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4 Somatische Veränderungen im Alter
Dieses Kapitel beschreibt die somatischen Veränderungen und ihre Auswirkungen. Da es eine individuelle Größe ist, ab wann eine somatische Veränderung
zur Erkrankung führt, wird im ersten Abschnitt die
Betrachtungsweise der Pole „Gesundheit – Krankheit“ als ein Kontinuum-Modell vorgestellt.
Kontinuum: Etwas befindet sich in einem lückenlosen Zusammenhang und stetigen Prozess (Duden 2000).
Diese Bedeutung zeigt, dass sich zwischen den beiden Polen „Gesundheit – Krankheit“ fließende, nicht
immer eindeutig zu klärende Übergänge befinden.
Die sich anschließenden Kapitel 4.2 bis 4.4 zeigen
die auf Organebene reduzierten, alterstypischen
Veränderungen von Körperfunktionen und –strukturen. Diese Veränderungen werden in statistischen
Größen ausgedrückt. Die Zahlen geben an, wie häufig diese Erkrankungen in der Bevölkerung zum
ersten Mal auftreten (Inzidenzrate) oder wie viele
Menschen anteilig an der Bevölkerung diese Erkrankung zum Messzeitpunkt haben (Prävalenzrate).
Die hier im Kapitel 4 vorgenommene künstliche
Trennung als Systematik von Krankheitsbildern
erfasst nicht den ganzen Menschen. Ebenso wenig
können damit seine aus den Störungen der Organsysteme entstehenden Probleme festgehalten werden.
Daher sind in vorgeschalteten und auch nachfolgenden Kapiteln diese Aspekte der Ganzheitlichkeit
vertieft nachzulesen. Zunächst aber zeigen Modelle der Betrachtung eines Gesundheits- und Krankheitskontinuums ebenfalls ganzheitliche Aspekte.
Diese Betrachtungsweisen werden im Folgenden
vorgestellt.
4.1 Modell des Gesundheits- und
Krankheitskontinuums
Dieses Kapitel zeigt eine Diskussion auf, die sich
mit der Frage beschäftigt, „Was ist gesund – was ist
krank?“
Gesundheit: Nach der frühesten Definition
der WHO von 1948 ist „Gesundheit“ der Zustand des völligen körperlichen, geistigen,
seelischen und sozialen Wohlbefindens – eine Definition mit absolutistischem Anspruch
und ungeklärter Definition von „völligem
Wohlbefinden“.
Heute wird in der medizinischen Wissenschaft ein
subjektiver Aspekt einbezogen. Zum einen wird mit
Gesundheit das subjektive Empfinden des „Fehlens
von Störungen“ oder „fehlender Veränderungen“
bezeichnet. Zum anderen muss es sich aber auch um
einen Zustand handeln, in dem Erkrankungen und
pathologische Veränderungen nicht nachgewiesen
werden können (Pschyrembel 1999). Gesundheit
bedeutet bei diesen beiden Perspektiven die Abwesenheit von Krankheit und Störungen.
Ein weiterer Versuch Gesundheit zu beschreiben
wird von Lanzerath (2000) vorgenommen. Er verwendet im Zusammenhang mit Gesundheit den Begriff einer Norm. Damit meint er, dass Gesundheit
zum einen eine statistische Norm sein kann. Das ist
so zu verstehen, dass es beispielsweise statistische
Werte gibt (Blutwerte, Pulsschläge, Blutdruck etc.),
die normiert sind. Abweichungen von diesen Werten werden als Krankheit bezeichnet. Zum anderen
gibt es auch eine gesellschaftlich geprägte „ideale
Norm“ (Lanzerath 2000, S. 133). Das erleben wir,
wenn wir „Gesundheits-“ „Fitness-“ und die „Wellness-Wellen“ in unserer Gesellschaft beobachten.
Gesundheit wird dann zu einer hohen Norm, die
mit entsprechenden Maßnahmen aufrechterhalten
werden muss. Lanzerath (2000) bevorzugt eine individuellere Beschreibung von Gesundheit anhand
der genetisch bestimmten Normalität. Diese zeigt
sich auf der Individualebene durch die Unterschiede
der Menschen in Ihren Körperstrukturen und funktionen. Lanzerath (2000) beschreibt, dass sich
gesundheitliche Normalität weder aus einem statistischen Durchschnittswert noch von einem gesellschaftlich geprägten und utopischen Ideal her
bestimmen lässt. Man muss sich die individuelle Variabilität der Natur, die eine eigene Norm des Individuums hervorbringt anschauen und den Blick auf
das persönliche Leben richten. Erst daran kann man
Gesundheit oder Krankheit interpretieren.
!
Sowohl Gesundheit als auch Krankheit sind also
ein interpretierbarer Zustand, wobei der eine
nicht, wie oben beschrieben, durch Abwesenheit
des anderen erklärt wird.
Auch Antonovskys Modell der Salutogenese (s.
Kap. 4.1.1) erklärt und definiert Gesundheit nicht
einfach nur durch Abwesenheit von Krankheit. Und
ebenso wenig wie ein allgemeingültiger Gesundheitsbegriff wird auch kein umfassender Krankheitsbegriff bestimmt. Das Modell der Salutogenese
zeigt das Bild des fließenden Kontinuums von Gesundheit und Krankheit.
aus: Habermann u.a.; Ergotherapie in der Geriatrie (ISBN 3131255811), © 2005 Thieme Verlag
4.1 Modell des Gesundheits- und Krankheitskontinuums
Das Konzept „Lebensqualität“ (s. Kap. 3.1) berücksichtigt ebenfalls den Gedanken der individuellen
Bedeutung von Gesundheit und Krankheit. Wichtig wird hier die Selbsteinschätzung des eigenen
Zustands. Lanzerath (2000) meint dazu, dass keine
medizinische oder gesellschaftliche Bewertung von
Lebensqualität gültig sein könne. Nur der individuelle Lebensentwurf würde einen Rückschluss auf die
Bewertung von „Lebensqualität“ in einem Zusammenhang mit dem Gesundheits- und Krankheitskontinuum ermöglichen.
Die oben beschriebenen Diskussionen und Modellvorstellungen zeigen, wie schwierig es ist, sich
auf eine einheitliche Definition von „das ist gesund – das ist krank“ festzulegen. Um die Modelle
zu verdeutlichen, werden nun in den Kapiteln 4.1.1
und 4.1.2 genauere Definitionen und Betrachtungsweisen von Gesundheit und Krankheit vorgestellt.
