
Dialogveranstaltung »Euer Leben hat Gewicht«:
Bundesgesundheitsministerium lud zum Thema »Essstörungen« ein
Annette Bremeyer, Hannover
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD)
hat im Juni Berliner Schülerinnen und Schüler zu
einer Dialogveranstaltung über das Thema »Essstörungen« eingeladen. Anschließend stand sie Jugendlichen und den Medien zu einem Interview
zur Verfügung.
180 Jungen und Mädchen folgten der Einladung
der Ministerin. Unter dem Motto »Euer Leben hat
Gewicht« diskutierten sie in zwei Gesprächsrunden zusammen mit Ulla Schmidt und prominenten Gästen wie Jeannette Biedermann und der
britischen Boy Group »Lexington Bridge« sowie
Fachleuten über die Themen »Essstörungen«,
»Schönheitsideale« und »positives Selbstwertgefühl«. Dabei setzte sich die Bundesgesundheitsministerin gegen den Schlankheitswahn und für eine
bewusste und gesunde Ernährung ein.
»Evangelische Jugendhilfe«: Was hat Sie zu dieser Veranstaltung bewogen?
Ulla Schmidt: »Essstörungen sind keine Bagatelle,
sondern ein unterschätztes gesellschaftliches Problem. Daher ist Aufklärungsarbeit sehr wichtig.«
1,4 Millionen und damit mehr als ein Fünftel der
Kinder und Jugendlichen zwischen elf und 17
Jahren leiden in Deutschland unter Essstörungen
oder zeigen erste Symptome von Magersucht,
Ess-Brech-Sucht oder Fettsucht. Laut einer Studie
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wollen 56 Prozent der 13- bis 14-Jährigen
dünner sein, knapp ein Drittel würde gern besser
aussehen und knüpft diese Bedingung an das Gewicht.
Ulla Schmidt: »Wir wollen mit denjenigen diskutieren, die vom Alter her am ehesten gefährdet
sein können. Die Initiative dient dazu, darauf auf244
merksam zu machen und im Dialog mit der Öffentlichkeit sowohl das Umfeld als auch die Betroffenen zu sensibilisieren.«
Auf einer Podiumsdiskussion, an der neben Jeanette Biedermann und der Sängerin Jessica Wahls
(No Angels) der Psychologe Hannes Niggenaber,
Ratgeber bei der Jugendzeitschrift »Popcorn«, sowie Dr. med. Lisa Pecho, ärztliche Leiterin des Vereins ANAD, einer therapeutischen Einrichtung für
Menschen mit Essstörungen, teilnahmen, betonte Pecho: »Es ist längst überfällig, dass sich auch
die Politik engagiert, um langfristig das herrschende Schönheitsideal zu verändern. Die Gleichung: Wer dünn ist, ist schön, fit und erfolgreich,
muss endlich ihre Gültigkeit verlieren.«
Hannes Niggenaber ergänzte: »Das Problem hat
sich verschärft, denn Mädchen scheitern heute
am eigenen Perfektionsdenken«. Schönheitswahn
dürfe allerdings nicht zum Schlankheitswahn führen.
Aus dem Publikum äußerten sich zahlreiche Jugendliche zu dem Thema und fragten beispielsweise, was sie tun können, wenn eine Freundin
stark abnimmt oder plädierten dafür, Modefotos
nicht zu retuschieren. Besonders die Äußerung eines Jungen »Da wird einer Person nachgeeifert,
die es gar nicht gibt, das will man doch nicht«,
erntete kräftigen Applaus unter den vielen Jugendlichen und wenigen Erwachsenen.
»Evangelische Jugendhilfe«: Liegen die Gründe
für eine Essstörung nicht tiefer, als dem gängigen
Schönheitsideal nacheifern zu wollen?
Ulla Schmidt: »Das Problem einer Essstörung
fängt früher an, und die Familienmitglieder
müssten es getrennt voneinander bearbeiten.«
E
J 4/2008
Dialogveranstaltung »Euer Leben hat Gewicht«:
Sie sprach sich des Weiteren für einen stärkeren
Schutz von Kindern und Jugendlichen im Internet
aus und begrüßte ein Vorgehen gegen unzulässige Angebote, das von der Internetplattform
www.jugendschutz.net initiiert wurde. Mittelfristig sollen Internetanbieter in die Initiative einbezogen werden.
Magersucht als Lebensstil
Beispielweise gibt es Internetseiten, auf denen
sich die zehn Gebote der Magersüchtigen mit ein
paar Klicks im Internet finden lassen. Unter dem
verniedlichenden Schlagwort Pro-Ana – für Anorexia nervosa, die Magersucht – präsentieren Betroffene im Netz stolz ihre vermeintlichen Erfolge im Kampf gegen das Fett, stacheln andere Magersüchtige zu immer neuen Negativrekorden an
– und dokumentieren ihre Leidensgeschichte, im
Zweifel bis in den Tod. »Die Krankheit Magersucht
wird zu einem attraktiven Lifestyle verherrlicht«,
erklärt Katja Rauchfuß von der Initiative jugendschutz.net, die seit Ende 2005 mehr als 300 ProAna-Internetseiten untersucht hat. 80 Prozent
davon »haben einen destruktiven Inhalt«, so
Rauchfuß.
erarbeitet hat, in der sie sich verpflichten, die Öffentlichkeit für ein gesundes Körperbild zu sensibilisieren und einem extremen Schlankheitsideal
entgegenzutreten.
