Global Poetics Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien zur Globalisierung Band 1 Herausgegeben von Christian Moser und Kirsten Kramer Christian Moser / Linda Simonis (Hg.) Figuren des Globalen Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien Mit 21 Abbildungen V&R unipress Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0170-3 ISBN 978-3-8470-0170-6 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn. x 2014, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Titelbild: x Adam Thompson, Untitled, 2006, Reclaimed globe, black pigment, 50 cm dia Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Inhalt Christian Moser / Linda Simonis Einleitung: Das globale Imaginäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Teil I: Figuren des Globalen, Narrative der Totalisierung Christian Moser Figuren des Globalen. Von der Weltkugel zum Welthorizont . . . . . . . 25 Robert Stockhammer Welt oder Erde? Zwei Figuren des Globalen . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Michael Auer Präfigurationen des Planetarischen: Ernst Jünger, Gayatri Spivak und die typologische Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Achim Hölter Totalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Kirsten Kramer Globalität und Weltbezug in der französischen Kulturanthropologie und der spanischen Erzählliteratur der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . 105 Dominik Schreiber Der Klimawandel – Aufstieg eines globalen Narrativs . . . . . . . . . . . 129 Teil II: Rekonzeptualisierungen von Weltliteratur Erhard Schüttpelz World Literature from the Perspective of longue durée . . . . . . . . . . . 141 6 Inhalt David Damrosch Plus ça change? Die Komparatistik im globalen Zeitalter . . . . . . . . . 157 Dieter Lamping Die Welt der Weltliteratur. Denotationen und Konnotationen eines suggestiven Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Bernd Blaschke Für? eine? Welt? -! Literatur? auf Französisch? Thesen und Fragen zum Manifest von Michel Le Bris und seinen 43 . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Joseph O’Neil Nomos oder Medium der Erde? Zur Geopoetik der Weltliteratur . . . . . 193 Teil III: Poetiken des Globalen David Damrosch Geopoetics: World Literature in the Global Mediascape . . . . . . . . . . 209 Frederike Felcht Eine globale Gegenwartshymne – Zur Poetologie von H. C. Andersens Det nye Aarhundredes Musa [Die Muse des neuen Jahrhunderts] (1861) . 231 Ulrich Ernst Eugen Gomringer und das Konzept einer Globalisierung der Poesie. Eine Re-Lektüre des Manifests vom vers zur konstellation . . . . . . . . . . . . 243 Beatrice Nickel Avantgarde-Lyrik und Universalsprache: Die Konkrete Poesie in Brasilien und Frankreich als globales Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Teil IV: ‚Weltgenres‘ Karl Maurer Die Divina Commedia als Weltgedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Joachim Harst Welttheater und Weltmacht. Christlicher Universalismus bei Gryphius und Calderón . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Kristina Mendicino Break-Dance. (Ein Schritt von Homer und Rousseau zu Goethe) . . . . . 301 7 Inhalt Alexander Nebrig Die Welt als Lied. Der globale Anspruch von Herders Volksliedern . . . . 315 Martin Götze Das Gedicht als ästhetische Rede. Zum Problem der Welthaltigkeit von Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Teil V: Fiktionen des Globalen: Zwischen Weltbezug und Welterzeugung Christine Ivanovic Weltgeschichte und Weltliteratur. Hannah Arendts „Welt“-Konzept im Kontext ihrer literarischen Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Barbara Ventarola Zwischen situationaler Repräsentation und Multiadressierung – Marcel Proust und Jorge Luis Borges als Paradigmen der Weltliterarizität . . . . 353 Alice Stašková Zum Weltbezug als Textbezug des modernen Romans (Hermann Broch – Georges Perec – Michal Ajvaz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Christian Sinn Bilokationen. Literarische und mathematische Verfahren der Welterzeugung in Thomas Pynchons Against the day . . . . . . . . . . . 381 Evi Zemanek Die generativen Vier Elemente: Zu einer Grundfigur der Welt- und Text-Schöpfung am Beispiel von Franz Josef Czernins elemente-Sonetten 401 Christiane Solte-Gresser Lebens-Welt-Verlust? Literarische Formen postmoderner Welterzeugung am Beispiel von Marlene Streeruwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Teil VI: Literarische Repräsentationen von Globalität und Globalisierung Dolf Oehler Zur Dialektik der Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 8 Inhalt Nina Peter „The Right Places at the Right Times“. David Mitchells Ghostwritten als Roman über die Denkbarkeit von Globalität . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Claudia Schmitt Die Welt – ein Mosaik? Episodenhaftes Erzählen in Literatur und Film der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Anne-Rose Meyer Der Schriftsteller als Zeuge und Zuschauer. Die Beispiele Hans Christoph Buch und Nick McDonell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Teil VII: Globalität und (Inter-)Medialität Arndt Niebisch Medienzusammenbrüche und posthumanes Erzählen in Jules Vernes Michel Strogoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Monika Schmitz-Emans Welt-Bilder, Bildstile, Schreibstile. Hybridkulturelle Bildwelten und ihre literarische Beschreibung bei Orhan Pamuk . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Kirsten von Hagen „Jeder ist überall, niemand irgendwo“ – Weltwahrnehmung und -konstruktion bei Daniel Kehlmann (Ruhm, 2009) und Giulio Minghini (Fake, 2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Frauke Bolln Welt und Provinz in Text und Bild bei Dorothee Elmiger und Stefan Ettlinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Teil VIII: Geographie – Kartographie – Geopoetik Angela Oster Globalität und Globus. Technikfaszination und Kunsthandwerk der Globographie in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Dana Bönisch Andere Karten. Videogeographie, Kartographie und Geopoetik . . . . . . 555 Inhalt 9 Simon Harvey Twisted Logics: A Topological Turn in Counter-Cartography and Some Artistic Antecedents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 Teil IX: Weltwissen, Weltdiskurse, globale Zirkulation Ulrike Kruse Das Haus als Welt. Die geordnete Welt in der frühneuzeitlichen Ökonomikliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Andreas Beck Welthandelswege im Märchenwald – Johann Carl August Musäus’ Stumme Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Peter Goßens ‚Eisenbahnen und Dampfschiffe‘. Zur Rolle der technischen Fortbewegung im transnationalen Literaturdenken des frühen 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 Uwe Lindemann Madame Bovary und der moderne Hedonismus. Reflexionen zum Verhältnis von Literatur, globalisierter Warenwelt und Konsumkultur im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 Nicole Pöppel Weltausstellungen als Schreibstätten des Globalen . . . . . . . . . . . . . 633 Simone Sauer-Kretschmer Die Inszenierung von Welt und ihre Grenzen – Ödön von Horváths Alfons Kobler zu Besuch auf der Weltausstellung in Barcelona . . . . . . 645 Keyvan Sarkhosh Die Welt als Archiv – Stanley Kubricks Napoleon-Projekt . . . . . . . . . 657 Teil X: Verhandlungen kultureller Differenz im Spannungsfeld von Globalität und Lokalität Elke Brüggen Belacâne, Feirefı̂z und die anderen. Zur Narrativierung von Kulturkontakten im Parzival Wolframs von Eschenbach . . . . . . . . . . 673 10 Inhalt Michael Bernsen Gérard de Nervals Begegnung mit dem Orient, ein Globalisierungsschub in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . 693 Marc Maufort Forging Native Idioms: Canadian and Australasian Performances of Indigeneity in an Age of Globalization . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Christian Luckscheiter Topographien Peter Handkes zwischen Lokalität und Globalität Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern . . . . . 717 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729 Christian Moser / Linda Simonis Einleitung: Das globale Imaginäre Am 16. März 2007 erschien in der Zeitung Le Monde ein von mehr als vierzig Autorinnen und Autoren unterzeichnetes Manifest, das einen Abgesang auf die Nationalliteratur traditionellen Zuschnitts anstimmt und die Existenz einer transnationalen französischsprachigen „littérature-monde“ proklamiert.1 Diese zeichne sich durch die Hinwendung zur Welt in ihrer ganzen räumlichen Extension und kulturellen Vielfalt aus; ihre Hauptvertreter entstammten nicht mehr der literarischen Metropole Paris, sondern der Peripherie, den ehemaligen Kolonialgebieten in Afrika, der Karibik und dem pazifischen Raum. Es fällt auf, dass in dem Manifest nicht von einer „littérature mondiale“, sondern von einer „littérature-monde“ die Rede ist. Der Begriff ist offenkundig in Analogie zu Fernand Braudels Konzept der „économie-monde“ gebildet.2 Die Verfasser des Manifests scheinen sich von herkömmlichen literarischen Weltkonzepten distanzieren zu wollen, nicht zuletzt von demjenigen der ‚Weltliteratur‘, weil diese – und sei es auf dem Wege der dialektischen Negation – auf die Kategorie der Nationalliteratur bezogen bleiben. Der Begriff der „littératuremonde“ suggeriert die Existenz eines intensivierten, unmittelbareren Weltbezugs. Unter den Bedingungen der ökonomischen, informationstechnologischen, politischen und kulturellen Globalisierung gewinnt der Weltbezug der Literatur demnach eine neue Qualität. Literatur, die unter diesen Bedingungen erzeugt wird, steht primär in einem globalen, nicht in einem nationalen Bezugsfeld. Wie lässt sich der gesteigerte Weltbezug, den der Begriff der „littératuremonde“ evoziert, genauer fassen? Eine der geläufigsten Definitionen der Glo1 Das Manifest ist online abrufbar unter : http://www.lemonde.fr/livres/article/2007/03/15/desecrivains-plaident-pour-un-roman-en-francais-ouvert-sur-le-monde_883572_3260.html [12. 06. 2013]. Vgl. auch den auf das Manifest aufbauenden Sammelband von Le Bris / Rouaud 2007. – Zu den Hintergründen vgl. den Beitrag von Bernd Blaschke im vorliegenden Band. 2 Im Unterschied zur „économie mondiale“, welche rein additiv die Gesamtheit der ökonomischen Aktivitäten auf der Erde bezeichnet, versteht Braudel unter der „économie-monde“ den Welthandel im Sinne eines zusammenhängenden Systems. Vgl. dazu auch den Beitrag von Erhard Schüttpelz im vorliegenden Band. 12 Christian Moser / Linda Simonis balisierung versteht darunter nicht bloß einen Prozess der weltumspannenden Vernetzung, der Verdichtung zeitlicher und räumlicher Verhältnisse und der globalen Integration. Globalisierung beinhaltet darüber hinaus die Entstehung eines Bewusstseins globaler Interkonnektivität, welches das Handeln der Menschen begleitet und beeinflusst: „Globalization as a concept refers both to the compression of the world and the intensification of consciousness of the world as a whole.