Raimund Geene, Carola Gold, Christian Hans (Hg.) Armut und Gesundheit Gesundheitsziele gegen Armut: Netzwerke für Menschen in schwierigen Lebenslagen Materialien für Gesundheitsförderung Band 10 Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Armut und Gesundheit. Gesundheitsziele gegen Armut: Netzwerke für Menschen in schwierigen Lebenslagen / Raimund Geene, Carola Gold, Christian Hans (Hg.). Berlin: b_books 2002 ISBN 3 933557 39 9 Copyright 2002 By Gesundheit Berlin e.V., Straßburger Str. 56, D-10405 Berlin www.gesundheitberlin.de Verlag b_books, Lübbener Str. 15, D-10997 Berlin Druck: Dreigroschendruck, Solid Earth, Berlin 2. Aufl. 2003 Printed in Germany Wir danken Anja Halkow Patricia Elsner, Fabian Engelmann, Jenny Kleinwächter, Holger Kilian, Andrea Möllmann, Rainer Sanner, Ulrike Schmidt, Pedram Shahyar und Johannes Strotbek für ihre Mitarbeit. Inhalt Teil I (dieser Band) Vorwort Raimund Geene, Carola Gold, Christian Hans Gesundheitsziele gegen Armut – Netzwerke für Menschen in schwierigen Lebenslagen 15 Kapitel 1: Gesundheitsziele gegen Armut – Eine Einführung Ulla Schmidt Chancengleichheit als Maxime der Gesundheitspolitik Klaus Wowereit Hilfebedürftigen zur Seite stehen Ulrike Mascher Strategien gegen Armut Achim Großmann Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Die soziale Stadt Birgit Fischer Armut und Gesundheit – ein oft verdrängter Zusammenhang Elisabeth Pott Prävention und Gesundheitsförderung bei sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen Ingeborg Junge-Reyer „Trialog“ in der Gesundheitspolitik 18 19 19 23 26 31 40 Kapitel 2: Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut Eva Luber, Elisabeth Müller-Heck Gesundheitsfördernde Netzwerke im Familienumfeld Gerd Ludescher Das Potential der Familiensalutogenese in der Prävention von Krankheit und Armut bei Kindern Stephan Riegger Gesunde Räume zum Aufwachsen - Modell für eine salutogenetische Stadtentwicklung – Planungsbeteiligung von Mädchen und jungen Frauen an einem Jugendgelände in Charlottenburg-Wilmersdorf/Berlin Ekin Deligöz, Thomas Poreski Ein grünes Konzept gegen Kinderarmut Manfred Dickersbach, Barbara Leykamm Der öffentliche Gesundheitsdienst beim Aufbau eines Handlungsfeldes Kinderarmut und Gesundheitsförderung Gabriele Ellsäßer, Johann Böhmann Thermische Verletzungen im Kindesalter und soziale Risiken – Präventionsziele 44 45 48 58 62 65 Sylvia von Düffel, Hanna Boklage Netzwerk Prävention für junge Familien Elke Berg, Dorothee Ruddat, Doris Schwartz Der Familientreffpunkt – ein Netzwerk für sozial benachteiligte Familien Hilke Bruns "Selbst is(s)t der Mann“ – Gesunde Ernährung für sozial benachteiligte männliche Jugendliche Stephanie Lehmkühler Die Notwendigkeit armutspräventiver Netzwerkhilfe zur Stärkung von Ernährungskompetenzen am Beispiel der Gießener Weststadt Ilana Tautz Projekt “Gesunde Ernährung für türkische Kinder und Familien: Multiplikatorenschulung und muttersprachliche Informationsveranstaltungen” Sylvia von Düffel Das PatenPräventionsProjekt (Papp) – ein unspezifisches Gesundheitsförderungsprojekt Lida Schneider Auswirkung der Krebserkrankung eines Elternteils auf die Familie und speziell auf die Kinder 71 72 75 79 88 91 92 Kapitel 3: Frauen und Armut Sigrid Göllnitz, Ute Sonntag Gesundheitsförderung für Frauen – Netzwerke für Frauen Ulrike Maschewsky-Schneider Die gesundheitliche Situation von Frauen in Deutschland Helga Kühn-Mengel Gesundheitsförderung für Frauen – eine Herausforderung für die Politik Angelika May Netzwerkerfordernisse: Gewaltinterventionsprojekt S.I.G.N.A.L. Regine Steinwerth Keine Gewalt gegen Frauen – Netzwerkerfahrungen Viola Schubert-Lehnhardt, Inge Sliep Gesundheitsfördernde Netzwerke für ältere Frauen: Zusammenfassung Erika Zoike Frauengesundheit – Defizite der Versorgung Margit Haberkorn Erfahrungen aus der Projektarbeit Bezirk Treptow – Köpenick: Altersstruktur Ursula Sadowski Zusammenleben mehrerer Generationen unter einem Dach Frauenwohnprojekt „Offensives Altern“ 100 102 112 113 115 117 118 122 125 Annemarie Merbitz Gesundheitsfördernde Netzwerke für ältere Frauen, Zusammenarbeit der Generationen Franziska Eichstädt-Bohlig Programm „Soziale Stadt“ Christa Böhme Frauen und Quartiersmanagement Christa-Maria Brämsmann Sozialpolitik und Arbeitsmarktpolitik für sozial benachteiligte Frauen am Beispiel des Mütterzentrum Osterholz-Tenever e.V. Monika Püschl Frauen und Sucht Maya Krock Gebrauch und Abhängigkeit von Psychopharmaka bei älteren Frauen Gabriele Jeuck Schwindel-Frei Erfahrungen aus der Frauensuchtarbeit 126 128 130 136 141 148 155 Kapitel 4: Altersarmut und Gesundheit Heinz Trommer Inge Frohnert, Petra Fock, Gabi Tammen-Parr, Claudia Fuchs, Carola Pawlowski Altersarmut und Gesundheit - Schlussfolgerungen und Forderungen Heinz Trommer Altersarmut - Risiken bei der Erhaltung der psychischen Gesundheit im Alter Strategien zur Stabilisierung der psychischen Gesundheit älterer Menschen Petra Böhnke Armut und soziale Ausgrenzung im Alter Thomas Lampert Armut, Unterversorgung und Gesundheit im Alter Ute Herbst Altenbetreuung – Qualitätsabbau in der Pflege Sigrid Henße, Gabriele Tammen-Parr, Dorothee Unger Armut und Gewalt in der Pflege älterer Menschen Herbert Höhne Netzwerk im Alter – Konzept, Struktur und Praxis des gerontopsychiatrischen-geriatrischen Verbundes in Berlin-Marzahn-Hellersdorf Aus Sicht des Bezirksamtes Renate Stemmler Netzwerk im Alter – Konzept, Struktur und Praxis des gerontopsychiatrischgeriatrischen Verbundes in Berlin-Marzahn-Hellersdorf‘ Aus klinischer Sicht 162 164 172 179 191 198 206 213 Petra Fock Verbesserung der Situation pflegebedürftiger älterer Menschen Hanne Schweitzer Der erste bundesweite Beschwerdetag zum Thema Altersdiskriminierung war leider ein Erfolg Rainer Lachenmeyer Verdeckte Armut – Alte Menschen – Fehlt Ihnen etwas (anderes)? Christine Roßberg Folgen der sozialen Armut - Hilfe durch spezielle Betreuung in Tagesstätten und Heimen 216 218 221 229 Kapitel 5: Migration und psychische Gesundheit Ute Bandelin Migration und psychische Gesundheit – Zusammenfassung, Ziele und Forderungen Dagmar Schultz Kulturelle Kompetenz in der psychiatrischen Versorgung von Migrant/innen und Minderheiten: Herausforderung und Chance Ramazan Salman Zur Lage und zu Herausforderungen in der psychiatrischen Arbeit mit Migranten Mohamad Kaouk, Jan Basche Betreutes Wohnen für Migranten – Anspruch und Realität Olga Brehusowa Zur Problematik der kulturfairen psychiatrischen Begutachtung von Migranten unter besonderer Berücksichtigung russischsprachiger Zuwanderer Salih Huremovic, Remzija Suljic Erfahrungsberichte aus dem ehemaligen Jugoslawien Petra Brzank, Eva Stahl, Jessica Groß Ungeklärter Aufenthalt und psychosoziale Belastung Einführung und Diskussion mit Expert/innen und Betroffenen Fatih Güc Psychotherapeutische ambulante Versorgung von Migrant/innen Artin Akyüz Internationales Familienzentrum in Frankfurt am Main Steffi Jennrich, Simone Gleißner Gesundheitliche Folgen der weiblichen Beschneidung 236 240 251 257 264 270 272 281 284 291 Kapitel 6: Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser Kirsten Falk Ambulante zahnärztliche Versorgung Obdachloser Patienten in der Arztpraxis/Zahnarztpraxis für Obdachlose der MUT Gesellschaft für Gesundheit 298 Claudia Adam, Gerd Grenner Aspekte gesundheitlicher Versorgung wohnungsloser Personen in kommunalen Wohnheimen Ulrich Liedholz, Albert Nägele Motivationsarbeit mit suchtkranken Wohnungslosen Ein Modellprojekt der Tagesstätte „Am Wassertor“ des Diakonischen Werkes Berlin Stadtmitte e. V. Jan Basche Zur Praxis niedrigschwelliger Betreuung für chronisch psychisch und suchtkranke Wohnungslose Dagmar Krüger Betreutes Einzelwohnen für chronisch Alkoholkranke im Bezirk Treptow-Köpenick Gerhard Trabert Afghanistan 2001 – Flüchtlingslager Mile 46 304 311 317 324 327 Kapitel 7: Arbeitslosigkeit und Gesundheit Carlchristian von Braunmühl Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Zusammenfassung Harvey Brenner Unemployment and Public Health Armut und Gesundheit Peter Kuhnert, Michael Kastner Neue Wege in Beschäftigung - Gesundheitsförderung bei Arbeitslosigkeit Rainer Knerler Für eine Grundsicherung aus Arbeitslosenhilfe und ergänzender Sozialhilfe (nach Frank Jetter) 332 334 336 364 Anhang: Autor/innenverzeichnis 371 Inhalt Teil II (zweiter Band) Vorwort Raimund Geene, Carola Gold, Christian Hans Gesundheitsziele gegen Armut – Netzwerke für Menschen in schwierigen Lebenslagen Kapitel 8: Armut und Behinderung Hannelore Bauersfeld „Zwangsverarmung“ von Behinderten Rainer Sanner: Probleme mit dem ärztlichen Begutachtungswesen Ursula Lehmann Zur Lage der ambulanten Versorgung Schwerstbehinderter Ursula Lehmann, Irina Pfützenreuter Spontanzusammenschluss „Mobilität für Behinderte“ - 70 % Ausgrenzung in der Grundversorgung von mobilitätsbehinderten Menschen Kapitel 9: Sucht und Armut Auf dem Weg zur Drogenmündigkeit – Memorandum für eine neue Drogenpolitik – Oktober 1998 Ingo Ilja Michels Sucht- und Armut - soziale Ausgrenzung als Grenze salutogenetischer Präventionsmodelle Gundula Barsch Von der Risikoprävention zur Drogenmündigkeit – ein Paradigmenwechsel! Frederik Luhmer Harmreduction und Gesundheitsförderung bei Partydrogengebraucher/innen – Erfahrungen eines selbstorganisierten Partyprojektes Markus Herrmann, Ulrich Schwantes Sucht und Migration Brita Wauer, Joachim Brunken Soldiner Treff – Erfahrungen des Selbsthilfeprojekts trockener Alkoholiker Erika Sieber, Gabriela Schick, Rainer Domes-Nontasila, Stefan Willich "Zwischenland" - Klärungsphase für suchtmittelgefährdete und -abhängige Jugendliche Kapitel 10: AIDS und Armut Martina Schmiedhofer, Anand Pant AIDS und Armut: Zusammenfassung Michael T. Wright AIDS und Armut am Beispiel von Strichjungen Michael Krone AIDS und Armut in Zeiten der „Normalisierung“ Bärbel Knorr Gefangene zur Kasse bitten? – HIV-Prävention in Haft und die Folgen Pablo Fernandez Armut bei Migrant/innen mit HIV und AIDS Kapitel 11: Gesundheitsförderung und soziale Benachteiligung Thomas Elkeles, Gudrun Borchardt Gesundheitsförderung und soziale Benachteiligung: Forderungen Lotte Kaba-Schönstein Soziale Benachteiligung und Gesundheitsförderung – Stand und Perspektiven Gerhard Meinlschmidt Gesundheitsziele für Berlin auf der Basis der Gesundheitsberichterstattung Instrumente einer evidenzbasierten Gesundheitspolitik Sibylle Angele Zusammenarbeit für Gesundheit: gesundheitsziele.de Konkrete Gesundheitsziele für Deutschland Gerhard Andersen Zum Stand der Umsetzung des § 20 SGB V Karin Schreiner-Kürten Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche – Verminderung sozialer Benachteiligung in Bezug auf Gesundheitschancen von Anfang an Jeanette Arenz Strukturierung der Landschaft im Bereich der Prävention – Umsetzung des § 20 Abs. 1 und 2 SGB V Antje Richter, Thomas Altgeld Kooperation zwischen Krankenkassen und sozialen Einrichtungen findet nicht statt – Ergebnisse einer Umfrage zur Umsetzung des § 20 Abs. 1-3 SGB V in Niedersachsen Ursel Brösskamp-Stone Finanzierungsformen und Infrastrukturen für Gesundheitsförderung und Primärprävention – Das Schweizer Modell: Gesundheitsförderung Schweiz Rita Kichler Fonds Gesundes Österreich – Impulse für die Gesundheitsförderung in Österreich Kerstin Walther, Christiane Deneke Gesundheitliche Belastungen und Ressourcen allein erziehender Sozialhilfeempfängerinnen im Landkreis Harburg Antje Richter Strategien und Ressourcen von Kindern und Jugendlichen zur Bewältigung von Armut Petra Hofrichter Gesundheitsbezogene Interventionsprojekte – Zielgruppen und blinde Flecken Ergebnisse einer niedersächsischen Studie Swen Diedrichs „Gesund-leben-lernen“ – Gesundheitsförderung für sozial Benachteiligte Jugendliche Eva Luber Alle Jahre wieder – was bringen die Armutskongresse für die Armen? Kapitel 12: Daten–Taten Ingeborg Simon Ohne Armuts- und Gesundheitsberichterstattung keine Gesundheitsziele gegen Armut Andreas Mielck Die Bundesrepublik auf dem Weg von der Erkenntnis zum Handeln gegen gesundheitliche Ungleichheit - eine Standortbeschreibung Thomas Ziese Die soziale Dimension der Gesundheit in der Gesundheitsberichterstattung des Bundes Michael Weller Welchen Beitrag kann der § 20 SGB V zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit leisten? Rainer Ferchland Sozialberichterstattung im Spannungsfeld von Politik und Öffentlichkeit Britta Bickel, Sabine Ulbricht Wege aus der gesundheitlichen Ungleichheit – Ergebnisse einer Vergleichsstudie von Sozialhilfeempfänger/innen und Personen ohne Sozialhilfebezug Kapitel 13: Soziale Stadt Rolf-Peter Löhr Soziale Stadt und Gesundheit Werner Maschewsky Umweltgerechtigkeit Jürgen Maier Armutsbekämpfung im Stadtteil Helga Rake Gesundheit braucht Orte zum Lernen, zur Kommunikation und zum Handeln – Die Gesundheitswerkstatt in Hamburg-Jenfeld Der Engel der Neustadt – Das Schutzengel-Projekt in Flensburg Ingeborg Langefeld Praxisbeispiele zur Kooperation von Gesundheit und Stadterneuerung – Gesundheitshaus Gelsenkirchen-Bismarck/Schalke-Nord Kurt Gahleitner Der Berliner Krisendienst - Psychosoziale Unterstützung durch gemeindenahe persönliche Hilfen und Vernetzung Caroline Huß, Jarg Bergold, Ralf-Bruno Zimmermann Krisen und soziale Lage – Kennzeichnung der Nutzer/innen des Berliner Krisendienstes Bericht aus der wissenschaftlichen Begleitforschung Berliner Krisendienst Kapitel 14: Armut können wir uns sparen – Die Kampagne „Fehlt Ihnen Etwas?“ Ruth Keseberg-Alt, Yvonne Mevius Wer kittet Berlin? Bedeutung der Werbung und der elektronischen Medien für die Kampagne Hermann Pfahler Initiative „ Rechtsambulanz für Arme“ Jutta Günükutlu Dokumentation der Kampagne „Fehlt Ihnen etwas?“ – Sozialhilfe kann helfen! Kapitel 15: Modellprojekte der Patienteninformation nach § 65b SGB V Monika Schneider Förderung von Einrichtungen zur Verbraucher- und Patientenberatung nach § 65 b SGB V Silke Haase Betroffenenzentrierte Patientenberatung für Menschen mit HIV und AIDS Modellprojekt der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. zur Patientenberatung Bärbel Bächlein Patient/innenunterstützung in Niedersachsen Ein neues Modellprojekt bei der Landesvereinigung für Gesundheit Helga Ebel Das Spezifische von Beratung und Patienteninformation in einem Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege im Rahmen der Modelle nach § 65b SGB V Helgard Koppe Durchblick: Verbraucher- und Patientenberatung für Menschen mit psychischer Erkrankung Katja Bakarinow Patientenberatung Herdecke – Beratung – Information – Hilfe Katrin Schmitt Informationsdienst Krebsschmerz Mandy Letsch Modellprojekt Patienteninfo–Berlin Kapitel 16: Disease Management Vjenka Garms-Homolovâ Disease Management – Tradition, Perspektiven, Entwicklungschancen Klaus Jacobs Disease Management-Programme im Risikostrukturausgleich: Chancen und Risiken Reinhold Grün Disease-Management und regionale Versorgungsplanung für chronisch Kranke Helmut Sörensen Risiken und Chancen von Disease-Management-Programmen in der aktuellen Versorgungskrise in der Rheumatologie Kapitel 17: Gesundheitsziele gegen Armut – Netzwerke für Menschen in schwierigen Lebenslagen Abschlussdiskussion des 7. Kongresses „Armut und Gesundheit“ (Transskription: Anja Halkow) Carola Gold Gesundheitsförderung als Klammer sozialer Unterstützung Anhang: Autor/innenverzeichnis Vorwort 15 Gesundheitsziele gegen Armut – Netzwerke für Menschen in schwierigen Lebenslagen (Vorwort) Raimund Geene, Carola Gold, Christian Hans Armut macht krank! haben wir als Titel der letztjährigen Bände zu Armut und Gesundheit gewählt, und haben auch die Einladung zu unserem diesjährigem Kongress damit begonnen. Arme Menschen haben im Vergleich zu reichen - in jeder Lebenssituation - ein mindestens doppelt so hohes Risiko - schwer zu erkranken, - zu verunfallen oder - von Gewalt betroffen zu sein, und sie haben eine um - etwa sieben Jahre kürzere Lebenserwartung. Es fehlt ihnen insgesamt an Möglichkeiten, Belastungen zu bewältigen und Gesundheit zu fördern. Gegen diese fatale Entwicklung wirken Netzwerke für Menschen in schwierigen Lebenslagen. Die Beiträge in diesem Buch zeigen die verschiedenen Ebenen auf, in denen Aufbau und Förderung solcher Netzwerken möglich ist: im Stadtteil, in der Schule, in Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung, in der Kiezpolitik ebenso wie in Bund-Länder-Programmen. Ein Ansatz zur Förderung der Netzwerke ist die Formulierung von Gesundheitszielen. Ein Schritt zur Formulierung und Umsetzung von Gesundheitszielen gegen Armut liegt im Zusammentreffen von Politik und Krankenkassen, aus Projekten und Wissenschaft, von Betroffenen und Betreuer/innen aus Sozialarbeit, Selbsthilfe, öffentlichem Gesundheitsdienst, Ärzteschaft und Pflege. Ziehen wir zunächst Bilanz über die öffentliche Diskussion um Armut und Gesundheit in Deutschland. Dabei müssen wir zunächst positiv vermerken, dass sie sich im Vergleich zu den Vorjahren erheblich ausdifferenziert hat. Hintergrund davon ist zunächst die zunehmende Thematisierung von Armut in der Bundesrepublik. Der Armuts- und Reichtumsbericht, der Soziale Stadt-Ansatz, die Aktivitäten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sind einige Bespiele für diese Entwicklung. Die Differenzierung des Diskussion zeigt sich auch am Frauengesundheitsbericht, an der Studie zur Lage der älteren Menschen, der Mexiko-Deklaration der WHO, den Ausarbeitungen des Sachverständigenrates, der Gründung des Deutschen Forum Prävention und Gesundheitsförderung, der Allianz zur Gesundheitsförderung oder am Aktionsprogramm Umwelt und Gesundheit. In all diesen Ansätzen scheint ein Bewusstsein durch vom Zusammenhang von Armut und fehlender Gesundheit. Erkennbar ist eine gemein- 16 Armut und Gesundheit same Gegenstrategie in Aufbau und Förderung von Netzwerken zur sozialen und gesundheitlichen Stützung. Auch wenn diese Gegenstrategien Hoffnung machen, dürfen wir jedoch nicht außer Acht lassen, dass sie einem weiter anwachsenden Problemberg gegenüberstehen, da die sozialen und ökonomischen Verhältnisse zukünftig eher mehr als weniger Armut und Desintegration erwarten lassen. Wir dürfen dabei die Erkenntnisse nicht nur auf den Allgemeinplatz reduzieren, dass Sozial- und Gesundheitspolitik auf das Engste zusammen hängen, sondern wir müssen auch feststellen, dass Einkommenspolitik und Gesundheitspolitik in weiten Teilen deckungsgleich sind: Einkommenspolitik ist Gesundheitspolitik, ebenso wie Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Wohnungs- und Verkehrspolitik. Nun wissen wir schon, dass wir es hier mit ungleich mächtigeren Partnern, einer „härteren“ Logik zu tun haben. Um so wichtiger ist das gegentendenzielle Handeln, das in den Praxis- und Theoriebeiträgen dieses Bandes vorgestellt wird. 17 Kapitel 1 Gesundheitsziele gegen Armut Eine Einführung 18 Armut und Gesundheit Chancengleichheit als Maxime der Gesundheitspolitik Ulla Schmidt „Unter Demokratie verstehe ich, dass sie dem Schwächsten die gleichen Chancen einräumt, wie dem Stärksten.“ Dieser Satz von Mahatma Gandhi ist auch die Maxime meiner Gesundheitspolitik. Das Thema Chancengleichheit steht im Mittelpunkt des 7. Kongresses "Armut und Gesundheit“. Daher habe ich gerne die Schirmherrschaft für diese Veranstaltung übernommen. „Gesundheitsziele gegen Armut“ ist Ihr Motto, von dem ich einen Bogen schlagen möchte zu unserem Projekt "gesundheitsziele.de". Mit diesem Projekt hat das Bundesministerium für Gesundheit die Diskussion um Gesundheitsziele in Deutschland angestoßen. Das Ergebnis wird Mitte nächsten Jahres vorliegen. Es ist uns wichtig, dass für jedes dieser Ziele Strategien entwickelt werden, die zum Abbau sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen beitragen können. Leider sieht die Realität derzeit noch anders aus. Wir haben zwar ein leistungsfähiges Gesundheitssystem. Aber nicht alle Menschen in Deutschland haben die gleichen Zugangschancen zu bester medizinischer Versorgung. Immer noch wirken sich Armut, Arbeitslosigkeit und niedriger Bildungsstand negativ auf die Gesundheitschancen aus. Hier müssen wir ansetzen. Vor allem braucht das Thema mehr Öffentlichkeit. Gemeinsam mit Ihnen, dem Gesundheit Berlin e.V., haben wir ein Internetprojekt gestartet. Jeden Monat stellen wir konkrete Projekte vor, die benachteiligten Menschen helfen, und die Unterstützung brauchen. Dieses Ziel kann die Politik nicht alleine erreichen. Hier müssen alle Verantwortlichen zusammenarbeiten. Bundesländer und Institutionen, wie z.B. Gesundheit Berlin e.V. sowie Ärzteschaft und Pflegende können einen Beitrag leisten. Dies ist eine große Herausforderung. Ich wünsche mir sehr, dass wir dieses Zukunftsprojekt gemeinsam erfolgreich bewältigen werden. Der Kongress „Armut und Gesundheit“ kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Gesundheitsziele gegen Armut – Eine Einführung 19 Hilfebedürftigen zur Seite stehen Klaus Wowereit Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ist es eine wichtige politische und gesellschaftliche Aufgabe, soziale Fragen und Probleme nicht nur nicht aus den Augen zu verlieren, sondern all jenen, die berechtigter Weise besondere Hilfe und Unterstützung brauchen, zur Seite zu stehen. Dieses Ziel verfolgt – und das seit langem erfolgreich – der Kongress „Armut und Gesundheit“, der im Dezember 2001 zum siebten Male stattfand. Schon der Titel „Armut und Gesundheit“ zeigt zwei Felder auf, die oft in einem engen Zusammenhang stehen. Dass Armut krank macht, wissen wir alle, und ebenso wissen wir, dass Gesundheit eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, sich aktiv am gesellschaftlichen und am Arbeitsleben beteiligen zu können. Zugleich ist die Kongressthematik eine, die nicht nur Deutschland betrifft, sondern die im wahrsten Sinne des Wortes eine globale Aufgabenstellung beinhaltet. Aus diesem Grunde finde ich es gut, wenn viele Partner wie Politiker, Wissenschaftler, Vertreter der Sozialverbände und vor allem natürlich Betroffene sich an einen Tisch setzen, die aktuellen Probleme analysieren, Strategien und Lösungswege gemeinsam erarbeiten. Es geht darum, den Teufelskreis von Armut und Krankheit zu durchbrechen. Ich bin überzeugt, dass es dafür Potenzen und Möglichkeiten gibt. Sie mit höchster Effektivität für die Betroffenen wie für die Gesellschaft nutzbar zu machen, dazu soll der Berliner Kongress einen wirksamen Beitrag leisten. Strategien gegen Armut Ulrike Mascher Jeder kennt den Satz "Vorbeugen ist besser als heilen". Um aber präventiv die Gesundheit der Menschen zu fördern, muss auch ihre soziale Lage in den Blick genommen werden. Denn wir wissen, dass es Zusammenhänge zwischen sozialer Situation und Einkommenslage einerseits und Gesundheit und Gesundheitsverhalten andererseits gibt. Ein erschwerter Zugang zu Bildung, eine ungünstige Wohnsituation, eine prekäre Erwerbstätigkeit oder Arbeitslosigkeit können sich sehr belastend auf die Lebensbedingungen auswirken. Daraus ergibt sich: wenn wir uns der belastenden Lebenslagen annehmen, diese verbessern und damit Armutsrisiken reduzieren, stärken wir auch die Rahmenbedinungen für eine positive gesundheitliche Entwicklung. Und dies hat nebenbei auch für die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten positive Folgen: Das, was die Sozialpolitik an Erfolgen für die Gesundheit erreicht, entlastet die Solidargemeinschaft bei den Kosten von Krankheiten. 20 Armut und Gesundheit Die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ist jedoch nicht nur aus den genannten, sondern natürlich auch aus originär sozialpolitischen Gründen ein Schwerpunkt unserer Politik. Wir haben dies in diesem Jahr auch damit belegt, dass wir den ersten Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt haben. Noch nie zuvor hat eine Bundesregierung einen solchen Bericht erstellt. Damit haben wir der Notwendigkeit Rechnung getragen, dass ein moderner Staat detaillierte Kenntnisse über die soziale Wirklichkeit als Grundlage politischen Handelns benötigt. Der Bericht leistet zweierlei: er beschreibt zum einen die soziale Lage in Deutschland bis zum Jahr 1998 - und er zeigt zum anderen, welche Schritte zur Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung die Bundesregierung seither eingeleitet hat. Wir haben mit diesem Bericht einen kontinuierlichen Prozess der Berichterstattung begonnen, der seit langem öffentlich gefordert worden war. Der Bericht ist das Ergebnis eines intensiven Diskussions- und Beratungsprozesses mit gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen. Ergänzt wird dieser Prozess auf europäischer Ebene durch den „Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2001-2003“ der Bundesrepublik. Damit erfüllt die Bundesregierung ihre Pflichten aus der Vereinbarung der Staats- und Regierungschefs der EU von Nizza. Diese forderte von den Mitgliedstaaten, „Nationale Aktionspläne“ zu erarbeiten, um durch Dialog und Informationsaustausch die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu unterstützen. Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist eine wichtige Grundlage, um Politik zur Armutsbekämpfung zielgenau zu gestalten. Die Berichterstattung kann - und muss - die Daten und Fakten so aufbereiten, dass sie als Orientierungsgrößen für die Politik regelmäßig zur Verfügung stehen. Deshalb hat der Bundestag die Bundesregierung verpflichtet, diesen Bericht künftig in jeder Wahlperiode vorzulegen. Der Armuts- und Reichtumsbericht zeichnet nicht nur ein differenziertes Bild der sozialen Lage, sondern richtet auch den Blick auf Chancengleichheit und soziale Teilhabe. Dabei wird Armut im Sinne sozialer Ausgrenzung beschrieben. Als besonders relevant für das Auftreten von Armut stehen nicht nur geringe Einkommen im Blickpunkt, sondern auch gesundheitliche Beeinträchtigungen, zerrüttete Familienverhältnisse, Obdachlosigkeit und die starke Zunahme der Überschuldung. Die zentralen Trends des Berichts lassen sich in knapper Form folgendermaßen zusammenfassen: 1. Das Phänomen sozialer Ausgrenzung ist auch in einem wohlhabenden Land wie Deutschland anzutreffen. 2. In fast allen Lebensbereichen hat im Zeitraum bis 1998 soziale Ausgrenzung zugenommen und Verteilungsgerechtigkeit abgenommen. 3. Das wichtigste Armutsrisiko ist Arbeitslosigkeit und, damit häufig verbunden, Niedrigeinkommen. Wesentliche Ursachen hierfür liegen in fehlenden oder unzureichenden Bildungsabschlüssen und mangelhafter beruflicher Ausbildung. Besonders gefährdet sind Familien und Kinder und hier vor allem allein Erziehende, Paare mit drei oder mehr Kindern und Zuwandererfamilien. Und insbesondere Frauen sind erhöhten Armutsrisiken ausgesetzt. In diesem Zusammenhang möchte ich vor allem auf das Problem der Altersarmut bei Frauen hinweisen. Gesundheitsziele gegen Armut – Eine Einführung 21 Was lernen wir daraus für Strategien der Armutsbekämpfung? Vor allem dies: Im Zentrum muss stehen, Armut und ihre Ursachen vorbeugend zu bekämpfen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Bildung und Ausbildung, die Erwerbssituation und die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Sozialhilfeabhängigkeit, die vor allem Frauen, und zwar insbesondere allein Erziehende, betrifft, ist abzubauen, und zwar vor allem durch aktive Beschäftigungsförderung. Des weiteren sind die Menschen zu befähigen, aus eigener Kraft ihr Leben zu gestalten und am gesellschaftlichen Wohlstand teilzuhaben. Da Armut und soziale Ausgrenzung aus einer Vielzahl von Problemlagen resultieren, sind auch die politischen Lösungsansätze und Handlungsfelder vielschichtig. Armutsbekämpfung ist seit dem Amtsantritt unserer Bundesregierung und dem damit verbundenen politischen Kurswechsel stärker in den Vordergrund gerückt. Dies wird deutlich in der Steuerreform, die insbesondere Bezieher mittlerer und kleiner Einkommen entlastet, in verbesserten Voraussetzungen für eine breite Vermögensbildung wie auch in der Unterstützung von Entschuldungsprozessen, in der Rentenstrukturreform, die zusätzliche Vorsorge und bedarfsorientierte Grundsicherung fördert, wobei insbesondere die Grundsicherung und die Förderung von Kindererziehung der Altersarmut von Frauen vorbeugen soll, in der Einführung des Sozialgesetzbuches IX, das die Teilhabe behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben stärkt, und in der Erleichterung des Zugangs arbeitsloser Schwerbehinderter zum Arbeitsmarkt. Das wichtigste Fazit ist: Qualifikation und Arbeit sind und bleiben der beste Schutz gegen Armut. Wir haben uns deshalb in der Arbeitsmarktpolitik vor allem auf Jugendliche, Langzeitarbeitslose und behinderte Menschen konzentriert. Wenn auch im Moment der positive Trend am Arbeitsmarkt unterbrochen ist, ist die insgesamt günstige Entwicklung seit 1998 unverkennbar. So hat sich die Zahl der Erwerbstätigen seither um rd. 1 Millionen Personen erhöht. Und auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen, die ja von Armut überdurchschnittlich bedroht sind, ist zurückgegangen. Und schließlich trägt auch die BAföG-Reform dazu bei, dass Kinder aus einkommensschwächeren Familien ein Studium finanzieren und damit ihre soziale Lage verbessern können. Wir haben insbesondere die Rahmenbedingungen für Familien nachhaltig verbessert. Dazu tragen steuerpolitische Maßnahmen, die Erhöhungen des Kindergeldes, die Änderungen beim Erziehungsgeld, die Förderung von Teilzeitarbeit, die Reform der Ausbildungsförderung und die Verbesserungen beim Wohngeld bei. Durch steuerliche Entlastung und gezielte Ausgabenanhebungen sind die familienpolitischen Leistungen von 1998 bis zum Jahr 2000 ganz erheblich - nämlich um über 16 Milliarden DM - auf 95 Milliarden DM angehoben worden. Auch bei der Sozialhilfeabhängigkeit ist der Trend positiv. Der sprunghafte Anstieg der Sozialhilfeempfängerzahlen konnte gebrochen werden. Die Empfängerzahlen sind seit 1998 rückläufig. Mit zielgenauen Schritten, z.B. im Rahmen der „Hilfe zur Arbeit“ 22 Armut und Gesundheit (HzA), oder der Modellprojekte zur Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und den Trägern der Sozialhilfe muss bei Sozialhilfeempfängern der Zugang zu Erwerbsarbeit weiter gefördert werden. Zum Abschluss will ich noch auf die Bemühungen auf europäischer Ebene eingehen. Die Mitgliedstaaten der EU haben im Juni 2001 Nationale Aktionspläne zur Armutsbekämpfung vorgelegt, die die Strategien und Maßnahmen, die diese im Zeitraum von 2001 bis 2003 umsetzen wollen, beschreiben. Der deutsche „Nationale Aktionsplan“ hat insbesondere die Integration in den Arbeitsmarkt und Qualifizierung und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zum Schwerpunkt. Er konzentriert sich dabei vor allem auf langzeitarbeitslose Sozialhilfeempfänger, niedrig Qualifizierte, Schwerbehinderte sowie Migrantinnen und Migranten und Frauen, die eine wichtige Zielgruppe bei der Bekämpfung von Armut sind. Das in diesem Zusammenhang praktizierte Verfahren der offenen Koordinierung bietet eine gute Grundlage für die Diskussion auf der europäischen Ebene. Damit wird die Politik zur Förderung des sozialen Zusammenhalts in der EU gestärkt. Aber auch die nationale Politik erhält wichtige Impulse. Gleichzeitig bleibt genügend Flexibilität für regional und lokal unterschiedliche Strategien bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Mein Fazit lautet: Wir werden - und müssen - auch künftig unsere Politik der Armutsvermeidung und Armutsbekämpfung fortsetzen. Und zwar sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. Wir werden diesen Kurs schon allein aus sozialen Gründen halten - das ist für mich als Sozialpolitikerin eine Selbstverständlichkeit. Wir werden diesen Kurs aber auch einhalten, weil wir wissen, dass er dem wichtigsten Gut dient, das die Menschen haben: ihrer Gesundheit. Gesundheitsziele gegen Armut – Eine Einführung 23 Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Die soziale Stadt Achim Großmann Einleitung Ich freue mich, diesen Textband zum 7. Kongress „Armut und Gesundheit“ mitgestalten zu können. Wäre vor wenigen Jahren jemand auf die Idee gekommen, einen Vertreter des Bauministeriums zu einem Kongress zu diesem Thema einzuladen? Wohl kaum. Heute ist das anders. Das liegt u. a. daran, dass die neue Regierung diesen Themen eine größere Bedeutung zukommen lässt. Hinzu kommt, dass wir verschiedene Politikbereiche besser miteinander vernetzen. Nur so werden wir effizienter, nur so können wir komplexere Probleme angehen. Und insofern ist es mir eine besondere Freude, unseren neuen integrativen Politikansatz des Programms „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Die soziale Stadt“ vorstellen zu dürfen. Die soziale Stadt – Leitprogramm der Städtebauförderung Die starken sozialen und ökonomischen Veränderungen der vergangenen Jahre haben ihre Auswirkungen auch auf die Städte in Deutschland gehabt. In immer mehr Stadtteilen verschärfen sich soziale, wirtschaftliche und städtebauliche Probleme. Die Rahmenbedingungen in den Städten haben sich durch die hohe Arbeitslosigkeit, die Zunahme einkommensschwacher Haushalte, zunehmende Perspektivlosigkeit unter Jugendlichen sowie steigende Jugendarbeitslosigkeit und steigendem Ausländeranteil erheblich verändert. Vor allem in den Großstädten sind bei mancherorts auftretender sozialräumlicher Konzentration von Arbeitslosigkeit, Armut, Hilfsbedürftigkeit und Verwahrlosung des öffentlichen Raums Problemviertel entstanden. Ein wachsender Teil der Bewohnerinnen und Bewohner ist wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten wie Dauerarbeitslosigkeit und entsprechenden Konsequenzen ausgesetzt, andere, Familien mit Kindern, Besserverdienende und sozial stabilere Gruppen ziehen weg. Die für jedes Quartier wichtige soziale Mischung ging so verloren, die Bereitschaft der Bewohner, sich zu engagieren und ihr Umfeld mitzugestalten, nahm stark ab. Diese Trends führten zu sozialen Problemlagen und der Bildung sozialer Brennpunkte. Ein Blick ins Ausland, etwa nach Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden zeigt, wie komplex die Ursachen sozialer Brennpunkte sind. Noch sind die sogenannten „überforderten Nachbarschaften“ bei uns die Ausnahme. Es besteht aber dringender Handlungsbedarf. Die Bundesregierung stellt sich dieser Verantwortung. Allerdings sind die komplexen Aufgaben in schwierigen Stadtquartieren mit den herkömmlichen, sektoral orientierten Instrumenten und den hoch arbeitsteiligen Verfahren nicht zu lösen. Was wir brauchen, ist eine andere, problemorientierte Administration, eine neue lokale Verwaltungsstruktur, eine offene, dialogorientierte Formulierung und Umsetzung von Stadtentwicklungspolitik. Die Bundesregierung hat reagiert und 1999 das neue Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - Die soziale Stadt“ ins Leben gerufen. Im Unterschied zur klassischen Städtebauförderung stehen nicht bauliche Fragen im Vordergrund, sondern die Frage, ob und wie unsere Städte künftig lebenswerter werden und wie sozial gefährdeten Nachbarschaften geholfen werden kann. Eine moderne und nachhaltige Stadterneuerungspolitik muss bauliche und soziale Prozesse bündeln. Ge- 24 Armut und Gesundheit fördert werden beispielsweise investive Maßnahmen in den Bereichen Bürgermitwirkung, Stadtteilleben, Lokale Wirtschaft, Arbeit und Beschäftigung, Quartierszentren, soziale, kulturelle und bildungsbezogene Infrastruktur, Wohnen, Wohnumfeld und Ökologie sowie das vor Ort tätige Quartiersmanagement. Für das Programm „Die soziale Stadt“ wurden im Bundeshaushalt 1999 und 2000 jährlich 100 Millionen DM und für 2001 und 2002 je 150 Millionen DM Bundesmittel zur Verfügung gestellt. Mit den ergänzenden Mitteln von Ländern und Gemeinden (insgesamt zwei Drittel) standen und stehen damit in den ersten vier Programmjahren insgesamt 2 Milliarden DM für die Umsetzung des Programms bereit. In das Bund-Länder-Programm „Die soziale Stadt“ wurden bisher 249 Maßnahmen in 184 Gemeinden aufgenommen (davon 34 Neuaufnahmen im Jahr 2001). Die Mittel aus dem Bundesprogramm „Die soziale Stadt“ können nicht alle Maßnahmen des integrierten Handlungsansatzes abdecken; dazu bedarf es der Bündelung mit Programmen aus anderen Politikbereichen auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene. Wir haben die „Ressourcenbündelung“ immer wieder zum Thema gemacht und sind zwischenzeitlich mit unseren Anstrengungen ein gutes Stück voran gekommen. Auf Bundesebene wurde mit anderen beteiligten Bundesressorts vereinbart, eigene Programmressourcen in die stadtentwicklungspolitische Aufgabe einzubringen. Dazu einige Beispiele: • BMVBW: Wichtige Beiträge unseres Hauses sind zum einen die Wohngeldreform, durch die die Wohngeldleistungen seit Januar 2001 spürbar verbessert und familiengerechter gestaltet wurden. Mit der Reform des Wohnungsbaurechts wird sich die Förderung ab dem 1. Januar 2002 auf die Haushalte konzentrieren, die Unterstützung wirklich benötigen. Durch Wohnraummodernisierungsprogramme helfen wir, die Wohnqualität im Bestand zu steigern. Bessere Wohnverhältnisse wirken sich positiv auf die Gesundheit und auf das Wohlbefinden der Bewohner aus. Ferner können mit Mitteln des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetztes auch bauliche Investitionen wie z. B. Haltestellen finanziert werden. • BMFSJF: Das Programm „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten – Programm E & C“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bezieht sich als komplementär konzipiertes Programm gezielt auch auf die im Rahmen des Programms „Die soziale Stadt“ ausgewählten Stadtteile. Das Programm sensibilisiert und mobilisiert den gesamten Bereich des Kinderund Jugendplans des Bundes, um entsprechende Maßnahmen vorrangig auf die ausgewählten Stadtteile zu konzentrieren. • BMI: Wichtige und vielversprechende Ansätze für integrative Maßnahmen bieten im Aussiedlerintegrationsprogramm des Bundesministeriums des Innern Programminhalte wie Sport mit Aussiedlern, mobile und stationäre Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und gemeinwesenorientierte Integrationshilfen. • BMA: Die aktive Arbeitsmarktpolitik aus dem Ressortbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, insbesondere in Bezug auf Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen sowie das Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit können Projekte der „sozialen Stadt“ wirksam unterstützen. Die Bundesanstalt für Arbeit hat in einem Runderlass an die Arbeitsämter auf Gesundheitsziele gegen Armut – Eine Einführung • • • 25 diese Verzahnungsmöglichkeiten hingewiesen. Interessante Ansätze kann auch die „Freie Förderung“ nach dem Arbeitsförderungsgesetz bieten. Dieses Instrument eröffnet Spielräume für neuartige Fördersysteme und dient insbesondere zur Integration von Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten in das Beschäftigungssystem. Zielgruppe sind auch Jugendliche und dabei insbesondere ausländische Jugendliche. BMWi: Schließlich bieten die im Ressortbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie angesiedelten wirtschaftlichen Förderprogramme zur Investitionsförderung, Existenzgründung von Unternehmen, zum Umweltschutz und zur Energieeinsparung im Einzelfall Ansatzpunkte, um Maßnahmen im Rahmen des Programms „Die soziale Stadt“ mitzufinanzieren. BMBF: Forschungsprogramm Bauen und Wohnen im 21. Jahrhundert. Zusätzlich können noch EU- Strukturfondsmittel zur Verstärkung dieser Programme beitragen. Jedoch ist für den Erfolg des Programms „Die Soziale Stadt“ nicht in erster Linie die Höhe der Finanzhilfen entscheidend. Das Programm lebt von der Bereitschaft aller Akteure, den Entwicklungsprozess im Stadtteil kooperativ mitzugestalten. Tragfähige Lösungen sind das Ergebnis einer konstruktiven Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten. Die Aktivierung von Eigeninitiative, von Selbsthilfepotenzialen, die Entwicklung eines gemeinsamen Bewusstseins und die Festigung von nachbarschaftlichen Netzen sind zentrale Elemente des Programms. Die Verwirklichung der Projekte wird sowohl von den Akteuren im Stadtteil, der Quartiersbevölkerung, lokalen Initiativen, freien Trägern, Privatwirtschaft und Wohnungsunternehmen, Vereinen und Verbänden, als auch von Politik und Verwaltung unterstützt. Eine wichtige Voraussetzung, dass sich die Bewohner aktiv in den Prozess einbringen, am Erwerbsleben teilnehmen können, ist eine gute Gesundheit. Deshalb müssen wir auch den sich oftmals aus kritischen sozialen Verhältnissen ergebenden gesundheitlichen Benachteiligungen entgegen wirken. Einmal tragen sicher die bereits erwähnten verbesserten Wohnverhältnisse und die Wohnumfeldgestaltung dazu bei. Ein Spiel-, Bolz- oder Sportplatz verschafft Kindern und Jugendlichen eine Alternative zum Fernsehkonsum. Hier können sie sich bewegen, entfalten und soziales Verhalten lernen. Straßenentsiegelungen, Hofbegrünungen, öffentliche Grünflächen und attraktiv gestaltete öffentliche Räume sorgen für ein gesünderes Umfeld und Erholungsmöglichkeit in unmittelbarer Umgebung. Pfiffige und didaktisch gut vorbereitete Informationsveranstaltungen beispielsweise an Schulen müssen Kinder und Jugendliche an Themen der Gesundheitsvorsorge und – förderung heranführen. Das gilt auch für die anderen Bewohner, auch sie müssen wir mit Angeboten zur Gesundheitsförderung und –bildung erreichen. Wir sind hier noch ganz am Anfang, erst wenige Projekte wurden in diesem Bereich initiiert, aber das Programm „Soziale Stadt“ ist ja auch ein lernendes Programm. Zwei Maßnahmen werden heute Nachmittag vorgestellt. Die Gesundheitswerkstatt Hamburg-Jenfeld bemüht sich um eine stadtteilbezogene Gesundheitsförderung und –bildung und gibt den Bewohnerinnen und Bewohnern die Möglichkeit, sich über Gesundheitsbelange zu informieren und auch persönliche Bera- 26 Armut und Gesundheit tung in Anspruch zu nehmen. In Gelsenkirchen/Bismarck wurde 1997 das Gesundheitshaus eröffnet, welches sich als Ort der Information, Gesundheitsbildung, Prävention und Gesundheitsförderung versteht. Bei diesem Projekt wurden zwei Landesprogramme verknüpft, um ein integriertes Handlungskonzept zu entwickeln und zusätzliche Synergieeffekte zu erzielen. Sicher werden die Referentinnen über interessante Erfahrungen und erste Ergebnisse berichten. Zusammenfassung und Ausblick Die Bundesregierung hat für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung drei Instrumente zu einem Gesamtkonzept verknüpft. Dies sind die klassische Städtebauförderung, das Programm „Soziale Stadt“ und auf Grund der besonderen Situation in den neuen Ländern das Programm „Stadtumbau Ost“. Diese Neuerungen in der Stadtentwicklungspolitik müssen sich nach und nach etablieren. Im Mai 2002 haben wir zur Konferenz Soziale Stadtentwicklung eingeladen, in der wir insbesondere die Perspektiven der Sozialen Stadtentwicklung aufgezeigt haben. Der Kongress hat darüber hinaus unsere Arbeit für die Soziale Stadt im gesellschaftspolitischen Kontext diskutiert. Wir wollen deutlich machen, dass das Programm „Die soziale Stadt“ Teil eines breiten politischen Ansatzes ist. Dieser Ansatz zielt darauf ab, den Bürgern in einer Zeit struktureller Umbrüche vor allem in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld Sicherheit, Orientierung und Perspektive zu bieten und den Menschen zugleich die Mitwirkung an lokalen Prozessen zu ermöglichen. Bundeskanzler Schröder hat diesen Ansatz mit dem Begriff „Zivilgesellschaft“ umschrieben. Armut und Gesundheit – ein oft verdrängter Zusammenhang Birgit Fischer Das Thema „Armut“ oder sogar „Armut und Gesundheit“ wurde bis in die jüngste Vergangenheit aus der öffentlichen Diskussion weitgehend ausgeklammert und vielleicht ein-, zweimal im Jahr skandalisierend aufgegriffen. Der Zusammenhang von Armut und Gesundheit beschreibt eine Realität in einem reichen Industrieland, über die viele nicht gerne sprechen, ein Zusammenhang der oftmals auch verdrängt wird. Dies scheint sich gegenwärtig zu ändern. Das Bewusstsein für diese Problematik ist gestiegen. Ich nenne hier nur beispielhaft: • Die Kinder- und Jugendberichte von Bund und Ländern, vor allem aber den ersten Armuts- und Reichtumsbericht, den die Bundesregierung vorgelegt hat. • Die Sozialberichterstattung des Landes Nordrhein-Westfalen, • die Armutsberichte der Freien Wohlfahrtspflege, • den Forschungsbericht des AWO-Bundesverbandes „Gute Kindheit – schlechte Kindheit“, der Armut und Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen beleuchtet. Es ist sicher auch ein Verdienst der Autoren dieses Bandes, verhältnismäßig frühzeitig auf dieses Thema aufmerksam gemacht zu haben. Mit Veröffentlichungen wie dieser Gesundheitsziele gegen Armut – Eine Einführung 27 werden wichtige Anstöße nicht nur zum Beschreiben und Analysieren von Zusammenhängen zwischen Armut und Gesundheit gegeben. Es besteht vielmehr darüber hinaus die Chance, vor allem denkbare gesellschaftliche Gegenstrategien zu entwickeln. Daten und Fakten Armut - und ich möchte den Begriff auf den Bereich der sozialen Benachteiligung erweitern - betrifft überwiegend Menschen, die den unteren sozialen Schichten zuzurechnen sind, und zwar bezogen auf ihre sozio-ökonomische Lage und ihre Lebenschancen im Zusammenhang mit ihrer Stellung im Beruf, der Einkommens- und Vermögenssituation sowie den Bildungsgrad. Betroffen sind ebenso besonders belastete Bevölkerungsgruppen, wie z.B. allein Erziehende oder ältere allein stehende Frauen sowie die Gruppe der Migrantinnen und Migranten. Es ist keine Frage - dies belegen insbesondere internationale Studien – , dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht sowie schwierige soziale Lebenssituationen einer Krankheit Vorschub leisten bzw. ihren Verlauf negativ beeinflussen können. Allerdings müssen wir dabei feststellen, dass es in Deutschland bisher keine repräsentative sozialepidemiologische Datenbasis zum Thema soziale Ungleichheit und Gesundheit gibt und somit kaum durch wissenschaftliche Untersuchungen gesicherte Erkenntnisse vorliegen. Dennoch gibt es eine Reihe überzeugender Belege dafür, dass ein entsprechender Zusammenhang besteht. Das Robert-Koch-Institut, das für die Gesundheitsberichterstattung des Bundes verantwortlich ist, hat durch das kürzlich erschienene Heft „Armut bei Kindern und Jugendlichen“ aufgezeigt, welche gesundheitlichen Auswirkungen Armut im Kindes- und Jugendalter hat. Die Auswirkungen sozialer Ungleichheit und Armut auf den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen beziehen sich sowohl nur auf die körperliche Leistungsfähigkeit als auch auf die psychosoziale Gesundheit, der aus entwicklungspsychologischer Sicht eine große Bedeutung zukommt. Festzustellen ist: • Die Säuglingssterblichkeit liegt bei Kindern aus unteren sozialen Schichten deutlich höher als bei denen aus oberen Schichten. • Die Impfrate hängt auch vom sozialen Status der Eltern ab. • Die Möglichkeiten zur Früherkennung von Krankheiten werden von Eltern mit niedrigem Bildungsstand seltener genutzt. • Kinder aus sozial schwachen Schichten weisen erhöhte Kariesbefunde auf. • Die Rate der bei Unfällen getöteten Kinder ist in unteren sozialen Schichten doppelt so hoch wie bei Kindern aus den oberen sozialen Schichten. Auch für andere Bevölkerungsgruppen bestehen objektiv nachweisbare Einflüsse sozialer Ungleichheit auf Gesundheit und Krankheit. Ich nenne hier nur die Gruppe der obdachlosen Menschen und die Zuwanderer. In diesem Band wird sich umfassend mit den unterschiedlichen Fragen zur Prävention und zur kurativen Gesundheitsversorgung ausgegrenzter oder benachteiligter Bevölkerungsgruppen auseinander gesetzt. 28 Armut und Gesundheit Gegenstrategien Abgestimmtes Handeln ist auf allen politischen Ebenen erforderlich. Dazu gehört nicht zuletzt die Gesetzgebung des Bundes im Bereich der Gesundheitspolitik. Hier ist ganz vorrangig die Sozialgesetzgebung von Bedeutung, insbesondere das SGB V. Besonders zu nennen sind hier z.B. § 20 Abs. 1 SGB V sowie § 65 b SGB V. Das Gesundheitsreformgesetz 2000 hat an die Krankenkassen – insbesondere bezogen auf die Prävention – neue Anforderungen gestellt. Neben der Sicherstellung von Qualität und Transparenz sind die Kassen gefordert, einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit zu leisten. Dies ist im § 20 Abs. 1 SGB V ausdrücklich geregelt. Der § 65 b SGB V regelt die Förderung von Einrichtungen zur Verbraucher- und Patientenberatung. Auch diese Einrichtungen – so meine Hoffnung – sollten ihre Informationsund Aufklärungsarbeit schwerpunktmäßig auf sozial benachteiligte Menschen konzentrieren. Hilfreich ist sicherlich auch, dass der Bund durch die Förderung der Geschäftsstelle bei der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und Gestaltung (GVG) die Voraussetzungen für die Formulierung von Gesundheitszielen unterstützt. Zu den ersten Gesundheitszielen, die entwickelt werden sollen, gehört auch das Ziel, die gesundheitliche Kompetenz von Bürgerinnen und Bürgern sowie Patientinnen und Patienten zu stärken. Zudem wurde festgelegt, dass bei der Entwicklung aller Gesundheitsziele als wichtige Querschnittsaufgabe auch die Herstellung gesundheitlicher Chancengleichheit zu berücksichtigen ist. In der Erarbeitung von Gesundheitszielen und Leitlinien liegt eine riesengroße Chance für Innovationen und Reformen im Gesundheitswesen anzustoßen durch ein an Ergebnissen orientiertes Arbeiten. Netzwerkbildung: Das Beispiel Nordrhein-Westfalen Im Vorwort der Herausgeber heißt es: „ Ein Schritt zur Formulierung und Umsetzung von Gesundheitszielen gegen Armut liegt im Zusammentreffen von Politik und Krankenkassen, aus Projekten und Wissenschaft, von Betroffenen und BetreuerInnen aus Sozialarbeit, öffentlichem Gesundheitsdienst, Selbsthilfe, Ärzteschaft und Pflege.