AIK und Lymphödem – Glaube und Wirklichkeit

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DGL-GMLV-JAHRESTAGUNG 2004
AIK und Lymphödem –
Glaube und Wirklichkeit
H. Weissleder
Zusammenfassung
Die stimulierende Wirkung der »Manuellen Lymphdrainage« (ML) auf die Lymphangiomotorik konnte bei der »Apparativen Intermittierenden Kompressionsbehandlung« (AIK) bisher nicht nachgewiesen werden. Daraus lässt sich der Schluss
ableiten, dass die ödemreduzierende Wirkung der AIK vorwiegend auf einer Verschiebung interstitieller Flüssigkeit beruht. Im Zusammenhang mit einer effektiven Langzeit-Entstauungsbehandlung von chronischen Lymphödemen kann die AIK
nur als eine die KPE ergänzende Maßnahme gesehen werden. Da unverändert unbeantwortete Fragen im Raum stehen, bleibt die Forderung nach evidenzbasierten, randomisierten AIK-Studien ohne Einschränkung bestehen.
Sc hlüsselwörter: Lymphödem, Lymphangiomotorik, Manuelle Lymphdrainage, Apparative Intermittierende Kompression
Summary
Manual lymph drainage (MLD) has a stimulating effect on the motor tonicity of lymphatic vessels resulting in an increased transport capacity. In contrast the edema reducing effect of the intermittent pneumatic compression (ICP) seems to be
mainly based on shifting interstitial fluid from distal to proximal. Likely using the
prelymphatic channels as pathways. Therefore IPC can only be considered as an
adjunctive treatment modality in addition to combined decongestive therapy (CDT).
With intermittent pneumatic compression several questions remain unanswered.
Randomized, evidence based studies are needed to establish ICP.
Key words: lymphedema, lymphangiomotoricity, manual lymph drainage, intermittent pneumatic compression, pumps
Einleitung
Es ist erstaunlich, dass immer noch geglaubt wird die »Apparative Intermittierende Kompression (AIK)« sei etwas Ähnliches wie die »Manuelle Lymphdrainage
(ML)« und könnte diese problemlos ersetzen. Auch bei der Verwendung des Begriffes »apparative Lymphdrainage« in einem kürzlich erschienen Buch (1) muss
man sich fragen, ob die Autoren tatsächlich
glauben, dass die AIK »zu einem Anstieg
der Lymphproduktion und des lymphatischen Flusses« führt oder ob hier mehr hypothetische Überlegungen im Vordergrund
stehen. Bewiesen ist diese Behauptung bisher nicht.
Es besteht kein Zweifel an der Tatsache,
dass die AIK in der Lage ist, Ödemvolumen zu reduzieren. Nicht eindeutig geklärt
scheint jedoch die Wirkungsweise. Ist die
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AIK beispielsweise in der Lage, Lymphgefäße oder das sie steuernde autonome
Nervensystem zu stimulieren, oder basiert
die Ödemreduktion lediglich auf einer Verschiebung von interstitieller Flüssigkeit.
Möglicherweise sind experimentelle Studien in der Lage, eine Antwort auf diese
Fragen zu geben.
Experimentelle Ergebnisse
Im Tierexperiment konnte nachgewiesen
werden, dass die ML zu einer kontinuierlichen Volumenabnahme führt. Im Gegensatz dazu wurde bei Anwendung der pneumatischen Kompression neben einer
Ödemabnahme während der Behandlung
eine Ödemzunahme (Reboundeffekt) im
therapiefreien Intervall registriert (2). Obwohl die bei der Studie angewandte Druck-
applikation mit dem gerichteten Druckablauf der AIK nicht vergleichbar ist und anscheinend auch keine intermittierende
Kompression erfolgte, dürfte die Ursache
für den Reboundeffekt in einer unterschiedlichen Wirkungsweise gegenüber
der ML liegen.
