Integration der HWS bei der Funktionsanalyse und Behandlung von cranio-mandibulären Dysfunktionen/Teil II Einleitung von John Langendoen-Sertel Auch der hier vorliegende zweite Teil des Beitrags betont die mögliche Relevanz der Halswirbelsäule im Gesamtmanagement von chronischen Kauorganbeschwerden. Die Halswirbelsäule ist die Domäne der Manualtherapeuten und Manualmediziner und im Rahmen der Patientenzentriertheit wird sie hier nicht nur aus biomechanischer Sicht präsentiert. Während sich der erste Teil des Beitrages schwerpunktmäßig mit den Beziehungen zwischen Kauorgan und HWS, auch unter neuro-anatomischen Gesichtspunkten und der Palpation der verschiedenen Abzweigstellen der 3 NV Äste (s. Abb. 5) beschäftigte, behandelt der zweite Teil vorwiegend die HWS-Untersuchung bei Dysfunktion des Kauorgans. Abb. 5: Die palpablen Austrittstellen der 3 Hauptäste des N. trigeminus (Autor in Anlehnung an Anderson103) Im ersten Teil des Beitrags haben wir das sensorische Kerngebiet des N. V angeschaut, auch N. trigeminozervikalis, pars kaudalis genannt. Zusammen mit den dort ebenfalls eintretenden Afferenten der 1 HWS-Segmente vergrößert sich das Hinterhorn zu einem wahren Wasserkopf. Schmerzphysiologie In diesem aufgeblähten Ballon bzw. quasi Wassermelone mit einer extrem hohen Dichte von Hinterhornzellen kommt es bei Daueraktivierung leicht zur Übertragung auf die Nachbarzellen. Im Zustand kontinuierlicher nozizeptiver Afferenten gibt es zentrale Sensibilisierungsprozesse mit Vergrößerung der rezeptiven Felder14,17,18,35,69,82,99,100. Diese aktiven, dynamischen oder plastischen Änderungen führen beim Patienten zur Wahrnehmung des Schmerzes in größeren bzw. entfernten Gebieten, anstatt (nur) an der primären nozizeptiven Quelle29 bzw. zur Muskelinhibition5. Eine Folge könnte sein, dass die Schmerzlokalisierung nicht spezifisch für die Lokalisierung der Störung ist. Dies könnte zu inkompletten oder sogar Fehldiagnosen führen. Ein klinisches Beispiel dieser zentralen Schmerzübertragung stellen Gesichts- bzw. Ohrenschmerzen durch eine Funktionsstörung der oberen HWS, z. B. des C2/3 Gelenkes dar38. Ein weiteres Beispiel ist ein Unterkieferschmerz übertragen vom Kiefergelenk, ohne dass lokal am Gelenk Schmerzen wahrgenommen werden. Ob der Schmerz tatsächlich zentral übertragen ist, oder über den Verlauf eines sensibilisierten N. mandibularis (N. V3) ausstrahlt, lässt sich klinisch testen66. Weiter ist klinisch beobachtet und berichtet worden, dass ein ehemaliger Zahnschmerz, der früher lange sehr stark gewesen ist, jetzt z. B. während einer Nebenhöhlenentzündung wieder auftritt (mit gleichzeitig vielleicht nur mäßigem Kopfschmerz), was nach Wurzelbehandlung und Kronenversorgung des Zahnes ausgeschlossen wäre. Dieses Phänomen wird häufig memory of pain (Schmerzgedächtnis) genannt, obwohl eine zentrale Sensibilisierung durch das Phänomen der Neuroplastizität der anerkannte Fachbegriff ist18,69,100. Diese dauerhafte Steigerung der Sensibilität der Hinterhornzellen und teilweise von supraspinalen Kerngebieten könnte nur langsam reversibel bzw. irreversibel sein82. Weitere Erklärungen für die Fehllokalisierung der Schmerzen bzw. verbreitete Schmerzbereiche und anhaltende (tonische) statt vorübergehende (phasische) Muskeltonuserhöhung bieten die neuroanatomischen Verbindungen zur Höhe der primären Trigeminus-Kerngebiete in der Nähe der Formatio reticularis im Hirnstamm15,77, bzw. weitere Konvergenz im kognitiv-emotionalen Bereich