Kapitel 4.1.3 beschreibt ein modernes, weltweites
Konzept der Weltgesundheitsorganisation (WHO),
das die Beschreibung von Gesundheit auf der Funktionsebene ermöglicht. Es erfasst Beeinträchtigungen
von verschiedene Aspekten der Gesundheit und ihren Störungen. Der vierte Abschnitt des Kapitels 4.1.
soll im Rahmen der Thematik Präventionsmöglichkeiten aufzeigen. Dies dient dem Ziel Gesundheit
zu erhalten und Erkrankungen, Ausbreitung von
Störungen zu begegnen sowie dem Entstehen von
Beeinträchtigungen vorzubeugen.
4.1.1 Salutogenese (Antonovskys Modell)
Aaron Antonovsky (1923 – 1994), ein amerikanischisraelitischer Medizinsoziologe, hat sich kritisch
mit der pathogenetischen Betrachtungsweise (s.
Kap. 4.1.2) der herkömmlichen Medizin auseinandersetzt. Er stellte die Forschungsfrage, warum
bestimmte Menschen gesund bleiben. Angestoßen
wurden seine Gedanken, als er im Rahmen eines anderen Forschungsprojekts Frauen untersuchte, die
in früheren Jahren in Konzentrationslagern überlebt
und ihre weitere Zukunft mit unterschiedlichen Belastungen gelebt hatten. Er fand heraus, dass 29 %
dieser Frauen trotz der traumatischen Erlebnisse
psychisch gesund geblieben waren. „Den absolut unvorstellbaren Horror des Lagers durchgestanden zu
haben, anschließend jahrelang eine deplazierte Person (Anm. der Autorin: in der Migration nach dem 2.
Weltkrieg) gewesen zu sein und sich dann ein neues
Leben in einem Land neu aufgebaut zu haben, das
drei Kriege erlebte … und dennoch in einem angemessenen Gesundheitszustand zu sein! Dies war für
mich die dramatische Erfahrung, die mich bewusst
auf den Weg brachte das zu formulieren, was ich
später als das salutogenetische Modell bezeichnet
habe …“ (Antonovsky 1987/1997, S. 15).
Antonovsky entwickelte die Ansicht, dass Art
und Ausmaß einer Erkrankung von einer individuellen Vulnerabilität bestimmt werden (Bengel et
al. 2001). Er sieht den Menschen in einem Gesundheits- und Krankheitskontinuum und lehnt die dichotome Betrachtung der Begriffe ab. Für ihn steht
nicht die Frage im Vordergrund, „ob jemand gesund
oder krank ist, sondern wie weit entfernt bzw. nahe
er den Endpunkten Gesundheit und Krankheit jeweils ist.“ (Bengel et al. 2001, S. 28 u. 32). Antonovsky entwickelte für sein salutogenetisches Modell
verschiedene Konstrukte, um die Entstehung bzw.
den Erhalt von Gesundheit zu beschreiben. Mit diesen Konstrukten hat er gedankliche Gerüste entworfen, die er Kohärenzgefühl (sense of coherence, SOC),
Stressoren und Spannungszustände sowie generalisierte Widerstandsfaktoren nannte.
2
Kohärenzgefühl – SOC
Das Kohärenzgefühl beschreibt die vom Individuum
wahrgenommene und eingenommene Grundhaltung gegenüber der Welt und dem eigenen Leben.
Belastungsfaktoren wie beispielsweise Krieg, Hunger oder ungenügende hygienische Verhältnisse
belasten Menschen alle gleich. Dennoch lassen
sich trotz gleicher äußerlicher Bedingungen unterschiedliche Gesundheitszustände in Bevölkerungsgruppen erkennen. Antonovsky nahm also an, dass
es von unterschiedlichen individuellen Faktoren
abhängen müsse, ob die gleichen ungünstigen Bedingungen jemanden krank machen oder ob er gesund bleibt. Er stellte fest, dass eine kognitive und
affektiv-motivationale Grundeinstellung Menschen
unterschiedlich mit vorhandenen Ressourcen zum
Erhalt ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens
umgehen lässt. Diese Grundhaltung bezeichnete
er als Kohärenzgefühl im Sinne eines Gefühls von
Stimmigkeit und Zusammenhang. Demnach sollte
eine Person umso gesünder sein oder schneller gesund werden, je ausgeprägter ihr Kohärenzgefühl
sei. Das Kohärenzgefühl setzt sich nach Antonovsky
(1987/1997, S. 34ff) aus drei Komponenten zusammen, dem Gefühl der
– Verstehbarkeit (sense of comprehensibility),
– Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit (sense of
manageability) und
– Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit.
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4 Somatische Veränderungen im Alter
Verstehbarkeit
Das Gefühl der Verstehbarkeit beschreibt die Fähigkeit von Menschen, auch unbekannte Stimuli mit
kognitiven Verarbeitungsmustern geordnet zu bearbeiten. Das bedeutet, wie die nachfolgenden Fallbeispiele zeigen, in unbekannten Krisensituationen
beispielsweise mit mangelnder Ernährung umgehen
zu können.
Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit
Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit
Entwicklung und Ausprägung des
Kohärenzgefühls
Das Gefühl der Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit meint eine Art instrumentelles Vertrauen als
kognitiv-emotionales Verarbeitungsmuster. Die Kognition beinhaltet z. B. Problemlösungsstrategien,
die gefühlsmäßig als bedeutsam wahrgenommen
werden. Damit werden geeignete Ressourcen ausgewählt, um Anforderungen und Schwierigkeiten
lösen zu können.
Das Gefühl der Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit
beinhaltet, dass das Lebens als so emotional sinnvoll
und wertvoll angenommen wird, dass es sich lohnt
sich mit den Problemen auseinanderzusetzen. Hierbei handelt es sich um eine wichtige Komponente,
die der Lebensmotivation dient.