Die ML führt bekanntlich über den Weg
einer vagotonen Stimulation der Lymphgefäße zu einem Langzeiteffekt, der auch
nach Behandlungsende über einen längeren Zeitpunkt nachweisbar ist. Daraus resultiert eine höhere Transportkapazität
während dieser Periode. Die damit verbundene Volumenerhöhung dürfte die Bildung eines Kollateralkreislaufes im
Bereich der verursachenden Strömungsbehinderung fördern. Im Gegensatz dazu
scheint die pneumatische Kompression nur
während der Anwendung interstitielle
Flüssigkeit zu verschieben, ohne einen stimulierenden Einfluss auf die Lymphangione auszuüben. Inwieweit während der
Kompressionsphase gefüllte Lymphangione ausgepresst werden, muss offen bleiben.
Eine Verschiebung interstitieller Flüssigkeit durch die prälymphatischen Kanäle
kann jedoch nicht als Lymphdrainage bezeichnet werden. Daran ändert auch die
Tatsache nichts, dass sich die Endergebnisse der beiden Behandlungsmaßnahmen
sehr ähnlich sind.
Der tierexperimentell nachgewiesene
Langzeiteffekt der Manuellen Lymphdrainage konnte beim Menschen mit Hilfe von
Dünndarmmotilitätsanalysen bestätigt
werden (3). Die Studie wurde bei 17 Patientinnen mit sekundären, einseitigen
Armlymphödemen (Stadium II) durchgeführt. Während der Manuellen Lymphdrainage nach Vodder (MLV) fand sich
eine signifikante Zunahme der Darmmotilität. Interessant ist die Beobachtung, dass
dieser Effekt auch nach Beendigung der
MLV noch mehrere Stunden nachweisbar
war.
Problem Publikationen
In dem Übersichtsartikel »Lymphödemtherapie Stellenwert der apparativen intermittierenden Kompression – Literatur-
(Viavital Verlag GmbH, Essen)
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DGL-GMLV-JAHRESTAGUNG 2004
überblick«, erschienen in LymphForsch,
Heft 1/2003, wurde bereits auf den Mangel
an aussagefähigen Publikationen hingewiesen und stichwortartig über die unterschiedlichen Ergebnisse verschiedener Arbeitsgruppen berichtet (4). Eine weitere
Zusammenstellung der einschlägigen Literatur findet sich in dem 2003 erschienen
Buch »Apparative intermittierende Kompressionstherapie«(1).
Leider ist eine vergleichende Beurteilung der einzelnen Literaturergebnisse
wegen der Unterschiede im Studiendesign
nicht ohne Einschränkungen möglich. Die
Gründe hierfür sind nachfolgend noch einmal zusammengefasst:
• Keine einheitliche Ödemlokalisation
und Ödemstadien;
• Technische Unterschiede bei Gerätetypen, Druckwerten und Anwendungsdauer;
• Fehlen von geeigneten Kontrollgruppen;
• Kombination mit anderen therapeutischen Maßnahmen;
• Endgültige Beurteilung lediglich auf
Volumenänderung beschränkt;
• Unterschiedliche Messmethoden bei
der Volumenbestimmung;
• Fehlende Berücksichtigung häufig vorhandener Begleitsymptome bei endgültiger Beurteilung (z.B. Schmerzen,
Schweregefühl, Bewegungseinschränkung, Fibrose).
Auch für neuere Publikationen treffen
diese Einschränkungen zu. Einige kritische Bemerkungen aus kürzlich erschienen Veröffentlichungen sind nachfolgend
wieder gegeben:
• Der alleinige Einsatz der AIK in den
USA wie früher üblich, ist jetzt selten.
Dies ist auf die Erkenntnis zurückzuführen, dass die pneumatische Kompression Lymphödeme im Genital- und
Körperstammbereich verstärken kann
und zu hohe Drücke an den peripheren
Lymphgefäßen zu Schädigungen führen können (5).
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(Viavital Verlag GmbH, Essen)
• Keine AIK-Indikation wird bei Lymphödemen mit Genitalbeteiligung gesehen (6).