In der Charta heißt es unter anderem:
Die deutsche Textil- und Modebranche ist überzeugt von der Wichtigkeit eines branchenübergreifenden Engagements für freie und vielfältige
Körperbilder. Gemeinsam mit weiteren Branchen
wird sie Botschaften entwickeln und Aktionen initiieren, die einen Beitrag zur Prävention von Essstörungen leisten.
Zeitgleich zur Dialogveranstaltung wurde die
neue Internetseite www.leben-hat-gewicht.de
freigeschaltet. Die Plattform bündelt konkrete
Maßnahmen sowie Informations-, Hilfs- und Beratungsangebote.
‰
Annette Bremeyer
Referentin, EREV
Flüggestr. 21
30161 Hannover
[email protected]
Ulla Schmidt ermutigte in der Veranstaltung die
Jugendlichen, »aufeinander zu achten und es anzusprechen, wenn sie Veränderungen im Essverhalten der Freundin oder des Freundes feststellen«, und eine ehemals von Magersucht betroffene Frau ergänzte: »Die Krankheit war für mich
auch Ausdruck eines Leistungsdrucks. Ich dachte
immer, nicht auszureichen.«
Die Nationale Charta der Textil- und
Modebranche
Neben der Sensibilisierung der Öffentlichkeit und
verschiedenen Präventionsmaßnahmen setzt die
Initiative »Leben hat Gewicht« auf freiwillige
Selbstverpflichtungen. Ein Ergebnis dessen ist es,
dass das Bundesgesundheitsministerium im Juli in
Zusammenarbeit mit Vertretern der deutschen
Textil- und Modebranche eine Nationale Charta
E
J 4/2008
245
»Geht denn da überhaupt noch was?«
Information zum Fachtag des Eylarduswerkes am 28. Mai 2008
Klaus ter Horst, Bad Bentheim
Das Eylarduswerk in Bad Bentheim veranstaltet
seit über zehn Jahren Fachtage, zu denen neben
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Eylarduswerkes auch externe Kooperationspartner eingeladen werden. Der diesjährige Fachtag war mit
350 TeilnehmerInnen sehr gut besucht.
Wie schon in den vergangenen Jahren fanden die
Hauptvorträge aufgrund der großen Teilnehmerzahl in der reformierten Kirche im Stadtteil Gildehaus statt. Der pädagogische Vorstand des Eylarduswerkes, Detlev Krause, begrüßte die 350 TeilnehmerInnen. Der therapeutische Leiter des Eylarduswerkes Klaus ter Horst führte in die Thematik
ein und moderierte den Fachtag.
Die wichtigste Frage des Fachtages lautete:
Geht denn da überhaupt noch was?« Schädigen»G
de frühkindliche Entwicklungsbedingungen, genetische Defekte, psychiatrische Erkrankungen und
deren Folgen für die Kinder und Jugendlichen sowie für die Fachkräfte standen im Mittelpunkt der
Vorträge und Workshops.
Die Referentinnen und Referenten nahmen unter
anderem Stellung zu nachfolgenden Themen:
• Wie stark schädigt Alkohol in der Schwangerschaft das heranwachsende Baby?
• Wie wirken sich Misshandlung und Vernachlässigung auf die Hirnentwicklung aus?
• Welche Hilfen gibt es für schwer traumatisierte
kleine Kinder?
• Wie erkennen wir Grenzbereiche von genetischen Defekten, geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung?
• Wo führen diese Störungsbilder die Pädagogik
an Grenzen, welche Perspektiven haben diese
jungen Menschen?
246
Dr. Reinhold Feldmann, Universität Münster
Diesen Fragen liegt die Erfahrung zugrunde, dass
wir bei unserer Arbeit auch an Grenzen stoßen –
trotz allem Bemühen, unseren Kindern und Jugendlichen positive Lebensperspektiven zu ermöglichen. Grenzen von Sozialarbeit, Pädagogik
und Psychologie werden dort aufgezeigt, wo Kinder schon krank auf die Welt kommen, wo Vernachlässigung und Misshandlung sich so schädigend auf die psychische und körperliche Entwicklung von Kindern auswirken, dass wir nur noch
geringe Einflussmöglichkeiten haben.
Grenzen werden auch da erreicht, wo hilfebedürftige Jugendliche oder junge Erwachsene die Jugendhilfe verlassen: Wenn kein familiärer Rahmen
sie fördert und stützt, keine angemessene Wohnund Lebenssituation vorhanden ist und keine gesellschaftliche Institution diesen jungen Menschen Unterstützung, Begleitung und Schutz anbietet.
Mit Albert Storcks, dem Neuropädiater und leitendem Fachbereichsarzt des St. Marienhospitals
in Vechta, referierte ein ausgewiesener Fachmann
zu der Frage »Wie wirken sich Vernachlässigungen
und Misshandlungen auf die Hirnentwicklung
aus?«.