Antonovsky (1987/1997) beschreibt, dass das Kohärenzgefühl in der Kindheit und Jugend entsteht und
im Verlaufe des Lebens von den Erfahrungen und
Erlebnissen geprägt wird. Die Pubertät könne noch
mal größere Veränderungen im Kohärenzgefühl bewirken, aber mit etwa 30 Jahren sei das Kohärenzgefühl ausgebildet und relativ stabil. Wenn das Kohärenzgefühl stark ausgeprägt ist, kann der Mensch
flexibel auf Anforderungen reagieren, indem er seine
Ressourcen angemessen aktiviert. Der Mensch, dessen Kohärenzgefühl nicht gut ausgeprägt ist, wird
mit geringeren Fähigkeiten zur Bewältigung reagieren, da er weniger Ressourcen hat oder die vorhanden weniger wahrnimmt. Im Modell der Salutogenese werden bestimmte Konstrukte aufgezeigt, die
mit dem Kohärenzgefühl interagieren und dieses in
seiner Stärke bestimmen. Diese Konstrukte werden
im Folgenden in Anlehnung an die Ausführungen in
Bengel et al. (2001) erläutert.
2
Stressoren und Spannungszustand
Zunächst bezeichnet Antonovsky Stressoren als
Reize, die einen physiologischen Spannungszustand
herbeiführen. Dieser entsteht, wenn Menschen nicht
wissen wie sie in bestimmten Situationen reagieren
sollen. Die entstandenen Spannungszustände müssen vom Organismus bewältigt werden. Wenn dies
gelingt, hat die Spannungsbewältigung gesund erhaltende und fördernde Wirkung. Gelingt dies nicht,
dann entsteht Stress als Belastung und Belastungsfolge. Nicht immer muss Spannungsbewältigung gelingen, Stress ist ein stets gegenwärtiges Phänomen.
Auch muss die Stressreaktion nicht zwingend zu einer krankmachenden Situation führen, sie kann sowohl neutrale als auch förderliche Wirkung haben.
Problematisch können Stressoren werden, wenn
sie mit zusätzlichen Störungen wie Krankheitserregern, Schadstoffen und körperlichen Schwierigkeiten zusammenwirken. Die Stressoren unterteilt
Antonovsky in physikalische, biochemische und
psychosoziale, wobei er die psychosozialen Stressoren in den Vordergrund rückt. Hier besteht ein Zusammenhang mit dem Kohärenzgefühl, da ein gut
ausgeprägtes Kohärenzgefühl ermöglicht, die Reize
der Stressoren als neutral zu bewerten. Weiterhin
ermöglicht ein starkes Kohärenzgefühl, dass ein
Reiz der als Stressor bewertet wird, nochmals unterschieden werden kann, ob er bedrohlich, günstig
oder irrelevant ist. Wenn er als bedrohlich wahrgenommen wird, kann ein Mensch mit hohem Kohärenzgefühl ein Vertrauen dahingehend aufbauen,
dass sich die Situation bewältigen lässt.
2
Ressourcenentwicklung
Da es unterschiedliche Faktoren gibt, die eine erfolgreiche Spannungsbewältigung erleichtern, erforschte Antonovsky ein Spektrum von Faktoren
und Variablen, die mit dem Gesundheitszustand in
Verbindung zu bringen sind. Dazu zählt er
– individuelle Faktoren (körperliche Faktoren, Intelligenz, Bewältigungsstrategien),
– soziale und kulturelle Faktoren (soziale Unterstützung, finanzielle Möglichkeiten, kulturelle
Stabilität).
Antonovsky nennt diese spannungserleichternden
Faktoren „generalisierte Widerstandsfaktoren“. Er
meint damit, dass sie in allen Situationen generell
wirken können. Diese Faktoren sind Ressourcen, die
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4.1 Modell des Gesundheits- und Krankheitskontinuums
die Widerstandsfähigkeit erhöhen und das Kohärenzgefühl beeinflussen.
2
Verbindungen der Konstrukte des
Modells der Salutogenese
Die folgenden zwei Fallbeispiele sind eher plakativ,
verdeutlichen aber die komplexen Zusammenhänge
der oben beschriebenen Konstrukte des Modells der
Salutogenese.
Fallbeispiel
Frau Schmidt und Frau Huber sind beides Frauen um die
80 Jahre und haben als junge Erwachsene den zweiten
Weltkrieg erlebt. Sie und ihre Familien sind beide in einer
Großstadt ausgebombt gewesen und wurden evakuiert.
Frau Schmidt erlebte diese Situationen als äußerst beängstigend, die Zeit während der Bombenangriffe verbrachte sie mit Panik im Luftschutzkeller. Sie fühlte sich
hilflos ausgeliefert und verstand nicht, warum sie solche
Gefahren erleben musste. Für Frau Schmidt vollzog sich
die Kriegssituation als unbegreifliche, kaum zu bewältigende Lebenserfahrung. Die Spannung der Stressoren
des Krieges konnte sie nicht bewältigen und baute damit auch keine weiteren Widerstandsressourcen auf.
Frau Huber hatte in einer ähnlichen Situation auf ihre
zwei jüngeren Geschwister aufpassen müssen, während
der ältere Bruder als Soldat an der Front war. Sie fühlte,
dass ihr Bruder durch seinen Einsatz helfen würde, den
Krieg zu beenden und war sich ihrer Fähigkeiten, für die
jüngeren Geschwister zu sorgen, sehr bewusst. Für sie
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entstand damit ein starkes Kohärenzgefühl da sie eine
verstehbare, bewältigbare und sinnhafte Lebenserfahrung durchmachte. Es gelang ihr durch erfolgreiche
Spannungsbewältigung der auftretenden Stressoren
des Krieges weitere positive Widerstandsressourcen
aufzubauen. Mit diesen Widerstandsressourcen konnte
sie wiederum die Bedeutung von Stressoren und die Erfahrung von Spannungszuständen beeinflussen.
Frau Huber überstand die von Lebensmittelknappheit
gekennzeichneten Kriegs- und Nachkriegsjahre zwar
mit Untergewicht, aber dennoch gesund. Ihre insgesamt erfolgreiche Spannungsbewältigung verhalf ihr zu
einem Leben in relativer Gesundheit. Die erfolgreiche
Spannungsbewältigung der Mangelernährung stärkte
wiederum Frau Hubers Widerstandsressourcen, sodass
sie eher dem Pol „gesund“ des Gesundheits- und Krankheitskontiniuums zu zuordnen ist (Abb. 4.1).
Frau Schmidt erkrankte dagegen aufgrund der Mangelernährung mehrfach an Infektions- sowie MagenDarmkrankheiten. Sie galt stets als kränkelnde hilflose
Persönlichkeit und nahm sich selbst auch als solche
wahr. Die erfolglose Spannungsbewältigung führte bei
Frau Schmidt zu vermehrten Stresszuständen, die sie als
nicht bewältigbar interpretierte. Im Modell des Gesundheits- und Krankheitskontinuums ist sie daher eher dem
Pol des Krankseins zu zuordnen.
