Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik

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4.6.2003
12:39 Uhr
Seite C
Deutsche Gesellschaft für
Gynäkologie und Geburtshilfe e.V.
Kaiserin-Friedrich-Haus
Robert-Koch-Platz 7 • 10115 Berlin
Telefon: 030 / 514 88 33 • Fax: 030 / 514 88 344
E-Mail: [email protected]
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06/03 Basse & Lechner GmbH, München
Schwangerschaftsabbruch
nach Pränataldiagnostik
Deutsche Gesellschaft für
Gynäkologie und Geburtshilfe e.V.
www.dggg.de
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Schwangerschaftsabbruch
nach Pränataldiagnostik
Positionspapier
,,Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik“,
herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie
und Geburtshilfe (DGGG)
Titelabbildung: Ultraschallbild eines Fetus im Profil bei 22 SSW
Gestaltung und Herstellung: Basse & Lechner GmbH, München
Druck: ColorOffset, München
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
4
Teilnehmer der Arbeitsgruppe
6
Präambel
8
Beratung im Zusammenhang mit Pränataldiagnostik
14
Qualitätssicherung und Statistik
24
Pränatale Diagnostik – Methoden und Qualitätssicherung
25
Zur Arzthaftung bei Geburt eines unerwünschten Kindes
32
Zum späten Schwangerschaftsabbruch
37
Literatur- und Abkürzungsverzeichnis
41
3
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Vorwort
Die Pränataldiagnostik ist in
den Mutterschaftsrichtlinien
verankert und bildet einen
wichtigen Teil der Schwangerenvorsorge. Durch den Einsatz
der Pränataldiagnostik kann
man die werdende Mutter in
den meisten Fällen beruhigen,
und es können ihr die Sorgen
um mögliche Auffälligkeiten
in der kindlichen Entwicklung
genommen werden. Darüber
hinaus bietet die Pränataldiagnostik in ausgesuchten Fällen,
z.B. bei Blutgruppenunverträglichkeit, die Möglichkeit der
pränatalen Therapie oder
erleichtert die Vorbereitung
auf eine Risikogeburt mit anschließender kinderchirurgischer Betreuung z. B. bei einer
Zwerchfellhernie.
Frage über Fortsetzung oder
Abbruch der Schwangerschaft
stellt. 2002 wurden in der
Bundesrepublik Deutschland
130.387 Schwangerschaftsabbrüche statistisch erfasst.
97,5% dieser Schwangerschaftsabbrüche erfolgten nach
Schwangerschaftskonfliktberatung vor 12 Schwangerschaftswochen (SSW) nach der Empfängnis (p.c.). Nur 2,5% der
Abbrüche erfolgten aus medizinischen Gründen, 1,6% nach
12 SSW.
Mit der Neufassung des §218
StGB von 1995 wurde u.a. die
ehemals embryopathische Indikation gestrichen und diese
unter der medizinischen Indikation subsumiert. Mit dieser
Indikation ist ein Schwangerschaftsabbruch zu jedem Zeitpunkt, d.h. auch noch über
22 SSW nach der Empfängnis
hinaus möglich – also die Tötung extrauterin lebensfähiger
Kinder zulässig.
Jedoch können durch Pränataldiagnostik auch Fehlbildungen
oder schwere Erkrankungen
des Ungeborenen erkannt werden, die nicht mit dem Leben
vereinbar sind. Außerdem können zu erwartende Krankheiten
und Behinderungen des Kindes
entdeckt werden, angesichts
derer die Schwangere sich die
4
Das breite Spektrum an Möglichkeiten der pränatalen Medizin mit immer wieder auftretenden sehr schwierigen
Beratungssituationen macht
es angesichts der öffentlichen
Debatte über Chancen und
Grenzen der vorgeburtlichen
Diagnostik dringend erforderlich, sich über die Durchführung und den Umgang mit der
Pränataldiagnostik Gedanken
zu machen und sie ständig aufs
Neue kritisch zu hinterfragen.
Im Zusammenhang mit Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch gibt es einige
schwerwiegende Probleme, die
für dringend diskussionswürdig
gehalten werden. Hierzu gehören die Beratung im Zusammenhang mit Pränataldiagnostik
und die Qualitätssicherung
der Pränataldiagnostik. Auch
haftungsrechtliche Aspekte im
Zusammenhang mit einer fehlerhaften Pränataldiagnostik
(bekannt unter dem Schlagwort
„Kind als Schaden“) sowie die
Problematik des späten Schwangerschaftsabbruchs sind hierbei
zu bedenken.
Eine Arbeitsgruppe unter Führung der Deutschen Gesellschaft
für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) will durch Vorlage
dieses Positionspapiers die Öffentlichkeit und die Politik zu
einer qualifizierten Neuorientierung sowohl der zukünftigen
Durchführung pränataldiagnostischer Maßnahmen als auch
des Schwangerschaftsabbruchs
generell anregen.
Prof. Dr. med. Klaus Diedrich
Leiter der Arbeitsgruppe
5
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Teilnehmer der Arbeitsgruppe
Prof. Dr. med. Hans Georg
Bender, Düsseldorf
2. Vizepräsident Deutsche
Gesellschaft für Gynäkologie
und Geburtshilfe, UniversitätsFrauenklinik Düsseldorf
Prof. Dr. med. B.-Joachim
Hackelöer, Hamburg
Chefarzt der Abt. für Pränatale
Diagnostik und Therapie,
Allgemeines Krankenhaus
Barmbek
Isa Berndt, München
Referentin des Vorstands
Deutsche Gesellschaft für
Gynäkologie und Geburtshilfe
Prof. Dr. med. Hermann
Hepp, München
Direktor der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und
Geburtshilfe Großhadern, Klinikum der Universität München
Prof. Dr. med. Klaus Diedrich,
Lübeck
Präsident Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und
Geburtshilfe, UniversitätsFrauenklinik Lübeck, Leiter
der Arbeitsgruppe
Prof. Dr. med. Klaus Vetter,
Berlin
1. Vizepräsident Deutsche
Gesellschaft für Gynäkologie
und Geburtshilfe, Klinik für
Geburtsmedizin, Vivantes
Klinikum Neukölln
Prof. Dr. jur. Dr. med. h. c.
Hans-Ludwig Schreiber,
Göttingen
Juristische Fakultät der
Universität Göttingen
Dr. Manfred Steiner, Freiburg
Präsident Berufsverband der
Frauenärzte
Dr. Christiane Woopen, Köln
Mitglied im Nationalen Ethikrat, Institut für Geschichte und
Ethik der Medizin der Universität Köln
Prof. Dr. med. Eberhard
Schwinger, Lübeck
Institut für Humangenetik
der Universität Lübeck
Prof. Dr. med. Heribert
Kentenich, Berlin
Direktor der Frauenklinik der
DRK Kliniken Westend Berlin
Priv.-Doz. Dr. Wolfgang
Küpker, Lübeck
Leitender Oberarzt der Universitäts-Frauenklinik Lübeck
Prof. Dr. med. Ulrich
Gembruch, Bonn
Direktor der Abt. für Geburtshilfe und Pränatale Medizin der
Universitäts-Frauenklinik Bonn
Ulrike Riedel, Berlin
Rechtsanwältin, Mitglied der
Enquete-Kommission „Ethik
und Recht der modernen
Medizin“ des Deutschen
Bundestages
Dr. med. Gisela Gille,
Lüneburg
Vorsitzende der Ärztlichen
Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau e.V. ÄGGF
6
7
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Präambel
Pränatalmedizin umfasst die
Betreuung von Mutter und Kind
in allen Phasen der Schwangerschaft bis zur Geburt. Jede
Schwangerenvorsorge im Rahmen der Mutterschaftsrichtlinien ist Pränataldiagnostik
PND. Mit der Entwicklung vielfältiger und hoch zuverlässiger
diagnostischer Methoden ist das
Ungeborene für den Geburtshelfer im Falle einer diagnostizierten Erkrankung und/oder
Fehlbildung zum Patienten
geworden. Daraus leitet sich ab,
dass pränatale Medizin elementare Fragen der Qualität von
Leben berührt. Es geht um das
Leben der Mutter und um das
Leben des ungeborenen Kindes. Darum hat die Pränatalmedizin heute zu Recht einen
hohen und positiven Stellenwert in der Geburtsmedizin
und in unserer Gesellschaft.
führende Diagnostik mit Amniozentese, Chorionzottenbiopsie,
Serologie, Nabelschnurpunktion – kann der überwiegenden
Mehrzahl der Schwangeren die
Angst vor einem kranken oder
fehlgebildeten Kind genommen
werden. In Einzelfällen ist diese
Diagnostik Grundlage für eine
intrauterine Therapie oder eine
adäquate Versorgung während
und nach dcr Geburt.