E
J 4/2008
»Geht denn da überhaupt noch was?« Information zum Fachtag des Eylarduswerkes
Dr. Reinhold Feldmann von der Universitätsklinik
für Kinder- und Jugendmedizin in Münster referierte zum Thema »Das Problem, das man oft nicht
sieht« über die Diagnostik und Auswirkung des
Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) auf die kindliche
Entwicklung. Diese Behinderung ist eine Folge von
starkem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und spielt in der Jugendhilfe eine zunehmend größere Rolle.
Mit der Diplompsychologin Dagmar Eckers vom
Traumaforum in Berlin ist es gelungen, eine Expertin für die Behandlung und Therapie von früh–
und wiederholt traumatisierten kleinen Kindern
für den Fachtag zu gewinnen.
Nachmittags fanden elf Workshops statt. In den
Workshops wurden weitere Beiträge zum Thema
Grenzen der Pädagogik bearbeitet. So berichtete
der Diplompsychologe Dr. Stephan Theiling vom
Kinderhospital Osnabrück über die lebensbedrohlichen Auswirkungen bei der Unterschätzung
von körperlichen Erkrankungen und der niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Zoran
Babic zeigte die Möglichkeiten – aber vor allem
auch die Grenzen – der medikamentösen Behandlungen aus kinderpsychiatrischer Sicht auf.
beck zeigten anhand von Fallbeispielen Lebensperspektiven für Menschen auf, deren Störung im
Grenzbereich zwischen Jugendhilfe und dem Behindertenbereich liegen.
Die vielen Anmeldungen zum diesjährigen Fachtag sind ein Beleg dafür, dass das Thema des
Fachtages für MitarbeiterInnen in Jugendhilfeeinrichtungen und in Jugendämtern, für Kinderärzte
und Kinderpsychiater, in Schulen und Kindergärten praxisrelevant war.
Die persönlichen Rückmeldungen zum Fachtag
und die Auswertung der Evaluationsbögen ergaben ein positives Bild von der Veranstaltung.
Die Beiträge der ReferentInnen und WorkshopleiterInnen sind auf der Homepage des Eylarduswerkes einzusehen: www.eylarduswerk.de.
‰
Klaus ter Horst
Therapeutischer Leiter
Eylarduswerk e.V.
Teichkamp 34
48455 Bad Bentheim
[email protected]
Mit der Diplompsychologin Monika Biener und
der Video-Home-Trainerin Marita Brümmer berichteten zwei Mitarbeiterinnen des Eylarduswerkes aus ihrem Alltag in der Arbeit mit kleinen Kindern. Beim Thema »Das unsichtbare Band sichtbar
machen« ging es um das videounterstützte Erkennen und Behandeln von Bindungsstörungen (»Video-Interaktions-Diagnostik«)
Gudrun Holl, Diplompsychologin und langjährige
Mitarbeiterin des Therapiezentrums für autistische
Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Meppen,
behandelte im Workshop die Thematik des Asperger-Syndroms und gab Hinweise für den pädagogischen Umgang mit diesen jungen Menschen.
Monika Lammers und Sigrid Stegemann vom Pädagogischen Fachdienst des Stift Tilbeck in HavixE
J 4/2008
247
Hinweise
Fachtagung zur Zukunft der Familienhilfe
Das Neukirchener Jugendhilfeinstitut veranstaltet
in Verbindung mit der evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe am 17. Oktober 2008 in Bochum eine Fachtagung zur Zukunft
der Familienhilfe. Hintergrund sind neben dem
unscharf gewordenen Bezugsrahmen »Familie«
die starken Veränderungen im Familienverständnis und in den Familienstrukturen, welche Rückwirkungen auf unsere Gesellschaft haben. Die
Fachtagung möchte auf »Spurensuche« gehen
und lädt Fachkräfte der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe freier und öffentlicher Träger zur Teilnahme ein. Neben Professor Benjamin Benz wird
Oberkirchenrat Klaus Eberl sowie Ulrike Bavendiek
zum Thema referieren, Arbeitsgruppen zum Thema und eine Podiumsdiskussion schließen diese
Fachtagung ab. Die Tagung findet im Audimax der
Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe statt. Die Gesamtleitung hat der wissenschaftliche Leiter des Neukirchener Jugendhilfeinstituts, Prof. Dr. Ulrich Huster. Weitere Informationen sowie den Programmfalter erhalten
Sie unter [email protected] oder telefonisch unter 02845 / 392-570.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische
Jugendsozialarbeit (BAG EJSA) legt
Praxisleitfaden zu Freiwilligendienste vor
Die BAG EJSA gibt zum Abschluss eines dreijährigen Modellprojekts zum Thema »Freiwilligendienste von jungen Menschen mit Migrationshintergrund in den Jugendmigrationsdiensten« eine
Handreichung heraus. Unter dem Titel »freiwillig?
– na klar! – Freiwilligendienste von jungen Menschen mit Migrationshintergrund in den Jugendmigrationdiensten« informiert der Praxisleitfaden
über Informationen zu den wichtigsten Aspekten
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und Erfahrungen aus dem Modellprojekt. Er wurde von der Bundeskoordinatorin Kira Funke und
den ProjektleiterInnen der zehn Standorte gemeinsam erstellt. Er steht als PDF-Datei zum
Download unter www.jmd-portal.de bei »freiwillig? – na klar!« zur Verfügung.