des limbischen Systems mit komplexen Folgen wie z. B. autonome Einflüsse8,27,28,34,89. Der Verlust an Spezifität der Schmerzlokalisierung könnte zu Fehldiagnosen bzw. lang anhaltenden und verschleppten Beschwerden, wie im Beispiel der Nebenhöhlenentzündung, oder erfolglosen Behandlungen führen. Viele Zahnärzte haben sicherlich schon gehört, dass ein gesunder Zahn gezogen wurde, nur weil der Zahn schmerzte und ungenügend Diagnostik betrieben wurde. Selbstverständlich kann auch der N. V selbst die Quelle der Reizung sein. Die neuropathischen Merkmale von episodischen Trigeminusneuralgien stellen in diesem Kontext einen Höhenpunkt dar. Da das Thema der wahren Trigeminus-Neuralgien und Neuropathien den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde, wird hier nur auf die aktuelle einschlägige Literatur hingewiesen11,16,37,67,78,83,84,95. Trotzdem leiden gerade Patienten mit einem sensibilisierten peripheren N. V noch lange unter nur langsamem Abklingen der nervalen Sensibilisierung. Auch bei solchen Patienten könnte eine adäquate manuelle und physiotherapeutische Behandlung unterstützend erfolgreich sein. Eine Erklärung dafür bietet die Reduzierung der nozizeptiven Afferenten aus der HWS im kaudalen Gebiet des Nucleus trigeminocervicalis, wodurch der Prozess der zentralen Sensibilisierung nicht länger durch die HWS unterhalten wird. HWS-Untersuchung bei Dysfunktion des Kauorgans Der übliche Ansprechpartner für die primäre Diagnostik craniomandibulärer Dysfunktionen und federführend in deren Therapie ist und bleibt der Zahnarzt bzw. Kieferorthopäde. Beide können auch die erforderlichen Verordnungen für die unterstützenden Therapien, wie Manuelle Therapie, Cranio-Sacrale Therapie oder Myofunktionelle Therapie ausstellen. Eine Funktionsuntersuchung und evtl. anschließende bildgebende 2 Verfahren geben über die mögliche Beteiligung der HWS am Kauorganproblem Aufschluss. Die klinische Erfahrung zeigt, dass bei fast jeder chronischen Symptomatik die HWS, wenn valide getestet, mehr oder weniger auffällig ist. Eine adäquate Therapie sollte nicht nur bessere und schnellere Ergebnisse gewährleisten, sondern auch zum Erfolg der erforderlichen anschließenden definitiven zahnärztlichen Therapie beitragen. Obwohl beim Erwähnen der Referenzen im Kontext dieses Schriftsatzes bewusst auf eine kritische Analyse der Forschungen aus methodologischer, statistischer und interpretativer Sicht verzichtet wurde, sollte obenstehendes ausreichend überzeugend sein, um auch bei Patienten, die anamnestisch keine HWS-Beschwerden angeben, routinemäßig eine Funktionsuntersuchung der HWS durchzuführen. Der aktuelle Trend zur evidenz-basierten Praxis bedeutet nicht, dass nur, was eindeutig wissenschaftlich nachgewiesen ist, rezeptbuchartig praktiziert werden sollte, sondern dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen mit kritischer klinischer Erfahrung zum besser überlegten, individuellen Management des Patienten führen sollen74. Wenn andererseits HWS-Beschwerden im Vordergrund stehen, bedeutet dies nicht, dass keine zusätzlichen und zu behandelnden Kauorganstörungen bestehen, bzw. dass diese sekundär sind, oder sich gegenseitig beeinflussen müssen. Nur eine funktionelle Befundaufnahme, eine spezifische Behandlung der gefundenen Funktionsstörungen und eine anschließende Effektkontrolle des Initialbefundes könnten darüber Aufschluss geben. Strategie Eine vollständige physiotherapeutische Funktionsuntersuchung des