Durch die Möglichkeit des sicheren und direkten Nachweises schwerster Erkrankungen
entwickeln Schwangere immer
seltener ein Abbruchbegehren
aus bloßer anamnestisch begründeter Angst. Insofern hat
sich die Pränatalmedizin in
nicht wenigen Fällen zu einer
Methode des Lebensschutzes
entwickelt.
Zunehmend sind wir jedoch
auch mit dem Anspruch auf
ein gesundes Kind konfrontiert,
zu dessen Verwirklichung ggf.
ein Schwangerschaftsabbruch
in Kauf genommen und von
Einzelnen gegenüber dem Arzt
sogar im Sinne eines vermeint-
Durch das Erkennen einer
ungestörten embryonalen und
fetalen Entwicklung durch allgemeine pränataldiagnostische
Maßnahmen – klinische Untersuchung und Ultraschallscreening wie auch durch weiter-
8
lichen Rechtsanspruchs postuliert wird. Mehr Wissen bringt
ein erhöhtes Maß an Verantwortung für Schwangere und
Arzt mit sich und damit auch
moralische Konflikte. Spätestens hier wird das ethische
Dilemma der Pränatalmedizin
deutlich. Hinzu kommt der auf
dem Arzt lastende Druck einer
möglichen Haftung für Unterhaltslasten im Zusammenhang
mit der Geburt eines schwerbehinderten Kindes.
Abbruch, die bei medizinisch
indizierten Abbrüchen nicht
zwangsläufig greift.
Nach mehrmonatiger intensiver interdisziplinärer Debatte
hat eine Kommission des Wissenschaftlichen Beirats der
Bundesärztekammer in einer
„Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik“ (1998) im Sinne
eines Protestes auf den diese
Reform induzierenden Paradigmenwandel der Geburtsmedizin aufmerksam gemacht:
„In Achtung vor der jedem
Menschen – auch dem Ungeborenen – unabhängig von seinen
Eigenschaften zukommenden
Menschenwürde und dem daraus abgeleiteten Recht auf Leben
sowie im Bewusstsein der ärztlichen Verantwortung für die
Schwangere und das Ungeborene werden im Hinblick auf
einen Schwangerschaftsabbruch
nach pränataldiagnostisch erhobenem auffälligem Befund
folgende Empfehlungen gegeben …“
Mit Neufassung des §218 StGB
(1995) wurde die embryopathische Indikation gestrichen und
unter der medizinischen Indikation im §218a, Abs. 2 StGB
subsumiert bzw. versteckt.
Hiermit entfielen die bis dahin
gültige Grenze für die Tötung
des Ungeborenen nach 22 Wochen p.c., die Pflicht zur Beratung, die Dreitagesfrist zwischen
Beratung und Abbruch, die statistische Erfassung des Abbruchs
und damit der Fehlbildungen
sowie die Freistellungsklausel
(§12, Abs. 1 SchKG), nämlich
das Recht auf Verweigerung der
ärztlichen Mitwirkung am
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für Gynäkologie und Geburtshilfe
(DGGG) nun dazu veranlasst, in
einer eigenen Stellungnahme
zum Schwangerschaftsabbruch
nach PND erneut Anstöße zu
einer Reform des §218a, Abs. 2
zu geben.
Diese beinhalten die Forderung
nach ärztlicher Beratung vor
und nach Diagnose einer fetalen Erkrankung, Entwicklungsstörung oder Anlageträgerschaft,
eine in der Regel einzuhaltende
zeitliche Begrenzung für einen
Schwangerschaftsabbruch, eine
angemessene Bedenkzeit, eine
juristische Klärung des Weigerungsrechtes und schließlich
die Schaffung gesetzlicher Voraussetzungen für die statistische
Erfassung der aus PND resultierenden Schwangerschaftsabbrüche.
Gleichbleibendes Ziel ist die
weitere Verbesserung der Qualität von Pränatalmedizin. Aufklärung und Beratung stellen
vor, während und nach pränatalmedizinischen Maßnahmen
zentrale Vorbedingungen dar.
Sie allein setzen die schwangere
Frau in die Lage, ihre Rechte
auf Wissen und Nichtwissen
wahrzunehmen.
Eine hohe Qualität der PND
kann nicht nur den Einsatz
einer weiterführenden, invasiven Diagnostik reduzieren, sondern auch Spätabbrüche vermeiden helfen, d.h. die Tötung
bereits lebensfähiger Kinder.
Die politischen Parteien befassen sich immer wieder,
teilweise in interfraktionellen
Arbeitsgruppen, mit der Problematik des §218.
Die vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht sowie vor allem die mit
der Subsumierung der ehemaligen Kindesindikation in die
medizinische Indikation zum
Schwangerschaftsabbruch einschließlich Haftungsdruck,
haben die Deutsche Gesellschaft
10
Von politischer Seite ist zu
fordern:
2. Die Einführung einer angemessenen Bedenkzeit zwischen Beratung und
Schwangerschaftsabbruch
analog der Beratungsregelung in den ersten 12 SSW
auch bei Abbrüchen aus
medizinischer Indikation.
1. Die Lebensfähigkeit des
Ungeborenen ist in der Regel
als zeitliche Grenze für
einen Schwangerschaftsabbruch anzunehmen und zu
fordern – zumal sich spätestens dann der Anspruch des
Ungeborenen auf Lebensschutz nicht von dem des
geborenen Kindes unterscheidet. Als Ausnahmefälle
können nur schwerste, unbehandelbare Krankheiten
und Entwicklungsstörungen
des Ungeborenen anerkannt
werden. Diese Fallkonstellationen sind vor der Indikationsstellung zum Schwangerschaftsabbruch in einer
fallbezogen interdisziplinären Kommission von Mitgliedern aus den Fachrichtungen Frauenheilkunde,
Kinderheilkunde, Humangenetik sowie Psychiatrie oder
Psychotherapie zu beraten
und zu entscheiden.
3. Das Weigerungsrecht, an
einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken – außer
in Fällen unmittelbarer
Gefährdung des Lebens der
Schwangeren – bedarf einer
eindeutigen Klärung durch
den Gesetzgeber.
4. Einer Haftung des Arztes für
die Geburt eines vorgeschädigten Kindes ist durch sorgfältige Pränataldiagnostik
sowie vollständige Aufklärung
und Beratung der Schwangeren vorzubeugen. Gleichwohl
könnte die drohende Haftung
des Arztes für den Unterhalt
eines vorgeschädigt geborenen Kindes dazu führen, im
Zweifelsfall einen Schwangerschaftsabbruch zu empfehlen. Es sollte daher geprüft
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Ein positiver Wertewandel des
Rechtsbewusstseins im Sinne
eines Bewusstseinsumbruchs
setzt eine neue, andere Sicht
behinderten Lebens und seiner
Qualität wie auch seines Wertes
voraus. Hier haben die Frauenärzte durch den Diskurs mit der
betreffenden Frau beziehungsweise dem Paar einen erheblichen Einfluss auf die Entscheidung, anderes Leben zuzulassen
oder es zu verhindern.
werden, inwieweit die Haftung des Arztes für Kindesunterhalt wegen Nichterkennens einer Behinderung des
erwarteten Kindes auf die
Fälle grober Fahrlässigkeit
zu beschränken ist.
5. Es sind die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen
für eine spezielle statistische
Erfassung aller Schwangerschaftsabbrüche aus medizinischer Indikation mit Spezifikation der Indikation im
Einzelfall.
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Beratung im Zusammenhang mit Pränataldiagnostik
1. Information und Beratung
der Schwangeren
Grundlage jeder ärztlichen
Behandlung ist das ärztliche
Gespräch auf Basis der interpersonellen Beziehung zwischen Arzt und Patientin. Vor
allen Maßnahmen der Pränatalmedizin erfolgt ein ärztliches
Gespräch mit Fokus auf Information, Aufklärung und Beratung sowie Zustimmung nach
Aufklärung (informed consent).
Aufklärung und Beratung sind
zu dokumentieren.
Bei besonderen Indikationen
soll die Beratung interdisziplinär (z. B. zusammen mit
Humangenetikern und/oder
Pädiatern) erfolgen. Wünschenswert ist die Qualifikation
der psychosomatischen Grundversorgung für den ärztlichen
Berater.