Tagung: Psychotische Welten verstehen
Die »Gesellschaft zur Förderung empirisch begründeter Therapieansätze bei schizophrenen
Menschen« (GFTS) veranstaltet am 16./17.Oktober
2008 in Stuttgart eine Fachtagung zum Thema
»Psychotische Welten verstehen«. Themen der Referate sind unter anderem »Need Adapted Treatment – verstehende Zugänge in der Behandlung«
sowie »Die psychotische Ersterkrankung – subjektives Erleben und therapeutische Aufforderungen«. Nähere Informationen finden Sie unter
www.gfts.de.
Neuer Praxisleitfaden für betriebliche
Kinderbetreuung
Das Bundesfamilienministerium gibt eine Broschüre über Kinderbetreuung im Betrieb heraus,
die sich an Unternehmen aller Branchen und Größen richtet, die entsprechende Angebote für ihre
Belegschaft schaffen wollen. Der neue Leitfaden
fasst die verschiedenen Möglichkeiten betrieblich
unterstützter Kinderbetreuung zusammen und ergänzt diese durch anschauliche Praxisbeispiele.
Die Broschüre erläutert in zehn Schritten, wie Unternehmen in die betrieblich unterstützte Kinderbetreuung einsteigen können – angefangen mit
kompetenten Ansprechpartnern über die Ermittlung des Betreuungsbedarfs bis hin zur Entscheidung für eine individuell passende Lösung der betrieblichen Kinderbetreuung.
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Hinweise
Der Leitfaden steht unter www.erfolgsfaktor-familie.de zum Download bereit. Außerdem ist er
beim Publikationsversand der Bundesregierung,
Postfach 481009, 18132 Rostock, Telefon 0180 /
577 80 90 kostenlos erhältlich.
Fachtagung zur Vielfalt systemischer
Sozialarbeit
An der Hochschule Merseburg (Sachsen-Anhalt)
findet am 14. und 15. November 2008 die Fachtagung »Mindestens sieben Möglichkeiten – die
Vielfalt systemischer Sozialarbeit« statt. Rund 25
ReferentInnen aus Praxis und Wissenschaft stellen in Workshops und Vorträgen praktische und
theoretische Konzepte zur systemischen Sozialarbeit vor. Daneben kommen auch die Ressourcen
der TeilnehmerInnen zur Geltung. Am Freitagabend liest die Berliner Autorin Felicia Zeller aus
ihrem Stück »Kaspar Häuser Meer«, das die Situation von Mitarbeiterinnen in Jugendämtern auf
eindrückliche Weise darstellt. Veranstalter der
Fachtagung sind Johannes Herwig-Lempp, Hochschule Merseburg, in Kooperation mit dem Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Merseburg
(FH), der Deutschen Gesellschaft für systemische
Therapie und Familientherapie (DGSF), der Deutschen Gesellschaft für systemische Soziale Arbeit
(DSSA), der Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit der Hochschule Coburg (FH) und dem
Fachbereich Soziale Arbeit der Uni Bamberg. Die
Fachtagung richtet sich an Sozialarbeiterinnen
und Sozialarbeiter aller Arbeitsbereiche. Weitere
Informationen sowie die Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie unter www.systemische-sozialarbeit.de/fachtagung.htm.
Unternehmensvergleich »Top 100« startet in
eine neue Runde
Mittelständler können sich ab sofort wieder um
die Aufnahme in die Riege der 100 innovativsten
Unternehmen bewerben. Bundesweit und branchenübergreifend vergleicht Prof. Dr. Nikolaus
Franke von der Wirtschaftsuniversität Wien das
Innovationsmanagement der Teilnehmer und erE
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mittelt die »Top 100«. Außerdem wird der Titel
»Innovator des Jahres« verliehen. Angesprochen
sind auch beim 17. Durchgang des renommierten
Unternehmensvergleichs Produktionsbetriebe und
Dienstleister gleichermaßen. Untersucht wird
insbesondere, wie innovationsförderlich die
Strukturen sind und wie erfolgreich das innovative Engagement ist. Entscheidend für die Aufnahme des Teilnehmers in den Kreis der 100 Besten
ist das Ergebnis der wissenschaftlichen Analyse in
den Kategorien »Innovationsförderndes Top-Management«, »Innovationsklima«, »Innovative Prozesse und Organisation«, »Innovationsmarketing«
sowie »Innovationserfolg«. Startberechtigt sind
Unternehmen aller Branchen mit bis zu 5.000
Mitarbeitern. Die Kosten für die Bewerbung betragen 600 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer. Interessenten bewerben sich direkt online unter
www.top100.de. Bewerbungsschluss ist am 31.
Oktober 2008.
EKD veröffentlicht Handreichung zu Schulen
in evangelischer Trägerschaft
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gibt
eine Handreichung zu Schulen in evangelischer
Trägerschaft heraus. Darin geht es um eine Bestandsaufnahme zum evangelischen Schulwesen
und um Perspektiven der Weiterentwicklung.
Darin wird insbesondere der Frage nachgegangen,
was heute die Qualität einer guten Schule ausmacht. Einerseits wird gezeigt, was evangelische
Schulen als besonderes Profil in das Bildungswesen einbringen können und wollen, andererseits
beschreibt sie einen allgemeinen Anspruch, der
sich an alle Schulen richtet und an dem sich deshalb auch Schulen in evangelischer Trägerschaft
messen lassen müssen. Ausgehend von zehn Thesen zur Bedeutung, den Entwicklungsaufgaben
und Zukunftsperspektiven evangelischer Schulen
werden Fragen von Profil und Anspruch, Struktur
und Leistung, Qualität und Ethos sowie der kirchlichen und staatlichen Bildungsverantwortung in
Bezug auf evangelische Schulen behandelt.
