Helm Stierlin: Zusammenhänge zwischen Familienstruktur und Kriegsbereitschaft (1983) Der Familienclinch Mantell (1972) und Roeder (1977) beispielsweise vergleichen hierzu die typische Sozialisation von Freiwilligen und Kriegsdienstverweigerern. Stierlins Vergleich des atomaren Wettrüstens mit dem malignen Familienclinch »als Ausdruck und Folge einer symmetrischen Eskalation« stellt eine Analogie dar mit all ihrer Begrenztheit. Sicherlich sind politische Systeme, erst recht solche der Supermächte, unendlich viel komplizierter als Familiensysteme. Sein Vertrauen darauf, daß »eine mächtige öffentliche Meinung" quasi therapeutische Funktion übernimmt für die miteinander rivalisierenden Supermächte, läßt auch Ratlosigkeit und Ohnmachtsgefühle durchscheinen. Doch bleibt uns eine andere Hoffnung, als Kriegsbereitschaft und Friedensfähigkeit immer wieder aus sich ergänzenden und darunter auch (!) psychologischen Perspektiven zu beschreiben und durch stetige Aufklärungsarbeit die Öffentlichkeit für den Frieden zu gewinnen? Helm Stierlin, einer der bekanntesten Familientherapeuten in der Bundesrepublik, hat in seiner dialektischen Beziehungstherapie von jeher insbesondere den Aspekt der Abgrenzungs-. und Versöhnungsarbeit betont. Hierbei meint Versöhnung ein Sich-Einstellen auf den anderen, dessen »Bedürfnisse befriedigen und seine Weltsicht anerkennen«; Abgrenzung wird als ein Helm Stierlin: Zusammenhänge zwischen Familienstruktur und Kriegsbereitschaft (1983) 1 von 4 Bewahren von Autonomie und Industrialität verstanden. Dieser Ansatz läßt ihn berufen erscheinen, die Zusammenhänge zwischen Familienstruktur und Kriegsbereitschaft zu untersuchen. Überlegungen zu Zusammenhängen zwischen Familienstruktur und Kriegsbereitschaft Gewalttätigkeit ist nichts typisch Menschliches. Sie tritt überall im Tierreich auf und erfüllt dabei verschiedenste, der Arterhaltung dienende Funktionen. Im Tierreich kommen jedoch auch aggressionsbremsende Mechanismen auf vielerlei Weise zum Zuge. Die Tatsache, daß sich bislang zwischen Aggressionsauslösung und -bremsung immer wieder eine Balance herstellte, hat bis heute die Evolution des Lebens (einschließlich des menschlichen Lebens) ermöglicht. Heute ist diese Balance global bedroht. Dem (von 100 Wissenschaftlern erstellten) Bericht GLOBAL 2000 zufolge wird sich bis zum Jahre 2030 die Menschheitsbevölkerung verdoppelt haben. Es sind heftigste Verteilungskämpfe um schrumpfende Ressourcen zu erwarten. Dies jedoch in einer Welt, in der heute jeder zweite Physiker nicht etwa damit beschäftigt ist, Ressourcen zu erschließen, sondern neue Waffensysteme zu entwickeln. Dabei besteht bereits heute ein 204-faches atomares Potential zur Ausrottung allen Lebens auf diesem Planeten. Es stellt sich die Frage, welche Familienstrukturen einer Kriegsbereitschaft entgegenwirken und damit beitragen können, die drohende Katastrophe abzuwenden. Diese Frage läßt sich im Augenblick kaum schlüssig beantworten. Doch erlauben vielleicht Untersuchungen und Beobachtungen von gesunden bzw. „funktionalen“ sowie gestörten bzw. „dysfunktionalen“ Familien die Annahme, daß das, was eine funktionierende Familie kennzeichnet, auch einer Kriegsbereitschaft im allgemeinen entgegenwirkt. In einer funktionierenden Familie zeigen sich die Familienmitglieder umeinander besorgt, nehmen Anteil aneinander, sind ineinander investiert – und vermögen sich doch immer wieder voneinander abzugrenzen und ihre Eigenständigkeit zu behaupten. In einer solchen Familie kann auch eine große Spielbreite von Gefühlen gezeigt und ausgedrückt werden – zärtliche, freudige, traurige, feindselige Gefühle und viele andere mehr. In einer solchen Familie ist daher auch Platz für Streit, für Konfrontation und Auseinandersetzung, aber eine Art von Streit, der die Luft klärt, zu Lösungen führt und nicht unter der Oberfläche ständig weiterschwelt. Helm Stierlin: Zusammenhänge zwischen Familienstruktur und Kriegsbereitschaft (1983) 2 von 4 In einer solchen Familie besteht weiter Vertrauensbereitschaft, besteht die Erwartung, daß andere Menschen primär hilfreich und nicht abwertend und feindlich eingestellt sind. Diese Vertrauensbereitschaft wird auch den Menschen außerhalb der Familie entgegengebracht. Solche Familie hat ein gemeinsames Wertsystem, worin Fairneß und das Gefühl für Gerechtigkeit eine zentrale Stelle einnehmen. Das Wertsystem kann im traditionellen Sinne religiös, braucht es aber nicht zu sein. Solche Familie entwickelt sich, findet stets wieder kreative Lösungen für die – unweigerlich anfallenden – Probleme. Die Mitglieder treiben insgesamt einen Prozeß der Ko-lndividuation und Ko-Evolution immer wieder an. Und schließlich: in einer solchen