Jede Schwangere hat in Fragen
der Schwangerschaft einen Anspruch auf kostenlose psychosoziale Beratung nach §2 SchKG.
Dabei sind der Informations- und
Beratungsbedarf zu verschiedenen Zeitpunkten während
und nach der Schwangerschaft
unterschiedlich.
1.1 Allgemeine pränatale Diagnostik nach den Mutterschaftsrichtlinien
Eine pränatale Diagnostik ist
in den Mutterschaftsrichtlinien
vorgesehen. Die UltraschallScreening-Untersuchungen
(erstes Screening: 10 ± 2 SSW,
zweites Screening: 20 ± 2 SSW,
drittes Screening: 30 ± 2 SSW
p.m.) dienen der Überwachung
einer normal verlaufenden
Schwangerschaft. Obwohl diese
als Teil der Routineuntersuchung angesehen werden können, bedürfen sie gleichwohl
einer aufklärenden Beratung.
Vorherige Information und Aufklärung zu der Untersuchung
sowie Einwilligung und Dokumentation sind notwendig. Eine
Aufklärung über mögliche Konsequenzen eines pathologischen
Befundes ist erforderlich. Die
Schwangere sollte über die
Möglichkeiten weiterer Untersuchungen unter Berücksichtigung individueller Gegebenheiten informiert werden.
Dem Recht der Schwangeren
nach Untersuchung – „Recht
auf Wissen“ – steht gleichwertig
ein „Recht auf Nichtwissen“
14
●
●
●
gegenüber (z. B. Wunsch, dass
keine Ultraschalluntersuchung
durchgeführt wird).
Zusätzlich kann die Beratung
je nach individuellen Bedürfnissen über die Mutterschaftsrichtlinien hinausgehende
weiterführende diagnostische
Möglichkeiten beinhalten, z.B.
zur individuellen Risikobewertung bezüglich chromosomaler
Aberrationen.
●
●
●
1.2 Aufklärung und Beratung
vor Durchführung weiterführender Pränataldiagnostik
Die Schwangere soll vor Durchführung weiterführender pränataler Diagnostik, die über die
nach den Mutterschaftsrichtlinien vorgesehenen Ultraschallscreening-Untersuchungen hinausgeht, ausführlich aufgeklärt
und beraten werden über:
● Art und Anlass für die Untersuchung. Im Falle eines spezifisch erhöhten, chromosomalen oder genetischen
kindlichen Risikos soll die
Beratung interdisziplinär
unter Beteiligung von Humangenetikern und/oder Pädiatern
erfolgen.
●
●
●
Ziel der Untersuchung,
Risiko der Untersuchung,
Grenzen der pränatalen diagnostischen Möglichkeiten
und über pränatal nicht erfassbare Störungen,
Sicherheit des Untersuchungsergebnisses,
Art und Schweregrad möglicher oder vermuteter Störungen,
Möglichkeiten des Vorgehens
bei einem pathologischen
Befund,
psychisches und ethisches
Konfliktpotenzial bei Vorliegen eines pathologischen
Befundes,
Alternativen zur Inanspruchnahme weiterführender pränataler Diagnostik,
Möglichkeit einer weitergehenden psychosozialen Beratung und Inanspruchnahme
von Hilfsangeboten.
Der ausdrückliche Wunsch und
die Einwilligung der Schwangeren nach Aufklärung und Beratung sind Voraussetzung für
jede Maßnahme gezielter pränataler Diagnostik. Eine Dokumentation ist notwendig.
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1.3 Aufklärung und Beratung
nach pränataler Diagnose
einer Erkrankung, einer
Entwicklungsstörung oder
Anlageträgerschaft für eine
Erkrankung
Die ausführliche Aufklärung
und Beratung der Schwangeren
nach pränataler Diagnose einer
Erkrankung, Entwicklungsstörung oder Anlageträgerschaft
für eine Erkrankung muss folgende Aspekte der Untersuchung beinhalten:
● Erläuterung des Befundes,
● die Art und die möglichen
Ursachen der Erkrankung,
Entwicklungsstörung oder
Anlageträgerschaft für eine
Erkrankung,
● das zu erwartende klinische
Bild mit dem Spektrum der
Manifestationsformen und
möglichen Schweregrade,
● prä- und postnatale Therapieund Fördermöglichkeiten,
● die möglichen Folgen für das
Leben der Schwangeren und
ihre Familie,
● das Erleben und die Einschätzung durch andere betroffene
Personen,
● medizinische, psychologische
●
●
●
Seite 16
und finanzielle Hilfsangebote,
die Möglichkeit der Vorbereitung auf das Leben mit dem
kranken/behinderten Kind,
auch im Hinblick auf das
soziale Umfeld,
das Angebot der Vermittlung
von Kontaktpersonen, Selbsthilfegruppen und anderen
unterstützenden Stellen,
die Möglichkeit des Abbruchs
der Schwangerschaft, wenn
der beratende Arzt den Eindruck hat, dass die Voraussetzungen der medizinischen
Indikation nach § 218a Abs. 2
StGB gegeben sind.
Bei fetalen Erkrankungen soll
eine problembezogene interdisziplinäre Beratung erfolgen.
Die erste Mitteilung eines
pathologischen Befundes an die
Schwangere soll durch den
behandelnden Arzt erfolgen.
16
Fortführung der
Schwangerschaft
Erwägt oder wünscht die
Schwangere die Fortführung
der Schwangerschaft, sind folgende Aspekte Gegenstand
weiterer Beratungsgespräche:
● Behandlungsmöglichkeiten,
ggf. intrauterine Therapie,
● nichtinvasive medikamentöse Behandlung des Kindes
über die Schwangere,
● invasive medikamentöse
Behandlung des Kindes,
● operative Maßnahmen,
● Möglichkeit der Inanspruchnahme medizinischer und
psychosozialer Hilfe,
● Vorbereitung auf die Geburt.
●
●
Abbruch der
Schwangerschaft
Erwägt oder wünscht die
Schwangere den Abbruch der
Schwangerschaft, sind folgende
Aspekte Gegenstand weiterer
Beratungsgespräche:
● die formalen und rechtlichen
Voraussetzungen eines
Schwangerschaftsabbruchs
mit der Aufklärung darüber,
dass Gegenstand der Indikation nicht die Erkrankung,
●
●
17
Entwicklungsstörung oder
Anlageträgerschaft des Ungeborenen für eine Erkrankung
ist, sondern ausschließlich
die Abwendung einer „Gefahr für das Leben oder die
Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des
körperlichen oder seelischen
Gesundheitszustandes der
Schwangeren …, und die
Gefahr nicht auf eine andere
für sie zumutbare Weise
abgewendet werden kann.“
(§218a, Abs. 2 StGB).
Art und Schwere der drohenden gesundheitlichen Gefährdung der Schwangeren,
medizinische, psychosoziale
und finanzielle Hilfsangebote, die es der Schwangeren
ermöglichen können, die
gesundheitliche Gefährdung
auf andere Weise abzuwenden als durch einen Schwangerschaftsabbruch,
die verschiedenen Methoden
des Schwangerschaftsabbruches und ihre jeweiligen
Risiken,
die möglichen psychischen
Folgeprobleme und ihre
Behandlungsmöglichkeiten,
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●
●
●
●
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die Einhaltung einer angemessenen Bedenkzeit zwischen Beratungen und
Schwangerschaftsabbruch,
bei fortgeschrittener Schwangerschaft die Möglichkeit der
Geburt eines lebenden und
lebensfähigen Kindes mit der
ärztlichen Pflicht, das Kind
zu behandeln, sowie den
durch den frühen Geburtszeitpunkt bedingten zusätzlichen gesundheitlichen Risiken für das Kind,
die Möglichkeit psychosozialer Betreuung vor, während
und nach einem Schwangerschaftsabbruch,
die gesetzlichen Regelungen
bei Lebend- und Totgeburt.
Seite 18
dere was Art, Weise und Ort des
Abbruchs angeht. Nach Möglichkeit sollten die betreuenden
Ärzte auch den Abbruch vornehmen. Die psychische Betreuung
im Trauerprozess soll durch die
Ärzte selbst erfolgen.
Auch weitere psychosoziale
Begleitung sollte angeboten
werden.
1.4 Psychosoziale Beratung
Im Fall einer Erkrankung oder
eines zu erwägenden Abbruchs
der Schwangerschaft aus medizinischer Indikation soll zusätzlich zu dem ärztlichen Gespräch
eine unabhängige psychosoziale
Beratung angeboten werden.