Adressaten der Handreichung sind einerseits die
Beteiligten im evangelischen Schulwesen, Mitar249
Hinweise
beitende an den Schulen, Schulträger wie Schulgründungsinitiativen, aber auch die bildungspolitische Öffentlichkeit. Das entspricht dem Selbstverständnis evangelischer Schulen, die sich durch
ihre Beteiligung an der gesellschaftlichen Gesamtverantwortung für Kinder und Jugendliche
auch als Teil des öffentlichen Schulwesens sehen.
Die Handreichung wurde erarbeitet von der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder
und Jugend in Zusammenarbeit mit einer Expertengruppe. Sie ist erschienen im Gütersloher Verlagshaus und kann über den Buchhandel bezogen
werden. Nähere Informationen gibt es unter
www.ekd.de oder www.evangelische-schulen-indeutschland.de.
Neue Fortbildungen des Burckhardthauses
Das Burckhardthaus in Gelnhausen bietet in der
zweiten Jahreshälfte neben einer zweijährigen
Fortbildung zum Thema »Professionelle Gruppenleitung in sozialen und pädagogischen Arbeitsfeldern« die Fortbildungen »Struktur und Kreativität
in individuellem und Team-Denken«, »Leben Sie
schon – oder organisieren Sie noch?« sowie
»Case-Management im Sozial- und Gesundheitswesen« an. Nähere Informationen finden Sie unter www.burckhardthaus.de.
Fördermöglichkeiten: Neue Rubrik im
Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe
Ab sofort können sich Fachkräfte der Kinder- und
Jugendhilfe unter www.jugendhilfeportal.de gezielt über Fördermöglichkeiten und Wege zur Finanzierung von Projektideen informieren. Sie haben eine spannende Idee für eine Kampagne zur
Gesundheitsförderung, möchten ein multilaterales Projekt zum Thema Antisemitismus oder einen
Fachkräfteaustausch im Bereich Hilfen zur Erziehung durchführen? Aber Sie wissen nicht, wie Sie
an das Geld dafür kommen können? Die neue Rubrik »Förderinformationen« bietet nun die Möglichkeit, sich detailliert über Finanzierungsmöglichkeiten für Projekte, Aktionen und Maßnahmen
zu informieren. In der Infobox »Förderung durch
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Bund, Länder und Kommunen« finden Sie eine
systematische Auflistung der Zuständigkeiten
auf den jeweiligen Ebenen mit Erläuterungen und
Links zu Antragsformularen, Antragsfristen und
weiterführenden Informationen. In einer weiteren
Infobox werden europäische Fördermöglichkeiten
und Programme zur Förderung der Internationalen Jugendarbeit gebündelt und Links zu Finanzierungsmöglichkeiten für bi- und multilaterale
Projekte gesammelt.
Unter »Förderung durch Stiftungen, Tipps zu
Fundraising und Sponsoring« gibt es Anregungen
und Hinweise zur Akquise von Stiftungsmitteln
und anderen Geldern. Alle Infoboxen werden
durch Verlinkungen zu entsprechenden Förderdatenbanken und zum Quellenpool des Fachkräfteportals ergänzt, wo Sie einschlägige Literatur zum Thema finden.
Zusätzlich finden Sie in der neuen Rubrik Hinweise auf aktuelle Ausschreibungen und Wettbewerbe, die der Finanzierung Ihrer Projekte und Aktionen dienen könnten. Unser Kooperationspartner,
das europäische Informationsnetzwerk Eurodesk,
ergänzt das Angebot schließlich um eine monatliche Zusammenstellung von Ausschreibungen im
Bereich Internationale Jugendarbeit und Europa.
Das Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe ist eine Informations-, Kommunikations- und
Kooperationsplattform und richtet sich an alle,
die aus beruflichem oder ehrenamtlichem Interesse, Presseinformation ausbildungsbezogen mit
wissenschaftlichem Hintergrund oder auch ganz
allgemein zum Thema Kinder- und Jugendhilfe im
Internet recherchieren.
Träger des Gemeinschaftsprojektes sind die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe –
AGJ sowie die IJAB-Fachstelle für Internationale
Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Gefördert wird das Fachkräfteportal vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sowie von der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesjugend- und Familienbehörden (AGJF). Nähere Informationen geben
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Hinweise
Antje Klemm, [email protected] oder Dr. Anneli Starzinger, [email protected].
ConSozial 2008: Programm liegt vor
Unter dem Motto »Zukunft: Wertschöpfung durch
Wertschätzung« feiert die ConSozial vom 5. bis 6.
November 2008 mit Besuchern und Ausstellern
ihr zehnjähriges Bestehen. Zu den Jubiläumshöhepunkten zählen ein Festabend im Messezentrum, der Auftritt des Autors und Zeichners Werner Tiki Küstenmacher sowie eine Podiumsdiskussion aller Präsidenten und Vorstände der Freien
Wohlfahrtspflege in Deutschland.