Bewegungsapparates bei craniomandibulären Dysfunktionen ist schematisch in Tabelle 1 abgebildet. Selbstverständlich ist dies auch für den Physiotherapeuten zu umfangreich, um diese in der ersten Sitzung komplett durchzuführen. Generell ist es nicht angebracht, zu viele belastende Teste an einem Tag durchzuführen, auch könnten überflüssige Nachreaktionen hervorgerufen werden. Die primären Ziele der Untersuchung sind das Feststellen von strukturellen somatischen Dysfunktionen, die für die Symptome (mit)verantwortlich sein können wie auch das gezielte und dosierte Reproduzieren der Symptome, um die primär verantwortliche Struktur zu identifizieren. Zur Verbesserung der interdisziplinären Kommunikation ist der Gebrauch der offiziellen Nomenklatur der nicht diagnosegebundenen funktionellen International Classification of Impairment, Disability and Handicap (ICIDH) der Weltgesundheitsorganisation unumgänglich (ICIDH 1997). Aktive Tests (4a) Für Zahnärzte und Kieferorthopäden empfiehlt sich eine schnelle Basisuntersuchung (screening) und, wenn erforderlich, eine kurze erweiterte Untersuchung der HWS51. Nach der Inspektion (2), die hier nicht in Einzelheiten besprochen wird, sind am Patient sechs aktive HWS-Standardtests auszuführen, die auf Ausmaß der Bewegung (Quantität), Ablauf der Bewegung (Qualität) und Schmerzverhalten beurteilt werden. • 1. Flexion oder Inklination (das Kinn kann normalerweise auf die Brust gebracht werden), • 2. Extension oder Reklination (die normale Beweglichkeit zeigt die Gesichtslinie 90° zur Körperachse), • 3./4. Lateroflexion oder Seitneigung links und rechts (Ohr-Schulterdistanz 5-8 cm) und • 5./6. Rotation links und rechts (90°). Wenn keine Schmerzen reproduziert werden, sollte am Ende aller Bewegungen stufenweise starker Überdruck nach Maitland51 ausgeführt werden. Wenn auch dies ohne Schmerzreproduzierung möglich ist, sind die maximal belastenden, dreidimensionalen Tests auszuführen (Abb. 6-10). 3 Abb. 6: Ausführung des Überdrucks für die obere HWS am Ende einer aktiven Inklinationsbewegung ohne Schmerz Abb. 7: Ausführung des Überdrucks für die obere HWS am Ende einer aktiven Reklinationsbewegung ohne Schmerz Abb. 8: Ausführung des Überdrucks für das Segment C2/3 am Ende einer aktiven Seitneigungsbewegung nach links ohne Schmerz 4 Abb. 9: Ausführung des Überdrucks für die gesamte HWS am Ende einer aktiven Rotationsbewegung nach rechts ohne Schmerz Abb. 10a: Die beiden maximal belastenden 3-dimensionalen Tests für die obere HWS nach Maitland51. Hier 10a: Flexion der oberen HWS + Lateroflexion und gleichsinnige Rotation zur maximalen kontralateralen Dehnbelastung Abb. 10b: Extension der oberen HWS + Rotation und gleichsinnige Lateroflexion zur maximalen ipsilateralen Kompressionsbelastung Erst wenn diese letzten Tests ohne Schmerz und Einschränkung ausgeführt werden können, dürfen die Bewegungsrichtungen der HWS für in Ordnung befunden werden. Wenn dies bereits nach aktiven Testen ohne Überdruck bescheinigt wird, führt dies möglicherweise zu einer falsch negativen Interpretation. Nicht, weil die Tests zu unsensitiv wären, sondern weil die Ausführung nicht ausreichend belastend und somit nicht valide war. Zudem ist noch passiv mit linearen Bewegungen zu untersuchen (9a), um die HWS definitiv von 5 einer Beteiligung an der cranio-facialen Symptomatik auszuschließen. Spezialtests (7) Bevor die in Bezug auf Schmerz wichtigsten passiven, linearen Tests erläutert werden, könnte es in der Praxis