Hierzu eignet sich eine Beratung in Analogie zu §219 StGB
(Beratung der Schwangeren
in Not- und Konfliktlage). Die
Beratung soll durch eine nach
dem Schwangerschaftskonfliktgesetz anerkannte oder gleichwertig qualifizierte Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle
erfolgen. Die Beratung ist zu
dokumentieren.
Bei einem möglichen Abbruch
einer Schwangerschaft aus
medizinischer Indikation sollen
Ärzte oder Berater spezieller
Fachgebiete hinzugezogen
werden. Die beratenden Ärzte
haben die Gespräche zu dokumentieren.
Für die betreuenden Ärzte
ergibt sich die besondere Notwendigkeit der fürsorglichen
Begleitung der Frau, insbeson-
18
1.6 Schwangerschaftsabbruch
bei zu erwartender Lebensfähigkeit des Kindes
Die Fortschritte in der medizinischen Versorgung von Frühgeborenen haben in den letzten
Jahren dazu geführt, dass bereits Kinder mit etwa 500 Gramm
Geburtsgewicht und einem entsprechenden Reifegrad überleben können. Dies entspricht
einem Schwangerschaftsalter
von etwa 22 Wochen p.c. Da
sich zumindest in den Fällen
gegebener extrauteriner
Lebensfähigkeit der Schutzanspruch des ungeborenen Kindes aus ärztlicher Sicht nicht
von demjenigen des geborenen
unterscheidet, soll der Zeitpunkt, zu dem die extrauterine
Lebensfähigkeit des Ungeborenen gegeben ist, meist als zeitliche Begrenzung für einen
Schwangerschaftsabbruch angesehen werden.
In besonderen Ausnahmefällen
schwerster unbehandelbarer
Krankheiten oder Entwicklungsstörungen des Ungeborenen
kann nach Diagnosesicherung
1.5 Bedenkzeit
Eine angemessene Bedenkzeit
(drei Tage) zwischen den Beratungen nach gesicherter Diagnose einer fetalen Erkrankung, Entwicklungsstörung
oder Anlageträgerschaft für
eine Erkrankung (also bei
medizinischer Indikation) und
einem Schwangerschaftsabbruch hat sich als sinnvoll für
die zu treffende Entscheidung
sowie für die seelische Verarbeitung durch die Schwangere
und ihren Partner herausgestellt. Da sich die Indikation
zum Schwangerschaftsabbruch
nach Pränataldiagnostik meist
auf die Beeinträchtigung der
seelischen Gesundheit der
Schwangeren bezieht und die
Schwangere nach den Beratungen Zeit benötigt, um ihre Entscheidung sorgfältig zu bedenken, ist die Einhaltung einer
Bedenkzeit in der Regel erforderlich.
Eine Ausnahme sollte nur dann
möglich sein, wenn das Leben
der Frau akut bedroht ist.
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und interdisziplinärer Konsensfindung von dieser zeitlichen
Begrenzung abgewichen werden.
Im Falle eines geplanten
Schwangerschaftsabbruchs bei
zu erwartender Lebensfähigkeit
des Kindes (nach 22+0 SSW p.c.)
soll dieser Fall einer zuständigen, einzurichtenden fallbezogen interdisziplinären Kommission von Mitgliedern aus den
Fachrichtungen Frauenheilkunde, Kinderheilkunde, Humangenetik sowie Psychiatrie
oder Psychotherapie vorgelegt
werden. Diese Kommission soll
innerhalb von drei Tagen eine
Empfehlung geben können.
Eine Ausnahme davon sollte
nur möglich sein, wenn das
Leben der Frau akut bedroht
ist.
Seite 20
1.7 Embryo- und Fetozid
Unter Embryozid versteht man
die intrauterine Tötung eines
oder mehrerer Embryonen bis
12 Wochen p.c., unter Fetozid
die intrauterine Tötung eines
oder mehrerer Feten.
Reduktion der Zahl durch Embryozid/Fetozid in Frage kommen. Dabei ist im Übrigen ein
Fortbestehen der Schwangerschaft mit einer entsprechend
niedrigeren Zahl von Mehrlingen beabsichtigt.
Mehrlingsreduktion mittels
Fetozid
Die Stimulation des Eisprungs
zur Erlangung einer Schwangerschaft beinhaltet ein erhöhtes
Risiko für Mehrlingsschwangerschaften. Durch die Überwachung mittels Ultraschall sowie
mittels hormonanalytischer
Methoden ist darauf zu achten,
dass nur Einlinge oder höchstens Zwillinge entstehen. Eine
Prävention von höhergradigen
Mehrlingsschwangerschaften
ist im Rahmen der Reproduktionsmedizin ein wesentliches
Gebot.
Trotz Präventionsmaßnahmen
lassen sich höhergradige Mehrlingsschwangerschaften nicht
ganz vermeiden. Hierüber ist
besonders aufzuklären. Zur
Vermeidung von Risiken einer
höhergradigen Mehrlingsschwangerschaft kann eine
Rechtliche Beurteilung
Auch die Tötung einzelner Mehrlinge ohne gleichzeitige völlige
Beendigung einer Schwangerschaft fällt unter den Anwendungsbereich der §§218 – 219
StGB.
Beim Vorliegen höhergradiger
Mehrlingsschwangerschaften
können im Einzelfall die Voraussetzungen einer medizinischen Indikation nach §218a
Abs. 2 StGB gegeben sein, da
bei höhergradigen Mehrlingen
die physischen und psychischen
Risiken für die Mutter durch
Präeklampsie und Eklampsie,
Thrombo-Embolie, schwere
Schäden für die Kinder wegen
extremer Unreife erhöht sein
können.
20
handelt, ist die psychische Situation der Mutter beziehungsweise
des Paares zu beachten und besonders beratungsbedürftig.
Das innere Erleben der Mutter
wird von der Schwangerschaft
bestimmt, die partiell abgebrochen wird, aber partiell auch
für die Geburt bestimmt ist. Aus
diesen Gründen sind das ärztliche Gespräch, das Angebot einer
unabhängigen pyschosozialen
Beratung, sowie eine mögliche
interdisziplinäre Beratung unter Hinzuziehung zusätzlicher
Ärzte entsprechender Fachgebiete (insbesondere Neonatologen) notwendig.
Psychische Gesichtspunkte
Da es sich in der Regel um gewünschte Schwangerschaften
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Fetozid und Geburtseinleitung
Nach einem Schwangerschaftsalter von etwa 22 Wochen p.c.
ist davon auszugehen, dass das
Kind nach einem Schwangerschaftsabbruch mittels Geburtseinleitung lebensfähig und
gleichsam als iatrogene Frühgeburt zu betreuen ist oder aufgrund der in dieser Phase vorhandenen Schmerzempfindung
ein langsames Sterben durch
Sauerstoffmangel erleidet. Aus
diesem Grunde sollte der Zeitpunkt, zu dem die extrauterine
Lebensfähigkeit des Ungeborenen gegeben ist, in der Regel als
zeitliche Begrenzung für einen
Schwangerschaftsabbruch angesehen werden. Nur in besonderen Ausnahmefällem, z.B.
schwerster unbehandelbarer
Krankheiten oder Entwicklungsstörungen des Ungeborenen,
kann von dieser zeitlichen
Begrenzung abgewichen werden. Aus o.g. Gründen kann in
diesen Fällen gemeinsam mit
den Eltern des Kindes erwogen
werden, ob ein Fetozid vor Einleitung des Schwangerschaftsabbruchs vorgenommen wird.
Psychisch ist der Fetozid im Zu-
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sammenhang mit der Geburtseinleitung eine besondere Konfliktsituation für die Schwangere
beziehungsweise das Paar.
Rechtliche Beurteilung
Der Fetozid unterliegt im Zusammenhang mit der zugrunde
liegenden medizinischen Indikation den rechtlichen Regelungen nach §218a Abs. 2 StGB.
1.8 Finanzieller Regelungsbedarf
guten Beratung steigen werden,
sind entsprechend auch die
Beratungsleistungen in ihrer
Vergütung neu zu bewerten.
Entsprechendes muss der
„Bundesausschuss Ärzte und
Krankenkassen“ regeln.