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Abb. 4.1 Verbindungen der Konstrukte des Modells der Salutogenese (nach Bengel et al. 2001).
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4 Somatische Veränderungen im Alter
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Das durch die entsprechenden Erlebnis- und Erfahrenswelten ausgeprägte Kohärenzgefühl ermöglicht dem Menschen komplexe Reaktionen
auf verschiedenen Ebenen. Es verbessert kognitive Prozesse zur Einschätzung von Situationen,
es filtert bei der Verarbeitung von Situationen
die unangenehmen Stimuli und Stressoren und
es mobilisiert Ressourcen. Nach Antonovsky
wirkt das ausgeprägte Kohärenzgefühl direkt auf
den Organismus und stimuliert beispielsweise
das ZNS sowie das Immun- und Hormonsystem.
Anwendung des Modells der
Salutogenese
Obwohl Antonovsky davon ausgegangen ist, dass
das Kohärenzgefühl im Erwachsenenalter bereits
manifestiert sei, wird das Modell der Salutogenese
als wichtig für das „Anwendungsfeld Prävention“
erachtet (Bengel et al. 2001, S. 70). In der Analyse
der Konstrukte, die ein Kohärenzgefühl stärken wird
eine Perspektive auf positive Faktoren deutlich. Das
verhilft zum Blick auf protektive Faktoren und ermöglicht daher einen Perspektivenwechsel in der
modernen Prävention. Bisherige Präventionsmaßnahmen haben zur Grundlage ein Risikofaktorenmodell mit den Aspekten „Warnungen“, „Furchtappell“
und „Lustfeindlichkeit“ (Bengel et al. 2001, S. 71).
Beispiel: Als Beispiel kann man sich „Anti-RaucherKampagnen“ vorstellen, die mit dramatisierten Risikowarnungen Furcht auslösen sollen. Lustfreundlicher
und motivationssteigernd sind dagegen eher Präventionsmaßnahmen, die Jugendliche im Selbstbewusstsein
stärken.
Erst in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts
kann in verschiedenen Veröffentlichungen ein Perspektivenwechsel zur Gesundheitsförderung im
Sinne der Salutogenese beobachtet werden. Angestrebte Präventionsmaßnahmen erstrecken sich
mittlerweile auf verschiedenste Bereiche und ziehen nicht nur punktuelle und zeitlich begrenzte
Gesundheitsaktionen nach sich. Maßnahmen im
Sinne der Salutogenese versuchen, die gesamte Population einer Risikogruppe und das gesamte Umfeld einzubeziehen, wie das oben genannte Beispiel
der Nicht-Raucher-Kampagne für Jugendliche zeigt.
Der von Bengel und seinen Mitautoren herausgegeben Forschungsbericht (Bengel et al. 2001) zählt
verschiedene Bereiche auf, die hier auf den älteren
Menschen übertragen werden.
Der Schwerpunkt des Forschungsberichts liegt
auf der Untersuchung der Anwendung einer salutogenetischen Betrachtungsweise in den Bereichen
der Psychotherapie und Psychosomatik. Zwar ist die
Anwendung noch nicht sehr weit verbreitet (Bengel
et al. 2001), einige Fragestellungen sind für die Arbeit mit älteren Menschen allerdings sehr relevant.
Wichtige Aspekte aus dem Forschungsbericht sind
im Folgenden aufgeführt und als Diskussionspunkte
für die Geriatrie kurz dargelegt.
Diskussion des Gesundheits- und
Krankheitsbegriffs
Die Frage nach der Behandlungsbedürftigkeit eines
Älteren muss gestellt werden. Das ist ein Gedankenansatz, der in der Geriatrie sicherlich eine große
Rolle spielt. Wer ist behandlungsbedürftig, wo ist
die Grenze zwischen gesund und krank und wer definiert diese? Ist eine ältere Person psychisch krank,
die eher isoliert lebt, auffällig viel mit sich selbst
spricht und misstrauisch gegenüber ihren Nachbarn
ist?
So eine Fragestellung lässt sich auch in die somatische Medizin übertragen. Ist eine Person, die
nach einem Schlaganfall nicht mehr aus dem Haus
kommt, aber ein gutes stützendes soziales Netz hat,
als krank zu definieren? Muss jemand, bei dem ein
seit Jahren abgekapseltes Karzinom diagnostiziert
wird, unbedingt operiert werden? Ist jemand, der
bereits im 30. Lebensjahr mit mehreren progredient
gestörten Körperfunktionen umgehen muss, multimorbid? Sollte er der multimorbiden geriatrischen
Klientel zugeordnet werden?
Sicher muss im Einzelfall genau unterschieden
werden, was der individuelle Mensch selber wahrnimmt und wie er seine eigene Gesundheit oder seinen Krankheitsstatus einschätzt. Da aber mit zunehmenden Alter auch mehr Diagnosen auftreten, muss
besonders im Alter der Gesundheits- und Krankheitsbegriff neu überdacht werden (s. Kap. 6.4).
Das subjektive Wohlbefinden trotz erheblicher
Einschränkungen zeigt den eigentlichen Status an.
Dass alte Menschen sich tatsächlich trotz gehäufter
Erkrankungen wohl fühlen, wird von der Berliner
Altersstudie bestätigt (s. Kap. 1.4 und 3).
Ziele von Psychotherapie und
Behandlungsstrategien
Diese Aspekte sind relevant für die Frage, ob als
Ziele einer Behandlung wirklich genug gesundheitsfördernde und schützende Faktoren berücksichtigt
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4.1 Modell des Gesundheits- und Krankheitskontinuums
werden. Besonders für den älter werdenden Menschen kann eine Jahre andauernde aufdeckende
Psychotherapie nicht unbedingt sinnvoll sein. Die
Möglichkeit eigene Stärken als Ressource zu entdecken, anzunehmen und anzuwenden könnte eher
hilfreich sein. (s. Kap. 1.4 und 5)
Präventive Orientierung und
Ressourcenaktivierung
– Vermittlung von genussfreudigen Aspekten, um
das seelische Wohlbefinden und realistische positive Kognitionen und Erwartungshaltungen zu
fördern,
– Stärkung der Wahrnehmungssensibilität für eine
positive Körpererfahrung, um körperliches Wohlbefinden zu fördern und Bewältigung von Krankheit und Behinderung zu unterstützen.