“ Wir in Nordrhein-Westfalen haben bereits seit einigen Jahren Erfahrungen sammeln können bei der Netzwerkbildung im Gesundheitswesen. Bereits 1992 wurde die Landesgesundheitskonferenz NRW als Plattform für Abstimmung und Zusammenarbeit aller wesentlichen Akteure im Bereich der Gesundheitspolitik des Landes gegründet. In ihr sind alle Akteure, die im Gesundheitswesen wesentlich Verantwortung tragen - einschließlich der gesundheitlichen Selbsthilfe - vertreten. In den jährlich stattfindenden Konferenzen werden Entschließungen zu Themen von grundlegender Bedeutung verabschiedet. Wesentliche Bedeutung bei dem Verfahren hat der Vorbereitende Ausschuss der Landesgesundheitskonferenz, der sich etwa alle sechs bis acht Wochen trifft. In diesem Ausschuss werden Themen von grundsätzlicher Bedeutung beraten sowie Arbeitsgruppen installiert, die zu ausgewählten Themenfeldern Entschließungen vorbereiten (z.B. zu den zehn vorrangigen Gesundheitszielen für NRW, die die Grundlage für die nordrhein-westfälische Gesundheitspolitik bilden, zur Kindergesundheit, aber auch zu Fragen der Sozialen Lage und Gesundheit). Die Entschließungen enthalten jeweils konkrete Empfehlungen. Das Besondere an den Empfehlungen ist, dass sie nicht nur auf Papier festgehalten werden, sondern dass sie einen verbindlichen Charakter haben. Die Beteiligten des Gesundheitswesens setzen sie im Rahmen ihrer originären Zuständigkeit Gesundheitsziele gegen Armut – Eine Einführung 29 durch Selbstverpflichtung um – d. h., dass durch eine entsprechende Arbeitsteilung die Empfehlungen in die Praxis implementiert werden. Die Landesgesundheitskonferenz (LGK) ist inzwischen zu einem unverzichtbaren Gremium im Lande geworden und hat eine neue Kultur des Dialogs und der Zusammenarbeit begründet. Besonders bemerkenswert im Zusammenhang mit dem anstehenden Thema: Im Jahre 2001 hat die LGK eine Entschließung zum Thema „Soziale Lage und Gesundheit“ verabschiedet, in der es um die Schwerpunktbereiche • geschlechtsspezifische Fragen von Gesundheit, • schichtenspezifische Fragen der Gesundheit und • Migration und Gesundheit geht. Ohne hier auf Einzelheiten dieser 80-seitigen sehr fundierten Ausarbeitung eingehen zu können, möchte ich lediglich auf drei konkrete Beispiele eingehen: Mit der Aktion „Nichtrauchen macht Spaß“ sollen vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Schichten angesprochen werden. Diese Initiative steht sowohl im Zusammenhang mit der Konkretisierung der NRW-Gesundheitsziele 2 (Krebs bekämpfen) und 4 (Fortschreibung des Landesprogramms gegen Sucht) als auch mit der Umsetzung der Entschließung der Landesgesundheitskonferenz 1999 „Gesundheit für Kinder und Jugendliche“. Alle GKV-Verbände in Nordrhein-Westfalen beteiligen sich im Rahmen der Umsetzung des § 20 Abs. 1 SGB V. Beteiligt sind aber auch die anderen Partner der Landesgesundheitskonferenz. Es soll ein Anreizprogramm in Schulen installiert werden, das junge Leute belohnt, die auf das Rauchen verzichten. Junge Leute und Lehrkräfte sollen aufgefordert werden, Projektideen zu entwickeln. Tragfähige Konzepte werden prämiert. Aktionen und Programme sollen vor allem in solchen Schulen durchgeführt werden, die sich in sozial benachteiligten Stadtteilen befinden. Das Aktionsprogramm „Impfen gegen Masern, Mumps und Röteln“ soll die Bevölkerung aufklären; es sieht Fortbildungsmaßnahmen für die beteiligten Berufsgruppen sowie Absprachen mit örtlichen Initiativen vor. Vor allem die Masern gehören zu den hochansteckenden Viruserkrankungen, die in 10 bis 20 % der Fälle zu Komplikationen führen. Um die Krankheit auszurotten, müssten 95 % der Kinder zweimal geimpft werden. Dies ist jedoch weder bundesweit noch in Nordrhein-Westfalen erreicht. Zwar werden annähernd 90 % der Kinder einmal, aber nur 14 % das notwendige zweite Mal geimpft. Auch mit dieser Initiative werden vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Gruppen erreicht. Auch das Thema der gesundheitlichen Versorgung von Obdachlosen wurde aufgegriffen. Die LGK hat sich darauf verständigt, in einer auf zehn Monate angelegten Dokumentation Erkenntnisse hinsichtlich des Bedarfs, der Leistungen und der Kosten bei den bereits in mehreren Großstädten laufenden Projekten zur gesundheitlichen Versorgung Obdachloser durchzuführen. Die Ergebnisse sollen Grundlage für die Erarbeitung eines Finanzierungskonzeptes zur Beschlussfassung auf der nächsten LGK 2002 bilden. Ich erwähne diese Beispiele deshalb so ausführlich, weil dadurch zum Ausdruck kommt, dass Netzwerkarbeit zu konkreten Aktionen, Programmen und Lösungen führen kann. 30 Armut und Gesundheit Ich bin auch ein wenig stolz darauf, dass wir mit der Landesgesundheitskonferenz meiner Meinung nach ein vorbildliches und seit zehn Jahren erprobtes und bewährtes Instrument geschaffen haben, das zeigt, wie Netzwerke gebildet werden und erfolgreich arbeiten können. Ich glaube, dass wir damit in Nordrhein-Westfalen Grundlagen für den Aufbau von Gesundheitsnetzwerken geschaffen haben, die es anderen Bundesländern, die daran interessiert sind, leichter machen werden, ähnliche Strukturen zu schaffen. Grundlagen haben wir auch im Bereich der Formulierung von Gesundheitszielen gelegt. Nordrhein-Westfalen hat bereits im Jahre 1993 damit begonnen, sein Gesundheitszieleprogramm zu entwickeln. Die 4. Landesgesundheitskonferenz Nordrhein-Westfalen verabschiedete 1995 „10 vorrangige Gesundheitsziele für NRW“, die die Grundlage unserer Politik bilden. In diesen Zielen wird - sozusagen als Querschnittsaufgabe - auch auf den Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und Gesundheit eingegangen. Bisher habe ich mich in meinen Ausführungen auf die Landesebene konzentriert. Dies zeichnet ein unvollständiges Bild, da gerade auf der kommunalen Ebene erheblicher Handlungsbedarf, aber auch Handlungsmöglichkeiten bestehen. Es ist Aufgabe der Kreise und kreisfreien Städte, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der öffentliche Gesundheitsdienst seine Aufgabe der Sozialkompensation hinreichend wahrnehmen kann. Ebenso ist eine verstärkte kommunale Gesundheitsberichterstattung notwendig. Durch das am 01.01.1998 in Kraft getretene Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst für Nordrhein-Westfalen haben wir das Instrument der Kommunalen Gesundheitskonferenz etabliert, das spiegelbildlich zur Landesgesundheitskonferenz aufgebaut ist. Auch damit haben wir nicht nur die Voraussetzungen für eine verbesserte Gesundheitsberichterstattung geschaffen, sondern auch die Bildung wirksamer Netzwerke für die Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Menschen in schwierigen Lebenslagen auf örtlicher Ebene installiert. Zwar haben die Kommunen originäre sozialkompensatorische Funktionen zu erfüllen. Aber sie dürfen mit diesen Problemen nicht allein gelassen werden. Das gesamte Gesundheitswesen „im Sinne des selbstverwalteten GKV-Systems“ ist ebenfalls gefordert. Mit der gesetzlichen Einrichtung der Kommunalen Gesundheitskonferenz sind die Voraussetzungen verbessert worden, dass Netzwerke gegen Armut wirksam werden können. Meine Erfahrungen aus Nordrhein-Westfalen machen mir Mut. Mut, dass es möglich ist, durch Netzwerkbildung zu konkreten Fortschritten zu kommen. Der Teufelskreis von Gesundheit und Armut kann nur dann durchbrochen werden, wenn in konzertierten Aktionen auf der Basis konkreter Gesundheitsziele alle Beteiligten zusammenwirken. Initiativen der Netzwerkbildung und der Präzisierung von Gesundheitszielen werden mit diesem Band überzeugend dargestellt. Gesundheitsziele gegen Armut – Eine Einführung 31 Prävention und Gesundheitsförderung bei sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen Elisabeth Pott Der 7. Kongress Armut und Gesundheit hat das Thema „Gesundheitsziele gegen Armut – Netzwerke für Menschen in schwierigen Lebenslagen“. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) begrüßt und unterstützt nachdrücklich die Schwerpunktsetzung, die durch dieses Thema zum Ausdruck gebracht wird: Gesundheitsziele dienen der Konzentration und der Präzisierung von Maßnahmen und zwingen zur Festlegung auf überprüfbare Strategien der Realisierung. Da auf Bundesebene zur Zeit intensiv über nationale Gesundheitsziele diskutiert wird, verspreche ich mir durch diesen Kongress einen hilfreichen Beitrag für die Präzisierung der nationalen Gesundheitsziele in Richtung der Zielgruppe sozial benachteiligter Menschen. Soziale Netzwerke erleichtern schwierige Lebenssituationen und können, wenn sie in der Infrastruktur der Gemeinde verankert sind, einen langfristigen positiven Effekt auf die Lebenssituation sozial Benachteiligter haben. Nach den Ausführungen meiner Vorredner werde ich mich insbesondere auf Kinder und Jugendliche beziehen und darstellen, wie aufgrund der Erfahrungen der BZgA Gesundheitsförderung und Prävention sozial Benachteiligter durch die Entwicklung von Gesundheitszielen und die Unterstützung von Netzwerken realisiert werden kann. Ausgangslage In Deutschland leben rund dreizehn Millionen Kinder zwischen null und vierzehn Jahren sowie 5,5 Millionen Jugendliche zwischen 15 und 21 Jahren. Die Frage, wie viele und welche von ihnen sozial benachteiligt sind, kann nicht ohne weiteres beantwortet werden. Verschiedene Beurteilungskriterien werden angewandt: • absolute oder relative Einkommensarmut, • Unterversorgung in verschiedenen Lebensbereichen wie Arbeit, Bildung und Wohnen, • subjektive oder milieubezogene Armutsschätzung oder • sozial-emotionale Defizite. Ein leicht zugänglicher Wert ist die Anzahl von Menschen mit Sozialhilfebezug, der allerdings mit einer hohen Dunkelziffer behaftet ist und auch nur den Aspekt materieller Armut betrifft: Dies sind sieben Prozent oder 910.000 Kinder zwischen null und vierzehn Jahren und 4,3 Prozent oder 236.000 Jugendliche zwischen 15 und 21 Jahren. Nimmt man die relative Einkommensarmut als Grundlage, so sind in Westdeutschland sogar fünfzehn Prozent (Ostdeutschland acht Prozent) der unter Achtzehnjährigen betroffen. Das Robert-Koch-Institut hat im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes den Stand der Erkenntnisse über Auswirkungen von Armut bei Kindern und Jugendlichen auf die Gesundheit zusammengefasst (Robert Koch-Institut 2001). Das folgende Modell der Verknüpfung von Armut und Krankheit im Kindes- und Jugendalter von Mielck (2000) wird vorgeschlagen: 32 Armut und Gesundheit Abb. 1: Modell der Verknüpfung von Armut und Krankheit im Kindes- und Jugendalter Armut Erhöhte gesundheitliche Gefährdung von Eltern und Kindern Lebensbedingungen (Wohnbedingungen, Freizeitangebote in der Wohnumgebung) Gesundheitsverhalten (Rauchen, Ernährung) Gesundheitliche Versorgung (Nicht-Teilnahme an U1 - U9 Untersuchungen, Impfungen) Erhöhung der Morbidität (Quelle: Robert Koch-Institut 2001) Armut im Elternhaus wirkt über soziale Rahmenbedingungen (Wohnen, Freizeit, Bildung) und das Gesundheitsverhalten (Rauchen, Ernährung) sowie eine gesundheitliche Unterversorgung (Nicht-Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen) morbiditätserhöhend. Gesundheitsziele gegen Armut – Eine Einführung 33 Abb. 2: Gesundheitsverhalten der Kinder und Jugendlichen nach der sozialen Lebenslage (Altersgruppe der Zwölf- bis Sechzehnjährigen) in Prozent gerundet 60 50 40 30 20 10 Zi ga re tte n ra uc Al he ko n ho tä Zä lt gl rin hn . ke ep n ut tä ze gl n . se l Sp te TV n/ or ni Ko ts e ns el te um n/ ni > e 4 St d O .t bs äg Vo t l. se llk or lte nb n/ G ni em rot e s el üs t en e, /n ge ie ko ch H tt am äg bu l. rg er tä Ka gl Po . f f ee m m tä C es gl ol . Fr a, ite Sü s ßg tä et gl rä . nk e tä gl . 0 Armutsgruppe Übrige (Datenbasis zitiert nach Robert Koch-Institut 2001) Bezüglich des Gesundheitsverhaltens werden diese Zusammenhänge auch durch die für die deutsche Bevölkerung repräsentativen Studien der BZgA bestätigt wie z.B. die Drogenaffinitätsstudie 34 Armut und Gesundheit Abb. 3: Raucheranteil nach aktuellem Ausbildungs/Berufsstatus 12-25 Jährige in der BRD 2001 (n=3000); Angaben in Prozent R a u c h e r a n t e il: S e k u n d a rs tu fe I: H a u p t- / R e a ls c h u le G y m n a s iu m 25 19 S e k u n d a rs tu fe II: 53 B e r u f s s c h u le G y m n a s iu m 37 U n iv e r s it ä t / B e r u f : E r w e r b s t ä t ig e S tu d e n te n 49 32 (Quelle Repräsentativerhebung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durch forsa. Berlin, Januar 2001) Bundesweite Zahlen sind weniger wichtig, um sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche persönlich zu erreichen als dafür, bestehende Gesundheitsprobleme in ihrem Ausmaß beurteilen und den erforderlichen Präventionsbedarf abschätzen zu können. Letztlich sollten sich aber die Erfolge von bundesweiten Dachkampagnen sowie von kommunalen und landesweiten Maßnahmen auch auf dieser Ebene messen lassen. Um sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche direkt zu erreichen, bietet sich die Gesundheitsberichterstattung der Länder und Kommunen an, die durch eine Verknüpfung mit den Daten aus weiteren Sozialbereichen Bezirke mit besonders hohem Anteil sozial Benachteiligter erkennen und ihre Maßnahmen hierauf ausrichten können. Beispiele hierfür sind der Sozialstrukturatlas aus Berlin, in dem soziale Brennpunkte aufgrund des häufigeren Auftretens von Mortalität, Morbidität und schädlichem Gesundheitsverhalten dargestellt werden, und eine Auswertung der Einschulungsuntersuchung in Köln. In Stadtbezirken mit höherer Sozialhilfeempfänger-Dichte gibt es sowohl mehr Kinder mit Adipositas als auch mit grobmotorischen Koordinationsstörungen. Hier können verstärkt Gesundheitsförderungsprojekte eingesetzt werden. Gesundheitsziele gegen Armut – Eine Einführung 35 Abb. 4: Adipositas und grobmotorische Koordinationsstörung in Abhängigkeit von Sozialhilfeempfänger-Dichte in Prozent für Sechs- bis Vierzehnjährige Kinder (SHE bei Einschülern) 1996 20 18 17,3 16 14,2 14,2 14 11,8 12 10 Adipositas 8 6,9 6 4 Grobmot.Koord.-Störung 5,8 5,8 4,2 2 0 0 bis 9% 10 bis 16 % >= 17% alle Sozialbezirk (Quelle: Mersmann 1998) Bestehende Projekte Welche Erkenntnisse und Erfahrungen gibt es nun bezüglich der Realisierung von Interventionen mit dem Ziel, die gesundheitliche Situation sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher zu verbessern? Seit Mitte der Neunziger Jahre sind mehrere Versuche unternommen worden, einen Überblick hierüber zusammenzustellen. So wurde von der BZgA der Abschlussbericht des deutschen Teilprojektes des European Network of Health Promotion Agencies (ENHPA) vorgelegt. Es handelt sich um eine bundesweite Recherche (ca. 200 Institutionen wurden angeschrieben). 42 Projekte mit gut dokumentierten Interventionsmaßnahmen wurden erfasst. Hinsichtlich der Zielgruppe befassen sich die meisten Projekte mit Kindern und Jugendlichen (Siegrist und Joksimovic 2000). Darüber hinaus liegen landesweite Erhebungen aus Baden-Württemberg (115 Projekte) (Sozialministerium Baden-Württemberg 1996) und Niedersachsen (83 Projekte) (Waller et al. 2001) vor. Im Bereich der Krankenkassen wird zur Zeit ein kassenartenübergreifendes Modellprojekt im Setting Schule begonnen (AOK-Bundesverband 2001). Ein Mitte September 2001 von der BZGA veranstalteter Expertenworkshop kam zu dem Ergebnis, dass ein umfassender Überblick über die in Deutschland laufenden und abgeschlossenen Interventionen, nach Zielgruppen, Settings, Interventionstypen, beteiligten Akteuren und Ergebnissen - ausgehend von den bestehenden Übersichten - noch zu erstellen ist. Die Schaffung eines solchen Überblicks erfordert zusätzlich aufsuchende Forschung, da viele der Projekte nur in geringem Umfang oder gar nicht evaluiert wur- 36 Armut und Gesundheit den. Die vorhandenen Ergebnisse sollten zusammengeführt und ein kontinuierlich zu aktualisierendes Berichtswesen aufgebaut werden. Es sollten Handlungshinweise für die Durchführenden bestehender und potentielle Initiatoren neuer Interventionsprojekte erarbeitet werden. Konzepte Die BZgA hat auf der Grundlage der bestehenden Daten und unter Einbeziehung wissenschaftlicher Expertisen folgende Probleme für Kinder als zentral und präventiv beeinflussbar festgehalten: Gesundheit von Kindern - zentrale Probleme • Störungen der motorischen Entwicklung und Koordination, • Sprech- bzw. Sprach-, Hör und Sehstörungen, • Adipositas und problematisches Ernährungsverhalten (Fehlernährung), • Unfälle, • Konzentrationsstörungen, • Verhaltensauffälligkeiten, Aggressivität, • geringe Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen und Impfungen (Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 1998) Die Gesundheitsförderung im Kindesalter sollte sich nach folgenden dargestellten Leitlinien richten: Leitlinien der Gesundheitsförderung im Kindesalter Maßnahmen und Initiativen der Gesundheitsförderung im Kindesalter mit dem Ziel der Vermittlung gesundheitsbezogenen Wissens und der Motivation zu gesundheitsförderlichem Verhalten • erfolgen unter Zielgruppenbezug und Lebensweltorientierung; • knüpfen an spezifischen Entwicklungsphasen an; • beziehen - neben problemorientierten Ansätzen - Ansätze der Kompetenzförderung ein; Kompetenzförderung richtet sich nicht nur an Kinder, sondern ebenso an Eltern oder Professionelle; • legen - unter Berücksichtigung der Verschränkung der einzelnen Aspekte von Entwicklungs- und Gesundheitsstörungen - Strategien zugrunde, die miteinander zusammenhängende Probleme bündeln und gleichzeitig angehen; • berücksichtigen Geschlechterdifferenzen und binden geschlechtsspezifische Ansätze ein; Gesundheitsziele gegen Armut – Eine Einführung 37 • Richten besonderes Augenmerk auf sozial benachteiligte Familien sowie andere schwer erreichbare, aber hoch belastete soziale Gruppen - hier sind lebensweltorientierte Ansätze besonders wichtig; • bemühen sich - mit Blick auf die schwierige Erreichbarkeit gerade wichtiger Zielgruppen - um die Nutzung vorhandener vielfältiger Zugangswege; • legen Wert auf langfristige Strategien und frühzeitig anzusetzende primärpräventive Maßnahmen. (BZgA 1998) Welche Besonderheiten sind nun für die Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten zu berücksichtigen? Zunächst sollte nicht vergessen werden, dass gesundheitliche Ungleichheit aufgrund sozialer Benachteiligung nicht in erster Linie im Gesundheitsbereich, sondern durch andere Politikbereiche (Wohnung, Bildung, Arbeit, Freizeit) beeinflusst wird. Das heißt: Interventionen bei sozial Benachteiligten sind immer auch eine Angelegenheit anderer Politikbereiche und können nicht allein vom Gesundheitsbereich geschultert werden. Es ist eine enge Vernetzung zwischen den verschiedenen Politikbereichen zu fordern. Für den Gesundheitsbereich stehen zwei Probleme im Vordergrund: Die schwierige örtliche Erreichbarkeit und die Form der Ansprache, die tatsächlich zu einer langfristigen Änderung der Lebensweise führt. Besonders günstig sind daher der Kindergarten und Kindertagesstätten sowie die Schule, weil hier fast alle Kinder und Jugendlichen anzutreffen sind. Dies verhindert auch eine Stigmatisierung sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher. Um Nachhaltigkeit zu erzeugen scheint es besonders wichtig zu sein, dafür zu sorgen, dass Gesundheits-, Entwicklungs- und Erziehungskonzepte von Eltern und Kindergärten sowie Schulen zusammenkommen. Aus der Sichtweise der Kinder und Eltern besteht die gesamte Lebenswelt der Familie aus unterschiedlichen Zonen: • der Arbeitswelt der Eltern, • dem Stadtviertel, • den Behörden und Ämtern der Gemeinde, • den familiären Bezügen, • dem Freizeitbereich, • der ärztlichen Versorgung, • der Öffentlichkeit z.B. mit ihren Werbebotschaften u.s.w. Es erscheint daher aussichtsreich, eine Vernetzung dieser verschiedenen Bereiche mit dem Ziel der Gesundheitsförderung herbeizuführen, wie dies erfolgreich im Projekt der ortsnahen Koordinierung in Nordrhein-Westfalen erreicht wurde. 38 Armut und Gesundheit Organisationsstruktur der Projektkomponente “Hüpfdötzchen – Kindergarten in Bewegung” Arbeitskreis “Prävention im Kindes- und Jugendalter” Deutsche Sporthochschule Köln, Institut für Sportsoziologie Entwicklung der wissenschaftliche Begleitung AG der Betriebskrankenkassen im Kreis Projektkonzeption und Evaluation Neuss AG der Verbände der freien Wohlfahrtspflege im Kreis Neuss AOK Rheinland, Regionaldirektion Neuss Apothekerkammer Nordrhein Kreis Neuss Ärztekammer Nordrhein der gesundheitlichen und sozialen Versorgung im Kreis Neuss Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche Neuss Koordination sämtlicher Maßnahmen Deutsche Sporthochschule - Institut für Sportsoziologie IKK Nordrhein, Regionaldirektion Düsseldorf und Neuss Projekt Krankengymnasten und Motopäden “Hüpfdötzchen” Kreisgesundheitsamt Neuss Kreisjugendamt Neuss Kreissportamt Neuss Kreissportbund Neuss Kindergärten im Kreis Neuss Rheinischer Turner Bund etc. Durchführung der Maßnahmen (Quelle: Rittner 2001) Die BZgA wird im Jahr 2002 den Ansatz der Vernetzung aufgreifen und konzeptionell weiterentwickeln. Dies wird in Kooperation mit dem Bundesmodellprogramm „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ geschehen. Die Initiative gilt Stadt- und Ortsteilen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Menschen. 262 Gebiete mit besonderem Entwicklungsbedarf in 249 Stadtteilen und dreizehn Landkreisen werden in der Stadtentwicklung unterstützt z.B. Wohnungs-, Wirtschafts-, Verkehrs- und Arbeitsmarktpolitik. Die BZgA wird prüfen, auf welche Weise der Präventions- und Gesundheitsförderungsaspekt eingebracht werden kann. Strategien wie Sie meinen Ausführungen entnehmen können, ist bei dem schwierigen Problem der Gesundheitsförderung sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher der „Stein des Weisen“ noch nicht gefunden. Es gilt – auch angesichts begrenzter Ressourcen – die vorhanden Erkenntnisse und Erfahrungen zu bündeln, auszuwerten und gleichzeitig verstärkt in Gebieten mit einem hohen Anteil sozial Benachteiligter aktiv zu werden. Die BZgA hat daher für das Jahr 2002 folgendes Vorgehen vorgesehen: 1. Schaffung eines Überblicks über nationale und internationale Projekte mit dem Ziel der Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen und die Entwicklung evidenzgeprüfter Ansätze in Zusammenarbeit mit den in diesem Bereich aktiven Praxis- und Theorieexperten. Gesundheitsziele gegen Armut – Eine Einführung 2. 3. 39 Verstärkter Einsatz bereits erprobter Projekte der BZgA in Orten mit hohem Anteil sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher: z.B. Kinderliedertour (Ernährung und Bewegung), Kindergesundheitsausstellung in Kooperation mit dem Kindermuseum Berlin, Gut drauf-Ausstellung und Gut-drauf-Projekte in Jugendfreizeiteinrichtungen und bei Jugendreisen sowie Fernsehprojekte, ebenso verstärkte Bewerbungsmaßnahmen für die Kinderfrüherkennungsuntersuchungen und die Jugendgesundheitsuntersuchung (BZgA 2001). Fortsetzung der Entwicklung und Aktualisierung der bekannten Medien der BZgA für Kinder, Jugendliche, Eltern und Multiplikatoren in den Bereichen Entwicklungsunterstützung von Kindern und Jugendlichen, AIDS- und Suchtprävention sowie Sexualaufklärung und Familienplanung. Sämtliche Medien sind zielgruppenspezifisch ausgerichtet und so allgemeinverständlich gehalten, dass sie auch von Menschen mit niedrigem Bildungsniveau gelesen und verstanden werden können. Sowohl von den Fachheften „Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung“ (z.B. Epidemiologischen Grundlagen der Gesundheit von Kindern, Band 3), den Konzepten als auch den Medien der BZgA können Sie sich am Stand der BZgA einen persönlichen Eindruck verschaffen. Ich wünsche mir sehr, dass der Beitrag der BZgA mit dazu dient, dass wir gemeinsam der Lösung des schwierigen Problems näher kommen, mehr Gesundheit gerade dort zu erreichen, wo ein besonderer Bedarf besteht. Literatur: AOK-Bundesverband [2001]: Prävention für sozial Schwache – Dauerbrenner oder Strohfeuer im Kassen-Wettbewerb? Dokumentation des Expertenhearings am 19.10.2001 in Köln. Bonn. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.) [1998]: Gesundheit von Kindern – Epidemiologische Grundlagen. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung. Köln. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)[(2001]: BZgA Jahresbericht 2000. Köln. Mersmann, H. [1998]: Gesundheit von Schulanfängern – Auswirkungen sozialer Benachteiligung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.) [1998]: Gesundheit von Kindern – Epidemiologische Grundlagen. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung. Köln. Mielck, A. [2000]: Soziale Ungleichheit und Gesundheit – Empirische Ergebnisse, Erklärungsansätze, Intervertionsmöglichkeiten. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle; Huber. Rittner, V. [2001]: Gesundheitsförderung im Vorschulalter – Möglichkeiten kommunaler Zusammenarbeit. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.) Früh übt sich – Gesundheitsförderung im Kindergarten. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung. Köln. Robert Koch-Institut (Hrsg.) [2001]: Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Armut bei Kindern und Jugendlichen. 03. Siegrist, J., Joksimovic, L. [2000]: „Tackling Inequalities in Health“ – ein Projekt des „European Network of Health Promotion Agencies“ (ENHPA) zur Gesund- 40 - - Armut und Gesundheit heitsförderung bei sozial Benachteiligten. Abschlußbericht für das deutsche Teilprojekt im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Köln. Sozialministerium Baden-Württemberg [1996]: Gesundheitsförderung mit sozial Benachteiligten – Eine Bestandsaufnahme von Initiativen, Projekten und kontinuierlichen Angeboten. Stuttgart. Waller H. et al., [2001]: Armut und Gesundheit – Bestandsaufnahme, Bewertung und Entwicklung von gesundheitsbezogenen Interventionsprojekten in Niedersachsen. Schlußbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung. Lüneburg. (Informationen über die aktuellen Medien der BZgA sowohl der Fachheftreihe „Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung“, der „Konzepte“ als auch der Reihe „Gesundheitsförderung konkret“ sind im Internet unter www.bzga.de/Fachpublikationen als pdf-Datei verfügbar. Die InfoDienste „Migration und öffentliche Gesundheit“ sowie „Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung“ stellen eine Plattform für Informationen und Erfahrungsaustausch für alle Akteure in der Gesundheitsförderung bereit. (Informationen unter: www.infodienst.bzga.de). Darüber hinaus sind unter www.bzga.de aktuelle Informationen zu den verschiedenen Aufgabenbereichen und Aktivitäten der BZgA zu finden.) „Trialog“ in der Gesundheitspolitik Ingeborg Junge-Reyer Der große Widerhall, den der Kongress „Gesundheitsziele gegen Armut“ auch im Dezember 2001 gefunden hat, ist Ausdruck der großen – und immer größer werdenden gesellschaftlichen Bedeutung, die das Thema „Armut und Gesundheit“ auch in unserem Land erlangt hat. Da der Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit auch in heutiger Zeit und dazu in einem vergleichsweise reichen Land wie dem unseren eine Rolle spielt, ist die Auseinandersetzung zu dieser Problematik eine ständige Herausforderung. Auch ich halte den in diesem Buch angemahnten „Dialog mit der Politik“ für sehr wichtig. Eigentlich ist es ja ein „Trialog“, denn es gehören zu diesem Gespräch neben den Betroffenen und den Politikern alle „Akteure des Gesundheitswesens“ mit dem letztendlichen Ziel, die sozial ungleichen Gesundheitschancen abzubauen. Ausdruck dessen ist die aktive Teilnahme von Mitarbeitern der Senatsverwaltung an diesem Kongress. Der Berliner Senat räumt der Gesundheitspolitik hohe Priorität ein. Der Gesundheitsvorsorge wird dabei immer größere Bedeutung beigemessen. Gesundheitsförderung und Prävention werden ausgebaut. In Zusammenarbeit mit den Krankenkassen, Gesundheit Berlin e.V. und weiteren Akteuren planen wir eine abgestimmte Gesundheitsförderung, die insbesondere die Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen zum Ziel hat. Gesundheitsziele gegen Armut – Eine Einführung 41 Auch wurde in einem zweijährigen Prozess – zunächst auf informeller Ebene, dann im Rahmen eines Initiativkreises, ein Frauengesundheitsnetzwerk konzipiert, dass sich im Dezember 2001 gegründet hat. Der Senat hat diesen Prozess aktiv begleitet. Seinen guten Ausdruck finden solche Aktivitäten auch auf anderer Ebene. Ich darf beispielsweise an den beim Bundesgesundheitsministerium eingerichteten Arbeitskreis “Armut und Gesundheit“ ebenso erinnern wie an die „Allianz für Gesundheitsförderung in Deutschland“ und - nicht zuletzt – an die Aktivitäten in Folge des „Ersten Armutsund Reichtumsberichtes“, den die Bundesregierung 2001 vorgelegt hat. Ein Armutsbericht für Berlin ist kurz vor der Fertigstellung. Der Berliner Armutsbericht wird das besondere Armutsrisiko bestimmter Regionen sowie von besonders betroffenen Personengruppen belegen und – so hoffe ich – dadurch einen zusätzlichen Beitrag zu einer auf Fakten gestützten Diskussion leisten. Erste Ergebnisse unserer bisherigen Armutsberechnungen liegen bereits vor. So sind in Berlin mehr als 12 % der Bürger und mehr als 11 % der Privathaushalte von Armut betroffen; die Armutsanteile bei den ausländischen Privathaushalten und generell bei Haushaltsgrößen von 5 und mehr Personen sind ebenso wie bei Haushalten mit Kindern unter 18 Jahren besonders und bei allein Erziehenden mit drei Kindern unter 18 Jahren sind am höchsten. Die Ergebnisse der Armutsberichterstattung verpflichten uns, Strategien für Sozial- und Gesundheitspolitik zu entwickeln. Wir werden dies in der Auseinandersetzung mit der Wissenschaft und mit den Praktikern vor Ort als Fachleuten tun. Dieser Band leistet einen wichtigen Beitrag dazu. 43 Kapitel 2 Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 44 Armut und Gesundheit Gesundheitsfördernde Netzwerke im Familienumfeld Eva Luber, Elisabeth Müller-Heck In diesem Teilkapitel geht es um die Bewertung konkreter Projekte. Sie waren konzipiert und durchgeführt mit dem Ziel, mangelnde Gesundheit als Folge sozialer Ungleichheit zu verbessern. Die Ansätze sind sehr verschieden. Wie wir wissen, ist eine Evaluation dieser sozialkompensatorischen Maßnahmen sehr schwierig. Gerd Ludescher, Leiter des Gesundheitszentrums der Berliner Schlosspark-Klinik, geht auf die Rolle der Familie bei der Gesundheitsförderung ein. Entsprechend den salutogenetischen Konzepten wird die Forderung aufgestellt, Interventionen im Bereich der Gesundheitsförderung mehr auf die Förderung elterlicher Kompetenzen und weniger auf die Korrektur individuellen und familiären Fehlverhaltens zu konzentrieren. Diese Forderungen werden auch als Ergebnis des Harvard Family Research Projects 1995 beschrieben. Stephan Riegger von der Freien Universität Berlin zeigt im zweiten Beitrag die Umsetzung notwendiger Vernetzungsarbeit auf kommunaler Ebene an einem Beispiel im Bauplanungsbereich. Dabei ging es um eine stärkere Beteiligung der betroffenen Jugendlichen. Ein Beispiel für Empowerment! Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen und MdB, und Thomas Poreski stellen abschließend das Modell einer Kindergrundsicherung vor. Eine Forderung, die Frau Dr. Elisabeth Pott, Direktorin der BZgA, in ihrem Eingangsreferat aufstellte, zeigt auch hier seine Bedeutung: Wir brauchen Datenbanken, die diese vielen Projekte darstellen und so eine Kommunikation der vor Ort Tätigen ermöglichen. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 45 Das Potential der Familiensalutogenese in der Prävention von Krankheit und Armut bei Kindern Gerd Ludescher Einleitung Der amerikanisch-israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1923-1994) hat das Konzept der Salutogenese entwickelt und in die gesundheitswissenschaftliche und – politische Diskussion eingebracht. Zur Beschreibung dieses Neologismus benutzt er folgende Metapher: ”Meine fundamentale Annahme ist, daß der Fluß der Strom des Lebens ist. Niemand geht sicher am Ufer entlang. Es gibt Gabelungen im Fluß, die zu leichten Strömungen oder in gefährliche Stromschnellen und Strudel führen. Meine Arbeit ist der Auseinandersetzung mit folgender Frage gewidmet: ,Wie wird man, wo immer man sich in dem Fluß befindet, dessen Natur von historischen, soziokulturellen und physikalischen Umweltbedingungen bestimmt wird, ein guter Schwimmer?” (1997:92) Die individuelle Fähigkeit ”zu schwimmen” entspricht einer Persönlichkeitseigenschaft, die von Antonovsky ”sense of coherence” (Kohärenzgefühl) genannt wird. Kohärenz bedeutet Zusammenhang, Stimmigkeit. Es handelt sich hierbei um eine allgemeine Grundhaltung eines Individuums, die Welt zusammenhängend und sinnvoll zu erleben. Diese globale Orientierung setzt sich aus drei Komponenten zusammen: 1. Gefühl von Verstehbarkeit (sense of comprehensibility) 2. Gefühl von Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit (sense of managability) 3. Gefühl von Bedeutsamkeit bzw. Sinnhaftigkeit (sense of meaningfulness) Antonovsky sieht die letzte Komponente als die wichtigste an. Ein Mensch ohne Erleben von Sinnhaftigkeit wird das Leben in allen Bereichen nur als Last empfinden. Mit etwa dreißig Jahren ist nach Antonovskys Ansicht das Kohärenzgefühl ausgebildet und bleibt relativ stabil. Aus den Grundannahmen von Antonovskys Modell leitet sich für die Gesundheitsförderung und Prävention von Krankheit die Forderung ab, Kindern und Jugendlichen eine Umwelt zu schaffen, die ihnen ausreichend Ressourcen bietet. Das Kohärenzgefühl dominiert zwar als personale Ressource das Modell der Salutogenese, für seine Entwicklung muss ein breites Spektrum an individuellen, sozialen und kulturellen Faktoren (z,B. Bildung, Bewältigungsstrategien, emotionale, soziale und finanzielle Unterstützung, kulturelle Stabilität) gefördert werden. Zur umfassenden Erfüllung dieser Aufgabe ist die Institution Familie als Teil eines Netzwerkes besonders gut geeignet. Das Potenzial der Familiensalutogenese Wie aus zahlreichen Studien bekannt ist, nimmt die Familie vor allem in dreierlei Weise Einfluss auf die Gesundheit ihrer Mitglieder (Hurrelmann 1998): 1. Durch die Vermittlung grundlegender Dispositionen auf der genetischen Ebene, auf der Ebene sozialer Kompetenzen und auf der Ebene der Identitätsbildung: Emotionale Zuwendung, gesunde Ernährung, Körperpflege, wechselseitiges Vertrauen, glaubhafte Zuneigung, relativ stabiler sozialer Status und geeignete Wohnverhältnisse tragen zur Entwicklung der Identitätsanteile und Kompetenzen bei, die für eine befriedigende Bewältigung der Überlebensprobleme von Eltern und Kindern benötigt werden. 46 Armut und Gesundheit 2. Durch die Bewältigung von Gesundheitsbeeinträchtigungen: Mehrpersonenhaushalte verfügen nicht nur über mehr Flexibilität, um den krankheitsbedingten Ausfall einzelner Mitglieder auszugleichen. Durch die Familie kann ein risikobewusster Umgang mit dem Körper und der Gesundheit an ihre Mitglieder vermittelt werden. Familiärer Zusammenhalt und Unterstützung durch die Familie stellt nicht nur einen Prädiktor für die persönliche Genesung sondern auch für die Prävention von Krankheit dar. 3. Durch emotionale, soziale und finanzielle Unterstützungsleistungen sowie das Vorhalten von Netzwerkbeziehungen, die in individuellen und sozialen Problemlagen aktiviert werden: Die Familie gilt als Fluchtburg, in die sich die Menschen zurückziehen, um sich von den Belastungen und vom Stress des Alltags zu entspannen. Kompetentes Kommunizieren kann in erheblichem Maße zur Gesundheitsförderung und Prävention von Armut beitragen. Unter anderem bedeutet es nämlich auch, sich mit möglichst vielen seiner Bedürfnisse und Fähigkeiten in Interaktionssituationen einbringen und daraus den größtmöglichen Gewinn zu ziehen. Der Familie als Sozialisationsinstanz von kommunikativer Kompetenz und Gesundheitsfähigkeit kommt eine außerordentliche Bedeutung zu: 1. Sie stellt die Einzige aller existierenden gesellschaftlichen Institutionen dar, die ihre sozialisatorischen Aktivitäten auf allen Ebenen (emotionale, expressive, zweckrationale) entfaltet. Diese Ebenen sind für die Entwicklung einer gesunden körperlichen, geschlechtlichen, persönlichen und sozialen Identität entscheidend. Die in der Familie enthaltene Sozialisationsperspektive ermöglicht es allen Familienmitgliedern mit Hilfe sozialer Unterstützung (Social Support), ihre Bewältigungsfähigkeit (auch von drohender Armut) zu stärken. 2. Sie ist die Erste aller Regelinstitutionen, an denen der Mensch im Lebenslauf teilhat. Die Familie kann dadurch ihre sozialisatorische Wirkung gegenüber einer fast unbegrenzt lern- und anpassungsfähigen Kinderpersönlichkeit entfalten. 3. Sie begleitet, wie keine andere Sozialisationsinstanz, den Menschen als Herkunftsund Gründungsfamilie ein Leben lang . Die Instanz Familie bietet auch eine Systemperspektive: Zur Prävention von Krankheit, ist die Herstellung und Aufrechterhaltung eines Regelgleichgewichtes zwischen der systemisch organisierten Lebensumwelt, wie es die Familie beispielhaft darstellt, und den Individuen von ebenso großer Bedeutung wie eine ausbalancierte Beziehung zwischen Körper und Seele. Die Projekte haben sich auf die Coping- und Social Support-Forschung konzentriert. Neue Ansätze familienbezogener Interventionsaktivitäten durch die salutogenetische Perspektive Aus salutogenetischer Sicht ist die Stärkung protektiver Faktoren durch die Familie prioritär. In diesem Sinne sollten sich die Maßnahmen auf die Förderung des familiäreren Zusammenhalts, der erzieherischen Kompetenzen der Eltern, des Kommunikationsund Konfliktlösungspotentials sowie des familiäres Selbstbewusstseins konzentrieren. Diese Sichtweise bringt eine neue Interventionsphilosophie mit sich, die in den folgenden fünf Prinzipien zusammen gefasst werden kann (Harvard Family Research Projekt 1995): Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 47 1. Alle Familien, nicht nur diejenigen, die sich allein nicht mehr zu helfen vermögen, brauchen Unterstützung. 2. Die Interventionen sollen sich auf die Förderung elterlicher Kompetenzen und weniger auf die Korrektur von individuellen oder familiären Fehlfunktionen konzentrieren. 3. Es ist notwendig, sich bei allen Maßnahmen vom Respekt gegenüber den kulturellen Eigenheiten der Empfänger leiten zu lassen und dafür zu sorgen, dass die Familien ihre Aufgaben auf eine Weise erfüllen können, die diesen Rahmenvorgaben entspricht. 4. Konzeptionelle Offenheit gewährleistet, dass die Teilnehmer sich mit ihren persönlichen Kompetenzen, ihren elterlichen Fähigkeiten und in ihrem Engagement für Programme und Kommunen weiterentwickeln können. 5. Es sollte eine Selbstverpflichtung sein, Familien durch den Aufbau und die Förderung von Unterstützungsnetzwerken bei der Lösung derjenigen internen und externen Probleme zu helfen, die sie daran hindern, ihre Kinder angemessen zu betreuen und die sie ohne Unterstützung durch Andere nicht lösen können. Die Familienpolitik in Deutschland darf sich nicht länger auf den finanziellen Lastenausgleich beschränken. Vielmehr muss sie die Fähigkeit entwickeln, die familienrelevanten Entscheidungen in den Bereichen Bildung, Wirtschaft und Gesundheit aufeinander abzustimmen. Das klassische Subsidiaritätsprinzip muss durch eine kompensatorische Förderung von sogenanntem Humankapital ergänzt werden. Die Mittel für Forschung müssen so verteilt werden, dass die Wirksamkeit der auf Empowerment ausgerichteten Familienförderung wissenschaftlich überzeugend belegt werden kann. Literatur: Antonovsky, A. [1997]: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Dt. erweiterte Herausgabe von A. Franke. Tübingen: dgvt. Harvard Family Research Project [1995]: Raising our Future. Families, Schools and Communities Joining Together. Cambridge/MA: Harvard Graduate School of Education. Hurrelmann, K. [1998]: Machen moderne Familienstrukturen Kinder krank? Psychomed 10 (1), S. 31-39. 48 Armut und Gesundheit Gesunde Räume zum Aufwachsen - Modell für eine salutogenetische Stadtentwicklung – Planungsbeteiligung von Mädchen und jungen Frauen an einem Jugendgelände in Charlottenburg-Wilmersdorf/Berlin Stephan Riegger Abstract Salutogenetische Stadtentwicklung In dem Beitrag wird ein aktuelles Beispiel für eine partizipative Spiel- und Bewegungsraumplanung vorgestellt und nach salutogenetischen Aspekten und Vernetzungsformen erschlossen. Die Aussagen beziehen Ergebnisse aus Projekten und Modellplanungen aus Berlin und Hamburg ein, die zur Gestaltung von öffentlichen Räumen für Spiel, Bewegung und Sport, von jugendfreundlichen Wohnumfeld verbessernden Maßnahmen, von Stadtparkanlagen und Stadtplätzen, Klassenräumen, Schulgebäuden und Pausenhöfen durchgeführt wurden. Das Berliner Modell dient zur Veranschaulichung von Grundprinzipien eines salutogenetischen Planungsverfahrens, bei dem insbesondere die Interessen von Mädchen und jungen Frauen berücksichtigt wurden. Vor dem Hintergrund des Planungsverfahrens wird das formelle und informelle Netzwerk dargestellt, mit dem die erfolgreiche Realisierung der Planung sicher gestellt wurde. Stichworte: Partizipation, Mädchen, junge Frauen, Netzwerk, Salutogenese, Planungswerkstatt, Stadtentwicklung, Bewegungserziehung, Gesundheitsförderung. Vorbemerkung Die Stadtentwicklung der Moderne verändert das Leben der Menschen. Das gilt besonders für Kinder und Jugendliche, aber auch für ältere Menschen. Die Vielfalt von Lebensmöglichkeiten, die die Stadt bietet, steht dabei vorwiegend den erwachsenen, im Beruf stehenden (gut verdienenden) Bürgern zur Verfügung. Wer nicht zu dieser Gruppe gehört, wird in immer begrenztere Lebensräume abgedrängt. Unübersehbar ist, dass sich die städtischen Lebensbedingungen vieler Menschen – insbesondere der gesundheitliche Zustand von Kindern und Jugendlichen - eher verschlechtern. Ihre Spiel- und Bewegungsräume werden eingeschränkt, noch freie verfügbare Räume für Zwecke des Erwachsenenbedarfs hergerichtet und im Sinne einer wirtschaftlich vertretbaren Nutzung gestaltet. Die Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen werden dadurch massiv eingeschränkt - mit den erkennbaren Folgen: Psycho-physische Entwicklungsstörungen, Suchtgefahr, Verarmung der sinnlichen und sozialen Erfahrung und Verkehrsgefährdung. Bewegungsmangelerkrankungen nehmen zu. Diese Fehlentwicklungen haben kostenaufwändige Sondermaßnahmen von Gesundheitsbehörden und Krankenkassen zur Folge. Verantwortlich für die Stadtentwicklungsplanung der Städte in Deutschland sind unter anderem die Behörden und Architekten, Freiraumplaner und Grünflächenämter. Sie gestalten und vereinnahmen den Stadtraum für Erwachsene und machen diesen in erster Linie für erwachsene Bürger nutzbar. Dabei setzen sie die Stadtentwicklungspläne um, die durch Entscheidungsprozesse in den Parlamenten legitimiert worden sind. Die Maßnahmen der Stadtentwicklung sollen der Förderung des öffentlichen Wohls dienen (Bundesbaugesetz). In den öffentlichen Planungsverfahren zur Stadtentwicklung, den Ausschreibungen für Stadtplaner/innen und Architekt/innen, bleiben die Interessen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, von Mädchen und jungen Frauen, trotz Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 49 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, Gleichstellungsgesetzes und anderen Ausführungsbestimmungen und Leitlinien, meist unberücksichtigt. Mögliche Alternativen zu dieser Fehlentwicklung bieten Elemente einer salutogenetischen Stadtentwicklung. 1. Zur Projektentwicklung Der Arbeitskreis (AK) Nord1 im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf bearbeitet Probleme von Kindern und Jugendlichen im Stadtteil. Im Zusammenhang mit auffällig gewordenen Jugendlichen in der Paul-Hertz-Siedlung kam der AK zu der Erkenntnis, dass Treffpunkte für Jugendliche im Alter zwischen zwölf und achtzehn Jahren in der Siedlung fehlten. Die Siedlung gehört zu den Sozialräumen (SR) eins und zwei2 in Charlottenburg-Wilmersdorf. Seit Herbst 1999 arbeitet im Bezirk ein vom AK Nord initiierter Runder Tisch3 an der Realisierung des Projektes „Jugendgelände“ im Wohnquartier der Paul-Hertz-Siedlung im Norden der Stadt. 8000 Bevölkerungsanteile in Charlottenburg-Nordost (Paul-Hertz-Siedlung) 6823 7000 6000 5000 3741 4000 3092 3000 2000 1000 959 459 700 440 217 223 0 0 bis unter 12 12 bis unter 18 Altersgruppe gesamt weiblich über 18 männlich Mit dem Gelände will der Runde Tisch für die Jugendlichen einen Raum schaffen, in dem ihre besonderen Bedürfnisse und eigenen Vorstellungen umgesetzt werden. Durch 1 Der AK Nord ist ein Zusammenschluss von Organisationen, Ämtern und Behörden, der sich mit den Problemen von Jugendlichen im Norden Berlins auseinandersetzt und Lösungsvorschläge für die betroffenen Stadtteile erarbeitet. 2 Sozialräume definieren sich u.a. durch die Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die von Sozialhilfe leben müssen. 3 Zur Zusammensetzung des Runden Tisches „Jugendgelände“ s. Grafik 50 Armut und Gesundheit die Beteiligung an der Planung und Realisierung des Geländes sollen auch stabilisierende Bindungen an den Lebensraum geschaffen werden. Im Planungsverfahren und beim Bau des Jugendgeländes soll auch der finanzielle Hintergrund und der Umgang mit ökologisch wertvollen Materialien mit den Jugendlichen besprochen werden. Das dafür vorgesehene Gelände ist wegen der Autobahnnähe einer starken Lärmbelastung ausgesetzt. Für das zukünftige Jugendgelände ist eine Erdaufwallung und Grünböschung als Lärmdämmung vorgesehen. Durch eine ökologisch orientierte Gestaltung soll das Wohnquartier im Sinne der Agenda 21 und dem Programm „Soziale Stadt“ eine „nachhaltige“ Förderung und Aufwertung für die Anwohner und die Jugendlichen erfahren. 2. Zum Netzwerk „Koalition für Mädchen und junge Frauen in der Stadt“ Im Rahmen der Beratungen für das Jugendgelände wurde die Entscheidung über den Ort und über die inhaltliche Ausrichtung des Jugendgeländes getroffen. Dazu wurden unter anderem Experten aus verschiedenen Verwaltungsbereichen des Bezirks (Bau und Jugend), der Wohnungsbaugesellschaft (Verwaltung und Grünanlagenbetreuung), regionale Jugendeinrichtungen (Jugendclubleitung, Streetworker), Stiftungen, ortsnahe Projektleiter, Bildung und Erziehung (Universität und Erzieherfachschule) gebildet. Die Experten am Runden Tisch vernetzten ihre Kompetenzen und Arbeitsfelder. Standortpolizei Mädchenbeauftragte im Bezirksamt Politik Verwaltung Bezirksamt Jugendamt Runder Tisch ”Jugendgelände” Bildung & Forschung Universität / Fachhochschule Experten Bauamt Finanzen / Fördermittel Stadtentwicklung Europa Stiftungen Moderation Koordination Evaluation Schule im Wohnquartier Regionale Jugendeinrichtungen Jugendclub, Kirche Wohnungsbaugesellschaft GEWOBAG Die Entscheidung des Runden Tisches, Mädchen und jungen Frauen bei der Planung des Geländes eine deutliche Präferenz zu geben, beruht auf der Diskussion, wie öffentliche Räume in der Stadt von Mädchen und jungen Frauen genutzt werden. Die aktuellen Untersuchungen zur Präsenz von Mädchen und jungen Frauen im öffentlichen Raum (Parks, öffentliche Plätze und Freiflächen, Spielplätze und Grünflächen) weisen übereinstimmend darauf hin, dass dieser Teil der Bevölkerung deutlich unterrepräsentiert ist. Mädchen und junge Frauen haben ein spezielles Raumaneignungsverhalten, das sich deutlich von dem der Jungen unterscheidet. So haben z.B. die Jungen und Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 51 männliche Jugendliche größere Aktionsräume als Mädchen und junge Frauen und unterstreichen mit ihrem Spiel- und Rollenverhalten deutlicher ihre Präsenz. Das Spielund Bewegungsverhalten von Mädchen und jungen Frauen ist im Gegensatz dazu eher kleinräumig angelegt und findet in kleineren Gruppen statt. Wie müssen Räume aussehen, die eine gleichberechtigte Nutzung zulassen? Untersuchungen in Hamburg (vgl. Umweltbehörde 2001) und Berlin zeigen auf, was Mädchen für Wünsche und Bedürfnisse haben und welche Ansprüche daraus für die Raumgestaltung abzuleiten sind. Mädchen und junge Frauen wünschen sich Schaukeln, naturbezogene Gestaltung, Klönecken und Nischen (Baumhaus, Hütte etc.). Dem gegenüber steht das Bedürfnis der Jungen nach großen Bewegungsflächen. Mädchen wie Jungen sind begeisterte Fahrradfahrer, Inlineskater und Kletterer. Stadt- und Landschaftsplaner und auch Spielplatzplaner geben zu, dass die von ihnen geplanten Räume eher auf „action" ausgelegt sind und damit den Bedürfnissen der Jungen und männlichen Jugendlichen stärker gerecht werden. Bei der Gestaltung mädchengerechter Räume spielen Sicherheit, Ästhetik, Vielfalt, Kommunikation und die Verhinderung von Verdrängungsprozessen eine wesentliche Rolle. 