indiziert sein, einige so genannte Sicherheitsmaßnahmen durch Spezialtests auszuführen. Bei subjektiven Angaben oder ersichtlich funktionellen Hinweisen, die auf peripher bzw. zentral neurologische Störungen deuten, sollte umgehend eine neurologische Untersuchung angeordnet werden. Bei Verdacht auf eine A. vertebralis-Problematik sind eine Reihe von Sicherheitstests durchzuführen, bevor passiv an der HWS untersucht bzw. behandelt wird2,49. Dieser Verdacht besteht bei Schwindel, Doppelsehen, Schluckstörungen, Artikulierungsschwierigkeiten, kurzzeitiger Ohnmacht, Umfallen, Tinnitus, regelmäßiges Erbrechen und Übelkeit, v. a., wenn mehrere dieser Symptome auftreten bzw. wenn die Symptome typischerweise HWS-Haltungs- oder bewegungsabhängig scheinen. Wenn diese Problematik stark im Vordergrund steht, sollte die Funktionsuntersuchung sogar mit den A. vertebralis-Tests begonnen werden. Wird dabei der Verdacht erhärtet, sollte eine Doppleruntersuchung angeordnet werden. Da diese Bewegungsuntersuchung selbst nicht ohne Risiko ist, sollte sie nur erfahrenen Manualtherapeuten und Medizinern überlassen werden. Bei Verdacht auf Instabilität des passiven Stützapparats der oberen HWS sollten manuelle Stabilitätstests ausgeführt werden41,61,81. Eine Stabilitätsüberprüfung ist bei folgenden subjektiven Hinweisen indiziert: anhaltende, v. a. haltungsabhängige, post-traumatische Kopf-Nackenbeschwerden (Beispiel Schleudertrauma), das Gefühl den Kopf nicht halten zu können, Down Syndrom Patienten, Rheumatoide Arthritis Patienten, Morbus Grisel Patienten (ligamentäre Instabilität durch chronische Entzündungsprozesse, z. B. chronisch rezidivierende Mandelentzündungen) als auch die bei der A. vertebralis genannten kopf-nackenhaltungsabhängigen Symptome. Wenn sich der Verdacht beim Testen bestätigt, ist anschließend eine funktionelle Kernspintomographie beim spezialisierten Radiologen anzuordnen86. Da diese Stabilitätsuntersuchung teilweise etwas schwieriger und selbst nicht ohne Risiko ist, sollte sie nur erfahrenen Manualtherapeuten und Medizinern überlassen werden. Passive Tests (9a) Die wichtigsten passiven linearen Tests zur Bestimmung der Relevanz der HWS bei cranio-facialen Schmerzen sind auch vom Zahnarzt bzw. Kieferorthopäden einfach zu erlernen und schnell auszuführen. Auf nachfolgenden Fotos ist die praktische Handhabung deshalb in der zahnärztlichen Praxis und nicht in der physiotherapeutischen Praxis dargestellt. Eine passive anguläre oder physiologische segmentale Untersuchung ist generell etwas schwieriger, zudem nicht immer einfach mit dem Schmerz zu korrelieren, und wird deshalb im Rahmen dieses Aufsatzes nicht erläutert. Beide Querfortsätze des Atlas sind einfach zu palpieren und sollten gleich stark (wenig) druckempfindlich und möglichst gleich gut palpabel sein. Häufig ist eine Seite aber ungleich viel druckempfindlicher bzw. prominenter. Bei festerem und oszillierendem Bewegen wird getestet, ob irgendwelche Symptome hervorgerufen werden, was daraufhinweist, dass dieses Segment für die Symptomatik (mit)verantwortlich ist. Durch die kurzen Nackenstrecker (s. auch einschlägige Anatomiebücher) hindurch wird tief in Richtung der atlanto-occipital Gelenke (Occ/C1) palpiert und anschließend oszillierend bewegt (Abb. 11). 