Wie zuvor in den Zielen aufgeführt, sind diese beiden Aspekte als besondere Zielvorstellung relevant.
Wenn erkannt wird, welche Aspekte im Alter zu
psychisch und somatisch ungesunden Verhältnissen
führen, dann müssen Konzepte entwickelt werden,
die der Prävention von psycho-somatischen Erkrankungen dienen. Beispielsweise ist bekannt, dass
gute soziale Netzwerke die Gesundheit stabilisieren
(s. Kap. 1.3.3, 3, Mayer u. Baltes 1996). Das soziale
Netzwerk ist sicher auch eine Ressource, die aufgebaut und aktiviert werden muss, aber auch einzelne
Personen, Partner oder die eigene Selbsthilfefähigkeiten können als Ressourcen aktiviert werden. Es
geht dabei hauptsächlich um die Perspektive, die
gesunden Anteile in den Kompetenzen der Person
zu stärken.
Diese Faktoren sind sicher für alle Altersgruppen als
gleichwertig und – wichtig zu betrachten. Besonders für geriatrische Klienten sind aber die Rollenveränderung und die damit veränderte Selbstverwirklichung relevant. Hierzu wurden im Kapitel 2.1
bereits einige ergotherapeutische Konzepte aufgezeigt, die diese besondere Lebenslage und ihre Rollenveränderungen berücksichtigen.
Diese salutogenetischen Aspekte, sich auf die gesund erhaltenden Komponenten des Lebens zu konzentrieren, sind in der herkömmlichen konventionellen Medizin immer noch ungebräuchlich. Auch
in geriatrischen Modellen werden eher die pathogenen Aspekte berücksichtigt. Das nächste Kapitel
verdeutlicht diesen Blickwinkel.
4.1.2 Pathogenese – biomedizinisches
Modell
Lebenskontext und Umfeld
Diese beiden Aspekte betonen nochmals die positive Wirkung des sozialen Netzwerks aber auch die
Wichtigkeit eines positiv stimulierenden Umfelds,
wie beispielsweise Wohnung und Wohnumfeld.
Diese Seite der Stärkung eines Kohärenzgefühls im
Sinne der Salutogenese wurde ebenfalls bereits im
Kapitel 1 und 3 ausführlich abgehandelt. Das salutogenetische Modell hebt die Bedeutung dieser Aspekte nochmals hervor. Es zeigt auf, dass ressourcenorientierte Unterstützungsmodelle einen hohen
präventiven Anteil haben. Der später folgende Abschnitt 4.1.4 gibt der Prävention nochmals größeren
Raum.
Einen weiteren Anwendungsbereich des salutogenetischen Modells sehen Bengel et al. (2001) in
der Rehabilitation. Auch hier werden ressourcenorientierte Konzepte zunehmend berücksichtigt.
Gesundheitsfördernde Aspekte in der Rehabilitation
sind laut der Autoren folgende:
– Rollenbewältigung, um den Umgang mit spezifischen Lebensproblemen zu lernen und Problemlösungs- und Bewältigungskompetenz zu
fördern,
– Selbstverwirklichung, um eine veränderte Lebensplanung vorzunehmen sowie Interessen,
Ziele und Entscheidungen durchzusetzen,
Das biomedizinische Modell der Pathogenese beschäftigt sich mit der Entstehung und Entwicklung
von Krankheiten und dem Kranksein. In pathogenetischen Modellen wird Krankheit zunächst ausschließlich als eine auftretende Störung definiert. Der
Mensch ist in der Biomedizin ein „organgesteuertes“
Wesen. Krankheit bedeutet damit eine Störung der
Lebensvorgänge in Organen oder im gesamten Organismus und ist ein sowohl subjektives als auch
objektives Phänomen (Eser 1989). Allerdings müssen sich die subjektiv empfundenen Störungen in
diesem Modell als objektiv feststellbar erweisen in
Form von körperlichen, geistigen oder seelischen
Veränderungen. Damit liefert der Begriff „Krankheit“ im biomedizinischen Modell eine definierbare Einheit typischer ätiologisch, morphologisch,
symptomatisch oder nosologisch beschreibbarer
Erscheinungen, die dann als definierte Erkrankung
beschrieben ist (Pschyrembel 1999). Verschiedene
biomedizinische Systematiken und Klassifikationen
sowie Beschreibungen von biologischen Dysfunktionen und homöostatischen Störungen reduzieren
Krankheit auf eine „technokratische“ Dysfunktion.
Die Krankheit ist eine Störung, die mit Geräten und
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4 Somatische Veränderungen im Alter
Apparaten sowie durch Pharmazietechnik (Medikamente) behoben werden kann.
Kranksein kann aus zwei Perspektiven gesehen
werden. Zum einen wird das Erleben einer Erkrankung durch das Individuum als Krankheit bezeichnet. Zum anderen wird Krankheit auch als psychosozialer Prozess gesehen. Das Kranksein kann in
unterschiedlichen Erscheinungsformen wahrgenommen werden. Beispielsweise gibt es Kranksein
ohne Diagnose (Hypochondrie) oder es kann eine
Krankheit ohne das subjektive Erleben von Kranksein stattfinden, z. B. bei einem keine Beschwerden
bereitenden, unentdeckten Magenkarzinom. In beiden Fällen ist die biomedizinische Suche nach einer
Ursache ausschlaggebend. Der „Hypochonder“ wird
als nicht krank bezeichnet, obwohl vielleicht ein
psychodynamischer „krankmachender“ Prozess hinter seiner Wahrnehmung steckt. Und der Mensch,
der sich bisher gesund gefühlt hat, wird mit der Diagnose des Magenkarzinoms zum Patienten und als
krank eingestuft. Daher kann es in der Diskussion
mit der an Krankheit ausgerichteten Medizin immer
wieder zu Fehlschlüssen kommen.