“3 Für den Bereich der Literatur bedeutet dies zum einen, dass Prozesse des literarischen Austauschs eine wahrhaft weltumspannende Dimension ausgebildet haben, die nicht mehr auf Europa hin zentriert ist. Sie bedeutet zum anderen, dass die Produktion von Texten und anderen kulturellen Artefakten sich immer vor einem Welthorizont vollzieht.4 Der Akt der kulturellen Hervorbringung impliziert ein stets mitlaufendes Bewusstsein seiner Einbindung in globale Zusammenhänge. Global dimensionierte Austauschprozesse wirken somit auf die Verfasstheit der Literatur zurück, schlagen sich in der Wahl der Sprache(n), der Themen und Genres, der formalen Struktur der Texte und der narrativen Verfahren nieder. Neben der institutionellen Globalisierung der Literatur, die sich in Gestalt neuer medialer Distributionstechnologien (Internet), der Entstehung transnationaler Verlagshäuser und globaler Vermarktungsstrategien manifestiert, ist mithin eine immanente Globalisierung der Literatur zu verzeichnen.5 Der Weltbezug, den die Literatur im Zuge der Globalisierung gewinnt, unterzieht diese folglich einer nachhaltigen Veränderung. Offenbar sind sich die Verfasser des oben genannten Manifests der Tragweite dieser Transformation jedoch nicht ganz bewusst. Sie verbinden ihre Forderung nach mehr ‚Welthaltigkeit‘ der Literatur mit einer polemischen Attacke gegen den nouveau roman und den Poststrukturalismus. Ihnen wird vorgeworfen, ein autistisches Literaturkonzept zu vertreten, das der Herstellung geschlossener fiktiver Welten das Wort redet, anstatt sich der ‚wirklichen‘ Welt in ihrer kulturellen Vielfalt zuzuwenden. Doch eine solche Kontrastierung von fiktiver und wirklicher Welt führt in die Irre. Indem Literatur fiktive Welten entwirft, verfehlt sie nicht etwa ihren Weltbezug, sie stellt ihn vielmehr allererst her. Die Bedeutung, die Literatur für Globalisierungsprozesse gewinnen kann, beruht gerade auf ihrer Fähigkeit, fiktive Welten zu produzieren. Wenn Globalisierung ein Bewusstsein von der Einheit der Welt beinhaltet, dann ist sie auf die Existenz von Bildern und Narrativen angewiesen, die diese Einheit vorstellig machen. Das Ganze der Welt ist der Wahrnehmung nicht zugänglich – es bedarf imaginärer (literarischer und künstlerischer) Weltentwürfe, um dieses zu veranschaulichen. Auch das Projekt 3 Robertson 1992, S. 8. 4 Zum Folgenden vgl. Moser 2013. 5 Pizer 2000, S. 213. Einleitung: Das globale Imaginäre 13 einer littérature-monde kann somit, nimmt man die in diesem Begriff postulierte Verknüpfung von ‚littérature‘ und ‚monde‘ ernst, auf die literarische, fiktionale Dimension der Texte letztlich nicht verzichten. Im Gegenteil, ihr wichtiges kulturkritisches Anliegen, überkommene hegemoniale Differenzen wie die zwischen ‚littérature française‘ und ‚littérature francophone‘ zu überwinden, steht nicht in Opposition zu den Mitteln der literarischen Fiktion, sondern lässt sich vielmehr gerade im Rekurs auf letztere artikulieren und ins Werk zu setzen. Wir schlagen – in Analogie zu den Begriffen des ‚politischen Imaginären‘ und des ‚kulturellen Imaginären‘ – das Konzept des ‚globalen Imaginären‘ vor, um diese wichtige Funktion von Literatur und Kunst für Globalisierungsprozesse zu erfassen.6 Verweist das politische Imaginäre auf den durch die soziale Einbildungskraft produzierten Vorrat an Bildern, Zeremonien und Narrativen, mit deren Hilfe eine Gesellschaft sich eine Vorstellung ihrer Einheit vorspiegelt,7 so bezeichnet das globale Imaginäre den Vorrat an Bildern, Narrativen, Tropen und Figuren, die den Menschen eine Vorstellung von der (geographischen, politischen, kulturellen, ökonomischen etc.) Einheit der Welt vermitteln. Das globale Imaginäre stellt bestimmte Tropen und Figuren des Globalen (etwa: die GlobusFigur) bereit,8 aber auch narrative Muster, Formen, Themen und Motive, mit deren Hilfe sich fiktionale Welten konstruieren lassen. Der Weltbezug der Literatur besitzt folglich einen dezidiert konstruktiven und performativen Charakter : Literatur setzt sich nicht bloß mit einer gegebenen Welt auseinander, sie ist darüber hinaus an der Herstellung von Welt(en) beteiligt. Insofern der Begriff der Welt auf eine geographische, kulturelle, politische und ökonomische Totalität verweist, die aufgrund ihrer gesteigerten Komplexität der Anschaulichkeit entbehrt, ist er auf die Darstellungs- und Konstruktionsarbeit der Literatur (und anderer künstlerischer Medien) angewiesen, um überhaupt vorstellbar zu sein. Indem die Literatur fiktive Welten entwirft, wirkt sie maßgeblich an der Konzeption von Globalität in den verschiedensten diskursiven Bereichen mit. Literarischer Weltbezug und literarische Welterzeugung stehen in einer engen Wechselbeziehung. Der Weltbezug der Literatur ist mithin nicht bloß ein Effekt der Globalisierung, er ist vielmehr ein Medium der globalen Integration, der den Globalisierungsprozess aktiv befördert. Und dies gilt nicht allein für die gegenwärtige 6 Zum Konzept des politischen Imaginären vgl. Hebekus / Matala de Mazza 2003; zum Begriff des kulturellen Imaginären s. Fluck 1997. Vgl. auch das von Annette Simonis und Carsten Rohde organisierte interdisziplinäre Colloquium zum Thema „Das kulturelle Imaginäre“ (Münster, 15.–17. März 2013). Die Auswirkungen der Globalisierung auf das kulturelle Imaginäre untersucht Moraru 2011. 7 Hebekus / Matala de Mazza 2003, S. 10 und 15. 8 Vgl. dazu die Beiträge von Christian Moser, Robert Stockhammer und Angela Oster im vorliegenden Band. 14 Christian Moser / Linda Simonis Phase der Globalisierung. Das globale Imaginäre hat – wie die Globalisierung selbst – eine lange Geschichte. So unterscheidet Peter Sloterdijk drei Großphasen der Globalisierung – die metaphysische Globalisierung (Antike, Mittelalter), die terrestrische Globalisierung, die er auf den Zeitraum zwischen 1492 und 1945 datiert, und die (unsere Gegenwart prägende) elektronische Globalisierung.9 Erhard Schüttpelz zufolge hat die Geschichte der Menschheit, aus der Perspektive der „longue durée“ betrachtet, eine größere Zahl von „Globalisierungsschüben“ aufzuweisen, deren erster in der von Afrika ausgehenden Ausbreitung des Menschengeschlechts über den Globus zu sehen ist.10 Jeder dieser Globalisierungsschübe hat dem globalen Imaginären eine spezifische Erbschaft von Tropen und Figuren, Formen und Narrativen hinterlassen. Ihnen korrelierend finden sich in der Literaturgeschichte immer wieder historische Phasen und Bewegungen, aber auch Gattungen und Darstellungsformen, die sich in besonderer Weise der Herstellung eines totalisierenden Weltbezugs verschrieben haben: vom weltumspannenden Anspruch des antiken Epos bis zu den Universalisierungstendenzen des modernen enzyklopädischen Romans, vom barocken Welttheater bis hin zur Programmatik der romantischen Universalpoesie, von den mythischen Kosmogonien bis hin zu den Entgrenzungsszenarien der postkolonialen Literatur. Die verschiedenen Weltbegriffe und Weltmodelle, die dabei entwickelt werden, bedürfen einer eingehenden systematischen wie auch historischen Analyse. Sie müssen im Zusammenhang mit den ökonomischen, sozialen und kulturellen Globalisierungsprozessen gesehen werden, an denen sie jeweils partizipieren. Das Ziel des vorliegenden Bandes besteht darin, die Bestandteile des globalen Imaginären sowie die verschiedenen Modi der literarischen Weltdarstellung und Weltherstellung in ihrer historischen Bandbreite zu untersuchen. Spezifisch literarische Formen des Weltbezugs sollen dabei mit der Konstruktion globaler Zusammenhänge in anderen künstlerischen Medien korreliert werden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Wechselwirkungen, die zwischen literarisch-künstlerischen Weltkonstruktionen und den sozialen, ökonomischen und politischen Globalisierungsprozessen existieren. Wenn dabei ein gewisser Schwerpunkt auf die Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts gelegt wird, so erklärt sich das aus der Tatsache, dass sich an ihr besonders gut beobachten lässt, wie die vielschichtigen Prozesse der ökonomischen, politischen, sozialen und medialen Globalisierung auf die Literatur zurückwirken und ihre inhaltliche und strukturelle Verfasstheit beeinflussen. Literatur ist das Bewusstsein des globalen Zusammenhangs eingeschrieben, 9 Sloterdijk 2005. 10 Schüttpelz 2009; vgl. auch seinen Beitrag im vorliegenden Band. Einleitung: Das globale Imaginäre 15 dem sie jeweils angehört; sie ist ein Reflexionsmedium der Globalisierung.11 Die Reflexion kann implizit erfolgen und die Form einer Anpassung an die Bedingungen des literarischen Weltmarkts annehmen: In diesem Fall ist sie von vorneherein auf globale Verständlichkeit hin angelegt und besitzt eine eingebaute „translatability“, die eine möglichst weite Verbreitung ermöglichen soll.12 Sie kann aber auch explizit sein und sich kritisch oder affirmativ mit den Folgen der Globalisierung auseinandersetzen. Das geschieht zum einen auf der inhaltlichen Ebene. Literatur erschließt sich neue Themen, die im Zuge der Globalisierung virulent werden: die Probleme der Migration, der Ökologie und der globalen Klimaveränderung, der Ökonomie und der globalen Finanzkrise, des globalen Terrors und des Konflikts der Kulturen, der Konstitution individueller und kultureller Identitäten. Doch mit dem Aufgreifen neuer Inhalte ist es nicht getan; sie stellen die Textproduzenten zugleich vor die Herausforderung, innovative Formen und literarische Techniken zu entwickeln, um die mit den Themen verbundene Ganzheit und Vielheit des Globalen zur Darstellung zu bringen. Die Literatur entwickelt eine Poetik des Globalen.13 Sie kann dabei auf etablierte Formen zurückgreifen, die seit jeher der Darstellung von Totalität verpflichtet sind, etwa auf Epos und Roman. Sie kann aber auch neue Formen ausprägen, die häufig aus der hybriden Verquickung von Gattungskonventionen entstehen: Mischformen aus Reisebericht und Roman, aus fremdkultureller Beschreibung und Selbstdarstellung (Autoethnographie), aus Lyrik und Ethnographie (Ethnopoesie), interaktive Formen wie das Blog. Ähnliches gilt für die narrativen Verfahren, die in den Texten zur Anwendung gelangen. Auf der einen Seite werden zyklische und enzyklopädische Schreibweisen reaktiviert, die sich an der Globus-Figur orientieren. Auf der anderen Seite versucht man, der Netzwerk-Struktur des Globalen durch Techniken episodischen und seriellen Erzählens oder durch hypertextuelle Verfahren Rechnung zu tragen.14 Beides lässt sich miteinander kombinieren, wie sich am Beispiel von David Mitchells Roman Ghostwritten (1999) zeigen lässt:15 Mitchell vollzieht darin eine narrative Umrundung der Erde, wobei die an unterschiedlichen Schauplätzen spielenden Episoden durch kontingente Umstände miteinander verlinkt sind. Das globale Imaginäre, die immanente Globalisierung der Literatur und die 11 Mit der Literatur als Reflexionsmedium der Globalisierung beschäftigt sich das DFG-Graduiertenkolleg Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung an der LudwigMaximilians-Universität München. Es sieht in der Literatur „ein noch wenig konsultiertes Archiv für die Reflexion von Globalisierungsprozessen“. Vgl. http://www.grk-globalisierung.uni-muenchen.de/programm/forschung/index.html [10. 