6 Abb. 11: Alternative sitzende Ausgangsstellung für die Palpation der Muskelansätze am Occiput, der Nn. occipitalis major & minor und schräg nach antero-cranial zu den atlanto-occipital Gelenken (abgebildet durch die Richtung des Daumens) Das Occ/C1 Gelenk ist zwar nicht direkt palpabel, dafür aber gezielt zu bewegen und zu belasten. In zahnärztlicher Praxis ist die Palpation einfach im Sitzen durchführbar. Die linearen Bewegungen werden normalerweise mit beiden Daumen vom Physiotherapeuten in Bauchlage ausgeführt, was dem Zahnarzt bzw. Kieferorthopäden ein wenig Improvisation abverlangt. Hierbei könnten v.a. occipitale Kopfschmerzen, manchmal ausstrahlend zur Schläfe oder Stirn, ausgelöst werden. Die Palpation der Muskelansätze, als auch die Nn. occipitalis major & minor bzw. N. suboccipitalis, am Hinterkopf könnten ebenfalls lokale und ausstrahlende Schmerzen verursachen (s. Abb. 11 sowie einschlägige Anatomiebücher). Wie das Occ/C1 Gelenk ist das atlanto-axiale Gelenk (C1/2) ebenfalls von posterior nicht direkt palpabel. Dafür ist es von antero-lateral einfach zu finden, wenn hinter dem Ramus mandibulae zwischen dem Angulus mandibulae und Querfortsatz C1 palpiert wird (Abb. 12). Abb. 12: Palpation des C1/2 Gelenkes im Sitzen (in der zahnärztlichen/kieferorthopädischen Praxis) C1/2 ist aber deutlich seltener für die cranio-faciale Symptomatik verantwortlich und wenn, dann liegt wahrscheinlich eine rotatorische Bewegungsstörung vor. Die anterioren Anteile (Tuberculi) der Querfortsätze der Halswirbel sind ebenfalls antero-lateral gut palpabel und die asymmetrische Beweglichkeit und Schmerzempfindlichkeit einer Bewegungsuntersuchung könnte relevant sein (Abb. 13). 7 Abb. 13: Palpation des Tuberculum anterius des Processes transversus C3 links am Skelett. Die Palpation wird durch die Ansätze des M. scalenus anterior und M. longus colli (C3-6) erschwert Wenn sogar Reproduzierung von Ohr- bzw. Gesichtschmerzen erreicht wird, ist die Aussagekraft über die Relevanz der HWS noch deutlicher. Sehr relevant sind häufig die C2/3 Gelenke, die posterior links und rechts gut palpabel sind. Dazu wird zuerst der riesige erste Dornfortsatz unterhalb des Occiputs gesucht: der Processus spinosus des Axis (C2). Waagerecht nach lateral wird der äußerste laterale Knochenanteil des zweiten Halswirbels gesucht. Senkrechte Palpation und oszillierende Bewegungen mit beiden Daumen testen v. a. das C2/3 Facetten- oder Zygapophysealgelenk und werden häufig links-rechts Differenzen in Hinsicht auf Druckempfindlichkeit und Beweglichkeit aufweisen (Abb. 14). Abb. 14: Untersuchung des C2/3 Facettengelenks in der alternativen Ausgangsstellung der Seitenlage mit gleichzeitiger funktioneller rotatorischer Ausgangsstellung Zudem könnten Beschwerden im Kopfbereich reproduziert werden. Wenn zervikogene Komponenten für die cranio-faciale Symptomatik (mit)verantwortlich sind, dann ist C2/3 in den meisten Fällen das betroffene Niveau38. Der Manualtherapeut wird die Untersuchung mit diesen linearen Bewegungen, wenn erforderlich, noch in weiteren funktionellen Ausgangspositionen der Gelenke und des Körpers (und somit des Nervensystems) 8 durchführen, um die Symptomatik noch einfacher, deutlicher und damit aussagekräftiger zu reproduzieren. Diskussion Aus topographischer, ontogenetischer, arthrokinematischer, muskelfunktioneller, neuroanatomischer und schmerzphysiologischer Sicht gibt es enge Korrelationen zwischen dem Kauorgan und der (v.a. oberen) HWS. Nur eine spezifische manuelle Funktionsuntersuchung könnte die Relevanz der HWS am cranio-facialen Problem bestimmen. Die primären Ziele dieser Erweiterung der Funktionsanalyse des Kauorgans sind