Eine andere Sichtweise auf Krankheit könnte
sein, dem Verständnis von Krankheit grundsätzlich
andere Kategorien entgegen zu setzen. Wie in der
Diskussion zum salutogenetischen Modell bereits
ausgeführt, werden Krankheitskategorien der akademischen Medizin letztlich auch mit kulturspezifischen Sichtweisen interpretiert. So gesehen wird
nicht nur Kranksein sondern auch Krankheit kulturell konstruiert: andere Kulturen – andere Krankheiten (Pschyrembel 1999). Übertragen auf den alten Menschen bedeutet das, dass das Verständnis
von „alt sein heißt krank sein“ kulturell interpretiert
wird. Beeinflusst wird diese Sichtweise vom Altersbild bzw. Altersstereotyp (s. Kap. 1.3.6; 1.4 und 3) in
einer Gesellschaft. Besonders durch den Faktor der
zunehmenden Diagnosen im Alter, der so genannten
Multimorbidität (s. Kap. 6.4) muss die Definition,
wann jemand als krank zu bezeichnen ist, sorgfältig
überdacht werden.
Um diesen durch eine rein pathogenetische Sichtweise auftretenden Problemen der individuellen
und kulturellen Definitionen von Krankheit und
Kranksein entgegenzutreten, wird mittlerweile in
der modernen Medizin ein bio-psycho-soziales Modell von Gesundheit und Gesundheitsstörungen bevorzugt. Diese Betrachtungsweise wird im nächsten
Abschnitt aufgezeigt.
4.1.3 Bio-psycho-soziales Modell der ICF
Das repräsentativste und weltweit bekannteste
Modell einer umfassenden Betrachtungsweise des
Menschen entwickelte die WHO (World Health
Organisation): die International Classification of
Functioning, Disability and Health, kurz ICF (WHO
2001 in: Schuntermann 2002). Die Übersetzung
des Namens dieses Klassifikationssystems lautet:
Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Ihr Schwerpunkt
liegt auf den Aspekten der Gesundheit und den gesundheitsfördernden Faktoren, obwohl sie auch die
Klassifizierung von Defiziten bzw. gesundheitshemmenden Faktoren ermöglicht. Die zugrunde liegende Philosophie, die Konstrukte der Klassifikation
sowie Anwendungsbeispiele für die Geriatrie zeigt
dieses Kapitel auf.
2
Bedeutung der ICF im Zusammenhang
mit Gesundheits- und
Krankheitskontinuum
Schuntermann (2002) stellt in seinen Ausführungen
zur Übersetzung der ICF fest, dass das herkömmliche biomedizinische Modell (s. Kapitel 4.1.2) den
Begriff „Gesundheit“ nicht richtig beschreiben kann.
Dies sei nur im Rahmen eines bio-psycho-sozialen
Modells möglich, wie beispielsweise in der ICF. Dort
werden alle Faktoren der bio-psycho-sozialen Bedingungen eines Menschen berücksichtigt, um eine
Gesundheitsstörung zu kennzeichnen. In der ICF
wird eine Person als funktional gesund beschrieben,
wenn, vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren
(Umweltfaktoren, persönliche Faktoren),
– ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des
mentalen Bereichs) und Körperstrukturen denen
eines gesunden Menschen entsprechen,
– sie nach Art und Umfang das tut oder tun kann,
was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird
– und sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die
ihr wichtig sind, in der Weise (Art und Umfang)
entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne
gesundheitsbedingte Beeinträchtigungen der
Körperfunktionen oder –strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Schuntermann 2002).
Zusammengefasst ist damit gemeint „gesund ist,
was gesunde Menschen können“. Diese Aussage bedeutet, dass das was Menschen allgemein in ihren
Lebensbereichen möglich ist, als „Norm“ für funkti-
aus: Habermann u.a.; Ergotherapie in der Geriatrie (ISBN 3131255811), © 2005 Thieme Verlag
4.1 Modell des Gesundheits- und Krankheitskontinuums
onale Gesundheit und Partizipation (Teilhabe) aller
gelten soll. Als Lebensbereiche, die den Menschen in
seiner Teilhabe beeinflussen, betrachtet das Modell
besondere Umweltfaktoren (Kontexte), wie
– Einstellungen, Werte und Überzeugungen der
Menschen in der Gesellschaft,
– politisches und Rechtssystem eines Landes mit
seinen Vorschriften, Verfahrensweisen und Standards,
– Art des Gesundheits- und Bildungswesens sowie
des Wirtschafts- und Verkehrswesens,
– Art der zur Verfügung stehenden Güter und Technologien,
– Barrieren der Teilhabe z. B. fehlende barrierefreie
Wohnungen,
– unterstützende Faktoren, z. B. soziale Unterstützung (Schuntermann 2002).
Mit diesen Konstrukten können alle biologischen,
psychischen und sozialen Faktoren menschlichen
Daseins umfassend beschrieben werden. Weltweit
arbeiten Arbeitsgruppen im Auftrag der WHO an
länderspezifischen Adaptionen. In Deutschland
gibt es unterschiedliche Arbeitsgruppen, die sich
um praktikable Anwendungsmöglichkeiten der fast
1.500 Kategorien bemühen.
2
Klassifikationssystem der ICF
Klassifikationssysteme, wie die ICF, sind Systeme
die sich um Einteilungs- oder Gruppierungsmöglichkeiten zur besseren Übersicht eines bestimmten
Modells bemühen. In der Medizin gibt es einige bekannte wie die ICD-10 (DIMDI 1999) oder die DSMIV (Saß et al. 1998). Bekannt ist auch das System
der ICIDH (Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen der WHO von 1980), deren Nachfolgerin die
ICF ist.
Diese Klassifikationen wurden stets von allen
Vertretern in der Vollversammlung der WHO verabschiedet. Vor einer Verabschiedung wurden in den
Ländern Anpassungs- und Übersetzungsprobleme
diskutiert, die in die Vollversammlung eingebracht
wurden. Die ICF wurde von der 54. Vollversammlung der WHO, an der auch Vertreter der Bundesregierung teilgenommen haben, im Mai 2001 verabschiedet. Die deutsche Übersetzung der ICF wurde
durch das Bundesministerium für Gesundheit zur
Veröffentlichung freigegeben. Sie kann im Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und
Information (DIMDI) als Internet-Ausgabe kostenlos
unter www.dimdi.de heruntergeladen werden. Die
englische Originalfassung kann man unter www.
who.int/classification/icf herunter laden. Es gibt
auch Ausbildungsunterlagen, die auf der Internetseite www.vdr.de unter „Rehabilitation“ abgerufen
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Abb. 4.2 Struktur der ICF (Vollversion ICF 2002).
aus: Habermann u.a.; Ergotherapie in der Geriatrie (ISBN 3131255811), © 2005 Thieme Verlag
131
132
4 Somatische Veränderungen im Alter
werden können. Aus diesen sind die folgenden Informationen überwiegend entnommen.