02. 2014]. 12 Apter 2001, S. 1 f. 13 Reichardt 2008, S. 27. 14 Zum episodischen Erzählen vgl. den Beitrag von Claudia Schmitt im vorliegenden Band. 15 Vgl. dazu den Beitrag von Nina Peter im vorliegenden Band. 16 Christian Moser / Linda Simonis sich daraus entwickelnde Poetik des Globalen sind bislang nur in Ansätzen erforscht. Hier zeichnet sich ein neues wichtiges Arbeitsfeld der Komparatistik ab. Der vorliegende Band, der die Beiträge der vom 15. bis 18. Juni 2011 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn veranstalteten XV. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft versammelt, will dazu Anreize bieten. Er versucht die Vielschichtigkeit der oben skizzierten Problematik der „Figuren des Globalen“ in zehn thematischen Schwerpunkten zu erschließen. Die Beiträge des ersten Themenkomplexes „Figuren des Globalen, Narrative der Totalisierung“ widmen sich der Analyse von Konzepten, Bildern und Topoi, die das Ganze der Welt, die Einheit oder Totalität des Globalen, zu erfassen versuchen. In diesem Kontext stehen einerseits begriffsgeschichtliche und -systematische Untersuchungen, die erörtern, welche (unterschiedlichen) Bedeutungsaspekte sich mit den genannten Termen verbinden und welche semantischen Verschiebungen und Veränderungen sie im Zuge ihrer jüngeren Entwicklung durchlaufen. Eine der wichtigsten Denkfiguren, unter denen man in der Neuzeit und Moderne das Globale und damit die Einheit von Welt zu begreifen versucht, ist die geometrische Figur der Kugel (als Weltkugel), die von Galilei bis Sloterdijk die neuzeitliche Rede über den Weltzusammenhang bestimmt.16 Die Plausibilität und der kommunikative Erfolg dieser Figur verdanken sich unterdessen weniger deren (für die natürliche Wahrnehmung gar nicht überprüfbaren) mimetischen Angemessenheit als vielmehr einer bildlichen Suggestivkraft, die nicht zuletzt an die seit der Antike mit dem Emblem der Kugel verbundenen Attribute des Umfassenden und Vollkommenen anknüpft. Zu den Grundkonzepten, die das Globale zu denken bzw. zu vergegenwärtigen versuchen, gehört überdies das Konzept der Totalität, das in der philosophischen Tradition gleichfalls mit den Vorstellungen des Umfassenden und Vollkommenen aufs engste verknüpft ist. Obgleich dieser Begriff im Laufe seiner Geschichte zu wiederholtem Male in seiner aporetischen Disposition entlarvt, problematisiert und mit dem Verdacht des Totalitären belegt wurde, ist er gleichwohl ein für eine Ästhetik des Globalen unverzichtbarer Begriff. Selbst seinen Gegenbegriffen – denen des Unvollständigen, des Bruchstückhaften, des Fragments –, auf die das Konzept der Totalität unweigerlich verwiesen ist, scheint noch ein unterschwelliges Begehren nach dem Erfassen des Ganzen und der Erfahrung der Fülle anzuhaften. Die totalisierende Komponente des Denkens und Redens über das Globale weist gleichsam von Haus aus eine Nähe zu bestimmten politischen Semantiken auf, denen es um die Erfassung, Kontrolle oder Beherrschung des globalen Territoriums vom Blickpunkt eines privile16 Die Anfänge des Globus-Denkens liegen in der griechischen Antike. Zur langen Geschichte der Globus-Vorstellungen und -imaginationen vgl. Cosgrove 2001. Einleitung: Das globale Imaginäre 17 gierten Beobachterstandpunkts aus zu tun ist. Zu diesem politischem Diskursfeld des Globalen gehört insbesondere der Begriff des Planetarischen, der in der Weimarer Republik von Ernst Jünger und Carl Schmitt vorgeschlagen wurde und der in der neueren postkolonialen Literaturwissenschaft einen bemerkenswerten Nachhall gefunden hat. Das Denken des Globalen bringt indes nicht nur eine spezifische Topik und Rhetorik hervor; es evoziert nicht zuletzt auch Projekte des grand récit, d. h. Versuche, eine welthistorische Vision des Globalen narrativ zu entfalten und Geschichten über den Gang der Welt im Ganzen zu erzählen. Ein zweiter Themenschwerpunkt des vorliegenden Bandes gilt der Diskussion über das Konzept Weltliteratur, das in aktuellen literaturwissenschaftlichen Debatten eine bemerkenswerte Konjunktur verzeichnet und eine Reihe von interessanten Wiederaufnahmen und Rekonzeptualisierungen erfahren hat. Neben dem klassischen Erklärungsansatz von Weltliteratur bzw. Weltgesellschaft über ein Paradigma neuzeitlicher Differenzierung ist hier als mögliche Alternative das Konzept einer in der longue durée sich entfaltenden Weltliteratur in Betracht zu ziehen, deren Anfänge dementsprechend in die frühen Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens zurückreichen. Ergänzend zu dieser genealogischen Perspektive wirft das Konzept Weltliteratur überdies die Frage nach dem Fortleben und der Transformation weltliterarischer Mythen und Narrative in der gegenwärtigen Populärkultur (Pop Songs, Hip Hop) und in den neuen Medien der digitalen Kommunikation (Computer- und Videospiele, Internet) auf. Neben diesen Neuerungen und Reakzentuierungen, die der aktuelle Diskurs über Weltliteratur in den Blick rückt, sind jedoch auch Momente von Kontinuität des alten und der neuen Weltliteraturkonzepte zu bemerken, wie z. B. die ausgeprägte räumliche Dimension, die die Goethesche Rede über Weltliteratur und andere globale Phänomene mit den gegenwärtigen Debatten verbindet. Die Raumdimension, die (zumindest in den meisten Ansätzen) dem Weltliteraturkonzept inhärent zu sein scheint, verweist zugleich darauf, dass letzterem stets auch eine (latente) politische bzw. geopolitische Problematik innewohnt. Ob diese im Rahmen der völkerrechtlichen bzw. philosophischen Tradition eines transnationalen ‚Nomos‘ oder mit Luhmann im Rahmen eines Konzepts von Weltgesellschaft als Medium globaler Kommunikation (oder eines noch anderen Ansatzes) zu erörtern sei, muss letztlich der Entscheidung der jeweiligen Weltliteraturforscher(innen) überlassen bleiben. Schon hier wird deutlich, dass der Weltliteraturdiskurs in besonderer Weise disponiert ist, die in literaturwissenschaftlichen Kontexten auch sonst geläufige Pluralität methodischer Zugänge und Standpunkte widerzuspiegeln. In dem Maße, in dem die literarische Rede über die Welt und die transnationalen Verflechtungen ihrer Teile eine eigene Topik des Globalen erzeugt, bringt sie auch spezifische Schreibweisen hervor, die im dritten thematischen Teil des vorliegenden Bandes unter dem Stichwort „Poetiken des Globalen“ 18 Christian Moser / Linda Simonis erörtert werden. Jene neuen Poetiken können dabei ebenso auf traditionelle Schreibweisen und Stilvorlagen wie z. B. die der hymnischen Poesie und des märchenhaften oder biographischen Erzählens zurückgreifen wie auch neue, experimentelle Schreibformen erproben. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei spielerischen und reflexiven Techniken zu, die die Formen der Schrift thematisieren und zum Medium einer trans- bzw. metasprachlichen Universalpoesie erheben. Das Projekt der literarischen Beschreibung und Erzeugung von Welt wirft darüber hinaus die Frage auf, welche Gattungen und Textsorten geeignet sind, eine solche poiesis des Globalen zu leisten. Diesem Gesichtspunkt der „Weltgenres“ widmet sich der vierte Themenbereich des Bandes. Als aussichtsreiche Kandidaten für den Status des ‚Weltgenres’ fallen hier zunächst die großen Gattungen des Epos und des Dramas in den Blick, die – etwa in Gestalt der Danteschen Commedia und des barocken Welttheaters – die Totalität der Welt bzw. des Kosmos nicht nur darzustellen beanspruchen, sondern auch die jene universale Ganzheit strukturierenden Leitunterscheidungen von Heil und Verdammnis, Recht und Unrecht, ‚Heiden‘ und Christen geltend machen. Neben den literarischen Großformen bieten sich indessen auch kleinere Genres wie Lyrik und Lied als Mittel poetischer Weltformung und Träger eines globalen, transnationalen Dichtungskonzepts an. Auch performative Kunstformen wie Feier und Tanz können eine einheitsstiftende, totalisierende Valenz gewinnen, wenn sie, als Äußerungsweisen der öffentlich-politischen Sphäre, die Einheit und den Zusammenhalt der gesellschaftlichen Welt des Staates bzw. der Republik inszenieren. Ein weiterer Themenkomplex, dem der fünfte Teilbereich des Bandes gilt, ergibt sich aus der Beobachtung, dass literarische Beschreibungen und Konstruktionen von Welt immer auch Fiktionen, d. h. vorgestellte oder imaginäre Entwürfe von Welt sind. Insofern bewegen sich literarische Weltbeschreibungen stets in einem Spannungsfeld zwischen der referentiellen Bezugnahme auf die wahrnehmbare, gegebene Welt und der imaginativen (Re-)Inventio von Bildern der globalen bzw. globalisierten Welt im Medium der Literatur. Die in dieser Sektion untersuchten literarischen und philosophischen Texte entwickeln unterschiedliche Weisen, mit jenem Spannungsverhältnis umzugehen. So begreift etwa Hannah Arendt fiktionale Literatur per se als exemplarische Äußerungsform von Welt, wobei sie Welt als umfassende Sphäre des Geschichtlichen, als transnationalen Raum politischen Handelns definiert. Andere Autoren, wie etwa Marcel Proust und Jorge Luis Borges, erarbeiten je eigene Paradigmen der fiktionalen Modellierung von Welt, die sich in je unterschiedlichen Erzählstilen und Poetiken manifestieren. Mitunter fungiert die literarische Darstellung alltäglicher Lebenswelt als ein Mikrokosmos, in dem die Welt im Großen, die Zusammenhänge des Globalen, auf subtile Weise erfahrbar werden. In anderen Einleitung: Das globale Imaginäre 19 Fällen sind es hingegen archaisch anmutende mythische Elemente, wie etwa Rekurse auf Genesis-Mythen und Kosmogonien, in denen das Postulat eines gesteigerten Weltbezugs bzw. Weltgehalts zum Ausdruck kommt. Das Projekt, Welt im Modus der Fiktion zu entwerfen und zu beschreiben, impliziert zudem die Aufgabe, deren Zusammenhänge literarisch darzustellen und zu entfalten. Diesem Aspekt gilt die sechste thematische Sektion des Bandes, „Literarische Repräsentationen von Globalität und Globalisierung“. Eine Herausforderung für