das Reproduzieren der Symptomatik bzw. das Feststellen einer links-rechts Differenz in Beweglichkeit und Druckempfindlichkeit. Bildgebende Verfahren können das nicht. Röntgen-, computertomographische bzw. kernspintomographische Untersuchungen dienen v. a. dazu, das klinische (und vorher befundete) Bild zu erklären und Gefahrensituationen zu erkennen. Diese ergänzende Diagnostik könnte den Rahmen für die konservative Therapie stecken, bzw. Indikationen für Chirurgie feststellen. Obwohl die Zusammenhänge zwischen Kauorgan und (Hals-)Wirbelsäule theoretisch bekannt sind, könnte dies in der Praxis ungenügend berücksichtigt sein. Das liegt möglicherweise daran, dass die spezifische klinische Expertise im multidisziplinären Team noch nicht ausreichend vorhanden ist. Das zunehmende Interesse an Zusammenarbeit von Zahnärzten/Kieferorthopäden und Physio-/Manualtherapeuten zeigt, dass die Vielseitigkeit der cranio-facialen Problematik zunehmend erkannt wird. Dementsprechend steigen auch das Bedürfnis nach Kenntnis, die Anforderungen an die Therapie als auch an die Qualitäten der Mitglieder des multidisziplinären Teams. Dieser Aufsatz hatte das Ziel, Zahnärzte/Kieferorthopäden in einer spezifischen ergänzenden Funktionsuntersuchung der HWS bei Patienten mit cranio-facialer Problematik einzuführen, die Auffälligkeit bzw. Relevanz der HWS festzustellen und gegebenenfalls, durch eine gezielte Überweisung zum spezialisierten Physiotherapeuten, eine zusätzliche Komponente am Behandlungsplan zuzufügen. Jetzt sollte der Zahnarzt/Kieferorthopäde den Patienten nicht nur auf den Zahn fühlen, sondern auch noch an den Kragen gehen! Aber, es lohnt sich. Eine praktische eintägige Einführung in diese HWS-Funktionsuntersuchung bietet der zahnärztliche Arbeitskreis Kempten jährlich in der Fachklinik Enzensberg, Hopfen am See/Allgäu an. Die ersten Nutznießer dieser Fortbildung sind die Damen und Herren Zahnmediziner selbst, die die Spezifität dieser Untersuchung (bzw. Behandlung) an der eigenen Berufskrankheit, dem Zervikalproblem, selbst erfahren. Wenn dabei zudem cranio-faciale Beschwerden beeinflusst werden, sind auch die letzten Skeptiker überzeugt. Tab. 1: Schema einer standardisierten physiotherapeutischen Funktionsuntersuchung bei zerviko-cranio-facialer Symptomatik (adaptiert von Maitland50,51): 1. Fragen nach Symptomatik im Moment des Beginns der Untersuchung 2. Inspektion a) Rumpf, b) Schulter, c) Nacken, d) Kopf - extra-oral & intraoral 3. Demonstration der funktionellen Einschränkung / schmerzhaften Bewegung oder Haltung 4. Aktive Bewegungen a) HWS, b) TMG, c) Brustwirbelsäule (BWS), d) Schultergürtel 5. Statische Tests und Funktionstests der Muskeln 6. Neurologische Untersuchung (wenn indiziert) 7. Spezialtests (A. vertebralis, Stabilitätstests obere HWS, wenn indiziert) 8. Passive anguläre (physiologische) Bewegungen a) HWS, b) TMG, c) BWS, d) Schulter, e) Nervensystem, f) Muskellängen 9. Palpation und passive (lineare) Zusatzbewegungen a) HWS, b) TMG, c) BWS, d) Schultergürtel, e) Os Hyoideum, f) Cranium 9 10. Okklusion Die Reihenfolge der Tests kann variieren. Nicht alle Tests sind beim Initialbefund durchzuführen. Die Literaturliste kann bei der Redaktion angefordert werden. Ein herzliches Dankeschön an Zahnarzt Per Fossdal, seiner Assistentin Rosanna Sabato und der Physiotherapeutin Karin Sertel für deren Unterstützung. Korrespondenzadresse: John Langendoen-Sertel B.PT, Grad.OMT Prälat-Götz-Straße 3 87439 Kempten 10