Begriffe der ICF
Die ICF definiert ausführlich verschiedene Begriffe,
die Gesundheit oder Störungen der Gesundheit beschreiben. Diese ermöglichen national und international eine einheitliche Sprache zur Beschreibung
von Menschen und ihren Grundrechten. Zu diesen
Begrifflichkeiten gehören:
– Funktionale Gesundheit und Beeinträchtigung,
wenn die körperlichen Funktionen (einschließlich
des mentalen Bereichs) und die Körperstrukturen
denen eines gesunden Menschen entsprechen
oder eben beeinträchtigt sind (siehe auch vorherigen Abschnitt).
– Kontextfaktoren und Beeinträchtigung (Umweltfaktoren, persönliche Faktoren), wobei von Bedeutung ist, dass die genannten Kontextfaktoren
insbesondere die Teilhabe an Lebensbereichen
beispielsweise durch die Art der Zugänge zu Bauten, Art der Einstellungen der Menschen in der
Gesellschaft beeinträchtigen oder unterstützen.
Die Teilhabe begünstigende oder fördernde Umweltfaktoren werden Förderfaktoren genannt (z. B.
soziale Unterstützung, „gebraucht zu werden“).
Die Teilhabe beeinträchtigende Umweltfaktoren
werden Barrieren genannt (z. B. fehlende barrierefreie Wohnungen).
– Behinderung wird nach ICF jede Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit einer Person
genannt, die als Ergebnis durch die negativen
Wechselwirkungen eines Gesundheitsproblems
und den Kontextfaktoren auf die funktionale Gesundheit der Person einwirkt.
Für die Klassifikation werden Merkmale (Items)
aufgelistet, die die Funktionsfähigkeit und die Kontextfaktoren in weitere Komponenten unterteilen
(Tab. 4.2). Diese Unterteilung der Funktionsfähigkeit
und Behinderung erfolgt nach Körperfunktionen und
–strukturen sowie den Komponenten der Aktivität
und Teilhabe. Sie sind wiederum in verschiedene Kapitel aufgeteilt, klassifiziert und nummeriert. Kör-
Tab. 4.1 Aufbau der ICF Klassifikation mit ihrer Nomenklatur (Beispiel aus dem Teil „Klassifikation der Körperfunktionen“)
Nomenklatur
der ICF
Kodierung
Bezeichnungen
Item
Kapitel
b2
Sinnesfunktionen und
Schmerz
Item der ersten Ebene
Domänen
Seh- und verwandte
Funktionen (b210b229)
Kategorien
b210
Funktionen des Sehens
(Sehsinn)
Item der zweiten Ebene
b2102
Qualität des
Sehvermögens
Item der dritten Ebene
b21022
Kontrastempfindung
Item der vierten Ebene
xxx.0
nicht vorhanden 0-4 %
xxx.1
leicht ausgeprägt 5-24 %
xxx.2
mäßig ausgeprägt 25-49 %
xxx.3
erheblich ausgeprägt 5095 %
xxx.4
voll ausgeprägt 96-100 %
xxx.8
nicht spezifizierbar
b2
b210
b2102
b21022
b21022.4
b-zwei
b-zwei-zehn
b-zwei-zehn-zwei
b-zwei-zehn-zwei-zwei
b-zwei-zehn-zwei-zweipunkt-vier
Beurteilungsmerkmale
(z. B. Ausmaß eines
Problems)
Lesart der Kodierung
(um die strukturellen
Eigenschaften der Kodes
zu berücksichtigen)
aus: Habermann u.a.; Ergotherapie in der Geriatrie (ISBN 3131255811), © 2005 Thieme Verlag
4.1 Modell des Gesundheits- und Krankheitskontinuums
perfunktionen werden mit „b“ (bodyfunction), Körperstrukturen mit „s“ (body structures), Aktivitäten
und Teilhabe mit „d“ (live domains) und entsprechenden Zahlen codiert (Tab. 4.1). Die Kontextfaktoren werden in die Komponenten Umweltfaktoren
und persönliche Faktoren aufgeteilt. Es werden allerdings nur die Umweltfaktoren klassifiziert sowie
mit „e“ (envoirement) und ebenfalls weiterführenden Zahlen bezeichnet (Tab. 4.1).
Aus all diesen Komponenten entstehen Klassifikationsbereiche, die zusätzlich noch mit Beurteilungsmerkmalen versehen werden können. Die gesamten
Bereiche der ICF sind in zwei Ebenen und in der vollständigen Klassifikation sehr weitreichend in Domänen und Items unterteilt. Tabelle 4.1 erklärt die
Nomenklatur der Kategorien mit ihren Überbegriffen und Untereinheiten. Welche Bezeichnungen in
dieser Nomenklatur verwendet werden ist als Beispiele in Tabelle 4.2 zu sehen. Um die Anwendung
der Klassifikation der ICF aufzuzeigen, ist dort eine
Beschreibung anhand des Beispielklienten „Herrn
Wild“ aus Kapitel 2 integriert.