die literarische Darstellung von Globalität scheint dabei insbesondere darin zu liegen, den übergreifenden Nexus des Ganzen, das einheitsstiftende Band des Globalen durch die Erfahrung bzw. literarische Nachzeichnung des Partikularen hindurch aufscheinen zu lassen. Wie die Beiträge der Sektion zeigen, erproben die literarischen Texte dabei Konzepte, die es erlauben, die Opposita des Partikularen und des Ganzen als in sich widersprüchliche Einheit zusammenzudenken, wie z. B. die Figur der Dialektik, das Bild des Mosaiks oder das Modell des Netzwerks. Die Wahrnehmung von Welt und die Erzeugung des Globalen sind an Medien gebunden. Diese mediale Verfasstheit bzw. Vermitteltheit der Erfahrung von Globalität und Globalisierungsprozessen wird, wie die Beiträge des siebten Themenschwerpunkts unseres Bandes zeigen, auch in der Literatur vielfach reflektiert. Sie wird, wie die Romane Jules Vernes illustrieren, zum einen dort beobachtbar, wo (herkömmliche) Medien, in Anbetracht der neuen raumzeitlichen Anforderungen, an eine Grenze oder einen Extrempunkt stoßen, an denen sie scheitern oder kollabieren. Der konstitutive mediale Bezug äußert sich zum anderen indes auch auf der Ebene der ästhetischen Darstellung des Globalen, nämlich in dem Maße, in dem Literatur auf andere, insbesondere visuelle Medien zurückgreift, um Vorstellungen und Modelle von Welt zu entwerfen. Die hybride Verbindung von Bild und Text sowie die Hervorkehrung von Bildlichkeit innerhalb der sprachlichen Darstellung oder der Schrift bezeichnen dabei bevorzugte Verfahrensweisen, durch die die Texte Phänomene des Globalen zu evozieren suchen. Hier geht es unterdessen weniger um die bloße Suggestion von unmittelbarer Evidenz; vielmehr wird das Bild bzw. das Visuelle oft selbst thematisiert und als Mittel der Wahrnehmung und Erzeugung von Globalität ausgestellt. Unter den topischen Figuren aus dem Arsenal der Darstellungsweisen des Globalen verdient das Modell der Karte besondere Aufmerksamkeit. Diese Leitfunktion der Kartographie in der Konzeptualisierung, Aufzeichnung und ästhetischen Repräsentation des Weltganzen zu erforschen, ist Anliegen des achten Teilbereichs des Bandes („Geographie – Kartographie – Geopoetik“). Diente die Karte seit dem Altertum zunächst als Hilfsmittel der Erkundung und Erfassung spezifischer geographischer Räume, lädt sie überdies schon bald dazu ein, die gesamte, bekannte wie unbekannte Welt in diesem Modus sichtbar zu 20 Christian Moser / Linda Simonis machen. Die Karte wird so zum Stimulans und Vehikel des Entwurfs eines imaginierten Raums,17 eines globalen Imaginären, das sich in den technischen und ästhetischen Darstellungspraktiken von Landkarten und Weltkugeln und den an diese anschließenden philosophischen, geologischen und astronomischen Texten ebenso manifestiert wie in kartographisch inspirierten künstlerischen Artefakten und Filmen der Gegenwart. Die neunte Sektion des Bandes („Weltwissen, Weltdiskurse, globale Zirkulation“) trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass der Prozess der Globalisierung einerseits auf kommunikativer, medialer, ökonomischer und verkehrstechnischer Ebene neue Formen des globalen Austauschs und der weltweiten Kommunikation hervorbringt, andererseits – nicht zuletzt in der Literatur und Kunst – eine Reflexion auf diese Vorgänge hervortreibt. Die Wahrnehmung oder Vorstellung von Globalität impliziert mit anderen Worten auch das Projekt eines Wissens von der Welt, das, teils im Rekurs auf alteuropäische Modelle und historische Erfahrungen, teils im Erproben neuer epistemischer Muster und Artikulationsformen zu konstruieren und zu entfalten, aufzuzeichnen und zu archivieren ist. Der zehnte und letzte Schwerpunktbereich des Bandes („Verhandlungen kultureller Differenz im Spannungsfeld von Globalität und Lokalität“) gilt der Beobachtung, dass sich Globalität und Globalisierung nicht in Entwürfen von Einheit und Ganzheit, in Prozessen der Verbindung und weltweiten Vernetzung erschöpfen. Das Konzept des Globalen führt vielmehr auf seiner Kehrseite immer auch Momente der Differenz mit sich. Dies gilt bereits für ältere, historische Globalisierungsphasen und Globalitätskonzepte von der Antike bis zur Frühen Neuzeit. Der Versuch, das Ganze der Welt zu erkennen und zu erschließen, setzt zugleich eine verstärkte Aufmerksamkeit und Reflexion auf regionale und kulturelle Unterschiede in Gang, die sich begriffsgeschichtlich im Aufkommen oppositiver Begriffspaare wie Griechen / Barbaren, Christen / Heiden, Okzident / Orient etc. niederschlagen. Im Blick auf jüngere, aktuelle Globalisierungsprozesse haben soziologische Studien gezeigt, dass die Entstehung eines weltumspannenden kommunikativen Netzwerks und, damit verbunden, die Genese eines umfassenden Zusammenhangs des Sozialen im Modus einer ‚Weltgesellschaft‘ soziale Exklusionsmechanismen wie regionale Differenzen nicht aufhebt oder abmildert, sondern vielmehr zum Teil sogar verstärkt.18 Von daher besteht gerade in der Gegenwart ein verstärkter Bedarf des Nachdenkens und Verhandelns über solche Spannungen und Differenzen, ein Bedarf, für den nicht zuletzt Literatur, Kunst und kulturelle Medien geeignete Darstellungs- und Reflexionsmittel bereitstellen. 17 Vgl. Dünne 2011 sowie Lestringant 2012. 18 Vgl. Stichweh 2001, S. 31 – 47 Einleitung: Das globale Imaginäre 21 Die Tagung „Figuren des Globalen“ und der vorliegende Sammelband wären kaum zustande gekommen ohne die Unterstützung mehrerer Institutionen, die das Projekt gefördert haben. Unser Dank gilt zunächst der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Tagung durch einen großzügigen Zuschuss unterstützt hat. Darüber hinaus danken wir der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (DGAVL), die den kommunikativen Rahmen der Tagung bereitgestellt und aus deren Mitgliederkreis zahlreiche Beiträge hervorgegangen sind, sowie der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, die die Veranstaltung finanziell und organisatorisch unterstützt und zudem einen Druckkostenzuschuss gewährt hat. Dank gebührt schließlich Daniel Bleeser, Dr. Susanne Elpers, Stefanie Seidel, Ramona Schermer und Daniel Warwel für die tatkräftige Hilfe bei der Redaktion der Beiträge und der Erstellung der Druckvorlage. Literaturverzeichnis Apter, Emily : „On Translation in a Global Market“, in: Public Culture 2001/13, S. 1 – 12. Cosgrove, Denis: Apollo’s Eye. A Cartographic Genealogy of the Earth in the Western Imagination. Baltimore / London 2001. Dünne, Jörg: Die kartografische Imagination – Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit. München 2011. Fluck, Winfried: Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790 – 1900. Frankfurt a. M. 1997. Hebekus, Uwe / Matala de Mazza, Ethel: „Zwischen Verkörperung und Ereignis. Zum Andauern der Romantik im Denken des Politischen“, in: Hebekus, Uwe / Matala de Mazza, Ethel / Koschorke, Albrecht (Hg.): Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. München 2003, S. 7 – 19. Le Bris, Michel / Rouaud, Jean (Hg.): Pour une littérature-monde. Paris 2007. Lestringant, Frank: Die Erfindung des Raums. Kartographie, Fiktion und Alterität in der Literatur der Renaissance. Hg. v. Jörg Dünne. Bielefeld 2012. Moraru, Christian: Cosmodernism. American Narrative, Late Globalization, and the New Cultural Imginary. Ann Arbor 2011. Moser, Christian: „Globalisierung und Komparatistik“, in: Zymner, Rüdiger / Hölter, Achim (Hg.): Handbuch Komparatistik. Stuttgart / Weimar 2013, S. 161 – 164. Pizer, John: „Goethe’s ‚World Literature‘ Paradigm and Contemporary Cultural Globalization“, in: Comparative Literature 2000/52, S. 213 – 227. Reichardt, Ulfried: „Globalisierung, Mondialisierungen und die Poetik des Globalen“, in: Reichardt, Ulfried (Hg.): Die Vermessung des Globalen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Heidelberg 2008, S. 1 – 47. Robertson, Roland: Globalization. Social Theory and Global Culture. London / Thousand Oaks / New Delhi 1992. Schüttpelz, Erhard: „Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée I: Die fünf 22 Christian Moser / Linda Simonis Zeitschichten der Globalisierung“, in: Ezli, Özkan / Kimmich, Dorothee / Werberger, Annette (Hg.): Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld 2009, S. 339 – 360. Sloterdijk, Peter : Der Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt a. M. 2005. Stichweh, Rudolf: Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen. Frankfurt a. M. 2001 [2000]. Internetquellen http://www.grk-globalisierung.uni-muenchen.de/programm/forschung/index.html [10. 02. 2014] Teil I: Figuren des Globalen, Narrative der Totalisierung Christian Moser Figuren des Globalen. Von der Weltkugel zum Welthorizont 1. Der Titel des vorliegenden Bandes – Figuren des Globalen – verweist auf die figurale Dimension, die der literarischen, aber auch der wissenschaftlichen und politischen Rede über die Welt zu eigen ist. Es gibt eine spezifische Rhetorik der Globalität, die in unterschiedlichen diskursiven Zusammenhängen ihre suggestive und persuasive Kraft entfaltet. In den Diskursen der Globalisierung tauchen bestimmte Denkfiguren, Bilder und Metaphern immer wieder auf. Um die Welt als Ganzheit vorstellbar zu machen, ist es offenbar notwendig, auf bestimmte Tropen der Globalität zu rekurrieren. Diese Welt-Rhetorik verweist nicht bloß auf eine gegebene Welt, sie ist vielmehr in gewissem Sinne für den Gegenstand, auf den sie sich bezieht, konstitutiv. Sie ist ein Instrument der Welterzeugung. Es ist nach der Herkunft, der Funktion, dem literarischkünstlerischen wie auch dem wissensbildenden Potential derartiger Figuren zu fragen. Inwiefern steuern sie das Verständnis von Globalisierung? Welche historischen und kulturellen Varietäten solcher Welt-Rhetoriken lassen sich ermitteln? Die master trope der Welt-Diskurse ist der Globus selbst. Vom Nürnberger Behaim-Globus bis hin zu den NASA-Erdphotogrammen: Der terrestrische Globus, so argumentiert etwa Peter Sloterdijk, ist „die Leit-Ikone der neuzeitlichen Weltanschauung“.1 Der Globus fungiert als Bildformel, die den Prozess der Globalisierung und sein Ergebnis, den vollendeten Zustand der Globalität, zur Anschauung bringt. Angelagert an diese Formel finden sich supplementäre 1 Sloterdijk 2005, S. 38. – Auch Honold (2010, S. 1; Hervorhebung im Original) attestiert „der Globalisierungsfigur des Globus“ einen „Modell-Charakter“. Im Globus und der „mit ihm evozierte[n] Bildlichkeit“, die sich seiner Ansicht nach vor allem „in Denkfiguren wie der Enzyklopädie (dem geschlossenen Kreis des Weltwissens) und der Circumnavigation“ manifestiert, erkennt er ein „genuin ästhetisches Paradigma der Wissenspoetik“ (ebd., S. 1, 5). Zur Geschichte der Globusvorstellungen und -imaginationen seit der Antike vgl. die höchst sachkundige und informative Übersicht von Denis Cosgrove: Cosgrove 2001. 