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Sprechstunde in der Traumfabrik
Ob Freudentränen beim Happy End oder Trauer beim tragischen
Heldentod – Hollywood tut Herz und Seele gut. Das haben jetzt
auch einige Psychotherapeuten erkannt: Sie verschreiben ihren
Klienten Filmabende.
Von Christiane Gelitz
Seit Tagen verdecken graue Wolken den Himmel, das Liebesleben
liegt brach, die Schokoladenvorräte sind aufgebraucht. Und seitdem auch noch der Exfreund eine Neue hat, ist es zappenduster in
der Seele. Da hilft nur eins: auf dem Sofa zusammenrollen und Filme gucken, die wieder Lust aufs Leben machen. Zum Beispiel
»Bridget Jones«, eine Komödie, in der Renée Zellweger als schusselige, aber sympathische Titelheldin immer wieder einen Frosch
(Hugh Grant) küssen muss, bevor sie ihren Prinzen (Colin Firth) findet. Sollte das nicht helfen, bietet »Titanic« womöglich eine Alternativkur. Wenn der Dampfer sinkt und Leonardo di Caprio in der
Rolle des Jack im eisigen Atlantik erfriert, erscheint das eigene Unglück doch vergleichsweise unbedeutend.
Wann zum ersten Mal ein Psychotherapeut auf die Idee kam,
seinen Patienten im Rahmen einer Behandlung Filme zu empfehlen, ist nicht überliefert. Die Vorstellung, es könne heilsam sein, am
Schicksal erdachter Figuren teilzuhaben, geht jedoch bis in die Antike zurück. Die alten Griechen glaubten, der Zuschauer erfahre im
Theater eine »Katharsis«, eine seelische Reinigung.
1930 griff der Psychiater Karl Menninger aus Kansas diese Vorstellung auf und übertrug sie von der Bühne auf das Buch. Er empfahl Lesen zur Mentalhygiene und verschrieb Patienten der von
ihm mitbegründeten »Menninger Clinic« Romane, mit deren Helden sie sich identifizieren konnten. Die »Bibliotherapie« sollte den
Kranken helfen, sich emotional »abzureagieren«.
Deutschlehrer nutzen die Lektüre von Drama und Tragödie
schon lange für die Erziehung nach humanistischem Ideal. Wenn
etwa Lessings »Nathan der Weise« Menschlichkeit predigt, steht
nicht nur die Epoche der Aufklärung auf dem Lehrplan, sondern
auch eine Lektion in Sachen Toleranz. Doch während frühere Generationen zum Beispiel aus Heinrich Manns »Untertan« mühsam
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SPRECHSTUNDE IN DER TRAUMFABRIK
die ironische Distanz zum Opportunismus herauslesen mussten,
führt heute »Der Club der toten Dichter« sehr anschaulich vor, wie
Zivilcourage im Schulalltag aussehen kann. Vertreter einer traditionelleren Pädagogik rümpfen darüber die Nase: Muss Medizin nicht
bitter schmecken?
Muss sie nicht, glauben die Psychologen Birgit Wolz aus Oakland, Kalifornien, und John Hesley aus Arlington, Texas. Seit den
1990er Jahren bekennen sie sich dazu, Filme als einen von vielen
Bausteinen in der Behandlung zu nutzen. Hesley sieht es ganz
pragmatisch: »Es ist viel einfacher, einen Patienten dazu zu bringen, sich einen Film anzuschauen, als ein Buch zu lesen.«
Außerdem eignen sich Filme wie kein anderes Medium dazu, die
Behandlung zu unterstützen, glaubt Psychologin Wolz. »Über
Sprache, Musik, Geräusche, Farben, Bilder und Metaphern gelingt
es ihnen, verschiedene Sinne und Arten von Intelligenz gleichzeitig
anzusprechen.«
Dass der Videoabend auf der Couch allein nicht gesund macht,
ist offensichtlich – hätten Steven Spielberg und Kollegen doch
sonst seit der Erfindung der Super-8-Kamera Millionen von Menschen geheilt. Nur wenn das Filmegucken in eine Therapie eingebettet sowie vor- und nachbesprochen wird, entfaltet es seine Wirkung, so die Theorie.
Sinn und Zweck der Kinotherapie
Psychotherapeuten nutzen Leinwand oder Fernsehschirm nicht nur
der Katharsis wegen, sondern aus einer ganzen Reihe von Gründen. Zunächst einmal helfen sie, ein Gespräch überhaupt in Gang
zu bringen, denn den meisten Menschen fällt es leichter, über einen Film zu sprechen als über ein persönliches Problem. So können
sie schwierige Themen aus der sicheren Distanz betrachten.
Hesley schätzt Filme deswegen vor allem bei der Behandlung von
Patienten, die Probleme haben, Gefühle einzugestehen und auszudrücken. Einer seiner Patienten, ein Vietnamveteran, habe an einer
Posttraumatischen Belastungsstörung gelitten, aber keinen Zugang
zu seinen schmerzlichen Erfahrungen gefunden. Nachdem er jedoch gesehen habe, dass selbst der harte Einzelkämpfer Rambo im
gleichnamigen Film unter traumatischen Erinnerungen an den Krieg
leidet, habe auch er sich ein solches Zeichen der Schwäche erlauben
können. Hesley zufolge können Filme auf diese Weise lang ver145
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