3. Planungsbeteiligung – ein Modell für die Förderung von Mädchen und jungen Frauen in der Stadt Unterschiedliche Erwartungen an den öffentlichen Raum müssen nicht nur registriert, sondern mit Hilfe der richtigen Wahrnehmung und Deutung der dahinterliegenden Entfaltungswünsche und Raumbedürfnisse aufgezeigt werden. Sie müssen in einem Planungsverfahren (Zukunftswerkstatt, Planungsspirale u.a.) pädagogisch entwickelt und in die Realisierungsphase mit eingebracht werden. Zum Beispiel hat das Deutsche Kinderhilfswerk mit dem Modell "Planen mit Phantasie" (Stange 1996) ein Verfahren vorgestellt, das Kindern und Jugendlichen die Gelegenheit gibt, ihre Wünsche auszudrücken, mit Planern zu besprechen und mit den zuständigen Ämtern umzusetzen. So hat Schleswig-Holstein in der Gemeindeordnung das Verwaltungs- und Planungsverfahren geändert (Demokratieinitiative), um die Beteiligung der von Maßnahmen im öffentlichen Raum betroffenen Kinder und Jugendlichen zu garantieren. Den pädagogisch ausgebildeten Betreuern von Planungsbeteiligungsverfahren ist es unter anderem aufgetragen darauf zu achten, dass die geschlechtsspezifischen Rollenklischees im Planungsverfahren nicht weitergeführt werden. Die bestehende Rollendominanz von Jungen und männlichen Jugendlichen im öffentlichen Raum (vgl. Burdewick) lässt sich allerdings nicht allein durch ein intelligentes Planungsverfahren ausräumen. 4. Flankierende Maßnahmen – Erhalten und Stabilisieren mädchenorientierter Räume in der Stadt Bei vielen Projekten ist deutlich geworden, dass es mit verbesserten und ggf. mädchenorientierten Planungsverfahren nicht getan ist. Der wahre Wert einer Initiative zeigt sich erst in einer erfolgreichen Praxis. Für die Einrichtung von Spiel- und Bewegungsräumen für Mädchen und junge Frauen gilt, dass in der Übergangsphase eine Betreuung stattfinden muss. Die Implementierung einer mädchenorientierten Bewegungs- und Spielkultur im öffentlichen Raum braucht Zeit. Dies gilt für viele Projekte im Kinder- und Jugendbereich. Sinnstiftendes Element einer Betreuung ist es daher, die Einrichtungs- und Entwicklungsphase so lange zu unterstützen, bis die Nutzerinnen in ihrem Selbstbe- 52 Armut und Gesundheit wusstsein soweit stabilisiert sind, dass sie sich nicht mehr vertreiben lassen. Die Merkmale dieser Räume müssen sich im Laufe der ersten Nutzungszeit entwickeln. Die Entwicklung eines Sicherheitsgefühls, die demonstrative Sauberkeit des Ortes, die soziale Kontrolle durch die Nachbarschaft und die Kennzeichnung der Einrichtungen durch die Mädchen und jungen Frauen stehen im Vordergrund. Alle Maßnahmen müssen in dieser Phase der Raumaneignung darauf abzielen, eine Ortsidentität mit einer eigenen deutlich erkennbaren Spiel- und Bewegungskultur zu fördern und zu entwickeln. 5. Werkstatt für Mädchen und junge Frauen - Elemente einer salutogenetischen Stadtplanung Salutogene Prozesse brauchen Zeit. Dieses gilt auch für die dargestellten Beteiligungsmaßnahmen, die ihre gesundheitsfördernden Wirkungen erst mit der Zeit entfalten können. Aus diesem Grund beschränkt sich der Beitrag auf die Darstellung praktikabler Planungsmaßnahmen. Die Präsentation von Entwicklungstendenzen und ersten Ergebnissen erfolgt nach Abschluss der Projektevaluation. Ziel des Beitrages ist es, einen Weg zu zeigen, der sich im Rahmen einer jugendfreundlichen Stadtentwicklungsplanung realisieren lässt, der kostenneutral ist und die Möglichkeiten amtsinterner Kooperationsfähigkeit nicht überfordert. Ein sozial und pädagogisch fundiertes Planungsverfahren soll bei den Jugendlichen in folgenden Bereichen seine salutogenetische Wirkung entfalten (Antonovsky 1979; Brodtmann 1996; Paulus 1995): • Autarkie-Ideal - sich gesund fühlen und wissen, wie man sich gesund erhält; eigene Lebenspläne entwickeln können, diese verfolgen und (erfolgreich) zum Abschluss bringen. • Kohärenzsinn - Sinnhaftigkeit und Zusammenhänge des eigenen Tuns erkennen. • Selbstverwirklichungspotenzial - Anerkennung und Akzeptanz im sozialen Umfeld finden durch eigenes Tun und Engagement für sich und andere. • Könnensoptimismus - positive Grundeinstellung zur Bewältigung von Herausforderungen und Projekten. Selbstverwirklichung (Potential) Autarkie Teilhaben Bewegung Kennen Kommunikation Beteiligung Finanzen Politik Architekten Experten Verwaltung Handeln Koherenzsinn Lernen Können(s) Optimismus Mit dem Konzept zur Planungsbeteiligung (Planungswerkstatt, Realisation, Programmplanung, Mitentscheidung, u.a.) ist ein Strategieansatz gefunden, der die offene Jugendarbeit um ein wichtiges Instrument erweitert. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 53 An der Planungswerkstatt nahmen Mädchen im Alter von neun bis sechzehn Jahren teil. Die Veranstaltung fand im Jugendclub Heckerdamm, in ca. zehn Minuten Entfernung vom Planungsgelände, statt. Vertreten war das Jugendamt und das Amt für öffentliches Bauen. Gemeinsam mit dem Moderatorenteam der AG Berlinbewegt nahmen sie ihre Rolle als Experten und Ansprechpartner wahr. In der Fantasiephase ("Was wünscht Ihr Euch für einen Mädchen- und Jugendtreff") wurden Ideen gesammelt und nach Prioritäten geordnet. In der darauf folgenden Modellbauphase wurden Ideen und Wünsche zeichnerisch und plastisch veranschaulicht. Die entstandenen Modelle wurden am Ende der Werkstatt in großer Runde von den Teilnehmerinnen erklärt und mit den Experten (Amtsvertreterin, Architekt, Moderatoren) diskutiert. Die Modelle der Werkstatt bildeten mit Ergebnissen der Voruntersuchungen (Bedarfsanalysen, Befragungen von Jugendlichen, Mieterbefragung, Stadtteilanalyse) die Grundlagen der Entwurfsplanung für das Jugendgelände. 6. Ergebnisse aus der Umfrage bei Jugendlichen in der Paul-Hertz-Siedlung4 Die Umfrage bei 120 Jugendlichen ergab Präferenzen in der Freizeitgestaltung, die sich in den wesentlichen Punkten mit den Ergebnissen der Planungswerkstatt decken. Spiel, Sport und Bewegung: Kommunikation / Treffpunkt: • • • • • • • • • • Rollen Ballspiele Klettern Schaukeln Fitness Wasser • Kiosk / (Eis)Café Baumhaus Bänke, Tische (überdacht) Zuschauertribüne (zw. Spiel- und Rollfeld) Disco Gestaltung: Sonstiges: • • • • • • Raumaufteilung: Aktivitätsbereiche Ruhebereiche Zur Straße hin geschützt offen / einsehbar bunt (Blumen, Graffiti Toiletten Betreuung (feste Bezugsperson) 7. Die Befragung der Anwohnerinnen und Anwohner Die Befragung gehörte zu der notwendigen Situationsanalyse im Umfeld des Jugendgeländes. Die Untersuchungsergebnisse haben keinen Anspruch auf Gültigkeit für das gesamte Wohngebiet; sie können lediglich Tendenzen im näheren Umfeld des Jugendgeländes aufzeigen. Ziel war es, in einem begrenzten Einzugsbereich um das Gelände von den unmittelbar betroffenen Anwohnern/innen zu erfahren, welche Einstellung sie zu dem Vorhaben „Jugendgelände“ haben. Die Befragung wurde durch Fluraushänge 4 Grundlage sind Umfragen (Interviews und Fragebogen) bei Stadtteilfesten in der Paul-HertzSiedlung unter ausländischen und deutschen Jugendlichen 54 Armut und Gesundheit bekannt gemacht. Die Teilnahme an der Befragung war freiwillig. Die Mieter wurden in ihrer Wohnung von den Interviewern aufgesucht. Die Form des halbstandardisierten Interviews wurde gewählt, um den Befragten die Gelegenheit zu geben, sich auch zu nicht unmittelbar zum Projekt gehörenden Situationen und Problemen im Wohnquartier zu äußern. Die Interviewer sollten somit auch die Möglichkeit erhalten, andere Probleme im Wohnquartier mit aufzunehmen und einzuordnen. Die Ergebnisse der Befragung von 65 Anwohner/innen hat insgesamt zu dem Eindruck geführt, dass die Zustimmung zu dem Projekt wesentlich größer ist als erwartet. Sogar bei der Gruppe der ablehnenden bzw. neutralen Anwohnerinnen und Anwohner ist Aktivierungspotential vorhanden. Über 55% der Befragten (36 Personen) haben eine positive Einstellung zu einem Jugendgelände geäußert, und mehr als 60% der interviewten Personen haben erklärt, sich in geringem bis hohem Maße an dem Projekt zu beteiligen (von sozialer Kontrolle bis aktiver Mitarbeit bei der Platzgestaltung). Einstellung zum Projekt negativ 29,23% positiv 55,38% neutral 15,38% Mitmachbereitschaft ohne Angabe 4,62% hoch 36,92% keine 32,31% gering 26,15% Deutliche Zusammenhänge ergeben sich aus der Gegenüberstellung von Alter und der Wohnlage der Befragten und deren Einstellung zum Projekt. So nimmt die Zustimmung Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 55 zu einem Jugendgelände mit zunehmendem Alter ab. Und je weiter die Wohnungen vom Jugendgelände entfernt liegen, desto häufiger erfährt das Projekt eine positive Einschätzung. Befragte in unmittelbarer Nähe zum zukünftigen Jugendgelände haben sich jedoch in gleichem Maße positiv wie negativ zum Projekt geäußert. Korrelation: Alter - Einstellung zumProjekt 100% 90% 1 1 3 80% 4 70% 13 60% negativ neutral positiv 50% 40% 15 17 30% 3 20% 5 10% 0% unter 30 30-60 über 60 Korrelation: Wohnlage - Einstellung zum Projekt 100% 8 90% 80% 8 70% 5 60% 50% 5 40% 29 30% 20% 7 10% 0% nah fern negativ egal positiv 56 Armut und Gesundheit 8. Perspektiven für das Jugendgelände Das Jugendgelände soll nach Fertigstellung in eine stabile Grundnutzung überführt werden. Die Hauptkriterien sind aus der Sicht von Mädchen und jungen Frauen sowie aus den Erfahrungen der Expert/innen: Sicherheit, Sauberkeit, Vielfalt der Spiel-, Sportund Bewegungsmöglichkeiten, Kommunikation, Zugänglichkeit, Beteiligung, mädchenorientierte Angebote und eine Betreuung des Geländes. Beteiligung des Wohnumfeldes Die Inbetriebnahme des Jugendgeländes im Frühjahr 2002 wird mit weiteren Aktionen fortgeführt, bei denen sich Kinder und Jugendliche sowie Anwohnerinnen und Anwohner an der konkreten Gestaltung beteiligen können. Eine konstruktive Bereitschaft dazu war der Umfrage im Wohnquartier zu entnehmen. Zum Beispiel werden die Errichtung einer Boulderwand (Klettern) und die Anpflanzung von Blumen und Büschen mit Hilfe von Anwohnern und Jugendlichen aus dem Wohnquartier durchgeführt werden. 9. Planungsverlauf und Netzwerkbildung In der Grafik zum Verlauf der Gesamtplanung zeigt sich, dass zwischen der Problemaufnahme und den ersten Maßnahmen ein größerer Zeitraum entstanden ist, innerhalb dessen sich auch die Ziele der angestrebten Maßnahmen verändert haben. Die Ausgangslage: Einrichtung eines Jugendgeländes zur Verbesserung der Problemlage (Gewalt, Drogen, Ausländer u.a.) entwickelte sich unter Berücksichtigung einer genaueren Situationsanalyse zu einem Planungsverfahren mit besonderer Beteiligung von Mädchen und jungen Frauen. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 57 Eine der Grundbedingungen für den erfolgreichen Abschluss des Planungs- und Beteiligungsverfahrens war die Vernetzung von Politik, Verwaltung, sozialen Einrichtungen im Stadtteil, Wohnungsbaugesellschaft und den Wissensbeständen einer praxisorientierten wissenschaftlichen Einrichtung an der FUB. Die öffentlichen Aufgaben der Stadtplanung und der Gesundheitspolitik (im Sinne von Gesundheitsförderung und Bewegungserziehung) wurden mit den entsprechenden Richtlinien, Gesetzen, Verwaltungsmaßnahmen und Innovationen verbunden. Die bei der Kooperation sichtbar gewordenen Knotenpunkte (Netzwerk) zielen auf Reformen im Bereich der Lehrerausbildung (Universität), Verbesserung von Arbeitsstrukturen im Bezirksamt (Schnittstellen), Arbeitsabläufe in den Abteilungen („Neue Planungskultur"), ressortübergreifende Arbeit (Interdisziplinarität) sowie Innovationen bei der Einrichtung von Spiel- und Bewegungsräumen im öffentlichen Raum (Kriterien für Maßnahmen der öffentlichen Hand und der privaten Wohnungsbaugesellschaft). Literatur: Antonovsky, A. [1979]: Health, stress and coping. San Francisco. Brodtmann, D. [1996]: Kinder - Bewegung - Gesundheit. In: Sportpädagogik 6/1996. Burdewick, J. [1999]: Schulhofgestaltung und geschlechtsspezifische Raumaneignung. In: Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Bewegte Schule, Bd. I ,Kap. 4 Schulraumgestaltung, 27f. Paulus, P. [1995]: Prävention und Gesundheitsförderung. In: Bundesvereinigung für Gesundheit (Hrsg.): Gesundheit aktuell. Bonn. Stange, W. [1996]: Planen mit Phantasie. Kiel. 58 - Armut und Gesundheit Umweltbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburger Forum Spielräume e.V. (Hrsg.) [2001]: Die MädchenArena. Öffentliche Bewegungsräume für Mädchen in der Stadt. Hamburg. Ein grünes Konzept gegen Kinderarmut Ekin Deligöz, Thomas Poreski "Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt" - dieses grüne Leitprinzip hat nichts an Aktualität verloren. Es verlangt von uns, heute schon an morgen zu denken - in der Ökologie, der Finanz- und Sozialpolitik. Familie ist, wo Kinder sind Wir sind überzeugt: Nur in einem kinderfreundlichen Land hat eine humane Gesellschaft Bestand. Deshalb stellen wir Kinder in den Mittelpunkt unserer Politik. Ein fairer Familienlastenausgleich und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind uns dabei ebenso wichtig wie ökologische Kinderrechte und der Schutz vor Gewalt. Dabei ist uns klar: Der Wertewandel und die neue Vielfalt von Familienformen erfordern ein neues Denken auch und gerade in der Politik. Wir Grüne stehen dabei für einen offenen Familienbegriff. Familie ist, wo Kinder sind! Klassische Familien stehen heute neben unverheirateten Paaren, biologische Elternschaft neben sozialer Elternschaft, Kinder aus Ein-ElternFamilien neben Kindern aus Patchwork-Familien von geschiedenen, wieder verheirateten und gleichgeschlechtlichen Paaren - jeweils mit deutschem, ausländischem oder interkulturellem Hintergrund. Kindergrundsicherung In den letzten Jahrzehnten sind Kinder in Deutschland immer mehr zu einem Armutsrisiko geworden. Seit Herbst 1998 hat Rot-Grün Einiges dagegen getan: Durch eine neue Steuerpolitik, zusätzliche Freibeträge sowie die mehrmalige Erhöhung des Kindergelds konnten wir das Armutsrisiko für Familien spürbar mindern. Ein besonderer grüner Erfolg dabei: Im Jahr 2000 kam eine Kindergelderhöhung erstmals auch Sozialhilfeempfänger/innen zugute. Doch der Armuts- und Reichtumsbericht hat im Frühjahr 2001 gezeigt: Es bleibt noch viel zu tun. Noch immer leben über zehn Prozent aller Kinder in Deutschland in relativer Armut. Noch einmal so viele leben in prekären Verhältnissen knapp oberhalb der Armutsgrenze. Kinderarmut hat viele Gesichter Sie kann dazu führen, dass ständiger materieller Mangel den Alltag beherrscht, der Familienurlaub regelmäßig ausfällt, ein Kind sich keine Markenjeans leisten kann und Kindergeburtstage nicht gefeiert werden können. Für diese Kinder und ihre Familien haben wir die Kindergrundsicherung entwickelt. Sie soll für zunächst über vier Millio- Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 59 nen Kinder in Deutschland eine zusätzliche Förderung von bis zu 200 DM (102 Euro) pro Kind und Monat bewirken. Sozial gerecht finanzierbar Ein Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat bestätigt: Die grüne Kindergrundsicherung ist wirksam, kostengünstig, sozial gerecht finanzierbar und sofort umsetzbar. Die Experten rechnen, je nach Ausgestaltung, mit einem Gesamtvolumen von bis zu sieben Milliarden DM (ca. 3,6 Mrd. Euro) pro Jahr. Der tatsächliche Finanzbedarf ist aber erheblich niedriger. Denn durch die Kindergrundsicherung würden jährlich rund zwei Milliarden Mark (ca. eine Mrd. Euro) bei der Sozialhilfe eingespart werden. Die Kindergrundsicherung darf nicht zu weiterer Staatsverschuldung führen. Denn das ginge zu Lasten künftiger Generationen. Eine neue Politik für Kinder und Familien muss dementsprechend die bisherigen Staatsausgaben umschichten. Wir meinen: Das Leben mit Kindern ist finanziell zu fördern und nicht der Trauschein. Deshalb wollen wir das Ehegattensplitting kappen. Langfristige Strategie Wir wollen direkte finanzielle Hilfen ebenso ausbauen wie eine familienfreundliche Infrastruktur. Dazu gehört auch eine bedarfsgerechte Kinderbetreuung mit Öffnungszeiten, die den Bedürfnissen der Familien entsprechen. Ein wichtiges Ziel bei der direkten Förderung ist ein existenzsicherndes monatliches Kindergeld, dem wir uns nach und nach annähern wollen. Die Kindergrundsicherung soll hierfür ein erster Schritt sein, der gezielt denen zugute kommt, die materiell am stärksten benachteiligt sind. Das ist jedes vierte Kind in Deutschland. Die Idee Die Ursachen für die Kinderarmut in Deutschland sind vielfältig: Familie und Beruf sind bei uns nur schwer zu vereinbaren. Darunter leiden vor allem Alleinerziehende. Gleichzeitig wächst die Zahl der so genannten "Working Poor"- also der Menschen, die trotz Arbeit nicht über die Armutsschwelle hinauskommen. Zur Bekämpfung der Kinderarmut brauchen wir Investitionen in eine familienfreundliche Infrastruktur ebenso wie eine aktive materielle Unterstützung. Auf Letzteres zielt die grüne Kindergrundsicherung. Die Kindergrundsicherung bewirkt einen Zuschlag zum Kindergeld für einkommensschwache Familien. Sie stockt das Kindergeld auf das Existenzminimum von Kindern auf. Das Wohngeld bleibt davon unberührt und wird gegebenenfalls zusätzlich gewährt. Haushalte, deren Eigenmittel unterhalb des Existenzminimums der Sozialhilfe liegen, erhalten den Zuschlag in voller Höhe von 200 DM (102 Euro) pro Kind. Darüber liegendes Einkommen wird nur teilweise angerechnet. Die Förderung bei höherem Einkommen nimmt also nur allmählich ab. Die Wirkung Keine Familie wird mehr sozialhilfebedürftig, nur weil dort Kinder leben oder weil ein weiteres Kind geboren wird. Bis zu dreißig Prozent der Haushalte, die aufstockende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten, werden unabhängig von der Sozialhilfe. Weiterhin sozialhilfebedürftige Haushalte erhalten den Kinderanteil grundsätzlich pauschaliert. Besondere einmalige Leistungen werden aber weiterhin gewährt, um Benachteiligungen im Einzelfall zu vermeiden. 60 Armut und Gesundheit Es besteht ein positiver (!) Anreiz, den Lebensunterhalt weitgehend selbst zu erwirtschaften. Denn die Förderung läuft bei höherem Einkommen erst allmählich aus, der so genannte Fallbeileffekt der Sozialhilfe besteht nicht. Die Anträge sollen bei einer zentralen Behörde bearbeitet werden, am besten bei den Kindergeldkassen der Arbeitsämter. So wird auch die bisher verdeckte Armut erfasst: Während nur fünfzig Prozent aller Berechtigten Sozialhilfe beantragen, gehen wir bei der Kindergrundsicherung von einer neunzigprozentigen Inanspruchnahme aus. Das Modell steht nicht im Widerspruch zu anderen sozialen Sicherungssystemen, ist aber offen für deren Weiterentwicklung - zum Beispiel in Richtung einer allgemeinen sozialen Grundsicherung. Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat das Konzept zur Kindergrundsicherung im Februar 2001 beschlossen. Aufgrund der unvollständigen öffentlichen Datenbasis war es uns wichtig, eine externe Berechnung der Kindergrundsicherung durchzuführen, um mit belastbaren Zahlen argumentieren zu können. Deshalb haben wir das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) beauftragt, den Finanzbedarf für die Kindergrundsicherung und eine Gegenfinanzierung durch eine Kappung des Ehegattensplittings zu berechnen. Die wissenschaftliche Berechnung Nach unserem im Februar 2001 beschlossenen Modell würden bis zu 3,4 Millionen Kinder unterstützt. In Westdeutschland könnten über 2,7 Millionen Kinder von der Grundsicherung profitieren, in Ostdeutschland wären es etwa 700.000. Viele dieser Kinder leben in prekären Einkommensverhältnissen: Das durchschnittliche monatliche Einkommen der geförderten Haushalte läge in den alten Bundesländern bei 3.024 DM (ca. 1546 Euro) in 1,4 Millionen Haushalten, in den neuen Ländern bei 2.668 DM (ca. 1364 Euro) in 400.000 Haushalten. Jedes zweite Kind bekäme den Maximalbetrag von monatlich 200 DM (102 Euro), der Rest einen anteiligen Betrag. Wir gehen davon aus, dass etwa neunzig Prozent der Berechtigten die Kindergrundsicherung in Anspruch nehmen würden. Die DIW-Experten beziffern das Finanzvolumen der Kindergrundsicherung auf jährlich etwa 5,6 Milliarden DM (ca. 2,86 Mrd. Euro). Grundlage dieser Berechnung ist eine Förderung von maximal 200 DM (102 Euro) und eine siebzigprozentige Anrechnung von Einkommen oberhalb der Sozialhilfeschwelle. Gleichzeitig würden viele Haushalte von der Sozialhilfe unabhängig werden. Die Einsparungen dort - so das Ergebnis einer anderen Studie - lägen bei rund 2,2 Milliarden DM (ca. 1,12 Mrd. Euro). Faktisch würde die Kindergrundsicherung nach diesem Modell jährlich also ca. 3,4 Milliarden DM (1,74 Mrd. Euro) kosten. Damit ist die Kindergrundsicherung im Verhältnis zur Wirkung sehr kostengünstig. Zum Vergleich: eine allgemeine Erhöhung des Kindergelds um zehn DM (5,1 Euro) kostet pro Jahr rund zwei Milliarden Mark (bzw. über eine Mrd. Euro). Erweitertes Modell Die Ergebnisse der DIW-Berechnungen sind günstiger ausgefallen, als wir dies in unseren vorsichtigen Annahmen für den Finanzbedarf erwartet hatten. Sie machen es möglich, eine noch attraktivere Variante der Kindergrundsicherung darzustellen. Dieses erweiterte Modell wurde vom DIW ebenfalls in unserem Auftrag berechnet. Es sieht eine nur fünfzigprozentige Anrechnung von Einkommen oberhalb der Sozialhilfeschwelle vor. Dies bedeutet eine deutliche Ausweitung der Berechtigten im prekären Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 61 Einkommensbereich und einen größeren – repressionsfreien! - Anreiz, selbst zur Sicherung des eigenen Einkommens beizutragen. Denn es bleibt von jeder zusätzlich verdienten Mark deutlich mehr übrig. Konkret haben die Wirtschaftsforscher ermittelt: Mit der erweiterten Kindergrundsicherung könnten mehr als 600.000 weitere Kinder unterstützt werden. Sie leben in Einkommensverhältnissen knapp oberhalb der Armutsgrenze. Insgesamt haben bei der erweiterten Kindergrundsicherung 2,14 Millionen Haushalte mit über vier Millionen Kinder Anspruch auf Förderung. Der Finanzbedarf für die erweiterte Kindergrundsicherung liegt laut DIW - ohne die Einsparungen bei der Sozialhilfe - bei rund sieben Milliarden DM (ca. 3,6 Mrd. Euro) jährlich. Bei einer neunzigprozentigen Inanspruchnahme und mit den Einsparungen bei der Sozialhilfe liegt der verbleibende Finanzbedarf bei ca. 4,1 Milliarden DM (ca. 2,1 Mrd. Euro) und damit weit unter fünf Milliarden DM (ca. 2,56 Mrd. Euro) pro Jahr. Die Finanzierung Wir wollen die Kindergrundsicherung durch eine Kappung des Ehegattensplittings gegen finanzieren. Dort könnten 5,5 Milliarden DM (ca. 2,8 Mrd. Euro) im Jahr 2002 bzw. 4,9 Milliarden DM (ca. 2,5 Mrd. Euro) in den Jahren 2003 und 2004 eingespart werden. Die zu erwartenden Kosten sind damit auf jeden Fall gedeckt. Die Finanzierung ist sozial gerecht: Die moderate Begrenzung des Ehegattensplittings gewährleistet, dass kleine und mittlere Einkommen geschont werden. Bei einem Jahresbruttoeinkommen eines Alleinverdienerhaushalts (!) von 100.000 DM (51.129 Euro) liegt die Mehrbelastung erst bei zehn DM (5,1 Euro) monatlich, bis 90.000 DM (46.016 Euro) entsteht keine Mehrbelastung. Bei einem Alleinverdienerhaushalt mit 150.000 DM (76.694 Euro) Jahresbrutto liegt die Mehrbelastung bei rund 220 DM (112 Euro) monatlich. Sobald der andere Partner auch nur geringfügig arbeitet, reduziert sich diese Mehrbelastung erheblich: Bei 150.000 DM Jahresbrutto (76.694 Euro) und einer Einkommensrelation von vier zu eins sind es nur noch 15 DM (7,7 Euro) pro Monat, bei 140.000 DM (71.581 Euro) ergibt sich sogar ein leichtes Plus von monatlich neun DM (4,6 Euro) gegenüber dem geltenden Recht. Die DIW-Studie belegt eindrucksvoll: Die grüne Kindergrundsicherung ist ein ebenso wirksames wie schlüssiges Konzept zur Bekämpfung von Kinderarmut und sie lässt sich solide und gerecht finanzieren. Dementsprechend wird die grüne Kindergrundsicherung von vielen Verbänden und Experten befürwortet. Auch der Deutsche Kinderschutzbund und der Paritätische Wohlfahrtsverband unterstützen unsere Pläne offensiv. Wann kommt die Kindergrundsicherung? Wenn es nach uns geht: sofort! Doch wir wissen natürlich, gute unkonventionelle Ideen setzen sich durch, aber sie brauchen Zeit, um gegen das Beharrungsdenken in Politik und Gesellschaft anzukommen. Dennoch sind wir zuversichtlich. Mit dem nötigen öffentlichen Rückenwind kann die Kindergrundsicherung bereits im Jahr 2003 Wirklichkeit werden! 