26 Christian Moser Bildlichkeiten, die der Rede über die Welt Konsistenz verleihen – Bewegungsbilder des Kreisens und der Drehung vor allem, dasjenige der Erdumrundung beispielsweise oder dasjenige der Zirkulation, des globalen Kreislaufs von Menschen, Informationen und Gütern. Die Bildlichkeit des Kreislaufes lässt sich direkt an die Vorstellung der Globalität (Kugelform des Globus) anschließen, zugleich ist sie dazu geeignet, verschiedene Diskurse, Medien und gesellschaftliche Bereiche (Ökonomie, elektronische Kommunikation, Politik) miteinander zu verbinden. Das gilt auch für die Metapher des Netzwerks, die oft mit derjenigen des Kreislaufs verknüpft wird – etwa wenn davon die Rede ist, dass Informationen in globalen Netzwerken des Wissens zirkulieren.2 Peter Sloterdijk unternimmt in seinem monumentalen Sphären-Werk den Versuch, das Kugel-Motiv und die daran gekoppelte Bildlichkeit des Kreisens durch die abendländische Historie zu verfolgen.3 Er erzählt die Geschichte der Globalisierung am Leitfaden der Kugel-Metaphorik und unterscheidet dabei drei Phasen: Eine erste Phase, die er als metaphysische Globalisierung bezeichnet, beinhaltet die Rationalisierung der Weltstruktur durch die antiken Kosmologien, die die Gesamtheit des Seienden in sphärischer Gestalt konstruieren. Eine zweite Phase, die Sloterdijk als terrestrische Globalisierung charakterisiert, wird durch die christliche Seefahrt und den europäischen Kolonialismus getragen. Sie steht im Zeichen der Erdumrundung und der Zirkulation, und ihr Resultat ist die Herausbildung des modernen kapitalistischen Weltsystems. Eine dritte Phase, die unsere Gegenwart bestimmt, erkennt Sloterdijk in der elektronischen Globalisierung, die seiner Ansicht nach zu einer Enträumlichung der Welt führt. Die Geschichte, die Sloterdijk erzählt, ist also die der Ersetzung der vielen bergenden Sphären, aus denen sich der antike Kosmos zusammensetzt, durch die eine exzentrische, im unendlichen Raum ausgesetzte Erdkugel, die schließlich mit neuen künstlichen Himmelsschalen, den Flugbahnen der Flugzeuge, Satelliten und Funksignale, versehen wird. Was an der Geschichtskonstruktion Sloterdijks irritiert, ist die Tatsache, dass er der Bildlichkeit des Sphärischen zwar generell eine konstitutive, welterzeugende Funktion zuerkennt (sie leitet die politische, ökonomische und wissenschaftliche Praxis der Menschen im Sinne einer grundlegenden Orientierung an), dass er aber ausgerechnet die Phase der terrestrischen Globalisierung als 2 Vgl. etwa die folgende Verkoppelung der Bildlichkeiten von Globus und Netzwerk bei Spivak 2003, S. 72: „Globalization is the imposition of the same system of exchange everywhere. In the gridwork of electronic capital, we achieve that abstract ball covered in latitudes and longitudes, cut by virtual lines, once the equator and the tropics and so on, now drawn by the requirements of Geographical Information Systems.“ 3 Sloterdijk 1998 – 2003. Sloterdijk selbst bezeichnet seine Globalisierungstheorie als eine „große[] Erzählung“ (Sloterdijk 2005, S. 11). Eine Zusammenfassung dieses auf über 2000 Seiten in drei Bänden ausgebreiteten grand récit bietet Sloterdijk 2005. Figuren des Globalen. Von der Weltkugel zum Welthorizont 27 Ausnahme von dieser Regel deklariert. Der Globus, mit dem es die Entdecker, Kolonisatoren und Kaufleute zu tun haben, ist seiner Ansicht nach kein imaginäres Konstrukt, sondern „eine wirkliche Kugel“; das Weltwissen der Modernen beruht auf realer Erfahrung, die alle vorangehenden Weltbilder zu „Welteinbildungen, Figuren ohne rechtes Wissen und Weiterwissen“ degradiert.4 Die Epoche der terrestrischen Globalisierung markiert demnach ein realistisches Intermezzo innerhalb der Geschichte der Welt-Phantasmen. Nicht die gegenwärtige Phase der elektronischen Globalisierung, die den Erdraum virtualisiert, sondern die für den Zeitraum zwischen 1492 und 1945 veranschlagte terrestrische Globalisierung gilt Sloterdijk als die ‚eigentliche Globalisierung‘, weil sie es mit dem Globus im eigentlichen Sinne – mit der wirklichen Welt – zu tun habe.5 Sloterdijk begibt sich somit in einen auffälligen Gegensatz zu der Auffassung, die Martin Heidegger in seiner grundlegenden Abhandlung über „Die Zeit des Weltbildes“ aus dem Jahre 1938 äußert.6 Heidegger vertritt darin die These, dass es ein Spezifikum des neuzeitlichen Weltverhältnisses sei, die Welt im Modus des Bildes zu fassen: „Das Weltbild wird nicht von einem vormals mittelalterlichen zu einem neuzeitlichen, sondern dies, daß überhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen der Neuzeit aus.“7 In der Zurichtung der Welt zum Bild, einer Vergegenständlichung, die sie als „Gebild des vorstellenden Herstellens“ verfügbar macht, erkennt Heidegger die Voraussetzung für ihre wissenschaftliche Erschließung.8 Das Bild liegt der explorativen und szientifischen Praxis zugrunde, ist also nicht etwa bloß ihr Resultat. Daran anknüpfend könnte man fragen, ob der terrestrische Globus nicht in ähnlicher Weise ein Bild darstellt, das die Welt herstellend verfügbar macht – kein bloßes Abbild, das die erfahrene und beobachtete Welt nachzeichnet, sondern ein Leitbild, das ihre Erschließung und Beobachtung dirigiert, ein imaginäres Schema wissenschaftlicher, politischer, ökonomischer und kultureller Globalisierungsprozesse. Wenn der Globus als Leitikone und master trope moderner GlobalisierungsDiskurse firmiert, wie entfaltet er dann konkret seine persuasive Kraft? Wie funktioniert die Performanz, die er in Szene setzt? Um mich der Beantwortung dieser Frage anzunähern, möchte ich zunächst auf ein triviales Beispiel zurückgreifen – ein Beispiel, das allerdings den Vorteil allgemeiner Vertrautheit besitzt: das Emblem der Vereinten Nationen, das als (staatlichen Hoheitszeichen 4 Sloterdijk 2005, S. 22 und 254. 5 Vgl. ebd., S. 22: „Es macht einen epochalen Unterschied, ob man eine idealisierte Kugel mit Linien und Schnitten ausmißt, ob man eine wirkliche Kugel mit Schiffen umfährt oder ob man Flugzeuge und Funksignale um die atmosphärische Hülle eines Planeten zirkulieren läßt.“ 6 Zur Auseinandersetzung Sloterdijks mit Heideggers Abhandlung siehe ebd., S. 253 f. 7 Heidegger 1950 [1938], S. 83. 8 Ebd., S. 87. 28 Christian Moser vergleichbares) Logo und als Bestandteil der UN-Fahne alle Einrichtungen und Publikationen der UN ziert (siehe Abb. 1). Eine erste Version des Emblems wurde von einem Designer-Team unter Leitung von Oliver Lincoln Lundquist anlässlich der Gründungskonferenz der UN entworfen, die am 26. Juni 1945 in San Francisco stattfand.9 Die endgültige, bis heute gültige Version wurde auf der UN-Vollversammlung vom 7. Dezember 1946 zum offiziellen Kennzeichen der Vereinten Nationen erklärt. Abb.1: Fahne mit Emblem der Vereinten Nationen Das Emblem zeigt einen stilisierten Globus, der aus fünf konzentrischen Kreisen besteht. Ihm ist eine Weltkarte eingezeichnet, die um den Nordpol zentriert ist und daher die Kontinente der Nordhalbkugel in großer Deutlichkeit wiedergibt, während die südlichen Kontinente gestaucht und verzerrt erscheinen; die Antarktis fehlt ganz. Dieser Globus wird von zwei Olivenzweigen eingefasst.10 In der ersten Fassung des Emblems lag Nordamerika im Zentrum der Weltkugel; in der definitiven Version bildet der Nullmeridian die vertikale 9 Vgl. http://www.nytimes.com/2009/01/04/world/04lundquist.html?_r=1& [27. 03. 2013]. 10 In der Vorlage des Generalsekretärs wird das Emblem folgendermaßen geschildert: „A map of the world representing an azimuthal equidistant projection centered on the North Pole, inscribed in a wreath consisting of crossed conventionalized branches of the olive tree; in gold on a field of smoke-blue with all water areas in white. The projection of the map extends to 60º south latitude, and includes five concentric circles.“ (Report of the Secretary-General, document A/204, http://daccess-ods.un.org/TMP/3547344.80381012.html [10. 02. 2014].) Figuren des Globalen. Von der Weltkugel zum Welthorizont 29 Achse, die den Erdkreis in zwei Hälften teilt, so dass Europa in die Mitte rückt. Auf diese Weise wird – was angesichts des 1947 drohenden Kalten Krieges signifikant erscheint – eine Hierarchisierung zwischen West und Ost vermieden, doch geschieht dies um den Preis, dass das Machtgefälle zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden der Welt desto deutlicher zur Anschauung gelangt. Auffälliger als derartige Asymmetrien ist die Tatsache, dass das Emblem moderne und vormoderne Bildlichkeiten des Globalen auf katachrestische Weise miteinander verquickt. Die Olivenzweige sind eine alteuropäische Reminiszenz, ein antikes und christliches Symbol des Friedens.11 Sie lagern sich um die Weltkugel wie eine zweite, bergende Sphäre und erinnern somit an die Himmelsschalen der antiken und mittelalterlichen Kosmologie. Als Produkte der Erde signalisieren die Zweige aber zugleich das Fehlen des eigentlichen Himmels: Wo einst Himmel war, findet sich Erdentsprossenes, von Menschen Kultiviertes. Die Erde muss für die Geborgenheit, die der alte Kosmos mit seinen Himmelssphären vormals zu gewährleisten hatte, nun selbst aufkommen, und zwar vermöge ihrer immanenten Einheit, die der moderne Globus in seiner vollendeten Kugelgestalt sinnfällig macht. Die fünf konzentrischen Kreise, die auf die fünf von Menschen bewohnten Erdkontinente verweisen, potenzieren den Eindruck geschlossener Rundheit und indizieren zugleich deren Verlagerung ins Erdimmanente: Die Schalenstruktur, die ehemals den Kosmos auszeichnete, kehrt in verwandelter Form als in sich gespiegelte Ringstruktur der Erde wieder. Das UN-Emblem verdankt seine suggestive Kraft somit einem archaischen Bildelement, dessen gebrochene Verwendung umso deutlicher die einheitsstiftende Funktion der Globus-Figuration hervortreten lässt. Der Globus des Emblems veranschaulicht die Gemeinschaft der Nationen, die sich zur Einheit zusammengeschlossen haben. Genauer : die sich zur Einheit zusammenschließen sollen. Denn das Emblem besitzt einen Appellcharakter. Es fordert die Menschen dazu auf, globale Einheit herzustellen, das Einigungswerk zu vollenden, den alle miteinander verbindenden Kreis zu schließen (wohlgemerkt: der aus den Ölzweigen gebildete Kranz, der die Erde umfängt, ist nach oben hin offen). Das Emblem der Vereinten Nationen führt dergestalt mit besonderer Deutlichkeit vor Augen, was den Globus als Leitmetapher der Globalisierung überhaupt kennzeichnet. Die Bildlichkeit des Globalen installiert eine teleologische Ausrichtung. Sie gehorcht, wie Urs Stäheli darlegt, einer Logik der Vollendung: Recent political and theoretical discourses on the global […] are fascinated by this logic of completeness. Moreover, they are themselves engaged in creating what they try to 11 „Der Ölbaum-Zweig ist Symbol des Sieges und des Friedens“ (Krenkel 1965, Sp. 2119). Vgl. auch Vergil 1965, S. 325: „Da sprach hoch vom Heck nun also Vater Aeneas, / hielt in der Hand den Zweig des friedebringenden Ölbaums“ (Aeneis, VIII.115 f.). 