2
Bedeutung und Ziele der ICF
Die ICF gewinnt immer mehr an Bedeutung, da sie
international eine gemeinsame Sprache zur Beschreibung und standardisierten Dokumentation
ermöglicht. Das Ziel der gemeinsamen Sprache soll
zur Verbesserung der Kommunikation zwischen
Fachleuten im Gesundheits- und Sozialwesen, insbesondere in der Rehabilitation führen. Weitere
Tab. 4.2 ICF-Komponenten und Items am Beispiel von Herrn Wild (s. Kap. 2.1)
ICF-Komponenten
ICF-Items aus Domänen
Beispiel (Herr Wild)
Körperfunktionen
Kapitel 1: Mentale Funktionen:
Globale mentale Funktionen (b110b139)
b110 Funktionen des Bewusstseins
Allgemeine mentale Funktionen, die
die bewusste Wahrnehmung und
Wachheit einschließlich Klarheit und
Kontinuität des Wachheitszustandes
betreffen
Inkl.: Funktionen, die Zustand, Kontinuität und Qualität des Bewusstseins
betreffen; Bewusstseinsverlust,
Koma, vegetativer Status (apallisches
Syndrom), Dämmerzustand (Fugue),
Trance, Besessenheit, drogeninduzierte Bewusstseinsveränderungen, Delir,
Stupor
Exkl.: Funktionen der Orientierung
(b114); Funktionen der psychischen
Energie und des Antriebs
Kapitel 1: Mentale Funktionen:
Globale mentale Funktionen (b110b139)
Herr Wild ist zur bewussten Wahrnehmung und Wachheit kontinuierlich
und klar fähig,
b110.0 (0 = keine Schädigung)
Herr Wild wirkt traurig, aber auch
wütend und aggressiv
b122 Globale psychosoziale Funktionen
b122.1 (1 = mäßig ausgeprägte
Schädigung)
Spezifische mentale Funktionen
(b140-b189) Herr Wild hat Probleme
mit dem Kurzzeitgedächtnis
b144 Funktionen des Gedächtnisses
b144.4 (4 = voll ausgeprägte Schädigung)
b152 Emotionale Funktionen
b152.2 (2 = erheblich ausgeprägte
Schädigung)
Körperstrukturen
Kapitel 1: Strukturen des Nervensystems s110 Struktur des Gehirns
s120 Struktur des Rückenmarks und
mit ihr im Zusammenhang stehende
Strukturen
s130 Struktur der Hirnhaut s140 Struk­
tur des sympathischen Nervensystems
s150 Struktur des parasympathischen
Nervensystems
s198 Struktur des Nervensystems,
anders spezifiziert
s199 Struktur des Nervensystems,
nicht spezifiziert
Kapitel 1: Strukturen des Nervensystems s110 Struktur des Gehirns Herr
Wild hat einen Apoplex erlitten
s110.3.7.2
(Ausmaß sehr ausgeprägt)
(links lokalisiert)
aus: Habermann u.a.; Ergotherapie in der Geriatrie (ISBN 3131255811), © 2005 Thieme Verlag
(qualitative Strukturveränderung)
133
134
4 Somatische Veränderungen im Alter
Tab. 4.2 Fortsetzung
ICF-Komponenten
ICF-Items aus Domänen
Beispiel (Herr Wild)
Teilhabe ist das Einbezogensein in eine Lebenssituation
oder einen Lebensbereich.
Beeinträchtigungen der Teilhabe sind Probleme, die ein
Mensch beim Einbezogensein
in eine Lebenssituation oder
einen Lebensbereich erlebt.
Kapitel 1: Lernen und Wissensanwendung Dieses Kapitel befasst
sich mit Lernen, Anwendung des
Erlernten, Denken, Probleme lösen
und Entscheidungen treffen
Bewusste sinnliche Wahrnehmungen
(d110-d129)
d110 Zuschauen
Absichtsvoll den Sehsinn zu benutzen,
um visuelle Reize wahrzunehmen, wie
einer Sportveranstaltung oder dem
Spiel von Kindern zuschauen
d115 Zuhören
Absichtsvoll den Hörsinn zu benutzen,
um akustische Reize wahrzunehmen,
wie Radio, Musik oder einen Vortrag
hören
Kapitel 1: Lernen und Wissensanwendung Bewusste sinnliche
Wahrnehmungen (d110-d129)
d110 Zuschauen
d115 Zuhören
Herr Wild hat in diesen Bereichen
keine Beeinträchtigungen
d110.0
d115.0
Kapitel 1: Produkte und Technologien
e110 Produkte und Substanzen für
den persönlichen Verbrauch
Alle natürlichen oder vom Menschen hergestellten Produkte oder
Substanzen, für den persönlichen
Verbrauch gesammelt, verarbeitet
oder hergestellt
Inkl.: Produkte wie Lebensmittel,
Heilmittel/Medikamente
e115 Produkte und Technologien zum
persönlichen Gebrauch im täglichen
Leben
Von Menschen für ihre täglichen Aktivitäten benutzte Ausrüstungsgegenstände, Produkte und Technologien,
in oder nahe beim Körper getragen,
einschließlich solcher, die angepasst
oder speziell entworfen sind
Kapitel 1: Produkte und Technologien
e120 Produkte und Technologien zur
persönlichen Mobilität
Herr Wild besitzt einen handbetriebenen Hemiplegikerrollstuhl
e120+3 (+3 = erheblich ausgeprägter
Förderfaktor)
Kontextfaktoren als
Umweltfaktoren und
personenbezogene
Faktoren
– materiell
– sozial
– einstellungsbezogen
Förderfaktoren (für
funktionale
Gesundheit, bes.
Teilhabe +)
Barrieren
(für funk­
tionale
Gesundheit, bes.
Teilhabe)
Ziele, die die WHO mit der Einführung der ICF anstrebt, sind die
– ICF als systematisches Verschlüsselungssystem
für internationale Datenvergleiche zu etablieren.
– Definitionen der Rehabilitation auf der ICF basieren zu lassen.
– ICF für Aufgaben der Gesundheits- und Sozialpolitik sowie der Behinderten- und Menschenrechtspolitik nutzbar zu machen. Sie kann deutlich
bestimmte Probleme aufzeigen und zu Lösungen
führen:
– beim Abbau von Barrieren in der Gesellschaft
und materiellen Umwelt, welche die Teilhabe
erschweren oder unmöglich machen,
Wissensanwendung (d160-d179)
d160 Aufmerksamkeit fokussieren
Aufgrund eingeschränkter Aufmerksamkeit müssen Fragen oder Anweisungen für Herrn Wild oft wiederholt
werden
d160.3 (3 = erheblich ausgeprägte
Beeinträchtigung)
Kapitel 1: Produkte und Technologien
e155 Entwurf, Konstruktion sowie Bau­
produkte und Technologien von privaten
Gebäuden
zwei Stufen vor dem Haus werden
durch eine Rampe überwunden,
jedoch kann Herr Wild diese nicht
alleine bewältigen
e155.4 (4 = voll ausgeprägte Barriere)
– beim Ausbau von Förderfaktoren, welche die
Teilhabe trotz erheblicher gesundheitlicher
Beeinträchtigungen wiederherstellen oder unterstützen,
– für epidemiologische Untersuchungen zur
funktionalen Gesundheit in der Bevölkerung
einschließlich der Förderfaktoren und Barrieren,
– um allgemeine und spezifische Präventionsprogramme für die funktionale Gesundheit zu
entwickeln,
– um ein Teilhabebild einschließlich der relevanten Umweltfaktoren (i. S. von Barrieren und
Förderfaktoren) zu beschreiben (Schuntermann
2002).
aus: Habermann u.a.; Ergotherapie in der Geriatrie (ISBN 3131255811), © 2005 Thieme Verlag
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