Psychosoziale Beratung
Über die ärztliche Beratung
hinaus hat die psychosoziale
Beratung insbesondere nach
§219 StGB (Beratung der
Schwangeren in Not- und Konfliktlage) und durch die nähere
Regelung im Schwangerschaftskonfliktgesetz eine besondere
Bedeutung erhalten.
Es ist dafür Sorge zu tragen,
dass die anerkannten Schwangerschaftskonflikt-Beratungsstellen auch im Akutfall problemlos für jede betroffene
Schwangere erreichbar sind
und zeitnah beraten können.
Ärztliche Beratung
Entsprechend den sich aus der
Weiterentwicklung der Pränataldiagnostik ergebenden Anforderungen gewinnt die ärztliche
Beratung an Stellenwert. Dies
betrifft sowohl die Beratung im
Zusammenhang mit den Untersuchungen nach den Mutterschaftsrichtlinien als auch die
darüber hinausgehenden Beratungsleistungen im Zusammenhang mit weiterführender Pränataldiagnostik.
In EBM und GOÄ sind die meisten Beratungsleistungen festgehalten. Da die zeitlichen Anforderungen bei einer qualitativ
22
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Qualitätssicherung und Statistik
nach Schwangerschaftsabbruch
Zur Qualitätssicherung und im
Hinblick auf die vom Bundesverfassungsgericht festgestellte
Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht sollen ergänzend
zu §§15ff SchKG in Verbindung
mit dem Bundesstatistikgesetz
die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden,
dass bei medizinisch indizierten
Schwangerschaftsabbrüchen
folgende Merkmale statistisch
erhoben werden:
●
●
●
●
24
die Angabe des genauen
Schwangerschaftsalters
die Indikationsgrundlagen
einschließlich Angaben zum
Vorliegen einer fetalen
Erkrankung, Entwicklungsstörung oder Anlageträgerschaft für eine Erkrankung
oder Vorliegen einer Mehrlingsreduktion,
die Methode des Schwangerschaftsabbruches einschließlich Angaben zum Fetozid,
die Befundsicherung.
Pränatale Diagnostik – Methoden und
Qualitätssicherung
Jede Schwangerenvorsorge
beinhaltet Pränataldiagnostik
(PND) im weiteren Sinne. Ziel
von PND ist ein erwünscht positiver Ausgang einer Schwangerschaft. Dazu sollen Risiken und
pathologische Befunde erkannt
werden, um entsprechende vorsorgliche oder therapeutische
Maßnahmen einzuleiten. In Situationen ohne therapeutische
Erfolgsaussichten kann ein
Schwangerschaftsabbruch als
Lösung des diagnostizierten
Problems in Frage kommen.
Späte Schwangerschaftsabbrüche beruhen zu einem Teil auf
verspäteter Feststellung eines
Problems, das Grundlage einer
medizinischen Indikation zum
Schwangerschaftsabbruch sein
kann. Vermehrt in Anspruch
genommene hoch qualifizierte
pränatale Diagnostik könnte die
Zahl später Schwangerschaftsabbrüche senken. Diese Aussage beruht sowohl auf persönlichen Erfahrungen von
Pränataldiagnostikern als auch
auf einer Studie aus Frankreich
(Dommergues 1999). Hier wurden 113 der 305 untersuchten
Fälle (37%) mit spät gestellter
Diagnose relevanter Befunde
des Feten klassifiziert als:
Pränatale Diagnose von Befunden im 3. Trimester, die schon
im 2. Trimester diagnostizierbar gewesen wären.
Pränatale Diagnostik im engeren
Sinn umfasst sehr unterschiedliche Maßnahmen.
1. Basisuntersuchungen
Entsprechend den Mutterschaftsrichtlinien werden Basisuntersuchungen vorgehalten.
1.1 Zustimmung
Zunächst ist eine auf verständlicher und ausführlicher Beratung basierende Zustimmung
der Betroffenen Grundvoraussetzung für jegliche pränataldiagnostische Maßnahme.
1.2 Anamnese
Eine ausführliche Anamnese
mit den entsprechenden Daten
der Schwangeren ist die Basis
aller weitergehenden Diagnostik. Sprachprobleme und Mangel an spezifischen Kenntnissen
seitens der Befragten können
nicht unerhebliche limitierende
Faktoren darstellen.
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1.3 Sonographische Standarduntersuchungen
Drei sonographische Standarduntersuchungen sind bei 10±2
SSW, 20±2 SSW und 30±2 SSW
p.m. vorgesehen. Sie dienen
neben der Lokalisation der
Schwangerschaft und der Feststellung des Schwangerschaftsalters insbesondere dem
Ausschluss morphologisch feststellbarer Veränderungen von
Wachstum, Körperumriss, Extremitäten, großen Organen,
Urinausscheidung, Plazentalokalisation oder -größe.
Die Mutterschaftsrichtlinien
A. 5. (2003) besagen dazu im
Wortlaut:
Im Verlauf der Schwangerschaft
soll ein Ultraschall-Screening
mittels B-Mode-Verfahren durchgeführt werden. Die Untersuchungen erfolgen
● von Beginn der 9. bis zum
Ende der 12. SSW
(1. Screening)
● von Beginn der 19. bis zum
Ende der 22. SSW
(2. Screening)
● von Beginn der 29. bis zum
Ende der 32. SSW
(3. Screening).
Seite 26
Dieses Ultraschall-Screening
dient der Überwachung einer
normal verlaufenden Schwangerschaft insbesondere mit dem
Ziel
● der genauen Bestimmung
des Gestationsalters
● der Kontrolle der somatischen
Entwicklung des Feten
● der Suche nach auffälligen
fetalen Merkmalen
● dem frühzeitigen Erkennen
von Mehrlingsschwangerschaften.
Der Inhalt des Screenings ist für
die jeweiligen Untersuchungszeiträume in Anlage 1a festgelegt. Ergeben sich aus dem
Screening auffällige Befunde, die
der Kontrolle durch UltraschallUntersuchungen mit B-Mode
oder gegebenenfalls anderen
sonographischen Verfahren
bedürfen, sind diese KontrollUntersuchungen auch außerhalb der vorgegebenen Untersuchungszeiträume Bestandteil
des Screenings.
2. Weitere Untersuchungsmöglichkeiten
Auf persönlichen Wunsch können zusätzlich zu den Angebo-
26
ten der Mutterschaftsrichtlinien
weitere Untersuchungen durchgeführt werden, die einerseits
neue Erkenntnisse ermöglichen,
andererseits aber auch neue
Probleme evozieren können. Sie
können aufgrund organisatorischer und finanzieller Grenzen
nicht allen Schwangeren angeboten werden. Außerdem fehlt
es in Deutschland an Studien,
die ihren flächendeckenden
Einsatz evidenz-basiert sinnvoll
und notwendig erscheinen lassen. Analogieschlüsse aus der
französischen Untersuchung
und Einzelbeobachtungen in
Deutschland lassen allerdings
vermuten, dass eine Intensivierung der speziellen Organ-Ultraschall-Untersuchung zu einer
früheren Diagnostik schwerwiegender Veränderungen beitragen
kann und damit zu einer Verringerung von Spätabbrüchen. Pränatale Diagnostik im Hinblick
auf Entwicklungsprobleme, Überwachungsbedarf und Geburtsplanung neben der Feststellung
von Fehlbildungen wird sowohl
durch erweiterte anatomische
als auch durch funktionelle Ultraschalldiagnostik repräsentiert.
2.1 Ultraschall
Eine den gesamten Feten umfassende, insbesondere organanalytische Ultraschalluntersuchung kann – bis 20 SSW p.c.
durchgeführt – weitere Risikofaktoren ausschließen. Bei entsprechenden Risiken kann die
spezifische Diagnostik wesentlich früher erfolgen.
2.2 Dopplersonographie
Noch in Evaluation befinden
sich die Dopplersonographie
zur Blutströmungsanalyse
gewisser Gefäßgebiete, genauso
wie die Echokardiographie des
Feten als Risikoselektoren für
bestimmte Probleme des Feten.
Fehlbildungen, insbesondere
aber Chromosomenaberrationen sind Ziele der frühen kombinierten Diagnostik mittels
Ultraschall und biochemischen
Parametern.
2.3 Plasmabestandteile
Eine Bestimmung von Plasmabestandteilen wie Hormonen
kann zur Risikoevaluation beitragen. Die Konstellationen von
Konzentrationen dieser Substanzen sind die Basis für die
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Berechnung einer individuellen
Risikokonstellation, gewöhnlich
unter Berücksichtigung von
Schwangerschaftsalter und
Nackentransparenz. Zwei Konzepte werden derzeit verfolgt:
● ± 12 SSW: PAPP-A und
freies -hCG
● ± 16 SSW: freies -hCG,
Estriol und alpha-Fetoprotein
(Triple-Test)
sel und andere gentechnologisch
feststellbare Veränderungen repräsentieren.