Denkanstöße zum Motto gibt Bischöfin Dr. Margot Käßmann im Rahmen der Eröffnung. Der Generaldirektor der EU, Nikolaus G. van der Pas, beleuchtet am zweiten Tag die europäischen Herausforderungen für die Sozialwirtschaft. In weiteren rund 40 Vorträgen, Podien und Workshops
geht es um aktuelle Fragen wie die Neuorganisation im Bereich des SGB II, Jugendhilfe und Jugendkriminalität, Fachkräftegewinnung oder die
Erschließung neuer Finanzquellen. Nähere Informationen finden Sie unter www.consozial.de.
Neuveröffentlichung zum Thema »Streetwork«
In einer neuen Veröffentlichung zum Thema
Handlungsmöglichkeiten und Wirkungen von
Streetwork stellt der Autor Stefan Gillich den aktuellen Diskussionsstand sowie die zugrunde liegenden Standards von Streetwork und Mobiler
Jugendarbeit dar. Das Buch soll Anregungen zur
Weiterentwicklung der Arbeitsfelder bieten und
zeigen, dass Streetwork und Mobile Jugendarbeit
sich den Herausforderungen stellen müssen, wie
zu Menschen in ausgrenzenden oder ausgegrenzten Lebenssituationen Kontakte geknüpft werden
können oder wie die konkreten Herausforderungen aussehen. Es informiert darüber, welche Erfahrungen hilfreich sind und welche Handlungsalternativen sich daraus ergeben. Nähere Informationen erhalten Sie unter www.burckhardthaus.de/neuebuecher.asp.
ab ‰
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Glossar: Komplex – kompliziert
Harald Tornow, Wülfrath
Kompliziert können Gedanken, Redeweisen,
schriftliche Darstellungen, also geistige Produkte,
aber auch die sozialen und technischen Artefakte sein (das, was Menschen herstellen).
Menschen sind bemüht, unkomplizierte Modelle
und Redeweisen und einfache (das ist das Gegenteil von kompliziert) Technologie und Organisationen herzustellen. Das hat mehrere Gründe.
• Einfache Theorien: Sie gelten als eleganter und
auch irgendwie als wahrer. Vor Galileo Galilei
und vor Johannes Kepler war Astronomie eine
hochkomplizierte Angelegenheit. Schauen Sie
sich mal ein mittelalterliches Astrolabium oder
die Aufzeichnung der Planetenbahnen an. Mit
einem einfachen Modell (dem heliozentrischen
Weltbild) und einfachen mathematischen Formeln wurde alles viel einfacher. Leider wird im
deutschen Wissenschaftsbetrieb Kompliziertheit als Ausweis von Gelehrtheit angesehen.
Vergleichen Sie mal ein amerikanisches Fachlehrbuch mit einem deutschen.
• Einfache Technologie: Bill Gates hat sein milliardenschweres Microsoft-Imperium aufbauen
können, weil er die komplizierten Sprachen zur
Steuerung von Computern in eine einfache
Bildsprache übersetzt hat, die schon Vorschulkinder verstehen können.
• Einfache Rede: Sie verbraucht beim Sender und
beim Empfänger weniger Energie und ist weniger fehleranfällig.
• Einfache soziale Regeln: Sie lassen sich leichter
merken und sie bieten schnellere Orientierung
in unklaren Situationen.
Man kann die Welt kompliziert beschreiben. Das
macht man am besten so, dass alles, was direkt
oder mit Instrumenten wahrgenommen wird, untereinander in Beziehung gesetzt wird und dann
noch der Wandel über die Zeit berücksichtigt
wird. Das Ergebnis gäbe ein Buch, das in unser
Universum nicht hineingeht und bei dem jeder auf
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der ersten Seite schon aussteigen müsste. Bereits
bei dem Zusammenhang zwischen mehr als drei
Dingen gerät unser Gehirn in Verwirrung.
Eine einfachere Art, Wahrgenommenes zu beschreiben, ist das Aufdecken von Regeln, nach denen sich Dinge ereignen und entwickeln. Einige
Dinge funktionieren nach trivialen (das ist das Gegenteil von komplex) Regeln: je mehr das eine,
desto mehr das andere. Und umgekehrt. Und immer. Bis ins 19. Jahrhundert meinten Naturwissenschaftler, es sei nur eine Frage der Zeit und
man werde die ganze Welt nach solchen Regeln
erklären können.
Aber in der Welt gelten überwiegend komplexe
Regeln. Damit sind wir bei dem zweiten Begriff.
Komplexität liegt immer dann vor, wenn das Ergebnis einer Veränderung die Ursache einer
nächsten Veränderung ist. Das ist so beim Wetter,
den Bewegungen der Wellen und in Populationen
der Biosphäre. Ein weiteres Merkmal von Komplexität ist die Unbestimmtheit der Zusammenhänge (Chaos): Kleine Ursachen haben große Wirkungen. Diese kann man aber nicht vorhersehen. Die
dritte Bedingung für Komplexität ist die Vernetztheit. Wenn nur hundert Dinge miteinander zusammenhängen, gibt es bereits mehrere Trilliarden Kombinationsmöglichkeiten.