• In einem Modellversuch konnte nachgewiesen werden, dass sich bei Verwendung des kommerziell erhältlichen
Druckmessgerätes deutliche Unterschiede zwischen dem am Kontrollinstrument angezeigten und dem tatsächlich vorhandenen Druck an der
Hautoberfläche nachweisbar waren (7).
Es wäre zu überprüfen, ob diese Beobachtung generell zutrifft.
AIK-Management beim
chronischen Lymphödem der
Extremitäten
Aufgrund bisheriger Erfahrungen kann mit
Hilfe der AIK eine deutliche Volumenreduktion eines bestehenden Lymphödems
erreicht werden. Eine positive Beeinflussung subjektiver Beschwerden des Betroffenen scheint ebenfalls möglich.
Trotzdem besteht kaum Zweifel darüber, dass die AIK eine fachgerecht durchgeführte manuelle Lymphdrainage nicht
ersetzen kann. Daraus ergibt sich die Konsequenz, den Einsatz der apparativen Entstauung, wenn überhaupt, bei chronischen
Lymphödemen der Extremitäten nur in
Verbindung mit der kombinierten physikalischen Entstauungstherapie (KPE) einzusetzen. Voraussetzung ist außerdem eine
regelmäßige und effektive Langzeitkontrolle während der Therapie und im therapiefreien Intervall entweder durch einen
lymphologisch versierten Arzt/in oder
Lymphdrainage-Therapeuten/in.
Nur diese Berufsgruppe scheint auf
Grund ihrer Weiter- und Fortbildung über
die notwendigen fundamentellen Kenntnisse in Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie des Lymphgefäßsystems sowie
Klinik der lymphostatischen Erkrankungen zu verfügen. Die Beachtung der Kontraindikationen und Kenntnis über mögliche
Nebenwirkungen einer apparativen Kompressionsbehandlung und deren Vermeidung sind weitere Voraussetzungen für ein
effektives Management.
Apparative intermittierende Kompression
Leitlinien
Die Leitlinien der verschiedenen medizinischen Fachgesellschaften bestätigen die
bekannten Einschränkungen. Auch das
immer wieder zitierte Konsensusdokument der Internationalen Gesellschaft für
Lymphologie, letzte Fassung publiziert in
Lymphology 36 (2003) 84-91 mahnt zur
Vorsicht wie der nachfolgende Wortlaut
zeigt.
• Intermittent pneumatic compression.
Pneumomassage is usually a two-phase
program.
• After external compression therapy is
applied, preferably by a sequential gradient »pump«, form-fitting low-stretch
elastic stockings or sleeves are used to
maintain edema reduction.
• Displacement of edema more proximally in the limb and genitalia and the
development of a fibrosclerotic ring at
the root of the extremity with exacerbated obstruction of lymph flow needs to
be assiduously avoided by careful observation.
In den Handlungsempfehlungen der
Deutschen Gesellschaft für Physikalische
Medizin und Rehabilitation und der Deutschen Gesellschaft für Lymphologie
(DGL) zur Diagnostik und Therapie des
Lymphödems vom März 2003 findet sich
eine ähnliche Auffassung, nämlich:
• Eine apparative intermittierende Kompression ist beim Lymphödem als alleinige Behandlungsmethode abzulehnen.
• In Kombination mit der manuellen
Lymphdrainage ist ein Einsatz möglich.
Leider finden sich in den Leitlinien keine speziellen Hinweise z.B. über die apparatetechnischen Voraussetzungen, optimale Behandlungszyklen und Druckwerte.
Auch ein entsprechender Hinweis auf
mögliche Nebenwirkungen sollte nicht
fehlen. Letztlich spielt auch die Akzeptanz
der AIK durch den Patienten eine wichtige
Rolle im Endergebnis.
LymphForsch 8 (2) 2004; 93–95
Apparative intermittierende Kompression
Bisher fehlt ein weitgehender Konsens
über den optimalen Einsatz der AIK beim
chronischen Lymphödem der Extremitäten. Die Verordnungshäufigkeit der AIK
nach stationärer Behandlung wird von den
befragten lymphologischen Spezialkliniken beispielsweise sehr unterschiedlich angegeben und schwankt bei namhaften Kliniken zwischen 0 und maximal 7 Prozent.