2.4 Nackentransparenz
Eine Messung der Nackentransparenz bei 11 bis 14 SSW
ermöglicht eine Risikobestimmung für genetische Aberrationen, genauso wie für einige
Herzfehler.
Cordozentese
Nabelschnurpunktion (Cordozentese) dient insbesondere zur Analyse von Blutbestandteilen und
zur schnellen Karyotypisierung.
Amniozentese
Fruchtwasserentnahme (Amniozentese) wird zur Analyse von
Zellen des Fetus sowie von
Substanzen, die sich im Fruchtwasser befinden, z.B. alphaFetoprotein, verwendet.
Fetale Zellen im mütterlichen
Blut
Bisher ist die Analyse aus den
wenigen fetalen Zellen im Blut
der Mutter noch nicht sicher
genug, um Voraussetzung für
eine Routinemaßnahme zu sein.
2.5 Invasive diagnostische
Maßnahmen
Invasive diagnostische Maßnahmen können diese überwiegend risikobestimmenden
Untersuchungen ergänzen.
Chorionzottenbiopsie
Chorionzottenbiopsie erfolgt
zur Analyse von Zellen in der
zukünftigen Plazenta, die Besonderheiten von Chromosomen
(Karyotypisierung), Stoffwech-
2.6 Schlussfolgerungen
Die Anstrengungen zur Qualitätssteigerung liegen bei der
Erhebung einer möglichst vollständigen Anamnese sowie bei
den ultrasonographischen Untersuchungen mit der Nacken-
28
transparenzmessung sowie
insbesondere der Ultraschalluntersuchung auf Fehlbildungen des Feten.
Die Feststellung eines dorsonuchalen Ödems wurde bereits in
den Mutterpass aufgenommen.
Es sollte geprüft werden, inwieweit auch die Erhebung weitergehender anamnestischer und
ultrasonographischer Daten,
wie die Quantifizierung der
Nackentransparenz, in die reguläre Schwangerschaftsvorsorge aufgenommen werden
sollte.
Voraussetzung dafür sind optimierte diagnostische Möglichkeiten sowohl seitens der apparativen Ausstattung als auch der
ultrasonographischen Fähigkeiten. In einigen Fällen stellen
auch besondere anatomische
Umstände wie eine Adipositas
permagna diagnostische Hindernisse dar. Schwangere
haben zusätzlich zur RoutineSchwangerschaftsdiagnostik die
Möglichkeit, einen Spezialisten
in Pränatalmedizin zu konsultieren.
Bedacht werden sollte allerdings, dass
● ein Teil schwerwiegender
Fehlbildungen bis 20 SSW
nicht sicher erkennbar ist
wie z.B. hypoplastisches
Linksherz, Nierenstörungen
oder cerebrale Veränderungen,
● ein Teil erheblicher Probleme erst aus dem Verlauf
heraus – auch nach 22 Wochen p.c. – diagnostizierbar
ist wie z.B. Abschnürungen
von Gliedmaßen, Auswirkungen von toxischen Substanzen
oder Infektionen,
● ein Teil nicht gefunden werden kann, da die werdende
Mutter pränataldiagnostische
Maßnahmen nicht in
Anspruch nimmt,
● ein Teil schwer wiegender
Probleme sich erst spät –
nach 24 SSW –, z.T. auch
ohne gezielte Ultraschalluntersuchungen zeigt,
● ein Teil der Untersuchungen
mit lebensgefährlichen
Komplikationen der Mutter
einhergehen kann (MirrorSyndrom).
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Pränatale Diagnostik
Ablaufschema für drei Möglichkeiten der Auseinandersetzung
mit Pränataldiagnostik:
Daraus ergeben sich als
Schlussfolgerungen:
1. Intensivierte Pränatale Diagnostik kann zu einer zunehmend früheren Feststellung
von Problemen in der
Schwangerschaft führen und
damit vermeiden helfen,
dass ein Teil schwerwiegender Diagnosen spät oder zu
spät gestellt wird.
2. Allerdings ist es nicht möglich und auch nicht notwendig, das gesamte Spektrum
des medizinischen Fortschritts flächendeckend
anzubieten und in die Regelversorgung aufzunehmen.
3. Dennoch ist es sinnvoll,
durch besondere Informationen und Beratung auf die
erweiterten Möglichkeiten
der Pränatalen Diagnostik
aufmerksam zu machen.
Es besteht Interesse an den
Resultaten von Pränataldiagnostik, die im Normalfall nach
22 Schwangerschaftswochen
abgeschlossen ist.
1. Es soll ein individuelles Risikoprofil erstellt werden.
2. Es soll eine Diagnose gestellt
werden.
Zum Dritten: Es besteht kein
Interesse an Pränataldiagnostik;
das Recht auf Nichtwissen wird
in Anspruch genommen.
Bei allen drei Vorgehensweisen
können im weiteren Verlauf der
Schwangerschaft neue Befunde
an Kind oder Mutter auftreten,
die im späteren 2. und im 3. Trimenon Anlass zu Pränataldiagnostik sind.
30
Beratung
Recht auf Wissen
Recht auf
Nichtwissen
Pränatale Diagnostik
Keine PND
Risikoevaluation
Direkte Diagnostik
●
Nackentransparenz
Chorionzottenbiopsie oder
●
Serologie
Amniozentese
●
Ultraschall
20 ± 2 SSW
Ultraschall
20 ± 2 SSW
●
Weitere Befunde
an Kind oder Mutter
Weitere Befunde
an Kind oder Mutter
Weitere Befunde
an Kind oder Mutter
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Zur Arzthaftung bei Geburt eines
unerwünschten Kindes
Über zwei Jahrzehnte hat sich
in der Bundesrepublik eine
Rechtsprechung zur Haftung
des Arztes für den Unterhalt
eines Kindes, das aufgrund
eines ärztlichen Behandlungsfehlers ungewollt (nach fehlgeschlagener Sterilisation) oder
„so-nicht-gewollt“ (mit einer
schweren Behinderung) geboren worden ist, entwickelt.
Zuletzt mit Urteil vom 18. Juni
2002 hat der Bundesgerichtshof
BGH diese Rechtsprechung
bestätigt und den Eltern eines
schwerbehindert geborenen
Kindes Schadensersatz in Höhe
des gesamten Kindesunterhaltes gegen die behandelnde
Ärztin zugesprochen, weil diese
beim Ultraschall die erkennbare
Behinderung nicht diagnostiziert
und nicht über die mögliche
Behinderung bzw. die Notwendigkeit einer weiterführenden
Diagnostik aufgeklärt hatte und
infolgedessen ein aufgrund medizinischer Indikation rechtmäßig möglicher Schwangerschaftsabbruch unterblieben war.
Das Urteil ist sehr umstritten.
Vor allem wurde in Übereinstimmung mit der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes von
1993 zur Fristenlösung beim
Schwangerschaftsabbruch angeführt, ein Kind könne von Verfassung wegen grundsätzlich
nicht als Schadensquelle angesehen werden, und deshalb
verbiete es sich, die Unterhaltspflicht für ein Kind als Schaden
zu begreifen.
Das Urteil des BGH entspricht
jedoch den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Rechtsgrundsätzen
über den ärztlichen Behandlungsfehler. Die Rechtsprechung
hat zunächst die Schadensersatzpflicht für den Unterhalt von
Kindern bejaht, die nach fehlerhafter Sterilisation geboren
wurden. Dann hat sie einen
Schadensersatz auch in solchen
Fällen zugebilligt, in denen ein
Kind erheblich behindert zur
Welt gekommen war, dessen
Behinderung durch Pränataldiagnostik hätte erkannt und
dessen Geburt durch einen
rechtmäßigen Schwangerschafts-
32
abbruch hätte verhindert werden können. Eigene Ansprüche
des Kindes lehnt die Rechtsprechung jedoch nach wie vor ab,
so dass der Unterhaltsschaden
auf die Lebenszeit der Eltern
bezogen ist.