Komplexe Systeme lassen sich nicht steuern. Das
liegt zum einen daran, dass alle Computer der
Welt nicht die Informationen verarbeiten können,
die in den Zusammenhängen stecken, in denen
sich ein System im Inneren und zu seiner Umwelt
befindet. Zusätzlich stehen lebendige komplexe
Systeme einer Steuerung noch durch eine weitere Eigenart entgegen: Sie bauen sich selber regelmäßig um. Selbst wenn ein Supercomputer einen
Steuerungsansatz finden könnte, sein Wissen
wäre schon in der nächsten Runde überholt.
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Glossar: Komplex – kompliziert
Angewandt auf die Sozialpädagogik bedeutet das:
• Eine Theorie, ein Bericht und die Verfahrensvorschriften der Einrichtung können kompliziert
oder einfach sein. Besser, sie wären einfach,
dann käme es zu weniger Missverständnissen
und das Reden und Denken wären nicht so anstrengend.
• Ein junger Mensch, seine Familie, das Team und
die Beziehungen zu Schule und Jugendamt sind
immer komplex. Trivial geht nicht, weil es hier
um das Leben selbst geht und nicht um die
Theorie des Lebens.
War das jetzt zu kompliziert?
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Dr. Harald Tornow
e/l/s-Institut für Qualitätsentwicklung
Diakonissenweg 44
42489 Wülfrath
[email protected]
Nr.: 50/2008
EREV – FREIE SEMINARPLÄTZE– FREIE SEMINARPLÄTZE
»Man muss sich selbst verstehen, wenn man andere verstehen will«
Einführung in die Typenlehre des ENNEAGRAMMS
Inhalt und Zielsetzung
In diesem Seminar wird in die Typenlehre des Enneagramms, ein Persönlichkeitsmodell, das Sie sowohl in Ihrem persönlichen als auch beruflichen Handeln weiterführt, eingeführt. Das Enneagramm
beschreibt neun Persönlichkeitsmuster, die sich im Denken, Fühlen und Handeln grundlegend unterscheiden und dazu führen, dass Interpretationen von Lebenssituationen, Beziehungen und Lebenswelten völlig unterschiedlich ausfallen.
Es soll darum gehen, sich und andere besser zu verstehen, warum man in bestimmten Situationen so
reagiert, wie man reagiert, und auch zu verstehen, warum Menschen in bestimmten Situationen ganz
anders reagieren. Wir wollen nach Wegen mit Hilfe des ENNEAGRAMMS suchen, die zur eigenen »gesunden« Persönlichkeitsentwicklung dienen.
Spielerisch und mit heiterem Ernst werden wir uns an die neun Grundmuster, die neun Vermeidungen und die neun Idealisierungen annähern, wobei zwei Typentests (schriftlich und online) zur Selbsterforschung angeboten werden.
Methodik
Vortrag, Teilnehmer- und Teilnehmerinnenberichte, Übungen
Zielgruppe
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die die ENNEAGRAMM-Arbeit kennen lernen möchten.
Leitung
Wilfried Knorr, Peiting
Termin/Ort
01. – 03.12.2008, Augsburg
Teilnahmebeitrag 249,- € für Mitglieder / 289,- € für Nichtmitglieder inkl. Unterbringung und
Verpflegung
Teilnehmerzahl 15
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Anzeige
Die EJF-Lazarus gAG ist als diakonischer Träger von Einrichtungen der Alten-, Jugend- und Behindertenhilfe in mehreren Bundesländern tätig. Ein Schwerpunkt in der Jugendhilfe ist die Arbeit mit delinquenten und sozial auffälligen Jugendlichen. Für die Erweiterung unseres stationären Angebots in Selb/Bayern suchen wir ab sofort
pädagogische Fachkräfte
Sie wollen einen aktiven Beitrag dazu leisten, die neuen Strukturen mit Leben
zu füllen und weiter zu entwickeln. Die Arbeit mit schwierigen Jugendlichen
sehen Sie als Herausforderung, Sie verfügen über fachlich fundiertes pädagogisches Wissen und setzen dieses in der Alltagsstruktur einer Wohngruppe mit
sechs bis acht Jugendlichen professionell um. Sie schätzen die innovativen
Ideen eines jungen Teams und bringen mit Begeisterung Ihre eigene Kreativität und Ihre Fähigkeiten ein.
Wir erwarten:
• eine qualifizierte pädagogische Ausbildung (Sozialpädagoge/in, Erzieher/in)
• mehrjährige Berufserfahrung im Jugendhilfebereich
• Selbständigkeit, Eigenverantwortung und Kommunikationsfähigkeit
• Engagement, Zuverlässigkeit und Flexibilität
• Entscheidungs- und Konfliktfähigkeit
• EDV-Kenntnisse, Führerschein
Wir bieten eine verantwortungsvolle Position mit Zukunftsperspektive. Die Vergütung erfolgt nach AVR-DWBO mit zusätzlichen Sozialleistungen. Die Stellen sind
vorerst für zwei Jahre befristet.
Ihre aussagekräftige Bewerbung senden Sie bitte mit frankierten Rückumschlag an: EJF-Lazarus gAG, Frau Krauss-Ranzinger, Franken 24, 95163 Weißenstadt, [email protected]
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Nr.: 52/2008
EREV – FREIE SEMINARPLÄTZE– FREIE SEMINARPLÄTZE
»Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …«
PraktikantInnen anleiten, begleiten und beraten
Für die Berufsqualifizierung von pädagogischen Fachkräften ist der Verlauf praktischer Ausbildungsabschnitte (Praktika) von großer Bedeutung. Für einen erfolgreichen Verlauf brauchen Auszubildende Anleitung, Begleitung und Beratung.