62 Armut und Gesundheit Der öffentliche Gesundheitsdienst beim Aufbau eines Handlungsfeldes Kinderarmut und Gesundheitsförderung Manfred Dickersbach, Barbara Leykamm Viele Akteure engagieren sich im Feld Armut und Gesundheit – von den klassischen Gesundheitsversorgern über die Wohlfahrtsverbände bis hin zu zahlreichen Initiativen, aber auch Universitäten, Verwaltungen, Landesvereinigungen und Bundeszentralen. Und nicht zuletzt gibt es die wichtigen Komponenten der Gemeinwesenarbeit und des bürgerschaftlichen Engagements. Das Feld der Aktivitäten, Programme und Initiativen ist denkbar breit gestreut – wo ist hier die Lücke für den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD), seine legitime und natürliche Aufgabe? Seit einigen Jahren befasst sich die Gesundheitsministerkonferenz mit der Rolle der Gesundheitsämter bei der Verminderung der Auswirkungen von sozialer Benachteiligung auf die Gesundheit von Kindern. Das Thema „Gesundheitliche Chancengleichheit“ stößt zunehmend auf Interesse auch bei Fachleuten aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD). Es besteht Konsens, dass hier dem ÖGD zentrale Aufgaben auf kommunaler Ebene zukommen. Trotzdem gibt es bislang keine breite kommunale Erfahrungsbasis und nur vereinzelt gut dokumentierte Praxismodelle. Der Beitrag ist ein Versuch, sich diesem Feld zu nähern, ein sinnvolles Betätigungsfeld des ÖGD einzugrenzen. Dies soll anhand von sieben Thesen vorgenommen werden, die kein fertiges Modell oder Konzept, sondern – auf die Vortrags- und Gesprächssituation des Kongresses zugeschnitten – einen Diskussionsanlass darstellen, Widerspruch, Modifikation, Korrektur und Ergänzung herausfordern sollen. Die Thesen sind entsprechend zugespitzt formuliert und auf den Punkt gebracht. These 1: Die Daten für Gesundheitsberichte zur Kinderarmut sind vorhanden Wenn es auch die passende Statistik zu „Kinderarmut und Gesundheit“ nicht gibt - viele vor Ort verfügbare Statistiken enthalten auch für das Thema Kinderarmut relevante Daten (Sozialhilfestatistik, Arbeitslosenstatistik, Jugendhilfeplan, Daten des Amts für Ausländerwesen). Daneben verfügt der ÖGD in fast allen Bundesländern mit den Daten der Schuleingangsuntersuchungen (SEU) über einen regelmäßig und flächendeckend erhobenen Datenfundus zu Kindern und Gesundheit, wie ihn sonst keine andere Institution zur Verfügung hat. Um Sozialparameter und kommunalspezifische Befragungen ergänzt und kleinräumig ausgewertet, gehen diese Daten etwa in die lokale Armutsberichterstattung (Beispiele: Stuttgart und Düsseldorf) oder projektbezogene Berichterstattung (Beispiel: FAKIR-Projekt, Köln) ein. Daneben sind Experteninterviews und Betroffenenbefragungen auch beim Thema „Armut und Gesundheit“ schon mit Erfolg eingesetzt worden. These 2: In Modellprojekten wirkt der ÖGD als Initiator Wie in anderen Bereichen der Gesundheitsförderung auch, profitieren Aktionen zum Thema Chancengleichheit und Gesundheit von einer Bündelung der Kräfte. Entscheidend sind dabei oft die richtige Initialzündung und Weichenstellung; für beides ist der ÖGD in idealer Weise prädestiniert. Auf der Basis von themenspezifischen Gesundheitsberichten weist er auf Defizite hin, formuliert Handlungsbedarfe und legt Prioritäten nahe. Danach konzentriert sich die Rolle des ÖGD auf die Zusammenführung der Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 63 Kräfte und die Qualitätssicherung, die wenn möglich Evaluation und Dokumentation beinhaltet. Daran schließen sich die Verbreitung des Projektgedankens, der landesweite Transfer innerhalb des ÖGD sowie die erneute Anstiftung und Initialzündung an. Handlungsraum ist die Kommune, aber auch die Stadtteil-, Orts- oder Gemeindeebene. Hier bietet sich besonders eine koordinierte Zusammenführung der Akteure und Mobilisierung von Betroffenen an; besondere lokale Brennpunkte/Problemstadtteile werden gezielt zum Handlungsraum gemacht. These 3: Der ÖGD ist die ideale Anlaufstelle für sozial Benachteiligte Insbesondere soziale Randgruppen (also auch Arme, Alleinerziehende, benachteiligte Kinder und Jugendliche) profitieren von einer zentralen und neutralen Anlauf- und Beratungsstelle in Fragen der lokalen Gesundheitsförderung und -versorgung. Wichtig ist dabei, dass der Zugang mehrdimensional und niedrigschwellig ist. Das Telefon, eine Sprechstunde, das Internet etc. werden in diesem Sinne genutzt. Die Anlaufstelle baut ein klar definiertes und gut zugängliches Angebot auf – mit Beratungs-, Wegweiser- und Orientierungsfunktion. Der ÖGD leistet so einen eigenen Beitrag zur Transparenz der Versorgungslandschaft. Er bahnt Wege, vermittelt Ansprechpartner etc. Er entwickelt dafür Strategien und Mechanismen der Bürgernähe, der Ansprache von und Kommunikation mit Randgruppen und baut eine eigene Kompetenz und Akzeptanz in diesem Bereich auf. Gleichzeitig ist er mit technischen und organisatorischen Fragen des Handlings einer Anlauf- und Wegweiserstelle befasst – der ÖGD wird zum kommunalen Informationsmanager. These 4: Der Abbau von Barrieren erfordert kommunale Steuerung Auch beim Thema gesundheitliche Chancengleichheit gilt: Besonders sozial Benachteiligte und Randgruppen profitieren von vereinfachten Zugangswegen innerhalb der Gesundheitsförderungs- und Versorgungsbereiche (z.B. kommunale Ämter, Kliniken, Krankenkassen, Sportvereine, Volkshochschulen oder andere Träger des sozialen Lebens). Der ÖGD weckt ein Problembewusstsein bei den betroffenen Ämtern, Einrichtungen und sonstigen Anbietern, was die Schwierigkeiten randständiger Bevölkerungsgruppen bei der Identifizierung und Inanspruchnahme von geeigneten Angeboten angeht. Er vermittelt Zugangsmöglichkeiten zu den benachteiligten Personengruppen, bietet Fortbildungen an und wirkt mit an Öffentlichkeitskampagnen. Voraussetzung für eine effektive kommunale Steuerung beim Abbau von Zugangsbarrieren zu gesundheitlichen Leistungen und Angeboten ist die Kenntnis der kommunalen Gesundheitsversorgungs- und -förderungs-Szene und ihres Profils (z.B. über den Betrieb eines EDV-gestützten kommunalen Gesundheitswegweisers), ein von gegenseitigem Vertrauen und partnerschaftlichem Umgang geprägtes Arbeitsklima zwischen ÖGD und Gesundheitsanbietern sowie der Aufbau einer funktionierenden Kommunikationsstruktur. These 5: Wirksam koordinieren kann besonders der ÖGD Viele kommunale Modelle von Koordination und Kooperation im Gesundheitswesen – regionale Arbeitsgemeinschaften, kommunale Gesundheitskonferenzen, GesundeStädte-Projekt, Psychiatriekoordination etc. – weisen dem ÖGD eine zentrale Rolle zu. Nach wie vor prädestiniert ihn seine interessenneutrale Stellung für eine koordinierende 64 Armut und Gesundheit Position. Sozialkompensatorische Themen (wie etwa Migration, Armut und Gesundheit) und zugehörige Projekte und Aktivitäten erfordern dabei eine besondere Steuerung, weil hier der Markt als Steuerungselement nicht greift (im Gegensatz etwa zu den bekannten, eher mittelstandsorientierten Angeboten der Krankenkassen zur individuellen Gesundheitsförderung). Die koordinierende Rolle des ÖGD wird zusätzlich in den einzelnen ÖGD-Gesetzen landesspezifisch festgeschrieben und definiert. Sie wird hier in der Regel verknüpft mit der Aufgabe der kommunalen Gesundheitsberichterstattung. Dadurch stützt und ergänzt der ÖGD seine koordinierende Rolle sinnvoll durch Elemente der Bestandsaufnahme, Prioritätenbildung und Initiierung. These 6: Der ÖGD übernimmt die kompensatorische Versorgung Kompensatorische Gesundheitsversorgung, z.B. die medizinische Versorgung von Obdachlosen oder Straßenkindern, gehört zu den klassischen Aufgaben und vielerorts nach wie vor zum zentralen Rollenverständnis des ÖGD. Sie bietet gleichzeitig den Einstieg in die Bahnung und Vermittlung anderer Angebote für die betroffenen Zielgruppen. Offen ist allerdings die Frage – wie bei allen Angeboten individueller Betreuung und Beratung –, inwieweit die Ressourcen des ÖGD für eine solche umfängliche Aufgabe reichen. Die Rolle des ÖGD liegt aber auch hier in der Überwindung von Zugangsbarrieren zum Regelversorgungssystem und in der Vermittlung medizinischer Individualversorgungsangebote durch die niedergelassene Ärzteschaft. These 7: Der ÖGD ist die natürliche Interessenvertretung für sozial Benachteiligte In Verbindung mit – und unterstützt von – den Aufgaben der lokalen Koordination (und den dafür eingerichteten Instrumenten wie Gesundheitskonferenzen und regionalen Arbeitsgemeinschaften), der Gesundheitsberichterstattung, der Benennung wichtiger gesundheitlicher Handlungsfelder und der Initiierung von Projekten und Aktionen reicht das Wirkungsfeld des ÖGD von der handelnden Basis auf die (kommunal-)politische Ebene. Der ÖGD vertritt die Forderung nach einer Verringerung der sozialen und gesundheitlichen Ungleichheit auf allen Ebenen der gesundheitspolitischen Diskussion, verwaltungsintern, in Ausschüssen, bereichsübergreifend im Gesundheitswesen, politikfelderübergreifend etwa in Prozessen der Stadtentwicklungsplanung. Die Bündelung der Kräfte des Gesundheitswesens (wie sie etwa durch kommunale Gesundheitskonferenzen gefördert wird) und die Belegbarkeit eines Handlungsbedarfs durch die kommunale Gesundheitsberichterstattung unterstützen den ÖGD nachdrücklich in dieser Rolle. Ein kurzes Fazit Der ÖGD nimmt eine Brückenfunktion zwischen handelnder Basis und politischadministrativer Entscheidungsebene wahr. Die Instrumente der Gesundheitsberichterstattung und der kommunalen Koordination und Bündelung der Kräfte prädestinieren ihn für Bestandsaufnahmen, Überblicksdarstellungen, Prioritätenfindung und Entscheidungsvorbereitung. Der ÖGD transportiert das Thema Armut und Gesundheit auf die politische Ebene; er verbindet Betroffene, handelnde Basis und übergreifende politische Entscheidungsfindung und trägt dazu bei, das kommunalpolitische Klima zu prägen, zu wandeln und den Gedanken einer gemeinschaftlichen Verantwortung für sozial Benachteiligte zu forcieren. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 65 Entscheidend sind dabei das Momentum der Initiative, die Loslösung von klassischen ÖGD-Handlungsstrukturen, die Hinwendung zum Bürger und die offensive „Vermarktung“ des Themas – auch und gerade in der Konkurrenzdiskussion mit anderen Politikfeldern. Das Aufgabenspektrum istaber auch an die Ressourcen und realistischen Möglichkeiten angepasst und richtet sich an einer – ggf. in kleinen Schritten planenden und vorgehenden – Strategie der Machbarkeit aus. Die Verbesserung gesundheitlicher Chancengleichheit bei Kindern ist nicht eine Aufgabe für den ÖGD allein. Diese komplexe und langfristig angelegte Aufgabe kann nur in Kooperation mit sozialen Diensten, Wohlfahrtsverbänden, Selbsthilfe, Krankenkassen und anderen Partnern innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens bewältigt werden. Sie erfordert ein vielschichtiges Handlungskonzept, das Elemente der Bürgernähe und –beteiligung einbezieht und auf eine Strategie des nachhaltigen Bewusstseinswandels setzt. Bei alledem sollten die einzelnen Gesundheitsämter nicht jedes Mal das Rad neu erfinden müssen. Der ÖGD braucht eine bundesweite Plattform für mehr Transparenz und fachlichen Austausch; sinnvoll sind die gezielte Sammlung und Dokumentation modellfähiger Projekte und die Formulierung geeigneter Handlungsleitfäden. Thermische Verletzungen im Kindesalter und soziale Risiken Präventionsziele Gabriele Ellsäßer, Johann Böhmann Ausgangslage Thermische Verletzungen (Verbrennungen und Verbrühungen), verursacht durch Feuer und Flammen (eingeschlossen Rauchgasvergiftungen), bzw. durch heiße Gegenstände oder Flüssigkeiten, gehören, insbesondere im Säuglings- und Kleinkindalter, zu den fünf häufigsten Unfallursachen bei den tödlichen Kinderunfällen (UNICEF 2001). Brände in Privatwohnungen sind dabei die häufigste Ursache für die tödlichen thermischen Verletzungen. Dreiviertel der Betroffenen sterben einen Erstickungstod (DiGuiseppi/Edwards et al. 2000). In den häufigsten Fällen sind brennende Zigaretten Auslöser des Brandes (Miller/Alison 1991), nicht selten ist Alkohol- oder anderer Drogenkonsum der Eltern mit im Spiel. Thermische Verletzungen durch Verbrühungen entstehen dagegen am häufigsten durch das Überschütten des Körpers mit heißer Nahrung oder Flüssigkeiten. Seit 1993 verbrennen bzw. verbrühen sich in Deutschland jedes Jahr ca. 6600 Kinder so schwer, dass sie stationär behandelt werden müssen. Hochrisikogruppe ist auch hier das Säuglings- und Kleinkindalter und das männliche Geschlecht. Bedeutsame Risikofaktoren sind nach der kürzlich publizierten UNICEF Studie (u.a.): Armut, niedriger Bildungsstand, alleinerziehende Eltern, Arbeitslosigkeit, niedriges Alter der Mutter bei der Geburt, kinderreiche Familien und Drogenkonsum. 66 Armut und Gesundheit Datenlage Die im deutschsprachigen Raum erhobenen Publikationen zu thermischen Verletzungen bei Kindern erscheinen in Relation zu analogen Erhebungen in anderen europäischen Ländern und den USA (insgesamt 13.460 Literaturstellen nach einer Literaturrecherche über Medline) vergleichsweise rudimentär. Es gibt nur sehr wenige epidemiologische Untersuchungen (Ellsäßer/Böhmann 2001, Zimmermann 2000, von Nicolai 1999/2000, Hahn 1996) im Gegensatz zu zahlreichen klinischen Fallstudien, die allerdings keine bevölkerungsbezogenen Aussagen zulassen. Analoge Defizite ergeben sich im deutschsprachigen Raum bei der Recherche nach sozialen Risiken und den sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Aspekten von thermischen Verletzungen im Kindesalter. Dies betrifft sowohl die amtlichen Statistiken (Todesursachen-, Krankenhausdiagnose-, Straßenverkehrsstatistik), die keine sozialen Merkmale erfassen, als auch Studien. Ausnahmen sind die Ergebnisse aus den Schulanfängeruntersuchungen im Land Brandenburg und das Unfallmonitoring in der Stadt Delmenhorst, die soziale Merkmale mit erheben. Eine Studie über Krankenkassendaten der AOK (Geyer/Peter 1998) gibt zwar Hinweise zu Unfällen in Abhängigkeit zur sozialen Lage, lässt aber keine bevölkerungsbezogene Aussagen zu. Die Ergebnisse dieser bevölkerungsbezogenen Untersuchungen zu sozialen Risiken und Kinderunfällen werden im Folgenden vorgestellt und mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand aus internationalen Studien ergänzt. Soziale Risiken Analyse der Einschulungsuntersuchung im Land Brandenburg 1994-2000 Seit 1994 wird im Land Brandenburg im Zusammenhang mit der ärztlichen Untersuchung von Schulanfängern gezielt nach schwereren Unfällen (Verbrühungen/Verbrennungen, Knochenbrüche, schwerere Schnittverletzungen, Gehirnerschütterung) und sozio-demografischen Merkmalen (Alter, Geschlecht, Erwerbstätigkeit sowie Schulbildung der Eltern und die Anzahl der Kinder im Haushalt) gefragt (MASGF 1999, Ellsäßer 2001). Anhand dieser Daten ergeben sich folgende Erkenntnisse: Die Lebenszeitprävalenz der Unfälle von Schulanfängern (fünf bis sechs Jahre) ist seit 1994 von 19.9% auf 15.4% gesunken. Auffallend ist, dass sich im gesamten Beobachtungszeitraum häufiger Jungen im Vergleich zu Mädchen (50% vs. 40%) verletzten. Die drei häufigsten Unfallorte waren der häusliche Bereich (ca.66 %), der Kindergarten (ca.20 %) und der Straßenverkehr (ca. 7%). Im Zusammenhang mit dem Sozialindex (aus Erwerbstätigkeit, Schulbildung) als niedrig, mittel und hoch fanden sich im Beobachtungszeitraum stabil signifikant höhere Unfallraten von Verbrühungen (ausgenommen 2000, evt. Problem der zu kleinen Fallzahlen) bei Kindern aus Familien mit niedrigem Sozialindex verglichen mit Kindern aus Familien mit einem hohen Sozialindex (Abb. 1). Jedoch war ein Sozialgradient, bezogen auf die Unfallorte (zu Hause, Kindertagesstätte) 1994 - 2000 nicht erkennbar. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 67 Unfälle durch Verbrühen bei Kindern bis zur Einschulung nach dem Sozialstatus 1998 - 2001 2,5% 2,2% 2,1% 2,1% 1,9% 1,9% % von Sozialstatus 2,0% 2,0% 1,4% 1,5% Sozialstatus niedrig 1,1% 1,0% Sozialstatus hoch 0,5% 0,0% 1998 1999 2000 2001 Quelle: Landesgesundheitsamt Brandenburg, Schuleingangsuntersuchungen Abbildung 1 Des Weiteren passierten signifikant mehr Unfälle in Mehrkindfamilien im Vergleich zu Einkindfamilien. Einschulungsuntersuchungen: Kinder mit Verbrühungen nach Anzahl der im Haushalt lebenden Kinder 1998 - 2000 2,5% 2,2% 2,0% 1,8% 2,1% 1,7% 1,5% 1,5% in% 1,5% 1,0% Ein Kind 0,5% 3 oder mehr Kinder 0,0% 1998 1999 2000 Quelle: Landesgesundheitsamt Brandenburg, Schuleingangsuntersuchungen Abbildung 2 68 Armut und Gesundheit Soziale und sozio-kulturelle Risiken Unfallmonitoring Delmenhorst Die Stadt Delmenhorst ist die einzige Kommune in Deutschland, die seit 1998 ein gemeindebezogenes Unfallmonitoring durchführt (Ellsäßer/Böhmann 2001). Die Erfassung erfolgt einerseits nach ICD-10, ICECI sowie den WHO-Empfehlungen („Injury surveillance guidelines for less-ressourced environments“) mit dem Ziel wenige, aber aussagekräftige Daten für gezielte Präventionsmaßnahmen zu erhalten. Erfasst wird seit 1998 ein Minimum an Daten zu sozio-kulturellen und demografischen Merkmalen (Alter, Geschlecht, Nationalität), Unfallintention (Unfall, Gewalttat, sexueller Missbrauch und Suizidversuch), Unfallort, Unfallart, Tätigkeit, Diagnosen nach ICD-10 und beteiligtes Produkt. Der Einzugsbereich dieses Unfallmonitorings ist die Stadt Delmenhorst sowie die Gemeinde Ganderkesee (Bevölkerungsbezug: 17.580 Kinder <fünfzehn Jahre in dem Zeitraum 1998 - 2000). Die Behandlungs- und Unfalldaten werden kontinuierlich von allen Kindern erfasst (einschließlich BG-Fälle), die im Krankenhaus, in den Notfallambulanzen und in einer unfallchirurgischen Praxis ärztlich versorgt werden müssen. Dadurch sind erstmalig Inzidenzaussagen zu thermischen Verletzungen im Kindesalter und zu Risikogruppen bzw. Risikofaktoren möglich. Abbildung 3 Durch Verbrennung/Verbrühung verletzte Kinder (n=195) nach Altersgruppen Nichtdeutsche Deutsche 50 in % der Altersgruppe 0 Jahre 43,5 45 40 32,4 35 1-4 Jahre 30 25 20 14,7 15 7,4 10 5 1,3 1,8 5,4 4,1 5,5 1,3 0 Jungen Mädchen Jungen 5-14Jahre 11,7 2,9 Mädchen Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 69 Bewertung des wissenschaftlichen Kenntnisstandes Bei einer Bewertung der internationalen Literatur zu thermischen Verletzungen und sozialen Risikofaktoren lässt sich feststellen, dass der sozio-ökonomische Status sich als relativ stabile Einflussgröße erwiesen hat und folgende Risikofaktoren bedeutsam sind: Niedriger Ausbildungs- und Berufsstand, niedriges Einkommen und schlechte Wohnverhältnisse (Petridou 2000). Als besonders gefährdet gelten Haushalte in dicht bevölkerten, multikulturellen und materiell benachteiligten Gemeinden. Wirksame Präventionsmaßnahmen wie die Installation von Rauch- und Feuermeldern sind wiederum vom sozio-ökonomischen, aber auch sozio-kulturellen Hintergrund abhängig (DiGuiseppi et al. 1999). Im Zeitraum zwischen 1998 und 2000 wurden 7.955 Kinderunfälle (<fünfzehn Jahre) registriert und darunter insgesamt 195 Unfälle durch thermische Verletzungen. Dabei zeigt sich eine Interaktion zwischen sozio-kulturellen Merkmalen, Alter und Geschlecht. Nichtdeutsche Kleinkinder haben auffallend häufiger thermische Verletzungen und Auslöser sind häufiger heiße Flüssigkeiten als bei den gleichaltrigen deutschen. Auch hier sind nichtdeutsche Kinder männlichen Geschlechts erheblich stärker gefährdet als deutsche (Abb. 3). Fazit für die Prävention Notwendige Voraussetzung für eine wirksame Prävention ist eine epidemiologische Analyse des Unfallpanoramas in Deutschland unter Berücksichtigung folgender, die Risikogruppen charakterisierender Merkmale: Alter, Geschlecht, Nationalität, sozioökonomische und sozio-kulturelle Besonderheiten. Hierbei können internationale Studien wichtige Hinweise geben. Wie bereits das Delmenhorster Unfallmonitoring zeigt, können wirksame Strategien zur Risikominimierung und Kostenersparnis erfolgreich auf der Basis eines gemeindeorientierten Unfallmonitorings entwickelt werden. Ziel muss es sein, produkt- und umgebungsbezogene Gefahren, die zahlreichen Studien zufolge den größten Einfluss auf das Verletzungsrisiko ausüben, zu ermitteln und diese zu entschärfen, d.h. die Umgebung zu sichern sowie zielgruppenrelevant aufzuklären. Dabei stellt eine mit der Basisuntersuchung der Kinder (z.B. U-Untersuchungen der Kinderärzte) standardisierte persönliche Information der Eltern einen wichtigen Baustein dar. Außerdem sollten die verfügbaren präventiven Maßnahmen, wie Rauchmelder, deren Effektivität unbestritten ist, als Standardeinrichtung, insbesondere in sozial schwachen Wohnvierteln, Verbreitung finden. Nicht zuletzt gilt es, akteursbezogen zu informieren, d.h. Lehrer, Betreuer, Medien sowie politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger zu mobilisieren, damit thermische Verletzungen in Zukunft vermieden werden können. Schlussfolgerung Ein Großteil der thermischen Verletzungen könnte vermieden werden. Durch intensivierte Ursachenforschung mit bevölkerungsbezogenem Unfallmonitoring, verknüpft mit gezielter persönlicher Aufklärung der Eltern, die sozio-ökonomisch und sozio-kulturell bedingten Risikofaktoren Rechnung trägt, und präventiv wirksamen Maßnahmen (z.B. Rauchmelder) ließe sich zweifellos eine Menge menschliches Leid verhindern. 70 Armut und Gesundheit Literatur: DiGuiseppi, C., Edwards, P., Godward, C., et al. [2000]: Urban residential fire and flame injuries: a population based study. Inj Prev; 6:250-4. DiGuiseppi, C., Higgins, J.P. [2000]: Systematic review of controlled trials of interventions to promote smoke alarms. Arch Dis Child; 82:341-8. DiGuiseppi, C., Slater, S., Roberts, I., Adams, L., Sculpher, M., Wade, A., McCarthy, M. [1999]: The “Let´s Get Alarmed!” initiative: a smoke alarm giveaway programme. Inj Prev; 5:177-182. Ellsäßer, G., Böhmann, J. [2001]: Implementation and results of injury monitoring in a German city. European Consumer Safety Association, Programme and abstracts 3rd European Convention on Consumer Safety, Vienna. Ellsäßer, G. [2001]: Relation entre les accidents touchant les enfants d ‘âge préscolaire dans le Land du Brandenburg et les facteurs sociaux – 1997-99. In: Colloque ‘Inégalités socio-économique et prévention des risques’. European Consumer Safety Association (ECOSA) (Hrsg.), Amsterdam. Geyer, S., Peter, R. [1998]: Unfallbedingte Krankenhausaufnahmen von Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit von ihrem sozialen Status – Befunde mit Daten einer nordrhein-westfälischen AOK. Gesundheitswesen 60 ;493-499. Hahn, S. [1996] Sozialräumliche Verteilung von Bränden. Magisterarbeit an der Universität Köln. Miller & Alison, L., [1991 a]: Where there´s Smoking there´s Fire. NFPA Journal, Heft I: 86-93. Miller & Alison, L. [1991 b]: What´s Burning in Home Fires? NFPA Journal, Heft 5: 72-78. MASGF [1999]: Einschüler in Brandenburg: Soziale Lage und Gesundheit, Potsdam. Petridou, E.[2000]: Socio-economic differentials in injury risk. Athens University, Greek, Book of abstracts 7th and 8th September 2000, 13-15. UNICEF [2001]:. A league table of child deaths by injury in rich nations. Innocenti Report Card No2. UNICEF Innocenti Research Centre, Florence. von Nicolai, D. [2000]: Unfälle im Kleinkindalter. Ergebnisse anlässlich der Einschulungsuntersuchung 1999 in Stadt und Landkreis Biberach an der Riss. Gesundheitsamt Biberach. Zimmermann, E. [2000]: Unfälle und ihre Verhütung bei Säuglingen und Kleinkindern in Bremen Ergebnisse einer Elternbefragung. Freie Hansestadt Bremen Gesundheitsamt Sozialpädiatrische Abteilung. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 71 Netzwerk Prävention für junge Familien Silvia von Düffel, Hanna Boklage Probleme junger Eltern haben sich im Laufe der vergangenen Jahre auffällig verändert. Hilflosigkeit im Dschungel der vielen Empfehlungen zur Ernährung und Pflege von Säuglingen, ein Spielzeugüberangebot, unsinnige Entwicklungstrainingsmodelle und die Desillusion über den Alltag mit Säuglingen überfordern häufig die jungen Mütter und Väter. Deshalb hat es sich das Gesundheitsamt der Stadt Oldenburg zur Aufgabe gemacht, in Zusammenarbeit mit dem Verein „Kontakte e.V. mit Kindern leben“ eine Tagung zu konzipieren, die Fachleute und Eltern zusammenführt und auf einen gemeinsamen Stand bringt. Vorträge wurden zu folgenden Themen gehalten: “Was ist eigentlich normal in der Entwicklung?”, “Ein sinnvoller Umgang mit Säuglingen”, “Die Erwartung der Eltern an sich selbst und ihre Bewältigung ihrer Rolle als Vater oder Mutter”, “Der sinnvolle Einsatz von Spielgeräten” und “Hilfsmöglichkeiten im kommunalen Kontext”. Außerdem präsentierten sich anwesende Fachleute und Einrichtungen an Infoständen mit ihren Projekten und Angeboten. Aus dieser Tagung entwickelte sich ein kontinuierlicher Arbeitskreis, der aus einem Team von Vertretern des Gesundheitsamtes, der Familienberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt, dem Verein Kontakte e.V. und der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. geleitet und vom Gesundheitsbüro des städtischen Gesundheitsamtes koordiniert wird. Unter dem Titel: ”Netzwerk Prävention für junge Familien” treffen sich monatlich Experten und interessierte Eltern im Kulturzentrum der Stadt Oldenburg. Jeweils im Wechsel werden Fachvorträge von Referenten aus dem Bereich der Medizin, Ernährung, psychosozialen Versorgung gehalten und stellen sich die Institutionen mit ihren Themenschwerpunkten vor. Eine überraschend große Anzahl von Fachleuten, die mit früher Prävention beauftragt sind, begrüßen die Möglichkeit der Kooperation, des Erfahrungsaustausches und der kontinuierlichen Weiterbildung, die vom Gesundheitsbüro des Gesundheitsamtes der Stadt Oldenburg geleitet und moderiert wird. 72 Armut und Gesundheit Der Familientreffpunkt – ein Netzwerk für sozial benachteiligte Familien Elke Berg, Dorothee Ruddat, Doris Schwartz Ausgangslage Die soziale Problematik im Schöneberger Norden ist seit vielen Jahren nicht nur den sozialen Diensten im Bezirk bekannt. In mehreren Programmen, aktuell im Rahmen des Quartiermanagement wurden und werden in diesem Bereich Sanierungsmaßnahmen sowie Projekte zur Verbesserung der Lebensqualität durchgeführt. Für junge Familien mit kleinen Kindern ist das Wohnen dort nach wie vor nicht unproblematisch. Arbeitslosigkeit, soziale Verelendung, Drogengebrauch, Prostitution und ein latentes Gewaltpotenzial gehören nach wie vor zum Alltag in diesem Gebiet. Auch ist der Anteil der Familien mit Kindern im Schöneberger Norden im Vergleich zu den anderen Sozialplanungsräumen wesentlich höher, insbesondere der Anteil der Familien nichtdeutscher Herkunft mit vielen Kindern. Aus den genannten Gründen bedurfte und bedarf es im Schöneberger Norden, im Kinder- und Jugendbereich eines präventiven, gesundheitlichen und sozialen Angebotes, um Spätfolgen zu vermeiden bzw. zu minimieren. Diese Aufgaben wurden in der Vergangenheit u.a. vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst - einem Fachbereich des Gesundheitsamtes – wahrgenommen. Wegen der durch die Haushaltskonsolidierung erfolgten Stelleneinsparungen mussten auch in diesem so wichtigen primärpräventiven Bereich mehrere ”Außenstellen” geschlossen werden. Als sich der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) auch im Schöneberger Norden nicht mehr ausreichend präsentieren konnte, war auch die dortige Außenstelle von Schließung bedroht. Manchmal geschehen Wunder, und so ein kleines Wunder haben wir im Jahr 1998 erlebt. Ein freigemeinnütziger Träger, ein Nachbarschaftszentrum, die Kiezoase im Pestalozzi-Fröbel-Haus (PFH) kam auf das Gesundheitsamt zu und teilte seine Bereitschaft mit, sich in einem gemeinsamen Projekt auch um die Versorgung von sozial benachteiligen Familien mit kleinen Kindern zu kümmern. Die fachlich-inhaltliche Zusammenarbeit wurde in mehreren Treffen diskutiert und in einem Rahmenkonzept festgehalten. Am 26. Februar 1999 wurde zwischen dem Pestalozzi-Fröbel-Haus, der Kiezoase und dem Bezirksamt Schöneberg eine Kooperationsvereinbarung unterzeichnet. Inzwischen können wir auf eine fast dreijährige gute Zusammenarbeit zurückblicken. Die Weiterentwicklung der inhaltlichen Arbeit wird einmal monatlich im Kooperationsteam besprochen, den Fortbestand der Kooperation sichert ein vierteljährlich tagender Trägerausschuss, in dem auch die politische Ebene (eine Dezernentin und ein Dezernent) vertreten ist. Einmal jährlich findet ein extern moderierter Auswertungstag statt. Grundidee der Kooperation war und ist nach wie vor, dass das Angebot sozial benachteiligten jungen Familien zugute kommt und sich die Angebote am Bedarf, den diese Familien haben, entwickeln. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 73 Welche Familien sollen erreicht werden? Mit welchen Problemlagen sehen wir uns konfrontiert? Um die soziale und gesundheitliche Situation der Familien, speziell der Kinder im Schöneberger Norden zu beschreiben, sind einige Ergebnisse der Lernanfängeruntersuchung hilfreich – veröffentlicht und einzusehen im Schöneberger Gesundheitsbericht von 2001 unter dem Titel ”Kinder und Jugendliche in Schöneberg 1999”. Im Wesentlichen können die Problemlagen im Schöneberger Norden wie folgt beschrieben werden: • viele Nationalitäten • hohe Bevölkerungsdichte • hoher Anteil von Familien nichtdeutscher Herkunft und Deutsche ausländischer Herkunft ohne ausreichende Deutschkenntnisse • niedriger Bildungsstand bis hin zu fehlendem Schulbesuch und/oder ohne Schulabschluss der Eltern • geringes Familieneinkommen • schlechte Wohnverhältnisse • Kinder, die prozentual seltener eine Kita besuchen, die häufig vor ihrer Einschulung weder ihre Muttersprache noch Deutsch korrekt lernen • Eltern, die weder für sich noch für ihre Kinder gesundheitlich ausreichend sorgen können (Sprachbarriere) • Familien, die aufgrund der unterschiedlichen Problemlagen eher nicht von sich aus Angebote der Nachbarschafts-, Bildungs- oder Gesundheitsarbeit aufsuchen und annehmen • Familien, die früher durch die mehr aufsuchende Zugehensweise, wie flächendeckende Erstbesuche der Sozialarbeiter/innen sowie häufigere Sprechstunden in mehreren Dienststellen, also durch den wiederholten persönlichen Kontakt erreicht und motiviert werden konnten – nicht selten über niedrigschwellige gesundheitliche Angebote für ihre Kinder. In Zeiten zunehmenden Personalabbaus, Reduzierung von Dienststellen aber unvermindert problematischer Lebenssituation bleibt dem Kinder- und Jugendgesundheitsdienst nicht selten nur noch die Kontaktmöglichkeit zu diesen Familien über die Durchführung der gesetzlichen Aufgaben. Die Kooperation des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes mit dem freigemeinnützigen Träger Kiezoase konnte die entstandene ”Lücke” füllen, indem sie durch niedrigschwellige Angebote die Familien erreicht. Netzwerk / Angebote Um dieses zu gewährleisten bedarf es eines Netzwerkes mit einem vielfältigen Angebot unter einem Dach. Hiermit schafft man kurze Wege. Das erworbene Vertrauen einer Besucherin zu einer Mitarbeiterin wird genutzt, um zu einem anderen Angebot überzuleiten. Beispiel: Bei einer Mutter, die ihr Kind in der Sprechstunde des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes vorstellt, bemerkt die Ärztin die mangelnden deutschen Sprachkenntnisse der Mutter. Sie empfiehlt ihr, sich eine Tür weiter zum Deutschkurs im Familientreffpunkt anzumelden. Dort trifft sie auch die Erzieherin, die mit ihr alle Modalitäten bezüglich des Angebotes für ihr Kind bespricht. Außer dieser Grundidee sind folgende Rahmenbedingungen für die Familien wichtig: 74 - Armut und Gesundheit geringe Gebühren Kinderbetreuung Wohnortnähe Möglichkeit von familienbedingten Pausen in den Kursen. Angebote des Familientreffpunktes: 1. Beratungen 2. Integration und Bildung 3. Gesundheitliche Prävention 4. Stadtteil- und Kulturarbeit 5. Angebote für Kinder von null bis zwölf Jahren. 1. Beratungen Soziale und gesundheitliche Beratungen, Familienberatung, Schuldnerberatung. Hier finden Familien wichtige Unterstützung in vielfältigen Problemlagen. 2. Integration und Bildung Deutschkurse, Alphabetisierungskurse, Informations- und Orientierungskurse, Nähgruppen und Kochgruppen. Diese Bereiche sind für die Frauen sehr wichtig, denn ohne Deutschkenntnisse haben sie keine Möglichkeit, sich unabhängig von Familienangehörigen in der Gesellschaft zu bewegen, ihre Kinder zu unterstützen oder auch eigene berufliche Perspektiven aufzubauen. Auch die Förderung anderer Kompetenzen wie Nähen und Kochen ist für ihr Selbstbewusstsein wichtig. 3. Gesundheitliche Prävention Bewegungsangebote für Frauen, Psychomotorikgruppen für Kinder. Gesundheitsfördernde Angebote mit dem Ziel einer Verbesserung der Lebens- und Gesundheitssituation von Mutter und Kind. 4. Stadtteil- und Kulturarbeit Feste, Ausstellungen, Veranstaltungen, Kulturinitiativen, Stadtteilvernetzung. Die kulturelle Vielfalt des Treffpunktes prägt diese Angebote. 5. Angebote für Kinder von null bis zwölf Jahren Ohne Kinder geht im Familientreffpunkt gar nichts. Parallele Angebote für Kinder ermöglichen den Müttern die Teilnahme an den Kursen. In den Betreuungsgruppen werden die Kinder individuell eingewöhnt und entsprechend ihrer sozialen, sprachlichen und kreativen Fähigkeiten gefördert. Auf Wunsch der Mütter gibt es inzwischen auch Angebote für Schulkinder: Schularbeitenhilfe, Freizeitangebote, Ferienprogramme. Ausblick Die Nachfrage nach Angeboten des Familientreffpunktes ist so groß, dass für mehrere Kurse bereits Wartelisten geführt werden müssen. Besonders die Erweiterung der Angebote für Schulkinder wäre notwendig und wünschenswert. Ebenso wäre es sinnvoll, Sprachkurse für Väter anzubieten. Hierzu fehlen uns derzeit leider noch die finanziellen, personellen und räumlichen Ressourcen. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 75 "Selbst is(s)t der Mann“ – Gesunde Ernährung für sozial benachteiligte männliche Jugendliche Hilke Bruns Sozial benachteiligte Jugendliche ernähren sich deutlich schlechter als nicht benachteiligte Jugendliche (Klocke 1995). Sie werden von Angeboten der Ernährungsberatung nicht erreicht. Besonders männliche Jugendliche werden als nicht zugänglich betrachtet. Ziel des hier vorgestellten Projektes ist es, über ein niedrigschwelliges, ganz praktisches Angebot die Ernährungssituation, das Gesundheitshandeln und das Ernährungswissen sozial benachteiligter männlicher Jugendlicher zu verbessern. Diese Zielgruppe des Projektes wurde ausgewählt, da aus Erfahrungen im Rahmen eines Gemeinwesenprojektes zu erkennen war, dass sozial benachteiligte männliche Jugendliche im Alter von zwölf bis zwanzig Jahren am schwierigsten zu erreichen sind, wobei sich hier die Defizite am deutlichsten zeigten (Deneke/Kaba-Schönstein/Waller 2000; Bruns 2000). Das Modellprojekt wird vom Zentrum für Angewandte Gesundheitswissenschaften koordiniert und evaluiert. Die Finanzierung erfolgt überwiegend aus Mitteln des Bundesverbraucherschutzministeriums und der Länder Niedersachsen und Hamburg. Das Modellvorhaben zur "Gesunden Ernährung von Jugendlichen" setzt mit den Interventionen dort an, wo sich die Jugendlichen bereits aufhalten. In fünf norddeutschen Einrichtungen der Jugendhilfe wurden unterschiedliche Angebote aufgebaut, in denen sich vorwiegend männliche Jugendliche und junge Männer ein in der Regel warmes Essen selbst zubereiten. Der Schwerpunkt dieser Veröffentlichung bezieht sich auf die Einrichtungen, die Problemlagen der Jugendlichen dort und auf erste Ergebnisse. Über das Forschungsdesign des Gesamtprojektes wurde bereits im Vorjahr im Rahmen des Kongresses Armut und Gesundheit berichtet (Deneke 2000). Es wurden bewusst sehr verschiedene Einrichtungen mit verschiedenen Zielgruppen ausgewählt. 76 Armut und Gesundheit Standort Tätigkeitsfeld Problemlagen der Jugendlichen dort Bleckede Geografische. Randlage Sehr ländlich Sozialer Brennpunkt des Landkreises Lüneburg Offene Jugendarbeit Kooperation mit dem Präventions- und Integrationsprogramm des Landes Niedersachsen Projektnutzer eher Kinder vom Lande ab zehn Jahre; z.T. Ritalin-Patienten Zurückgezogene deutschsprachige Jugendliche Hamburg-Heimfeld Stadtteil mit hohem Ausländeranteil Offene Jugendarbeit Ausländische Jugendliche, Gewaltbereitschaft der Jugendlichen Diebstähle Hildesheim Berufliche Eingliederung Zwei rivalisierende Gruppen straffälliger Jugendlicher meist volljähriger Männer, und junger Erwachsener teilweise Ausländer mit großen Problemen im Sozialverhalten Neu-Wulmstorf Gemeinde im „Hamburger Speckgürtel“ im „reichsten“ Landkreis Niedersachsens Offene Jugendarbeit Wilhelmshaven „ärmste“ Region Niedersachsens Offene Jugendarbeit Gemischtes Publikum, hauptsächlich Hauptschüler Gewaltbereite und perspektivenlose Jugendliche Auf Grund der Rahmenbedingungen haben sich unterschiedliche Angebote in den Einrichtungen entwickelt. In Bleckede findet das gemeinsame Kochen und Essen in einem Jugendfreizeitheim statt mit anschließender Hausaufgabenbetreuung. Die geschlossene Gruppe von zwölf bis vierzehn Teilnehmern trifft sich direkt nach Schulschluss der einzelnen Jugendlichen. In Heimfeld hat sich das gemeinsame Kochen und Essen (ca. 16.00 Uhr) zu einem verlässlichen offenen Angebot im Rahmen des Jugendzentrums entwickelt. In Hildesheim kochen und essen die jungen Männer um ca. 12.30 Uhr. Dort ist das Angebot ein fester Bestandteil im Ablauf der Berufseingliederungsmaßnahme. In Neu-Wulmstorf trifft sich um 15.30 Uhr eine offene gemischte Gruppe im Jugendzentrum. Dort ist das Angebot fest in die Angebotspalette der Einrichtung aufgenommen und wird sehr gut angenommen. In Wilhelmshaven kochen und essen zehn bis zwölf Jugendliche gegen 15.30 Uhr. Dies ist dort ein festes Angebot im Jugendclub, eine offene Gruppe mit relativ regelmäßigen Teilnehmern. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 77 Nach organisatorischen Anlaufschwierigkeiten hat sich in allen Einrichtungen ein festes Angebot entwickelt. Das Angebot wird sehr gut angenommen. Als Problem stellt sich in einigen Einrichtungen eine aus unterschiedlichen Gründen notwendige Teilnehmerbegrenzung auf zehn Personen dar. Es stellt sich die Frage, warum die Jugendlichen zu den „Kochgruppen“ kommen, obwohl „kochen“ für männliche Jugendliche vermutlich keine große Attraktivität besitzt. In Interviews mit einem Teil der Jugendlichen wurden die Teilnehmer gebeten zu formulieren, warum sie mitmachen. „Weswegen machst Du hier mit?“ (offene Frage, Mehrfachnennungen möglich) Spaß 62,9% Hunger, Essen 34,3% Pflicht/Eltern 14,3% Essen umsonst 11,4% Kochen 5,7% Kommunikation 2,9% „Pflicht“ als Teilnahmegrund kommt nur in Hildesheim vor, denn hier wird während der Arbeitszeit gekocht. „Eltern“ als Teilnahmegrund kommt nur in Bleckede vor, hier sehen sich einige Schüler von ihren Eltern verpflichtet teilzunehmen. Die Teilnehmerinnen wurden auch gefragt, welche (von uns vorgegebenen möglichen) Gründe mitzumachen für sie zutreffen. Teilnahmegründe (Mehrfachnennungen möglich) Ich esse gern Ich mache mit, weil ich gern mit anderen etwas mache Ich koche gern Ich koche mit, damit ich etwas zu Essen habe Ich möchte mehr darüber wissen, was und wie ich mir etwas zu Essen machen kann trifft zu 74,4% 69,2% 61,5% 53,8% 41,0% Das Interesse, etwas zu lernen, steht also eher im Hintergrund. Dies geschieht sozusagen nebenbei, im gemeinsamen Handeln. Anknüpfungspunkt in allen Einrichtungen ist ein niedrigschwelliges Angebot, ansetzend an den Bedürfnissen der Jugendlichen. Für das gemeinsame Kochen ist es vorerst nebensächlich, ob es sich um vollwertige, biologisch vertretbare oder ausgewogene Lebensmittel handelt. Die Akzeptanz des Angebots entscheidet sich u.a. über den Geschmack des Essens. In den durchgeführten Mitarbeiterinterviews war uns wichtig zu erfragen, wo die Problembereiche des Projektes gesehen werden. In Bleckede wird genannt die Akzeptanz der Teilnehmer untereinander, die Beteiligung der Jugendlichen an den einzelnen Arbeitsschritten und die Einhaltung von Absprachen während des Essens. 78 Armut und Gesundheit In Heimfeld können die Mahlzeiten nur spontan geplant werden. Die Jugendlichen sind sehr gewaltbereit. Ihre finanzielle Lage ist sehr angespannt. Es wird ausschließlich fleischlos gekocht, und dies ist immer wieder Diskussionspunkt. Die Jugendlichen haben eine große Abwehrhaltung gegenüber dem Abwasch. In der Einrichtung hat ein Generationswechsel der Jugendlichen stattgefunden. Die Teilnehmerbeteiligung und dementsprechend der Diskussionsaufwand ist hier sehr hoch und kostet die Mitarbeiterin viel Zeit und Energie. In Hildesheim haben die Projektnutzer wenig Struktur im Tagesablauf und wenig Durchhaltevermögen. Sie sind nicht „kritikfähig“, gepaart mit einem Hang zur Selbstüberschätzung, oder versuchen, sich Problemfeldern zu entziehen. Innerhalb der genutzten Küchen verschwinden immer wieder Arbeitsgeräte und anderes Inventar. In Wilhelmshaven haben die Jugendlichen große Defizite beim Zubereiten der Mahlzeiten, und auch die Tischmanieren waren/sind immer wieder ein Diskussionspunkt. Da das Angebot von Jugendlichen unterschiedlicher Kulturen angenommen wird, ist das Thema „kochen wir Fleischgerichte“ immer wieder aktuell. Innerhalb des Projektes gibt es einen sehr hohen Personalwechsel. Unsere Einschätzung, dass zur Anleitung der Jugendlichen pädagogische Mitarbeiter gefordert sind, hat sich hier bestätigt. Gefördert wird die Beteiligung der Jugendlichen an allen Arbeitsschritten bei der Zubereitung der Mahlzeiten (Planung, Einkauf, bis hin zum Abwasch). Dies geschieht selten reibungslos. In allen Einrichtungen wird das gemeinsame Zubereiten einer Mahlzeit als neue Möglichkeit angesehen, ganz lebenspraktische Kenntnisse und Erfahrungen zu vermitteln. Für die Jugendlichen steht nicht das Problem der Versorgung mit einer warmen Mahlzeit im Vordergrund. Andere Problemlagen, und diese sind nicht selten zahlreich, beschäftigen den einzelnen Jugendlichen mehr. Aber immerhin gibt etwas mehr als die Hälfte an, mitzukochen, damit sie etwas zu essen haben. In vier Einrichtungen hat es vor Projektbeginn keine gesundheits- oder ernährungsbezogenen Angebote gegeben. In drei Einrichtungen nimmt das Angebot, zu kochen, mittlerweile einen zentralen Stellenwert, in zwei Einrichtungen eine ganz wichtige Position ein. Es ist geplant ein Praxishandbuch zu erarbeitet über die Erfahrungen, wie Ernährungsprojekte in Einrichtungen der Sozialen Arbeit eingebunden werden können. Literatur: Bruns, H. [2000]: "PreisWerte Ernährung" - Gesundheitsförderung mit BewohnerInnen eines sozialen Brennpunktes. In: Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V., Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. u.a. (Hrsg.): Suppenküchen im Schlaraffenland? Hannover (Eigenverlag). Deneke, C.; Kaba-Schönstein, L.; Waller, H. [2000]: Gesundheitsförderung sozial Benachteiligter, in: "Theorie und Praxis der sozialen Arbeit", 1/2000. Deneke, C. [2001]: Food and more – Ernährungsbezogene Projekte für sozial benachteiligte Jugendliche. In: Geene/Gold/Hans (Hrsg.): Armut macht krank! Teil 2, Berlin. Klocke, A. [1995]: Der Einfluß sozialer Ungleichheit auf das Ernährungsverhalten im Kindes- und Jugendalter. In: E. Barlösius et. al.: Ernährung in der Armut, Berlin, sigma. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 79 Die Notwendigkeit armutspräventiver Netzwerkhilfe zur Stärkung von Ernährungskompetenzen am Beispiel der Gießener Weststadt Stephanie Lehmkühler Einleitung In jedem Haushalt, arm oder reich, wird von den Bewohnern ein individuelles Ernährungsverhalten praktiziert. Dieses kann von verschiedenen Einflussfaktoren abhängig sein, beispielsweise von Vorlieben und Abneigungen für bzw. gegen ein Lebensmittel, Kenntnissen über Ernährung, Krankheiten, Wünschen, Motiven, Bedürfnissen, Traditionen, Tischsitten, finanziellen Mitteln oder aktuellen Ernährungstrends. Aus Marktforschungsstudien sind Ernährungsleitbilder und -trends der Allgemeinbevölkerung bekannt. Hiernach präferieren die Befragten beim gesunden Essen die Appetitlichkeit, die Abwechslung, das Sich-Wohl-Fühlen und das Sich-Zeit-Lassen. An fünfter Stelle rangiert der Preis. Beim Einkauf haben die Qualität und Frische vor der Verfügbarkeit und der Orientierung im Geschäft das höchste Gewicht (Nestlé 1999). Die Bevölkerung orientiert sich nach folgenden Ernährungstrends: Fitnessgerichte, Fast Food und exklusives Essen (Hummer & Co) werden willkürlich miteinander kombiniert (GfK 1986). In einer Person vereinigen sich, je nach Situation, verschiedene Ess- und Kochtypen, z.B. der gesundheitsbewusste Esstyp, der Genussmensch, der rationale Esser, der hoffnungsvolle Koch-Nachwuchs und der Spitzenkoch (Iglo-Forum Studien 1991 und 1995). Beschreiben die dargestellten Charakteristika das Ernährungsverhalten von Armutshaushalten? In bisherigen Studien werden das Ernährungsverhalten, die tatsächliche Lebenssituation und der Gesundheitszustand von Armutshaushalten nur begrenzt abgebildet. Es wird gefordert, die quantitativ-statistischen Ebenen um qualitative zu ergänzen, die eine intensive Deskription der Zusammenhänge von Lebenslage, Armut, Ernährung und Gesundheit ermöglichen. Berichte aus der sozialen Praxis sowie ausführliche qualitative Interviews seien dazu besonders geeignet (Barlösius et al. 1995). Ernährungsarmut Welchen Einfluss auf das Ernährungsverhalten haben der soziale Status, das soziale Umfeld, das Bildungsniveau, die Gesundheit und die Krankheiten sowie die ökonomischen Ressourcen? Welche Lebensmittel kaufen Armutshaushalte ein? Welches Ernährungsverhalten wird in Armutshaushalten praktiziert? Welche Mahlzeiten werden zubereitet? Ist die Ernährung arm – bezogen auf Nähr- und Wirkstoffe, Ernährungsempfehlungen, Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe? Um diese Fragestellungen zu beantworten, soll zunächst der Begriff der „Ernährungsarmut“ eingeführt werden. Ernährungsarmut wird aus dem amerikanischen food insecurity abgeleitet und umfasst alle Bereiche von Essen, Trinken und Ernährung in Armutslagen sowie jede Situation, die zu einer Einschränkung in diesen Bereichen und im subjektiven Wohlbefinden führt. Ernährungsarmut lässt sich differenzieren in materielle und soziale Ernährungsarmut (Abbildung 1). 80 Armut und Gesundheit Materielle Ernährungsarmut bezeichnet jede Ernährung, die weder in ihrer Quantität noch in ihrer physiologischen und hygienischen Qualität bedarfsdeckend ist, sei es durch einen Mangel an Mitteln zum Erwerb der Nahrung (in Form von Geld oder anderen Zugangsberechtigungen) oder durch einen Mangel an Nahrung selbst (fehlende Lebensmittel, fehlende Distributionswege). Soziale Ernährungsarmut bezeichnet jede Ernährung, die es nicht erlaubt, in einer gesellschaftlich akzeptierten Weise soziale Beziehungen aufzubauen, Rollen und Funktionen zu übernehmen, Rechte und Verantwortlichkeit wahrzunehmen oder Sitten und Gebräuche einzuhalten, die jeweils im sozialen und kulturellen Umgang mit Essen und Trinken in einer Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Abb.1: Materielle und soziale Ernährungsarmut (modifiziert nach Feichtinger 1995) Die GESA5 Die qualitative Gießener Ernährungsstudie über das Ernährungsverhalten von Armutshaushalten (GESA) untersucht in Fallstudien das Ernährungs- und Einkaufsverhalten von 15 Armutshaushalten, die in einem sozialen Brennpunkt Gießens wohnen. Mit der kommunalen Untersuchung wird das Ziel verfolgt, die Verpflegungs- und Versorgungssituation der ausgewählten Familien im Kontext ihrer derzeitigen Lebenslage zu ermitteln. Von erkenntnisleitendem Interesse ist ferner die Feststellung der Ausprägungsformen materieller und sozialer Ernährungsarmut in den Familien sowie deren Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Familienmitglieder. Die teilnehmenden Haushalte weisen unterschiedliche Strukturen auf: Großfamilien, Rentner, junge Familien, Alleinstehende, Alleinerziehende, Kernfamilien; Familien der alten und neuen Armut6; Familien, die Sozialhilfe beziehen und welche, die über ein Erwerbseinkommen knapp über der Bemessungsgrenze der Sozialhilfe verfügen. Das Bildungsniveau der Familie ist bis auf zwei Familien der neuen Armut gering. Für die Deskription des Ernährungsverhaltens der Armutshaushalte wurde ein umfassender Ansatz unter Verwendung qualitativer und quantitativer Methoden entwickelt (Tabelle 1). Alle Erhebungsinstrumente verfolgen das Ziel, Kenntnisse über die Ernährungssituation der Armutshaushalte mit Hilfe von verhaltensorientierten, haushalts- bzw. familienspezifischen, biographischen und die Lebenslage betreffenden Fragestellungen zu ermitteln. 5 Die GESA wird am Institut für Ernährungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen, Professur Ernährungsberatung und Verbraucherverhalten durchgeführt (Lehmkühler/Leonhäuser 1998). 6 Alte Armut bezeichnet im Folgenden Familien, die schon längere Zeit in Armutssituation leben. Neue Armut bezeichnet Familien, die erst in jüngerer Zeit verarmt sind. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 81 Expertengespräche Ziel: Gewinnung von Informationen über den sozialen Brennpunkt bzw. die teilnehmenden Armutshaushalte zur Vorbereitung des Forschungsrahmens (u.a. mit betroffenen Armutshaushalten, Sozialarbeitern, Sozialamts-, und Jugendamtsleitern, Sozialdezernenten der Stadt Gießen). Teilnehmende Beobachtungen während regelmäßig stattfindender Treffen mit den Teilnehmern Ziel: Kontaktaufnahme zu den Armutshaushalten. Langdauernde Phase zum gegenseitigen Vertrauensaufbau. Leitfadengestützte Interviews über das Ernährungs- und Einkaufsverhalten (Tonbandmitschnitt. Wortwörtliche Transkription der Interviews mit allen Soziolekten.) Ziel: Ermittlung des Ernährungs- und Einkaufsverhaltens, der Lebenslage und biographischer Hintergründe. Halbstandardisierter Persönlichkeitsfragebogen Ziel: Erhebung soziodemographischer und physiologischer Daten. Vierwöchige Einkaufsprotokolle über den Einkauf der Lebens- und Genussmittel Ziel: Erhebung des Ernährungs- und Einkaufsverhaltens (mengenmäßige und preisliche Marktentnahmen). Teilnehmende Beobachtungen beim Einkaufen Ziel: Erfassung und Bestätigung des in Interviews und Protokollen dargestellten Einkaufsverhaltens. Armutspräventive Begleitmaßnahmen zur Stärkung von Ernährungs- und Haushaltsführungskompetenzen der betroffenen Armutshaushalte Ziel: Zielgruppenorientierte Maßnahmen zur Stärkung von Ernährungs- und Haushaltsführungskompetenzen. Tabelle 1: Methodenmix der GESA Ergebnisse der GESA In allen untersuchten Familien können unterschiedliche Ausprägungsformen materieller und sozialer Ernährungsarmut festgestellt werden. Ausgewählte Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt. Umgang mit finanziellen Mitteln In den meisten Familien reicht das Geld nicht bis zum Monatsende (materielle Ernährungsarmut mit unterschiedlich starken Ausprägungsformen). Die letzte Monatsphase wird als „Streckphase“ oder „Gummiwoche“ bezeichnet, die unterschiedlich lang sein kann. Stellvertretend erklärt eine Teilnehmerin den Begriff: „Wir ham bei uns den Ausdruck, die letzten zwei Wochen vom Monat sind, ist diese Gummiwoche. (...) weil das Geld ziemlich knapp wird und ma sehn muss, dass ma das besser einplant das Geld. Wie viel Geld ma jeden Tag ausgeben darf, damit s überhaupt noch schickt für diese, für die letzten paar Tage.