30 Christian Moser observe. The narratives put forward understand the global as a teleological process, awaiting its fulfillment in the imaginary totality of an all-encompassing globality.12 Als master trope der Globalisierung ist der Globus eine Figur der in Aussicht gestellten und aufgetragenen Vollendung, „a teleological figure of completeness“.13 Der Terminus ‚Globalisierung‘ besagt ja nichts anderes als den Vorgang des Rundmachens, des Ganzmachens einer noch unvollständigen Kugel. Was den Prozess der Globalisierung figurativ antreibt, ist also gerade jenes Leitbild der perfekten, idealisierten Kugel, das laut Sloterdijk der Epoche der metaphysischen Globalisierung zuzuordnen ist, während es seiner Ansicht nach für die Epochen der terrestrischen und der elektronischen Globalisierung keinerlei Relevanz besitzt. Doch offenbar operieren auch die Diskurse, die für die letzteren konstitutiv sind, mit idealen, imaginären Kugeln; offenkundig nutzen auch sie das darin enthaltene appellative Potenzial. Die metaphysischen Kugeln haben ein Nachleben. Sie gehen in verwandelter Gestalt, nämlich als appellative Tropen, in das globale Imaginäre ein.14 Auch für die terrestrische Globalisierung gilt, dass der Globus, der ihre Aktivitäten anleitet, eine absolute Metapher im Sinne von Hans Blumenberg darstellt. Auf den neuzeitlichen Globus trifft sehr genau dasjenige zu, was Blumenberg für absolute Metaphern reklamiert: Sie sind „Bilder“, die das „nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze“ repräsentieren, die das „als Gegenständlichkeit unerreichbare Ganze ‚vertretend‘ vorstellig machen“ und dadurch einen „Anhalt von Orientierungen“ bieten.15 Auch darin kommt der Globus mit der absoluten Metapher überein, dass er eine pragmatische, handlungsanleitende Funktion besitzt – wie diese bezeichnet er eine „vérité à faire“, ein Ganzes, das allererst hergestellt werden muss.16 Und schließlich erweist sich das Bild des Globus auch dadurch als absolute Metapher, dass es zu den „Übertragungen“ gehört, „die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen.“17 Globalisierung markiert die Übertragung der Globusfigur aus dem Bereich der Kosmologie bzw. Geographie auf die Bereiche des Ökonomischen (Welthandel), Politischen (imperiales Weltreich), Sozialen (Weltgesellschaft), Kulturellen (Weltkultur, Weltliteratur) usw., wo sie als totalisierendes Schema wirksam ist. Übertragen wird aber gerade nicht die Bildvorstellung, die der ‚wirklichen‘, physischen Erdgestalt entspricht, denn just im Zeitalter der terrestrischen Globalisierung bricht sich die Einsicht Bahn, dass die Erde gar keine perfekte Kugel ist (ihre Polkappen sind abgeflacht; auf Höhe des 12 Stäheli 2003, S. 1. 13 Ebd., S. 2. 14 Zum Begriff des globalen Imaginären vgl. die Einleitung der Herausgeber zum vorliegenden Band. 15 Blumenberg 1998, S. 25. 16 Ebd. [Hervorhebung im Original] 17 Ebd., S. 10. Figuren des Globalen. Von der Weltkugel zum Welthorizont 31 Äquators weist sie eine Verdickung auf; ihre Umlaufbahn ist, wie Johannes Kepler als erster herausfand, nicht kreisförmig, sondern elliptisch). Übertragen wird vielmehr das metaphysische Idealbild der vollkommenen Kugel, da nur dieses als totalisierendes und teleologisches Schema taugt. Der Globus, der in den Diskursen der modernen Globalisierung sein Unwesen treibt, ist ein archaisches Relikt und imaginäres Konstrukt. Es wäre also danach zu fragen, wie dieses Konstrukt darin aufgegriffen, umgewandelt und mit modernen Bildelementen angereichert wird, um Orientierung zu schaffen und die diversen Praktiken der Welterschließung und Weltintegration anzuleiten. Das UN-Emblem, das den metaphysischen Himmel zu ‚erden‘ versucht, bietet dafür ein Beispiel. 2. Die appellative Kraft, der teleologische Erwartungsdruck, den die Figur des Globus in modernen Diskursen der Globalisierung entfaltet, ist das Ergebnis einer Übertragung. Die Attribute der Perfektion, Geschlossenheit und Vollendung werden vom Himmel auf den einen Erdball, von der Welt (im Sinne des umfassenden Kosmos) auf die Erde transferiert. Eine Fernwirkung dieser Übertragung ist darin zu sehen, dass wir in unserem heutigen Sprachgebrauch die Termini ‚Welt‘ und ‚Erde‘ häufig miteinander verwechseln und als gleichbedeutend behandeln: Wir reden von ‚Welt‘, wenn wir eigentlich nur die ‚Erde‘ meinen, weil die Erde die alte Einheitsfunktion des Kosmos (mitsamt seiner teleologischen Ausrichtung) übernommen hat.18 Die Implikationen dieser Übertragung kann man am besten studieren, indem man moderne mit vormodernen Globalisierungsdiskursen vergleicht und dabei analysiert, welche Funktion die Globus-Figur im Rahmen des jeweiligen Argumentationsgangs erfüllt. Besonders aufschlussreich ist ein solcher Vergleich, wenn die Vergleichstexte einem (vermeintlich) übergreifenden Traditionszusammenhang angehören, wie ihn etwa das kosmopolitische Denken darstellt. Kosmopolitisches Denken hat im Zuge der aktuellen Globalisierungsdebatten eine bemerkenswerte Renaissance erfahren.19 Vertreter aktueller kosmopolitischer Ansätze berufen sich in der Regel auf Immanuel Kant als den ‚Gründungsvater‘ eines modernen, aufgeklärten Kosmopolitismus, insbesondere auf seine Schrift Zum ewigen Frieden (1795). Darin entwirft Kant das Modell eines Völkerbundes, das in mancherlei Hinsicht auf die Institution der Vereinten 18 Zum komplexen Wechselverhältnis der Begriffe ‚Welt‘ und ‚Erde‘ vgl. den Beitrag von Robert Stockhammer im vorliegenden Band. 19 Vgl. etwa Appiah 2006; Benhabib 2006. 32 Christian Moser Nationen vorausweist. Kant stützt sein Modell durch eine Reflexion auf die Kugelgestalt der Erde. Der besondere Stellenwert der kantischen Globusreflexion – der paradigmatische Charakter, den sie für den modernen Globalisierungsdiskurs insgesamt besitzt – wird deutlich, wenn man sie mit ihrem Korrelat im kosmopolitischen Diskurs der Antike kontrastiert. Die Globusreflexion besitzt im antiken Kosmopolitismus, wie er vor allem von den Philosophenschulen des Stoizismus und des Kynismus vertreten wird, den Status einer Meditationstechnik. Der ‚Blick von oben‘, wie Pierre Hadot ihn nennt,20 sieht vor, dass sich das Individuum vermöge seiner Vorstellungskraft an einen Standort im Himmel versetzt, von wo es auf die Erde herabschaut. Die Selbstbetrachtungen des römischen Kaisers und stoischen Philosophen Marc Aurel, die eine Art Kompendium der philosophischen Askese darstellen, enthalten eine Vielzahl solcher Höhenschau-Szenarien. Eine davon sei herausgegriffen: „Asien und Europa sind Winkel des Kosmos. Das ganze Meer ist ein Tropfen im Kosmos. Der Berg Athos ist eine Erdscholle im Kosmos. Die gesamte Gegenwart ist ein Punkt in der Ewigkeit. Alles ist winzig, leicht veränderbar, verschwindend klein.“21 Marc Aurel imaginiert einen Blick aus gewaltiger Höhe, der die Erde zusammenschrumpfen lässt. Worin besteht der Zweck dieser Übung? Sie dient der Befreiung aus der Verstrickung in mundane Verhältnisse, der Loslösung aus familiären, sozialen und nationalen Bindungen, aus der irdischen Polis (im Falle Marc Aurels handelt es sich dabei immerhin um das Imperium Romanum, dem er als Kaiser vorsteht), der der Mensch durch den Zufall der Geburt angehört und die es aufzugeben gilt zugunsten der Eingliederung in die wahre himmlische Heimat, die große Kosmopolis. Der Blick von oben bewirkt diese Eingliederung, denn aus der kosmischen Höhenperspektive werden die irdischen Verhältnisse in ihrer wahren Dimension und ihrem wahren Wert erkennbar – sie sind nichtig und verlangen daher vom Philosophen, dass er sich über sie ‚erhebt‘. Eine solche Erhebung, die sich im Höhenblick konkretisiert, sollte sich nach stoischer Auffassung zu einer permanenten Seelenhaltung verfestigen, was nur durch unablässige Übung zu bewerkstelligen ist. Der antike Kosmopolitismus realisiert sich also in Gestalt einer Meditationsübung, die nicht nur die Vernunft, sondern stärker noch die Einbildungskraft involviert, und ist gekoppelt an die Herstellung einer imaginären Geographie. Tatsächlich wird der Adept der stoischen Philosophie dazu aufgefordert, sich die Welt, die er aus der fiktiven Höhenposition wahrnimmt, konkret vorzustellen und auszumalen. Je anschaulicher das Bild der Erde, das er sich meditativ vor Augen führt, desto nachhaltiger die ethische Wirkung. Eine der 20 Hadot 1991, S. 123 – 135. – Zum imaginierten Blick auf die Erde in der Antike vgl. auch Cosgrove 2001, S. 29 – 53. 21 Marc Aurel 2004, S. 139 (VI.36). Figuren des Globalen. Von der Weltkugel zum Welthorizont 33 ausführlichsten Schilderungen imaginärer Geographie, die sich aus der Antike erhalten haben, ist der „Traum des Scipio“ (Somnium Scipionis), den Cicero in das sechste Buch seines Dialogs Über das Gemeinwesen (De re publica) eingefügt hat.22 Scipio berichtet darin, wie ihm kurz vor seinem Sieg über Karthago im Traum sein Großvater und Vater erschienen seien, die ihn in den Himmel geführt hätten, um ihm wichtige Wahrheiten zu offenbaren. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Offenbarung ist der Blick von oben auf die Erde. Scipio vermag die Erde zunächst kaum auszumachen, so winzig erscheint sie aus der Entfernung. Erst als sein Vater verächtlich auf „illum globum“, jenen kleinen Ball in der Ferne, verweist, nimmt er sie überhaupt zur Kenntnis.23 Da er von diesem Zeitpunkt an aber unverwandt auf die Erdkugel starrt, sieht sich sein Vater dazu veranlasst, das, was er sieht, zu erläutern: Du siehst aber, wie die Erde [eandem terram] auch wie von gewissen Gürteln umschlungen und umgeben ist, von denen zwei, wie du siehst, die am meisten voneinander entfernt sind und zu beiden Seiten unter dem Scheitel des Himmels selbst ruhen, in Eis erstarrt sind, jener mittlere aber und größte von der Sonne ausgedörrt wird. Zwei sind bewohnbar, von denen jener südliche, deren Bewohner euch die Füße entgegenkehren, euer Geschlecht nichts angeht, dieser andere aber gegen Norden gelegene, den ihr bewohnt, sieh, zu welchem schmalem Teil er euch berührt. Das ganze Land nämlich, das von euch bebaut wird, an den Spitzen verengt, an den Seiten breiter, ist eine kleine Insel, die von jenem Meer umspült ist, das ihr […] den Ozean nennt auf Erden und bei dem du doch siehst, wie klein er bei so großem Namen ist.24 Bemerkenswert an dieser Schilderung ist die bedeutende Rolle, die sie den geographischen Grenzen zuweist. Die Erde weist eine horizontale Streifenstruktur auf – die ptolemaischen Klimazonen. Drei davon – die beiden zonae frigidae an den Polen und die zona torrida am Äquator – konstituieren unüberwindliche Barrieren, die jeglichen Verkehr unterbinden. Ähnliches gilt für den Weltenstrom des Ozeans, der die euro-asiatische Ökumene wie eine kleine Insel einschließt. Die Welt, die Scipio in seiner Traumvision schaut, ist definitiv kein integraler Zirkulations-, Kommunikations- und Verkehrsraum. Eben darin besteht die Lehre, die ihm durch seine Schau erteilt wird: Er soll einsehen, dass es zwecklos ist, nach irdischem Ruhm zu streben, denn dieser Ruhm kann sich nicht verbreiten, er vermag nicht zu zirkulieren: „Das Gerede [sermo]“, das den Ruhm ausmacht, ist, so der Vater, „in die Enge der Gebiete, die du siehst, eingeschlossen“.25 ‚Weltruhm‘ (im Sinne von ‚Erdruhm‘) zu erlangen, ist unter diesen geographischen Bedingungen unmöglich. Daher, so der Vater, möge 22 Zur Einordnung des Somnium Scipionis in die Tradition des stoizistischen ‚Blicks von oben‘ vgl. Dünne 2008. 