Lediglich in der Seeklinik Zechlin liegt die
Verordnungshäufigkeit mit 30 % (vasomed 3/2004, S. 104) wesentlich über dem
angegebenen Durchschnitt. Für den Bereich der niedergelassenen Ärzte liegen
vergleichbare Angaben bisher nicht vor.
Es gibt unverändert eine Reihe offener
Fragen. Deshalb sind weitere randomisierte Studien erforderlich, um beispielsweise
herauszufinden, ob und unter welchen Bedingungen die intermittierende pneumatische Kompression in ihrer Effizienz anderen
physikalischen
Maßnahmen
gleichzusetzen ist oder diese ersetzen kann.
Wie sind die Auswirkungen der geänderten
Hämodynamik auf die Mikrozirkulation?
Welche Kompressionszyklen lassen die
besten Ergebnisse erwarten? Auch zum
Thema Langzeiteffekte und druckabhängige Nebenwirkungen sind aussagefähige
Studien erforderlich. Zukünftige Forschungen sollten sich auch mit apparatetechnischen Fragen befassen.
Abschließend sei noch daraufhingewiesen, dass generell gesehen subjektive
Erfahrungen bei der Beurteilung therapeutischer Maßnahmen sicher hilfreich sind.
Wissenschaftlich fundierte, objektive und
nachvollziehbare Ergebnisse haben mehr
Überzeugungskraft und müssen deshalb
bei Grundsatzentscheidungen im Vordergrund stehen. Dabei sollte beachtet werden, dass die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse ein wesentlicher Pfeiler der
Wissenschaft ist.
2. Kriederman B, Myloyde T, Bernas M, et al.
Limb volume reduction after physical treatment by compression and/or massage in a rodent model of peripheral lymphedema. Lymphology 2002; 35:23-27.
3. Hutzschenreuter P, Brümmer H, Silberschneider K. Die vagotone Wirkung der Manuellen Lymphdrainage nach Dr.Vodder.
LymphForsch 2003; 7:1-12.
4. Weissleder H. Lymphödemtherapie: Stellenwert der apparativen intermittierenden
Kompression – Literaturüberblick. LymphForsch 2003; 7:13-17.
5. Cheville AL, McGarvey CL, Petrek JA, Russo SA, Taylor ME, Thiadens SR. Lymphedema
management. Semin Radiat Oncol 2003;
13:290-301.
6. Liao SF, Huang MS, Chou YH, Wei TS. Successful complex decongestive physiotherapy
for lymphedema and lymphocutaneous reflux
of the female external genitalia after radiation
therapy. J Formos Med Assoc 2003; 102:404406.
7. Segers P, Belgrado JP, Leduc A, Leduc O,
Verdonck P. Excessive pressure in multichambered cuffs used for sequential compression therapy. Phys Ther 2002; 82:10001008
Die zweimonatlich erscheinende Fachzeitschrift „vasomed“ wendet sich an
alle an den Bereichen Phlebologie,
Angiologie, Lymphologie und Wundheilung interessierte Mediziner.
Die „vasomed“ ist in der internationalen Datenbank EMBASE/Excerpta
Medica gelistet.
Schriftleitung:
Prof. Dr. med. Eberhard Rabe, Bonn
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Viavital Verlag GmbH,
Postfach 23 02 09, 45070 Essen,
Tel: 02 01/ 87126-830, Fax: 02 01/ 87126-840
Literatur
1. Breu FX, Marshall M. Stellenwert der apparativen intermittierenden Kompression (AIK)
bei der chronischen Veneninsuffizienz. In:
Rabe E, ed. Apparative intermittierende Kompressionstherapie (AIK). 1 ed. Köln: Viavital
Verlag, 2003; 69-75.
LymphForsch 8 (2) 2004; 91–93
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