Familie hat der Dialog immer wieder eine Chance – der Dialog, der es uns erlaubt, klar unsere eigenen Positionen abzugrenzen und zu vertreten, der sich aber auch immer wieder darum bemüht, Fairneß, Gerechtigkeit und Versöhnung zu verwirklichen. Liegt solcher Dialog vor, spreche ich auch von einer positiven Gegenseitigkeit. Demgegenüber läßt sich bei einer gestörten Familie vom Überwiegen einer negativen Gegenseitigkeit sprechen. Die extreme Form einer zum Machtkampf entarteten negativen Gegenseitigkeit läßt sich maligne Verklammerung nennen. Hier erstarrt das Familiensystem: trotz möglicherweise dramatischer äußerer Bewegtheit bewegt sich in den Beziehungen nichts, die Partner befinden sich im Clinch. Das Bild vom Clinch ist dem Boxkampf entlehnt. Bei solchem Clinch sind die Kontrahenten miteinander verklammert. Von Kampfeswut beseelt, schlagen sie noch häufig wild aufeinander los – und bringen dennoch den Kampf nicht von der Stelle. Keiner kann den Clinch lösen, den Kampf vorantreiben. Die unterschiedlichen Strategien und Taktiken, in denen sich die individuellen Vorstellungen, Ziele, Erfahrungen und Lebensgeschichten der Kämpfer widerspiegelten, sind im Clinch wie ausgelöscht. Es zeigen sich nur noch zwei schnaubende, miteinander verhakte und undifferenziert zuschlagende Muskelklötze. Im Gegensatz zum Boxkampf ist jedoch der Clinch-Charakter vieler Beziehungskämpfe oft schwer zu erkennen. Denn einmal programmiert uns eine traditionelle, individuumzentrierte Sehweise, nur jeweils einen Kontrahenten – etwa einen magersüchtigen oder schizophrenen Patienten – scharf ins Objektiv zu bringen, während die übrige Familie ausgeblendet bleibt. Zum anderen kehren zwar auch hier die Elemente des eskalierenden und zugleich festgefahrenen Machtkampfes monoton wieder, doch sorgen nun die verwendeten Waffen für Varietät. Zu solchen Waffen rechnen etwa das Hilflosmachen und unter Schulddrucksetzen des Gegners durch das Ausspielen von Symptomen oder masochistische Verhaltensweisen. Dazu kommen weiter das gegenseitige Mystifizieren, das Auslegen von „double-binds“, d. h. Helm Stierlin: Zusammenhänge zwischen Familienstruktur und Kriegsbereitschaft (1983)3 von 4 von Beziehungsfallen, das Vermeiden einer Definition einer Beziehung, das Ausweichen vor Führerrolle und Eigenverantwortung, eben das ganze Arsenal jener oft subtilen Macht-, Verunsicherungs-, Abwertungs- und Demaskierungstaktiken, mit dem uns eine wachsende Familienliteratur weitgehend vertraut gemacht hat. Familien mit anorektischen und schizophrenen Angehörigen vor allem demonstrieren beispielhaft solch einen „Beziehungsclinch“. Bei näherem Hinsehen erkennen wir ihn jedoch auch bei vielen anderen Syndromen und Beziehungskonstellationen. So zeigen sich uns viele Sexualstörungen als Folge und Ausdruck eines Machtkampfes, bei dem die Sexualität, anstatt den Partnern Lust zu verschaffen, sie zu entspannen und ihre Beziehung zu vertiefen und zu bestätigen, ein grausames Waffenarsenal hergibt, mittels dessen sie sich gegenseitig immer wieder zu kränken, d. h. als Versager, Feigling, Schwächling usw. zu demaskieren, zu bestrafen und zur Entbehrung zu verdammen vermögen. Indem sich solch ein Machtkampf stets von neuem sadomasochistisch aufheizt, verfestigt sich der Clinch und damit die maligne Verklammerung, bei der es auf die Dauer nur Verlierer geben kann. Auch körperliche Symptome stellen sich häufig als Folge und Ausdruck einer malignen Verklammerung dar. Ein maligner Clinch läßt sich als Ausdruck und Folge einer symmetrischen Eskalation verstehen. Solche Eskalation zeigt sich auch typisch beim atomaren Wettrüsten. Jedes neue Aufstocken der Trumpfkarten muß den Kontrahenten zwangsläufig veranlassen, den Gegner noch zu übertrumpfen. Die Folgen zeigen sich uns allen deutlich. Bei malignen verklammerten Familien kann der Therapeut Strategien anwenden, die den Clinch in vielen Fällen aufbrechen und Kolndividuation, Ko-Evolution und Dialog wieder möglich machen. Beim malignen Clinch der Großmächte dürfte es schwer fallen, jemanden zu finden und zu akzeptieren, der eine ähnliche therapeutische Rolle spielen könnte. So müssen wir darauf vertrauen, daß eine mächtige öffentliche Meinung den Kontrahenten schließlich doch zu der Erkenntnis verhilft, daß ein Bewußtseinswandel und Formen des Dialoges fällig sind, die vieles mit denen gemeinsam haben, die den Dialog in funktionalen Familien kennzeichnen. Stierlin, Helm: Zusammenhänge zwischen Familienstruktur und Kriegsbereitschaft. In: Münchner Ärzte-Initiativen gegen die atomare Bedrohung: Krieg ist keine Krankheit. München 1983. S. 7880. Helm Stierlin: Zusammenhänge zwischen Familienstruktur und Kriegsbereitschaft (1983) 4 von 4