Die Anleitung von PraktikantInnen ist aber kein Bestandteil der grundständigen Ausbildung von Fachkräften in der Sozialen Arbeit, obwohl diese Ausbildungsaufgabe fast jede/n Pädagoge/-in trifft.
Die Einführung neuer (späterer) BerufskollegInnen in das eigene Arbeitsfeld nimmt eine Schlüsselposition in der Personalentwicklung ein. Methodisches Wissen wird vermittelt und erfahrbar gemacht.
Aber auch Grundhaltungen, Werte und Normen, ethische Orientierungen und die Motivationsgrundlage werden geprägt.
Anleiter/-innen brauchen personale Kompetenz, Selbstevaluation, Feldkompetenz und didaktische
Kompetenz. Die dreitägige Fortbildung ist als praxisorientierter Lehr- und Lernprozess konzipiert und
setzt die aktive Beteiligung der TeilnehmerInnen voraus.
Das Angebot soll die Anleitungstätigkeit optimieren und unterstützen.
Inhalte
• Rollen, Selbstverständnis und Haltungen von PraktikantInnen
• Chancen und Grenzen von PraktikantInnen
• das Praktikum als Entwicklungsprozess (Ausbildungsplan)
• Phasenorientierung im Praktikum
• Praxisanleitung im Spannungsfeld unterschiedlicher Erwartungen
• Umgang mit Krisen und Zweifeln von und an PraktikantInnen
• Reflexionsgespräche und Feedback
• Beurteilungen und Zeugnisse
• Funktion und Rollenverständnis von Anleitung
• eigenes Mentoren-Konzept
Methodik
Theoretische Impulse und Diskussion im Plenum, Kleingruppenarbeit, Übungen, Fallbesprechungen,
Rollenspiele.
Zielgruppe
Erfahrene und unerfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Sozialen Arbeit, die PraktikantInnen anleiten (möchten).
Leitung
Sandra Grundmann, Bad Bentheim; Gertrud Meinzer, Osnabrück
Termin/Ort
03. – 05.12.2008 in Lage
Teilnahmebeitrag 249,- € für Mitglieder / 289,- € für Nichtmitglieder inkl. Unterbringung und
Verpflegung
Teilnehmerzahl 20
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Nr.: 54/2008
EREV – FREIE SEMINARPLÄTZE– FREIE SEMINARPLÄTZE
Selbstsicherheitstraining
»Bullying, ›Abziehen‹, Erpressung, Drangsalierungen,
Beleidigungen und Bedrohungen ...«
Wissen und Fertigkeiten im Umgang mit Konflikten und Angriffen
durch Kinder und Jugendliche
Inhalt und Zielsetzung
In den vergangenen Jahren hat sich der »soziale Raum Schule« ebenso wie die Bedingungen im Bereich der pädagogisch-erzieherischen Aufgaben in Erziehungseinrichtungen für alle Beteiligten verändert. Als ein Teil dieses Wandels dürfte das Phänomen des massiv grenzverletzenden Verhaltens von
Kindern und Jugendlichen gewertet werden. Dabei variieren die einzelnen störenden Verhaltensweisen und Ausprägungsgrade, fast immer jedoch können aggressive Formen wie Bullying, ›Abziehen‹,
Erpressung, Drangsalierungen, Beleidigungen und Bedrohungen sowie tätliche Attacken festgestellt
werden. Solche Übergriffe beeinträchtigen nachhaltig eine förderliche Lernatmosphäre, gleichsam ist
der erzieherische Umgang mit deutlich aggressiv auffälligen Betreuten für Pädagogen und Erzieher
erheblich erschwert. So geraten immer öfter Lehrer und Lehrerinnen oder erzieherisch tätige Mitarbeiter/-innen in den Fokus von verbalen und körperlichen Attacken, die von Kindern und Jugendlichen ausgehen.
Der Schwerpunkt der Trainerausbildung liegt darauf, Wissen und Fertigkeiten vermitteln zu können,
sodass Betroffene sich im Vorfeld von Konflikten und Angriffen kompetent verhalten können und
Techniken und Strategien zur Deeskalation von beginnenden Konflikten erlernen. Ferner werden Möglichkeiten zur Abwehr von akuten Attacken dargestellt, sodass konkrete Verteidigungstechniken erlernt werden, um sich ggf. kompetent zur Wehr setzen zu können.
Methodik
Impulsreferate, Rollenspiele, psychomotorische Übungselemente zum Körpergefühl, Spiele zur Persönlichkeitsförderung, Aufmerksamkeitsschulung, Abwehrtechniken
Zielgruppe
Lehrer und Lehrerinnen, pädagogische Fachkräfte, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten im Umgang mit
aggressiven Kindern und Jugendlichen verbessern möchten.
Leitung
Dirk Baasch, Rendsburg
Termin/Ort
08. – 12.12.2008 in Vlotho
Teilnahmebeitrag 425,- € für Mitglieder / 475,- € für Nichtmitglieder inkl. Unterbringung und
Verpflegung
Teilnehmerzahl 18
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