23 Cicero 1960, S. 336 (VI.15). 24 Ebd., S. 343 – 347 (VI.20). 25 Ebd., S. 347 (VI.23). 34 Christian Moser Scipio nicht nach irdischem, sondern nach himmlischem Ruhm streben, den aber nur der Tugendhafte gewinnen könne. Die Erde, die Scipio aus der Höhe wahrnimmt, besitzt letztlich keine innere Einheit. Die Grenzen zwischen den Teilen, aus denen sie sich zusammensetzt, werden so sehr akzentuiert, dass sie kein immanentes Ganzes konstituieren. Kreisbewegungen sind auf dieser Erde unmöglich. Das figurative Potential, das in der Globusform liegt, wird hinsichtlich der Erde im Somnium Scipionis nicht ausgeschöpft. Das ist auch gar nicht beabsichtigt, denn Scipio soll seinen Blick von der Erde ab- und dem Himmel zuwenden. Im Himmel sieht er die perfekte Kreisfigur verwirklicht, die der Erde abgeht. Staunend betrachtet er die „ewig kreisenden Bahnen der Sterne“.26 Im Himmelsglobus, nicht im Erdglobus, findet die Welt zur Einheit: „In neun Kreisen oder besser Kugeln [orbibus vel potius globis] ist alles verbunden. Der eine von ihnen ist der himmlische, der äußerste, der alle übrigen umfaßt“.27 Scipios Blick von oben ist folglich kein Blick auf die Welt, sondern ein Blick auf die Erde. Er bewegt sich auf seiner Himmelsreise innerhalb der Grenzen der Welt, genauer : Er bewegt sich hart an der Grenze, an ihrem äußersten Saum. Scipios Blick von oben ist kein Blick aus dem Jenseits, kein Blick von außen auf die Welt, sondern ein Blick vom Rande, ein liminaler Blick. Seine imaginäre Himmelfahrt zielt nicht darauf ab, Grenzen zu überschreiten, vielmehr geht es darum, Grenzen zu erproben, ja zu befestigen. Das Ergebnis der Traumvision ist eine vertiefte Einsicht in die Unüberwindlichkeit und die bergende Funktion der Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind. Der antike Kosmopolitismus ist über die Meditationsübung des ‚Blicks von oben‘ an die Herstellung einer imaginären Geographie gebunden, die ihre rhetorisch-literarische Herkunft nicht verleugnet. Philosophischer Diskurs und figurale Techniken der Welterzeugung gehen Hand in Hand, um dem Individuum dazu zu verhelfen, sich als Kosmopolit zu konstituieren. Diese Koalition zwischen Philosophie und Rhetorik scheint in der Moderne zu zerbrechen. Die Philosophie entwickelt sich zu einer akademischen Disziplin, die auf abstrakte Vernunftspekulation spezialisiert ist, und büßt somit ihre lebenspraktische Dimension ein.28 Mit ihr scheint auch der Bezug zu Rhetorik und Literatur verloren zu gehen. Kosmopolitisches Denken wird zu einer reinen Angelegenheit der Vernunft. Wo es seine Bindung an das Imaginäre bewahren will, da flüchtet es sich in den Randbereich der Popularphilosophie, oder aber es bildet eine spezifisch literarische Spielart aus, wie sie etwa in Gestalt von Oliver Goldsmiths Essay-Sammlung The Citizen of World oder Christoph Martin 26 Ebd., S. 339 (VI.17). 27 Ebd. 28 Zu dieser „Trennung zwischen Lebensweise und philosophischem Diskurs“, die im christlichen Mittelalter einsetzt, vgl. Hadot 1999, S. 291 – 299, hier: 291. Figuren des Globalen. Von der Weltkugel zum Welthorizont 35 Wielands Abderiten-Roman vorliegt. Seriöser Kosmopolitismus, so scheint es, bemüht sich dagegen um eine systematische Fundierung in Vernunftprinzipien. In diese Kategorie gehört offenbar auch das kosmopolitische Denken Immanuel Kants. Kant führt seine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Kosmopolitismus im Kontext seiner anthropologischen, geschichts- und rechtsphilosophischen Studien. In keinem dieser Zusammenhänge, so scheint es, spielen rhetorisch-literarische Verfahrensweisen irgendeine Rolle. Bei näherer Betrachtung wird jedoch schnell erkennbar, dass dieser Schein trügt. Das lässt sich am Beispiel der Schrift Zum ewigen Frieden aufzeigen, die nicht zufällig in den aktuellen Debatten über den Kosmopolitismus immer wieder zitiert wird. Schon in der Vorrede wirft Kant die Frage auf, ob die Vorstellung des ewigen Friedens nicht „jenen süßen Traum“ darstellt, den verstiegene Philosophen gerne zu träumen pflegen.29 Er konzediert mithin die Möglichkeit, dass sein kosmopolitischer Friedensentwurf in das Reich des Imaginären gehört. Kant verleiht seiner Abhandlung die Form eines rechtlich bindenden Vertrages. Der Vertrag enthält die durch Vernunftreflexion ermittelten Bestimmungen, die er für nötig hält, um einen weltweit und dauerhaft gültigen Frieden unter den Völkern zu sichern. Diese heilsame Wirkung kann der Vertrag jedoch nur unter der Bedingung entfalten, dass ihm ausnahmslos alle Völker der Erde ihre Zustimmung erteilen. Eine solche Bedingung ist offenbar nur sehr schwer zu erfüllen; der Friedensentwurf steht somit tatsächlich in der Gefahr, das Ansehen einer wohlfeilen philosophischen Träumerei zu gewinnen. Um dieser Gefahr zu begegnen, hängt Kant seiner Schrift einen „Zusatz“ an, der eine „Garantie des ewigen Friedens“ leisten soll.30 Er sucht diese Garantie in der Natur, die seiner Ansicht nach eine „provisorische Veranstaltung“ getroffen hat, um die Menschen zu einem Friedenszustand hinzuführen.31 Diese „Veranstaltung“ ist geophysischer Art; sie beruht auf der räumlichen Beschaffenheit der Erde. Kant begibt sich somit auf ein gefährliches Parkett, indem er der Natur eine auf den Menschen bezogene Teleologie zuschreibt. Er weiß um die Gefahr und will es daher vermeiden „sich vermessenerweise ikarische Flügel“ anzusetzen.32 Doch genau dies geschieht im Zusatz zum Friedensvertrag: Kant inszeniert einen kosmischen Blick von oben und führt die Trope des Globus ins Feld, um den künftigen Weltfrieden abzusichern. Das Telos des Weltfriedens wird aus dem teleologischen Potential der Globus-Figur abgeleitet – die immanente Einheit des Globus verbürgt die zu erwartende Einheit der Menschheit. Kants Vorgehensweise ist paradox: Er will verhindern, dass sein Friedensentwurf 29 30 31 32 Kant 1983 [1795], S. 195. Ebd., S. 217 – 227. Ebd., S. 219. Ebd. 36 Christian Moser einen imaginären Charakter erlangt, und konstruiert zu diesem Zweck eine imaginäre Geographie. Das teleologische Argument, das Kant auf der Basis dieser imaginären Geographie entwickelt, lautet – in leicht vereinfachter Form – folgendermaßen:33 Die Natur hat dafür gesorgt, dass die Menschen sich über die ganze Erde verbreiten können. Sie hat ihren Wanderungsbewegungen keine unüberwindlichen physischen Barrieren in den Weg gestellt, sondern, im Gegenteil, durch Flüsse, Meere und „das Kamel (das Schiff der Wüste) […], welches zur Bereisung derselben gleichsam geschaffen zu sein scheint,“ vielfältige Verbindungsmöglichkeiten für sie geschaffen; überall – selbst in den unwirtlichsten Gegenden – hält sie Mittel zu ihrer Subsistenz bereit, so dass die Menschen dazu angeleitet werden, die gesamte Erdoberfläche zu besiedeln, gleichsam einen kollektiven Akt der Erdumrundung zu vollziehen. Zugleich ist diese Oberfläche, „als Kugelfläche“, jedoch begrenzt und wirkt sich dahingehend aus, dass die darauf lebenden Menschen „sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden […] müssen“.34 Dieses friedliche Dulden wird schließlich durch dieselbe geophysische Einrichtung befördert, die die Ausbreitung der Menschen ermöglichte: Sie sorgt dafür, dass ein reger Handelsverkehr entsteht, der die Völker miteinander verbindet. Als Beispiel führt Kant die Eskimos an, die sich am nördlichen Weltrand angesiedelt haben: Die Natur hat ihnen Ressourcen in Form von Robben, Walrossen, Walfischen und Treibholz zur Verfügung gestellt. Letzteres wird durch Flüsse und Meeresströmungen zu den Eskimos getragen. Wenn diese natürliche Zirkulation zum Erliegen kommt (etwa weil die Anwohner der großen sibirischen Flüsse lernen, ihre Holzreserven effektiver zu nutzen), werden die Eskimos dazu animiert, mit ihren Produkten Handel zu treiben, Tran gegen Holz einzutauschen und so mit anderen Völkern in freundschaftliche Beziehung zu treten. Vergleicht man Kants imaginäre Geographie mit derjenigen, die dem antiken Kosmopolitismus zugrunde liegt, so fallen die folgenden Unterschiede ins Auge: 1. Indem Kant die Endlichkeit der Erde akzentuiert und der Ausbreitungsbe33 Zum Folgenden siehe ebd., S. 213 f., 219 – 222. 