Rechtlich wird die Schadensersatzpflicht damit begründet,
dass jeder Arzt und jede Ärztin,
die ihre vertraglichen Pflichten
nicht ordnungsgemäß und dem
anerkannten medizinischen
Standard entsprechend erfüllen, wie sonst auch haften müssen und zum Ersatz des durch
ihr Fehlverhalten verursachten
Vermögensschadens verpflichtet sind. Im Schadensersatzrecht erfolgt die Beurteilung
von Lebenssachverhalten unter
wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung stellt
nicht das Kind, sondern der für
das Kind zu leistende Unterhalt
die Schadensquelle dar, womit
ein Verfassungsverstoß ausgeschlossen ist.
Nach der Rechtsprechung des
BGH kann eine auf ärztlichem
Fehlverhalten beruhende Vereitelung eines Schwangerschaftsabbruches jedoch nur dann
Anlass für eine Schadensersatzpflicht sein, wenn der Abbruch
rechtmäßig möglich gewesen
wäre und sich im konkreten
Fall der Schutzumfang des ärztlichen Behandlungsvertrages
auf die Bewahrung vor belastenden Unterhaltsaufwendungen erstreckt.
Nachdem seit Oktober 1995
die sog. embryopathische bzw.
kindliche Indikation aus dem
Strafgesetzbuch gestrichen ist,
kommt als Rechtsgrundlage für
einen rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch nach 12 Wochen
p.c. nur noch die medizinische
Indikation nach §218a Abs. 2 StGB
in Betracht, die eine schwere
Gefahr für die Gesundheit der
Schwangeren, die nur durch
einen Schwangerschaftsabbruch
abgewehrt werden kann, voraussetzt. Die Entscheidung des BGH
vom 18. Juni 2002 erfolgte erstmalig auf der Basis der neuen
Rechtsgrundlage nach Wegfall
der embryopathischen Indikation. Nach der Entscheidung
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kann sich der Schutzzweck des
Behandlungsvertrages und
infolgedessen die Schadensersatzpflicht auf den Ausgleich
des durch die Unterhaltsbelastung entstandenen Schadens
erstrecken, wenn die gesundheitlichen Gefahren für die
Schwangere ihren Grund nicht
in der Schwangerschaft oder
der bevorstehenden Geburt,
sondern in den Lebensumständen nach der Geburt des Kindes
haben.
Dies könne dann der Fall sein,
„wenn sich gerade die Belastungen durch den späteren
Unterhalt für das Kind in entscheidender Weise negativ auf
den Gesundheitszustand der
Mutter auszuwirken drohen“.
In diesem Fall erstrecke sich
der Schutzzweck des Behandlungsvertrages auf die Vermeidung der durch das „Haben“
des behinderten Kindes drohenden Gesundheitsgefahren.
Vor diesem Hintergrund hat der
BGH im konkreten Fall eine
schwerwiegende Gefahr für die
Gesundheit der Mutter für die
Seite 34
Zeit nach der Geburt angenommen, da die Mutter konstitutionell den Belastungen durch die
Verantwortung für das schwerbehinderte Kind nicht gewachsen war.
Im Rahmen der ärztlichen
Schwangerschaftsbetreuung
nach dem derzeitigen medizinischen Standard finden auch
Untersuchungen statt, die
etwaige nicht behandelbare Erkrankungen oder Entwicklungsstörungen des Kindes erkennen
lassen. Dabei ist entscheidend
die Frage der richtigen und
vollständigen Information, Aufklärung und Beratung nach
einer durch pränataldiagnostische Maßnahmen festgestellten
Gefahr des Vorliegens einer
Vorschädigung des Kindes.
Über das Ergebnis der Pränataldiagnostik muss die Mutter
unterrichtet werden, es sei
denn, sie hat in Wahrnehmung
ihres Rechtes auf Nichtwissen
nach Aufklärung auf die Mitteilung von bestimmten Untersuchungsergebnissen verzichtet.
34
Es ist nicht erlaubt, ihr zur Erhaltung des Lebens des Kindes
dessen zu erwartende Behinderungen, sofern sie erkennbar
sind, zu verschweigen. Allein
die Eltern haben nach ordnungsgemäßer Aufklärung die Entscheidung über den etwaigen
Schwangerschaftsabbruch zu
treffen. Bei einer dem medizinischen Standard entsprechenden
Diagnostik und ordnungsgemäßen Aufklärung und Beratung
der Eltern kann keine Haftung
für die Geburt eines behinderten Kindes für den Arzt/die Ärztin in Betracht kommen.
Die Qualitätssicherung von Aufklärung, Beratung und pränataler Diagnostik ist daher auch das
nächstliegende Mittel zur Minimierung des Haftungsrisikos.
Gleichwohl ist nicht zu bestreiten, dass angesichts der weitreichenden Zuerkennung von
Unterhaltsschadensersatz bei
behindert geborenen Kindern
in der ärztlichen Praxis die
Tendenz zu befürchten ist, im
Zweifel einen Schwangerschaftsabbruch zu empfehlen,
der von vorneherein keine
Gefahr von Kosten in großer
Höhe bzw. der Strapazen eines
Klageverfahrens nach sich ziehen kann. Dieser befürchteten
Tendenz sollte durch klare
rechtliche Rahmenbedingungen entgegengewirkt werden.
Eine gesetzliche Festlegung
dahingehend, dass die Unterhaltspflicht für ein Kind niemals ein Schaden sein kann,
wirft kaum lösbare grundlegende Probleme in Bezug auf
die Erhaltung der präventiven
Funktion der Haftung im ArztPatientin-Verhältnis auf. Denn
Folge einer solchen Regelung
wäre, dass selbst grobe ärztliche Pflichtverletzungen mit
tiefgreifenden Folgen für die
Schwangere praktisch sanktionslos blieben.
Als Alternative zur Haftung des
Arztes für Unterhaltsleistungen
werden daher auch Fonds- oder
Versicherungslösungen vorgeschlagen. Solche Modelle erscheinen jedoch als Regelung
für die Einzelfälle des Schadensausgleiches allein für
unerwünscht geborene behinderte Kinder nicht geeignet.
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Zum späten Schwangerschaftsabbruch
Auch müssten aus Gleichbehandlungsgründen andere
behinderte Kinder und aufgrund ärztlicher Pflichtverletzung geborene unerwünschte
gesunde Kinder mit einbezogen
werden, was schwierige Fragen
der Finanzierung aufwirft.
Fonds- oder Versicherungslösungen, die gesetzlich geregelt
werden müssten, stellen unter
den derzeitigen Gegebenheiten
theoretische Denkmodelle, aber
keine pragmatischen, realisierbaren Lösungsvorschläge dar.
einer zuverlässigen Diagnostizierbarkeit von Vorschädigungen des erwarteten Kindes und
der sich bereits abzeichnenden
und für die Schwangerenbetreuung nachteiligen Folgen
einer „Defensivmedizin“ sollte
auch in der Bundesrepublik
geprüft werden, ob die ärztliche
Haftung für Unterhaltsleistungen für ein vorgeschädigt geborenes Kind bei Diagnoseirrtümern gesetzlich auf die Fälle
grober Fahrlässigkeit beschränkt
werden kann.
In Frankreich hat der Gesetzgeber – nach einer intensiven
öffentlichen Debatte – die Haftung des Arztes bei Nichterkennen einer Behinderung des
Kindes auf die Fälle grober
Fahrlässigkeit begrenzt. Wegen
der Unsicherheiten und Risiken
Das Erfordernis einer sorgfältigen Aufklärung und Beratung
wird von einer solchen Regelung nicht berührt, ebenso wie
die Haftung für eventuelle andere Schäden infolge einer ärztlichen Pflichtverletzung in vollem Umfange bestehen bleibt.
I.
Die Entwicklung des späten
Schwangerschaftsabbruchs
nach dem Schwangeren- und
Familienhilfeänderungsgesetz
aus dem Jahre 1995 (BGBl I, S.
1050 ff.) gibt zu schweren
Bedenken Anlass. Sie betreffen
vor allem die enorme Ausweitung der pränatalen Diagnostik
ohne hinreichende medizinische und psychosoziale Beratung und Begleitung mit der
Folge einer möglichen Ausweitung der Abbrüche sowie die
Folgen des Wegfalls der früher
selbstständigen embryopathischen Indikation und ihrer
Aufnahme in eine weite medizinische Indikation, die insbesondere bei Spätabbrüchen nach
22 SSW p.c. zu erheblichen Problemen geführt haben.
§218a II 1 in der Fassung des
15. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 18. Mai 1976 hatte
noch ausdrücklich einen
embryopathisch-indizierten
Schwangerschaftsabbruch bei
dringender Gefahr einer nicht
behebbaren Schädigung des
Gesundheitszustandes des Kin-
36
des bis zu 22 SSW p.c. von der
Strafbarkeit ausgenommen. Der
Sache nach war bei dieser Fassung des Gesetzes eine Verbindung mit der Situation der
Schwangeren und der Zumutbarkeit für sie durchaus hergestellt, weil Voraussetzung des
Abbruchs war, dass die Gesundheitsschädigung des Kindes so
schwer wog, dass von der
Schwangeren die Fortsetzung
der Schwangerschaft nicht verlangt werden konnte.