34 Ebd., S. 214. [Hervorhebung C. M.] – Die Weltkugel ist bei Kant nicht mehr Abbild und Chiffre des Unendlichen, sondern verweist auf die Endlichkeit und Begrenztheit der Ressource Raum. Vgl. dagegen Nicolai de Cusa / Nikolaus von Kues 1999 [entst. ca. 1463], S. 17: „Die absolute Rundheit ist aber nicht von der Natur der Weltrundheit, sondern ihre Ursache und ihr Vorbild, das ich Ewigkeit nenne, deren Abbild ist die Weltrundheit. Im Kreis nämlich, wo es weder Anfang noch Ende gibt, weil in ihm kein Punkt ist, der mehr Anfang als Ende ist, sehe ich das Abbild der Ewigkeit“. – Leitet Kant aus der absoluten Beschränktheit des Erdraums teleologisch die Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit des Weltfriedens ab, so folgern die Vertreter des geopolitischen Denkens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus derselben Gegebenheit (und ebenso teleologisch) die Notwendigkeit eines Kampfes um Lebensraum. Figuren des Globalen. Von der Weltkugel zum Welthorizont 37 wegung der Menschen eine absolute Schranke setzt, verlagert er die Weltgrenze von der Himmelskugel an die Erdoberfläche. Die Welt findet ihre Einheit nicht mehr in der äußersten Himmelssphäre, sondern in der Erdkugel selbst. Welt und Erde fallen in eins. 2. Der scharfen Grenzziehung nach außen hin steht der Abbau von natürlichen Grenzen im Inneren entgegen. Kants Erde kennt keine Ränder mehr. Selbst der Nordpol ist in den Zirkulationsraum integriert. Kants Erde kennt auch keine Barrieren mehr : Räume, die vormals als Schranken galten, Wüsten, Meere oder Gebirge beispielsweise, werden zu Verkehrswegen umkodiert. Der Raum der Erde wird homogenisiert. Obwohl endlich, erlaubt er eine unbegrenzte Bewegungsfreiheit und eine ungehinderte Zirkulation in alle Richtungen. Nimmt man beide Punkte zusammen, die scharfe Konturierung der Erdgrenze und die entfesselte Zirkulation, so gewinnt die Welt, die Kant im „Zusatz“ präsentiert, das Ansehen eines integralen Globus. Der Blick von oben fällt auf eine in sich geschlossene, in sich selbst kreisende Welt. Die von Kant entworfene imaginäre Geographie steht im Zeichen einer Rhetorik der Globalität. Die Garantie für den ewigen Frieden verdankt ihre Überzeugungskraft letztlich der suggestiven Evidenz dieser Trope. Die friedliche Einheit der Menschheit wird durch die anschauliche Einheit der Globus-Figur verbürgt. Die hermetische Geschlossenheit dieser als Zirkulationsraum gedachten Welt bringt es mit sich, dass sie in ihrer Ganzheit nicht aus sich selbst heraus wahrgenommen werden kann. Der (imaginäre) Blick, der sie erfasst, ist weniger ein Blick von oben als ein Blick von außen. Wer die Welt als Totalität erkennen will, muss sich ganz von ihr ablösen. Doch auch dafür hat sie laut Kant teleologisch eine „provisorische Veranstaltung“ getroffen. Aufgrund ihrer Kugelgestalt, die eine allumfassende Dynamik der Zirkulation in Gang setzt, hat sie dafür gesorgt, dass niemand je ganz auf ihr zu Hause sein kann – kein Mensch, so Kant, hat „ursprünglich […] an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht, als der andere“.35 Bezeichnenderweise besitzt das von Kant postulierte Weltbürgerrecht die Form eines Besuchsrechts.36 Besucher ist der Bewohner des von einer allgemeinen Zirkulation erfassten Globus letztlich auch zu Hause. So geschlossen und ‚rund‘ bei Kant die mit der Erdgrenze in eins fallende Weltgrenze auch sein mag, sie besitzt keine bergende Funktion mehr. 35 Ebd., S. 214. 36 Ebd., S. 213 f. 38 Christian Moser 3. Auch heute findet der Globus als persuasive Figur der Einheit und als appellative Trope der Integration weite Verbreitung. Er begegnet vor allem in solchen diskursiven Zusammenhängen, die an die Tradition des aufklärerischen Universalismus anknüpfen, und mit der Globalisierung Begriffe wie Humanität, Menschenrechte und Kosmopolitismus verbinden. Neben dieser affirmativen Bezugnahme auf die Globusfigur gibt es in den neueren Globalisierungsdiskursen aber auch eine deutlich spürbare Reserve gegenüber der master trope modernen Weltdenkens, die zunehmend nicht mehr mit integraler Einheit, sondern mit einer repressiven Form von Totalisierung assoziiert wird. Dabei gilt es zu differenzieren: Auf der einen Seite stehen Ansätze, in denen die Kritik am Leitbild des Globus Ausdruck einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Prozessen der Globalisierung ist; auf der anderen Seite gibt es Bemühungen, der Vorstellung der Globalität alternative Figurationen gegenüberzustellen und damit den Anspruch zu verknüpfen, Globalisierung ‚anders‘, nämlich nichttotalisierend zu denken. Es stellt sich allerdings die Frage, ob man die GlobusFigur so einfach loswerden kann. Ist es tatsächlich möglich, die Globalisierung ohne Globus zu denken? Lässt sich Globalisierung schlüssig als „nicht-totalisierende Einheit“ konzeptualisieren?37 Ein relativ frühes Beispiel für eine Globalisierungskritik (avant la lettre), die sich in Form der Globus-Kritik artikuliert, bietet Hannah Arendts Werk The Human Condition (1958, dt. 1960). Im letzten Kapitel ihres Buches schildert Arendt die Globalisierung als einen Prozess der „world alienation“, der Weltentfremdung.38 Sie greift damit einen Aspekt auf, den bereits Kant mit seiner Bestimmung des Weltbürgerrechts als Besuchsrecht angedeutet hatte. Der Agent der Weltentfremdung ist Arendt zufolge die moderne Wissenschaft, welche die alte Unterscheidung zwischen Himmel und Erde aufgehoben und dem Menschen somit die Einnahme eines archimedischen Standpunkts ermöglicht habe. Seitdem handele der Mensch auf der Erde so, als wirke er von einem Punkt außerhalb ihrer auf sie ein; sein Weltverhältnis realisiere sich nicht mehr im Modus des Einwohnens, sondern der Exteriorität, was die Möglichkeit einer radikalen instrumentellen Umgestaltung des Planeten eröffne. Dazu gehört nicht zuletzt die Entwicklung einer modernen Verkehrstechnologie mitsamt einem globalen Verkehrswegenetzwerk. Sie bewirkt laut Arendt eine räumliche Schrumpfung der Erde und erlaubt es dem Menschen im Zeitalter der Aviatik und der Aeronautik zugleich, sich buchstäblich über den Erdkörper zu erheben. Als Emblem dieser Erdentfremdung figuriert in The Human Condition der 37 Reichardt 2008, S. 6 f. 38 Arendt 1958, S. 253. – Zum Folgenden vgl. ebd., S. 248 – 273. Figuren des Globalen. Von der Weltkugel zum Welthorizont 39 sowjetische Sputnik-Satellit.39 Der Satellit, der den Globus auf genau berechneten Bahnen umrundet, versinnbildlicht für Arendt eine Zirkulation, die sich vom mütterlichen Körper der Erde abgelöst hat und steril geworden ist, ein leeres, totes Kreisen. Die Welt in ihrer globalen Schrumpfform ist selbst zu einer solchen sterilen Kreisstruktur geworden. Von entscheidender Bedeutung ist aber nun, dass der so beschaffene Globus nicht bloß das Produkt moderner wissenschaftlicher Forschung und technologischer Entwicklung ist. Arendt sieht in ersterem vielmehr die Voraussetzung für letztere. Wie Heidegger erkennt sie im Bild der Welt als Globus das mediale Apriori für die globalisierende Umgestaltung der Welt. Das Weltbild des Globus leitet die Praxis der Globalisierung an: Prior to the shrinkage of space and the abolition of distance through railroads, steamships, and airplanes, there is the infinitely greater and more effective shrinkage which comes through the surveying capacity of the human mind, whose use of numbers, symbols, and models can condense and scale earthly physical distance down to the size of the human body’s natural sense and understanding. Before we knew how to circle the earth, how to circumscribe the sphere of human habitation in days and hours, we had brought the globe to our living rooms to be touched by our hands and swirled before our eyes.40 Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy hat Hannah Arendts (und Martin Heideggers) Globus-Kritik unlängst aufgegriffen, zu einer expliziten Globalisierungskritik ausgebaut und terminologisch spezifiziert. Er unterscheidet zwischen globalisation und globalité auf der einen, mondialisation und mondialité auf der anderen Seite.41 Le monde ist laut Nancy eine Welt, die niemals vor mir oder außerhalb meiner liegt; sobald sie erscheint, teile ich vielmehr bereits etwas mit ihr. Globalisation dagegen bezieht sich auf eine vorgestellte, angeschaute Welt – „eine Welt, die dem Blick eines Welt-Subjekts ausgesetzt ist“.42 Ein solches Welt-Subjekt steht außerhalb der Welt und okkupiert als solches die exzentrische Position des Schöpfer-Gottes. Das Subjekt der globalisation zielt auf die Um- und Neuschöpfung der Welt im Zeichen des Globus ab, das Resultat dieser angemaßten schöpferischen Tätigkeit ist aber Nancy zufolge eine parodistische Doublette des Globus – der Glomus.43 Das lateinische Wort glomus bezeichnet das Knäuel, die wirre Verflechtung von Fäden oder Schnüren. Das Verbum glomerare hat die Bedeutung zusammenballen, aufhäufen, verdichten. 39 Mit dem Emblem des Sputnik-Satelliten eröffnet Arendt ihre Studie. Vgl. den Prolog, ebd., S. 1 – 6. 40 Ebd., S. 250 f. 41 Nancy 2003, S. 19. – Wie Nancy gibt auch Jacques Derrida dem Begriff der mondialisation gegenüber demjenigen der globalisation den Vorzug. Vgl. Derrida 2007, S. 185 – 189. 42 Ebd., S. 28. 43 Ebd., S. 14. 40 Christian Moser Davon leitet sich das Wort ‚Agglomeration‘ her, das auf die ungeordnete Anballung oder Anhäufung von Dingen verweist. Nancys glomus spielt somit auf den Verdichtungsprozess an, die „time-space-compression“, die seit David Harvey als ein zentraler Topos der Globalisierungstheorie gilt.44 Laut Nancy ist das Resultat dieser Verdichtung aber kein runder Ball, sondern eine bloße Anballung. Als ‚Weltknäuel‘ ist der glomus zudem an die Bildlichkeit des Netzwerks anschließbar. Er evoziert das Netzwerk von Kommunikations- und Verkehrsverbindungen, das über die Welt geworfen wird, das sie aber gerade nicht zur Einheit zusammenzuschließen und zu einem Ganzen zu runden vermag, sondern sie vielmehr zu einer asymmetrischen Struktur verformt, zu einem zerbeulten Gebilde, das die ungleiche Verteilung von Macht und Reichtum auf der Welt zur Anschauung bringt. Nancy versucht den totalisierenden Globus, der den ökonomischen, politischen und informationstechnologischen Globalisierungsdiskurs beherrscht, als glomus zu entlarven. Zugleich skizziert er mit seinem Konzept des monde einen Alternativentwurf, der der Weltentfremdung des Globus-Denkens die Vorstellung einer unhintergehbaren Innerweltlichkeit entgegensetzt – keinen Blick von außen, sondern einen Blick auf die Welt aus dieser Welt heraus. Dieser Versuch, das Globalisierungsdenken zu ‚erden‘, ist charakteristisch für eine Reihe von aktuellen Ansätzen, die sich um ein differenziertes Bild der Globalisierung bemühen. Wie Jürgen Osterhammel und Niels Petersson argumentieren, vermeiden sie es, „die Welt ‚von oben‘ zu sehen“, und zielen stattdessen darauf ab, sie „‚von unten‘ [zu] konstruieren“.45 Neuere Globalisierungstheorien unternehmen demnach den Versuch, globale Zusammenhänge ‚von ebener Erde aus‘, ‚aus der Welt heraus‘ darzustellen. Wenn man will, kann man diese Tendenz, den Globus zu ‚planieren‘, bereits in Marshall McLuhans berühmter Bestimmung der globalisierten Welt als „global village“ oder in Roland Robertsons Definition der Globalisierung als „the compression of the world into ‚a single place‘“ am Werk sehen.46 Diese Formulierungen rufen die Vorstellung von der Welt als Kugel und von der Globalisierung als Zusammenballung zwar noch auf, entleeren sie aber zugleich, indem sie sie katachrestisch mit dem Bild eines auf der Erdoberfläche befindlichen Ortes oder Platzes überschreiben, indem sie den Globus mithin in die Fläche bringen. Das Bildpotenzial, das in solchen Formulierungen nur angedeutet ist, bringen andere Globalisierungstheoretiker systematisch zur Entfaltung. Ein sinnfälliges Beispiel dafür liefert der Kulturanthropologe Arjun Appadurai. Er entwickelt das Konzept der globalen Landschaften, der global 44 Harvey 1989, S. 240 – 307. 45 Osterhammel / Petersson 2007, S. 20. 46 McLuhan 1962, S. 29 – 31; Robertson 1992, S. 6.