Die früher selbstständige so
genannte embryopathische
Indikation ist nach neuem
Recht nun unter die medizinische Indikation subsumiert
worden. Diese ist gegeben,
wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und
zukünftigen Lebensverhältnisse
der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist,
um eine Gefahr für das Leben
oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung
des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes
abzuwenden und die Gefahr
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nicht auf eine andere für sie
zumutbare Weise abgewendet
werden kann.
Damit sind Schwangerschaftsabbrüche im Zusammenhang
mit einer schweren Schädigung
des erwarteten Kindes und
gesundheitlicher Gefährdung
der Mutter nicht mehr nur bis
22 SSW, sondern praktisch bis
unmittelbar vor der Geburt
zulässig. Mit den Methoden der
Pränataldiagnostik werden
vitale Erkrankungen, Entwicklungsstörungen und Anlageträgerschaften eines Fetus mitunter erst nach 22 SSW erkennbar
bzw. diagnostiziert. Andererseits
hat die Entwicklung in der Medizin dazu geführt, dass bereits
Kinder mit ca. 500 Gramm Geburtsgewicht in einem Schwangerschaftsalter ab 22–24 Wochen
überleben können. Der Wunsch
nach einer Beendigung der
Schwangerschaft wegen Schäden des Feten kann daher mit
extrauteriner Lebensfähigkeit
solcher Feten zusammentreffen. Die Medizin steht somit vor
dem Konflikt, außerhalb des
Mutterleibes lebensfähige Kinder durch die verschiedenen
Seite 38
Methoden des Fetozides vor der
Geburt intrauterin zu töten oder
durch Sectio lebend zur Welt zu
bringen. Entweder werden solche schwerstgeschädigten Kinder dann nicht intensiv-medizinisch betreut, oder sie werden
mit den Mitteln der Intensivmedizin in das Leben gebracht.
Dazu dürfte bei Lebendgeburten, wenn ihre Überlebensaussichten nicht ausgeschlossen
erscheinen, eine strafrechtlich
bewehrte Verpflichtung bestehen.
Zwar gibt es nach den offiziellen Statistiken des Schwangerschaftsabbruchs nur eine geringere Zahl von Abbrüchen in der
Spätphase der Schwangerschaft.
188 Fälle wurden für einen Abbruch nach 23 Wochen p.c. für
das Jahr 2002 gemeldet. Diese
Statistiken begegnen aber erheblichen Zweifeln. Berichte
aus der Praxis zeigen, dass in
mehreren Kliniken in der Bundesrepublik Spätabbrüche erfolgen, die dann offenbar teilweise als Totgeburten und nicht
als Abbrüche registriert werden. In zunehmender Zahl
38
suchen Paare, die nach Pränataldiagnostik die Geburt eines
schwergeschädigten Kindes
befürchten, Hilfe in verschiedenen Zentren.
II.
Für die Spätabbrüche kommt
eine Gesetzesänderung in Betracht. Hier wäre als erste Alternative eine Ergänzung des
§218a II um einen zweiten Satz
zu bedenken. Dieser könnte
lauten:
„Kommt eine extrauterine Lebensfähigkeit des Ungeborenen
in Betracht, was in der Regel
nach 20–22 Wochen nach Empfängnis anzunehmen ist, und
steht die Indikation nach Satz 1
im Zusammenhang mit einer
Erkrankung oder Entwicklungsstörung des Ungeborenen, darf
ein Abbruch nur vorgenommen
werden, wenn eine Gefahr für
das Leben oder die physische
Gesundheit der Mutter besteht
oder das Ungeborene voraussichtlich nicht lebensfähig sein
wird oder beim Ungeborenen
eine unbehandelbare Krankheit
oder Entwicklungsstörung vorliegt.“
Diese Voraussetzungen sind
von einer fallbezogen interdisziplinären Kommission von
Mitgliedern aus den Fachrichtungen Frauenheilkunde, Kinderheilkunde, Humangenetik
sowie Psychiatrie oder Psychotherapie auf Antrag der Schwangeren binnen drei Tagen festzustellen.
III.
Alternativ wird auch eine generelle Regelung für die Fälle der
embryopathischen Indikation
diskutiert.
Hier wäre an einen neuen
§218a III zu denken. Folgender
Wortlaut käme in Betracht:
„Liegt der medizinischen Indikation für den Abbruch eine
Erkrankung oder Entwicklungsstörung des Embryos oder Fetus
zugrunde (embryopathische
Indikation), so ist ein Abbruch
grundsätzlich nur bis 22 Schwangerschaftswochen p.c. zulässig.“
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Literaturhinweise:
„Die Voraussetzungen des Abbruches sind in einem solchen
Falle von einer fallbezogen
interdisziplinären Kommission
von Mitgliedern aus den Fachrichtungen Frauenheilkunde,
Kinderheilkunde, Humangenetik sowie Psychiatrie oder Psychotherapie zu prüfen.“
Alternative:
„ ... durch mindestens zwei beratende Ärzte nach medizinischer
und psychosozialer Beratung
übereinstimmend festzustellen.“
Die Fortschritte in der medizinischen Versorgung von Frühgeborenen haben in den letzten
Jahren dazu geführt, dass bereits Kinder mit etwa 500 Gramm
Geburtsgewicht und einem entsprechenden Reifegrad überleben können. Dies entspricht
einem Schwangerschaftsalter
von etwa 22 bis 24 Wochen p.m.
Da sich zumindest in den Fällen
gegebener extrauteriner Lebensfähigkeit der Schutzanspruch
des ungeborenen Kindes aus
ärztlicher Sicht nicht von demjenigen des geborenen unterscheidet, soll der Zeitpunkt, zu
dem die extrauterine Lebensfähigkeit des Ungeborenen
gegeben ist, in der Regel als
zeitliche Begrenzung für einen
Schwangerschaftsabbruch
angesehen werden.
In besonderen Ausnahmefällen
schwerster unbehandelbarer
Krankheiten oder Entwicklungsstörungen des Ungeborenen kann nach Diagnosesicherung und interdisziplinärer
Konsensfindung von dieser zeitlichen Begrenzung abgewichen
werden.
40
Literatur:
Dommergues, M.; Benachi, A.;
Benilla, J.-L.; des Noëttes, R.;
Dumez, Y.: The reasons for termination of pregnancy in the
third trimester. BrJObstetGynaecol 106 (1999) 297–303
Schwangerschaftsabbrüche in
Deutschland 2002, Statistisches
Bundesamt, Wiesbaden 2003
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28.5.1993, Neue
Juristische Wochenschrift
(NJW) 1993, 1751ff.
Ausführliche Dokumentation
und weitere Literaturangaben
unter www.dggg.de
Strafgesetzbuch §218–219,
S. 102–105, Textsammlung,
Stand 1. Juni 2001, München
Verwendete Abkürzungen:
BGBL – Bundesgesetzblatt
BGH – Bundesgerichtshof
BVG – Bundesverfassungsgericht
DGGG – Deutsche Gesellschaft
für Gynäkologie und Geburtshilfe
EBM – Einheitlicher Bewertungsmaßstab
GKV – Gesetzliche Krankenversicherung
GOÄ – Gebührenordnung für
Ärzte
p.c. – post conceptionem
p.m. – post menstruationem
PND – Pränataldiagnostik
SchKG – Schwangerenkonfliktgesetz
SSW – Schwangerschaftswochen
StGB – Strafgesetzbuch
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 18.6.2002, NJW 2002, 2636
Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagostik, Wissenschaftlicher
Beirat der Bundesärztekammer,
20.11.1998, Internetversion
http://www.baek.de:80/30/Richt
linien/Empfidx
Richtlinien zur pränatalen
Diagnostik von Krankheiten
und Krankheitsdispositionen,
Wissenschaftlicher Beirat der
Bundesärztekammer, Dt. Ärzteblatt 95 (1998) A-3236-3242 (50)
41
Herunterladen