“ In der Gummiwoche wird das restliche Geld oder werden die verbliebenen Lebensmittelvorräte sparsam verwendet. Unter Umständen sind die Familien 82 Armut und Gesundheit auf familiäre bzw. verwandtschaftliche Hilfe angewiesen. Sie leihen sich auf privater Ebene Geld und/oder Lebensmittel, um in der Phase der Gummiwoche für den Lebensunterhalt sorgen zu können. Dieses informelle Netzwerk stellt eine Besonderheit in der Organisation des Lebensalltags der Armutshaushalte dar. Ohne derartige private Unterstützungssysteme wäre am Monatsende kein Geld für den Lebensmitteleinkauf vorhanden. Die Betroffenen müssten hungern oder bei ihrer Bank einen Kredit aufnehmen bzw. ihren laufenden Kredit erhöhen. Der Kredit müsste von der nächsten Geldüberweisung, z.B. der Auszahlung der Sozialhilfe, zurückgezahlt werden. Schnell käme es wieder zu finanziellen Engpässen. Dass derartige Situationen vorkommen, schildern Betroffene: „Ich geh manchmal abends ins Bett, da hab ich Hunger. Da denk ich, naja, schläfst bald.“ „Wenn´s net schickt das Geld, muss ich mir bei der Bank was leihen. Das musst dann wieder abzahlen und s fehlt irgendwann wieder was.“ Die Familien der alten Armut sind in Bezug auf das „über den Monat kommen“ organisiert. Streckphasen sind für sie nichts Neues. Die Familien der neuen Armut müssen erst lernen, ihren Lebensmitteleinkauf mit wenig Geld zu organisieren. Eine Teilnehmerin berichtet, dass sie zunächst frische Lebensmittel in zu großen Mengen eingekauft habe, um Geld zu sparen. „Die Lebensmittel wurden dann jedoch schlecht. Ich musste sie wegwerfen und Neues kaufen. Unterm Strich hat sich keine Ersparnis ergeben. Eher das Gegenteil. Das musst ich dann erst lernen.“ Zu den erforderlichen Umstellungen des Ernährungsverhaltens gehören beispielsweise der Konsum von Billigprodukten statt Markenartikeln, von abgepackten Produkten statt Produkten von der Frischtheke oder der Verzicht auf ausgefallene, teure Wünsche. Auf diese Art versuchen Familien der neuen Armut ganz bewusst, Streckphasen zu vermeiden. Einkaufsverhalten Für den täglichen Einkauf suchen alle untersuchten Armutshaushalte Geschäfte des Stadtteils auf (ein Discounter und ein Supermarkt). Andere Einkaufsstätten wie der Gießener Wochenmarkt, Lebensmittelgeschäfte in anderen Stadtteilen oder in Kaufhäusern werden eher nicht genutzt. „Ich komm mir da fremd vor“, äußert eine Teilnehmerin. Die Auswahl der Lebensmittel erfolgt im Vergleich zum Auswahlverhalten der Allgemeinbevölkerung in erster Linie nach dem Preis: „Billig muss es sein“, heißt es. „Ich kauf das billigste was gibt und am meisten drin is. (...) Am Essen kann man viel, viel sparen“, äußert eine andere Teilnehmerin. Aspekte des Gesundheitswertes, des Nährwertes und des Genusswertes werden nicht genannt. Ferner ist die Qualität der Produkte nachrangig. Großfamilien müssen beim Lebensmitteleinkauf Organisationstalent beweisen. Die befragten Familien besitzen kein Auto. Für ihre Einkäufe lesen sie aktuelle Werbeprospekte der Gießener Großmärkte und halten insbesondere Ausschau nach Sonderangeboten. Anschließend werden Einkaufslisten geschrieben. Mit dem Bus fahren dann mehrere Familienmitglieder zum ausgewählten Großmarkt und kaufen auf Vorrat ein. Spontaneinkäufe sind dabei eher selten. „Dafür reicht´s Geld meist net“, wird erklärt. Mit dem Bus können die eingekauften Waren nicht nach Hause transportiert werden. Für den Weg wird ein Mini-Taxi (preisgünstiger als ein Taxi) geordert. Vor dem Großmarkt müssen die Familienmitglieder mit vollbeladenen Einkaufskörben auf das Mini-Taxi Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 83 warten und sich den Blicken anderer Verbraucher aussetzen. Fazit: Der Großeinkauf kostet Zeit, Geld und Nerven. Ernährungsverhalten Die Ausprägungsformen der sozialen Ernährungsarmut sind in den jüngeren Haushalten der neuen Armut gering, da früheres Essverhalten, d.h. das Essverhalten vor der Armutssituation, beibehalten wird. „Also das Essen ist vorrangig. Vor allem anderen. (...) Ich geb halt lieber mehr Geld für Lebensmittel aus und geb dafür weniger Geld für mich aus. Hauptsache der Kühlschrank, da ist Essen drin.“ Werden Kompromisse bei der Lebensmittelauswahl eingegangen, geschehen diese Entscheidungen ganz bewusst (Billigprodukte statt Markenartikel, s.o.). Die älteren Alleinstehenden der neuen und der alten Armut fühlen sich einsam und isoliert (starke Ausprägungsform der sozialen Ernährungsarmut). Ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben findet kaum statt. Für eine Person wird nicht gekocht. Essensgäste gibt es nicht bzw. sie werden auf Grund des engen finanziellen Budgets nicht eingeladen. Die Ernährungsversorgung wird zur puren Notwendigkeit. Eine ältere Teilnehmerin beschreibt diese Situation folgendermaßen: „Ach, ich muss ehrlich sage. Wenn s nit sein müsst, des Esse, ich hab Tage, da bräucht ich gar nichts esse. Für mich allein? Macht kei Freud.“ In der Mehrzahl der untersuchten Familien werden überwiegend Grundnahrungsmittel wie Brot, Kartoffeln und Teigwaren gekauft. Sie weisen einen hohen Sättigungswert auf und sind günstig in den Geschäften des Stadtteils zu besorgen. Dem Verbrauch von Wurst- und Fleischwaren kommt eine hohe Bedeutung zu. Milch und Milchprodukte, Obst und Gemüse haben dagegen einen niedrigeren Stellenwert. Sie werden häufig nur von den Kindern und Jugendlichen konsumiert. Fertiggerichte werden nur ab und zu verwendet. Sie ersetzen nicht die Nahrungsmittelzubereitung (vgl. Lehmkühler/Leonhäuser 1998). Gefragt nach ihren Wünschen für die Ernährung äußern die meisten Teilnehmer: „Man hat was mer hat und damit muss mer zurechtkommen.“ Mahlzeitenzubereitung Jüngere Mütter der alten Armut haben Probleme bei der Mahlzeitenzubereitung. Während ihrer Kindheit und Schulzeit wurde ihnen weder das Backen und Kochen noch das Führen eines Haushalts beigebracht. Die Frauen sind mit der Ernährungsversorgung ihrer Familien und der Haushaltsführung überfordert. Stellvertretend äußert eine Teilnehmerin der GESA: „(...) das is so Stress mit dene im Haushalt. (...) Ich hab mit achtzehnt, wo ich daheim ausgezogen bin, hab ich das Kochen ganz allein das gemacht. Da hab ich mich auch blöd angestellt, erste Woch. Die Nudeln sin mir angebrannt. Das war erstema. Daheim konnt ich nit koche, da muss de da koche lerne (...) auf einmal.“ Die (Ehe-)Partner müssen in der Küche mithelfen. Dies hat den positiven Effekt, dass die arbeitslosen Männer für eine sinnvolle Tätigkeit, dem Kochen einer warmen Familienmahlzeit, im Alltag verantwortlich sind. „Wohnung saubermachen, Einkaufen, Kinderbetreuung mach ich, und mein Mann kocht. (...) Er ist arbeitslos und kocht sehr gerne, und da übernimmt er das Kochen.“ Tabelle 2 liefert einen Einblick in die täglichen Mahlzeitenmuster der befragten Familien (Hauptmahlzeiten während der Erhebungsphase). Die Gerichte sind einfach zuzubereiten, wenig abwechslungsreich, teilweise sehr fetthaltig und beinhalten wenig Frisches 84 Armut und Gesundheit (z.B. Salat, Rohkost oder frisches Gemüse). Da die Antworten keine Häufigkeit der verzehrten Gerichte erkennen lassen, werden die Komponenten alphabetisch aufgeführt. • • • • • Brot Fischfrikadelle Fischstäbchen Frikadelle Gemüse (Blumenkohl, Erbsen und Karotten, Grünkohl, Spinat, Rosenkohl, Wirsing) • • Hähnchenschenkel Kartoffeln (insbesondere Pommes frites, Knödel, Bratkartoffeln, Kartoffelbrei) • Kotelett • Nudeln mit HackfleischSoße, Ketchup oder Tomatensoße Tab. 2: Typische Hauptmahlzeiten • • • • Pizza Salat (Bohnen-, Gurken-, Tomatensalat) Soßen aus Fertigpackungen Suppen (Bohnen-, Erbsen-, Linsen-, Nudelsuppe). Ernährung und Gesundheit Von ernährungs(mit)bedingten Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Hypertonie, Arteriosklerose, Magen-Darm-Erkrankungen und/oder Adipositas sind insbesondere Familienmitglieder der alten Armut betroffen. Ein Zusammenhang zwischen Erkrankung und Ernährung ist den Befragten häufig nicht bekannt. Gesundheit rückt erst dann in den Vordergrund, wenn ein Familienmitglied krank ist. Die Zahngesundheit ist bei allen erwachsenen Teilnehmern der alten Armut vernachlässigt worden. Schlechter Zahnzustand, Zahnlücken und Gebisse sind Normalität. Zahnschäden der Kinder und Jugendlichen wird durch institutionelle zahnmedizinische Präventionsmaßnahmen in Kindergärten und Schulen vorgebeugt. In den Familien der neuen Armut sind richtige Zahnpflege und –vorsorge bei allen Familienmitgliedern selbstverständlich. Fazit Das Ernährungsverhalten der Befragten kann insgesamt nicht als ernährungsphysiologisch ausgewogen und nicht als gesundheitsfördernd bezeichnet werden. Trotz intensiver Bemühungen, die Familie gesund und ausgewogen mit Essen und Trinken zu versorgen, lassen sich gemessen an den ernährungswissenschaftlichen Empfehlungen für eine gesundheitserhaltende und -fördernde Ernährung (DGE et al. 2000) einige Defizite feststellen. Sie sind kein Versäumnis der Betroffenen. Viele verschiedene Ausprägungsformen der sozialen und materiellen Ernährungsarmut grenzen den Handlungsspielraum „Gesunde Ernährung für die Familie“ ein. Das verfügbare Haushaltsbudget ist relativ knapp und veranlasst die Haushalte sparsam zu wirtschaften. Wenn gespart werden muss, wird häufig am Essen gespart. Die Ergebnisse der GESA ermöglichen keine repräsentativen Typenbildungen über Ernährungstrends von Armutshaushalten und Ausprägungsformen der Ernährungsarmut. Es können keine Rückschlüsse auf das Ernährungsverhalten aller in einem sozialen Brennpunkt Deutschlands lebenden Familien gezogen werden. Die untersuchten Armutshaushalte geben jedoch ein reales Bild von der Lebenslage der Familien wieder, die mit wenig Geld im sozialen Brennpunkt der Gießener Weststadt leben. Die Ergebnisse der GESA liefern ferner wichtige Ansatzpunkte für die Hypothesenbildung weiterführender Studien. In repräsentativen Untersuchungen könnten die aus der GESA gewonnenen Erkenntnisse überprüft werden, so dass sich das Ernährungsverhalten und die Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 85 unterschiedlichen Ausprägungsformen der Ernährungsarmut in Kategorien einordnen ließen. Jede Form der Ernährungsarmut könnte gezielt bekämpft werden. Armutspräventive Netzwerkhilfe zur Stärkung von Ernährungskompetenzen Die Ergebnisse der GESA verdeutlichen die Notwendigkeit des Bildungs- und Beratungsbedarfs in den untersuchten Armutshaushalten in Bezug auf ihren Ernährungs- und Gesundheitsstatus sowie ihre Haushaltsführung. Auf Grund der Befragungen über ihr Ernährungsverhalten wurden die Gießener Studienteilnehmer für das Thema „Gesunde Ernährung“ sensibilisiert. Schon während der Erhebungsphase zeigten sie Interesse an Unterstützungsmaßnahmen zur Stärkung ihrer Ernährungs- und Haushaltsführungskompetenzen. Aus ökotrophologischer Sicht ergaben sich die Fragen „Wie?“ (Methoden), „Womit?“ (Medien), „Durch was?“ (Inhalte), „Mit wem?“ (betroffene Armutshaushalte und Netzwerkpartner), „Wer?“ (professionelle Fachkräfte der Haushalts- und Ernährungswissenschaft), „Wo?“ und „Wann?“ (Rahmenbedingungen wie Ort und Zeit) können den Armutshaushalten zielgruppengerechte Unterstützungen angeboten werden, damit sich einerseits ihre Ernährungssituation verbessert und sie andererseits von Kindheit an eine gesunde Ernährung praktizieren können (Frage nach den Zielen - „Wozu?“)? Die oben genannten Ergebnisse verdeutlichen, dass die Ausprägungsformen der sozialen und materiellen Ernährungsarmut in den untersuchten Armutshaushalten multidimensional sind. Armutspräventive Maßnahmen zur Stärkung von Ernährungskompetenzen sind daher nicht, wie häufig voreilig vermutet, nur im monetären Bereich notwendig, sondern sie müssen die gesamte Lebenslage der Familien berücksichtigen. Eine zielgruppengerechte Ansprache und die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen zur Alltagsbewältigung setzen voraus, dass das soziale Umfeld, in dem sich die zu unterstützenden Haushalte bzw. Haushaltsangehörige bewegen, Verhaltensweisen, Rituale, ernährungsbezogene Wertorientierungen, Einstellungen, Meinungen, Bedürfnisse etc. bekannt sind. Nur wer seine Zielgruppe kennt, kann sie richtig ansprechen, bilden, beraten und mit angemessenen Informationen versorgen. Grundlagen für das Verständnis des Lebensalltags der Betroffenen liefert die GESA. Die Bekämpfung der Ernährungsarmut und der haushälterischen Probleme kann nicht allein durch Vermittlung von Koch- und Einkaufstechniken, Ernährungswissen sowie rationeller Haushaltsführung erreicht werden. Sie muss auch durch private, institutionelle und sozialpolitische Maßnahmen erfolgen, die jedes Familienmitglied befähigt, Bildung und Beratung wahrzunehmen und für sich zu beanspruchen. Für die Umsetzung armutspräventiver Netzwerkhilfe zur Stärkung von Ernährungs- und Haushaltsführungskompetenzen sollten verschiedene Settings zu einer Hilfe zur Selbsthilfe für Armutshaushalte in Bezug auf ihre Ernährung, ihre Kompetenzen in der Haushaltsführung, ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit kombiniert werden. Die Maßnahmen der Armutsprävention dürften nicht mittel- und oberschichtorientiert sein, sondern müssten insbesondere für Unterschichten angeboten werden und erreichbar sein. Diese Forderungen gelten sowohl für die Rahmenbedingungen, die Methoden, Inhalte und Medien als auch für die Anbieter von Unterstützungsmaßnahmen (niedrigschwellige Zugangsweise). Für effektive und effiziente Angebote (z.B. Beratungen, Schulungen, Ernährungsprojekte oder haushälterische Hilfen) könnten bestehende Einrichtungen wie die Gemeinwesenarbeit in sozialen Brennpunkten, Schuldner- oder 86 Armut und Gesundheit Familienberatungsstätten, der Soziale Dienst (Familienpflege), hauswirtschaftliche Dienstleistungsbetriebe sowie Kirchenorganisationen, Kindergärten und Schulen genutzt werden. Diese öffentlichen und privaten Institutionen haben den Vorteil, dass sie von den Betroffenen akzeptiert werden und etwaige Unterstützung schon in anderen Bereichen des täglichen Lebens angenommen wird. Die soziale Unterstützung müsste gegebenenfalls um passfähige Infrastrukturen ergänzt werden. Ferner würden Kommunikationsstrukturen benötigt, die den beteiligten Kooperationspartnern angemessen sind. Die armutspräventiven Maßnahmen sollten nicht nur als Kommstruktur sondern v.a. auch als Gehstruktur angeboten werden, d.h. die Fachkraft (z.B. ein Ökotrophologe oder eine hauswirtschaftliche Fachhilfe) geht mit der entsprechenden Maßnahme direkt zu dem nachfragenden Armutshaushalt bzw. in eine ihm vertraute Umgebung (z.B. Gemeinschaftszentrum oder Familienberatungsstätte). Die Armutshaushalte sollten zudem jederzeit die Möglichkeit haben, Unterstützung bei einer Beratungsstelle zu bekommen (Abbildung 2). Alle Unterstützungsangebote müssten langfristiger Art sein, da einmalige Beratungen und/oder (Bildungs-)Maßnahmen wenig bewirken können. Erst so wird die Hilfe zur Selbsthilfe möglich. Multiplikatoren: Kooperation Zielgruppe: Ökotrophologen, die zugleich die Aufgaben der Schulung und Koordination der Kooperationspartner übernehmen Öffentliche Projektträger Personen, die in Armutshaushalten leben Private Projektträger Angebote der Maßnahmen durch unterschiedliche Zugangsweisen: Komm- und v.a. Gehstrukturen Abb. 2: Niedrigschwellige Zugangsweisen zu armutspräventiven Maßnahmen durch Geh- und Kommstrukturen Welche Maßnahmen wurden bislang in der Gießener Weststadt durchgeführt? Eine Familie forderte fachkompetente Unterstützung beim Lebensmitteleinkauf. Die Planung des Einkaufs, die Durchführung und das anschließende Kochen einer warmen Mittagsmahlzeit für die Familie konnte fachlich unterstützt werden. Während einer Mutter-Kind-Freizeit wurde zusammen mit den Müttern, den Sozialarbeitern und der Autorin ein ganztägiges Ernährungsprojekt initiiert, an dem alle Akteure interessiert teilnahmen. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 87 Mehrmaliges gemeinsames Essengehen förderte die gesellschaftliche Teilhabe und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Beteiligten. Durch die GESA wurde das Thema „Ernährung“ im Verlauf der Erhebungsphase von einigen Stadtteilbewohnern verstärkt in den Beratungsstunden der Gemeinwesenarbeit nachgefragt. Die verantwortlichen Sozialarbeiter fühlten sich mit der Beantwortung der Fragen überfordert, da Ernährung in ihrer Ausbildung nicht gelehrt wird. Ob das eigene Wissen über gesunde Ernährung zur Weitergabe an die Armutshaushalte ausreichend sei, wurde von ihnen angezweifelt. Aus diesem Grunde wurde die Autorin gebeten, eine Multiplikatorenschulung über „Gesunde Ernährung“ für das gesamte Team der Gemeinwesenarbeit anzubieten. In der Schulung konnten nur einige Grundlagen über eine gesunde vollwertige Ernährung angesprochen und Fragen beantwortet werden. Daher wurde der Wunsch geäußert, regelmäßig über wechselnde Themengebiete der Ernährung geschult zu werden. „Wir werden regelmäßig in Suchtprävention, Gewaltprävention und Drogenmissbrauch geschult, aber über ein so elementares Thema wie Ernährungsprävention gibt es keine Angebote. Das ist aber ein ganz wichtiges Thema zur Unterstützung der Stadtteilbewohner“, erläuterten die sozialpädagogischen Fachkräfte. Zusammen mit verschiedenen Partnern wie dem Sozialdezernat der Stadt Gießen, der Professur Ernährungsberatung und Verbraucherverhalten, den Mitarbeitern der Gemeinwesenarbeit, einer evangelischen Gemeinde Gießens und interessierten Stadtteilbewohnern wurde die Idee eines Gartenprojektes zum Anbau und Verbrauch eigener Gemüse- und Obstsorten geboren. Ein geeignetes Gartengrundstück wurde von der evangelischen Gemeinde zur Verfügung gestellt. Erste Anbauversuche wurden mit Kräuterbeeten und –töpfen in der Kita des Stadtteils umgesetzt. In der bisherigen armutspräventiven Netzwerkhilfe zur Stärkung von Ernährungskompetenzen wurde in der Gießener Weststadt ein elementarer Meilenstein erreicht: Das Thema „Ernährung“ wurde im Verlauf der GESA als ein wichtiges Alltagsthema von der Zielgruppe der Armutshaushalte erkannt. In den bestehenden Kinder-, Jugend- und Erwachsenengruppen der Gemeinwesenarbeit finden außerdem Ernährungsprojekte nicht mehr unter dem Aspekt „Wie ernähre ich mich?“ sondern „Wie ernähre ich mich gesund?“ statt. (Literatur bei der Verfasserin.) 88 Armut und Gesundheit Projekt “Gesunde Ernährung für türkische Kinder und Familien: Multiplikatorenschulung und muttersprachliche Informationsveranstaltungen” Ilana Tautz Nach Ergebnissen der Schuleingangsuntersuchungen vom Gesundheitsamt Dortmund sind Schulanfänger ausländischer Herkunft doppelt so häufig übergewichtig wie gleichaltrige deutsche Kinder. Dieser Befund wird im Sonderbericht ”Gesundheit von Zuwanderern” vom Ministerium für Frauen, Jugend und Soziales des Landes NordrheinWestfalen bestätigt. Das Diagramm zeigt die Übergewichtsrate bei Schulanfängern, differenziert nach vier Bevölkerungsgruppen: Deutsche, im Heimatland geborene Ausländer, in der BRD geborene Ausländer und Aussiedler. Schuleingangsuntersuchung 1997 14% 12,1 12% 10% 8% 5,7 6,7 Deutsche 5,0 6% Ausl.Heim at Ausl.BRD Aussiedler 4% 2% 0% Ü bergew icht bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen In Anbetracht des erheblichen gesundheitlichen Risikos vom Übergewicht führt die Arbeitsgemeinschaft ”Kindergesundheit und Migration” beim Gesundheitsamt Dortmund das Projekt ”Gesunde Ernährung” durch. Das Projektkonzept beinhaltet Multiplikatorenschulungen und muttersprachliche Informationsveranstaltungen. Es richtet sich an Migrant/innen türkischer Herkunft als die zahlreichste Zielgruppe unter den in Deutschland vertretenen Zuwanderer-Nationalitäten. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 89 Projektübersicht Projekt gesunde Ernährung AG Kindergesundheit und Migration Konzept Multiplikatorenschulung Konzept Elternaufklärung Faltblatt-Entwicklung Multiplikatorenschulung (türk. Lehrerinnen, Arzthelferinnen, Kinderkrankenschwestern, Vereinsvertreterinnen, Sozialarbeiterinnen, Pädagoginnen) Informationsveranstaltung von Multiplikatoren für türkische Eltern in Moscheen, Schulen, türkischem Bildungszentrum, Eltercafés, Deutschkursen, Beratungsstellen... Das Projekt soll Familien türkischer Herkunft für den Zusammenhang von Ernährung und Gesundheit, sowie für gesundheitliche Risiken durch Übergewicht sensibilisieren und dazu motivieren, sich im Rahmen ihrer kulturspezifischen Essgewohnheiten gesund zu ernähren. Dabei geht es ausdrücklich um gesundheitliche und nicht um ästhetische Aspekte. Herkömmliche Strategien zur Gesundheitsaufklärung und Prävention finden kaum Zugang zu Migrant/innen. Dieses Projekt setzt daher auf den erfolgreichen Ansatz “niederschwelliger” Aufklärungsarbeit durch sprach- und kulturkompetente Fachkräfte (Multiplikatoren). Nach einer etwa fünfstündigen Schulung setzen die Multiplikatoren ihre Kompetenz in den von Zuwanderern in ihrem Alltag häufig frequentierten Einrichtungen (Moscheen, Kulturvereinen, Grundschulen etc.) ein. Als Multiplikator/innen kommen folgende Personen in Frage: Türkische Lehrerinnen, Arzthelferinnen, (Kinder)krankenschwestern, Sozialpädagoginnen, Vereinsvertreterinnen ... Nachfolgend werden die häufigsten Stolpersteine für gesundheitsfördernde Projekte für Migranten sowie für erfolgsversprechende Lösungen aufgeführt 90 Armut und Gesundheit Zielgruppenspezifische Herangehensweise Probleme Lösungen • Erreichbarkeit Zielgruppe • Türkische Multiplikatoren an häufig besuchten Orten (Moscheen, Schulen, türk. Bildungszentrum...) • Infos und Ratschläge passen nicht zur Lebensweise der Migranten • Integration türkischer Esskultur ins Ernährugskonept, Umstellung mit typischen Lebensmitteln aufgezeigt • Längere Infos (Broschüren) werden nicht gelesen • Faltblatt in türkisch: Ernährungspyramide mit typischen Lebensmitteln und Mahlzeiten, kurze Sätze Die in der Schulung vermittelten Kenntnisse können Multiplikator/innen sowohl in ihrer regulären Arbeit mit türkischen Klienten/Eltern/Schülern als auch in eigenständigen Informationsveranstaltungen zum Thema einsetzen. Der Schulungsteil "Interkulturelle Aspekte der gesunden Ernährung" beinhaltet Reflexion der türkischen Ernährungsgewohnheiten in Deutschland im Hinblick auf gesundheitliche Risiken und Beschwerden, sowie Methodik der schrittweisen Umstellung auf vollwertige Kost mit zielgruppenspezifischer Lebensmittelauswahl und Mahlzeiten. Folgende Schwerpunktthemen werden im Projekt behandelt: • • • • • • • • • Was beinhaltet gesunde (Kinder)Ernährung? Warum ist gesunde Ernährung wichtig? Einkaufs- und Zubereitungstipps Wie wird gesundes Essen für Kinder attraktiv? Gesundes Frühstück und Pausenverpflegung versus zuckerreiche kommerzielle "Kinderprodukte": "Pausensnacks", Schokoriegel u.ä. Zusammenhang Zuckerkonsum und Zahnerkrankungen Zusammenhang Bewegungsmangel und ges. Beschwerden/Risiken Türkische Essgewohnheiten in Deutschland. Mögliche Risiken: hoher Fett- und Zuckergehalt, keine Vollkornprodukte... Muslimisch/türkisch gesünder essen: Umstellung mit türkischen Produkten. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 91 Das PatenPräventionsProjekt (Papp) – ein unspezifisches Gesundheitsförderungsprojekt Silvia von Düffel Unspezifische Prävention hat seit Jeher auch in der Praxis der Schulen ihren Platz gehabt. Leider hat es dabei häufig an zwei Faktoren gefehlt: An der notwendigen Kontinuität und an der notwendigen Konkretion auf das spezifische System der Dies lag unter anderem daran, dass ein Kampagnencharakter dominierte (Drogen nehEinzelschule. men zu Kampagne zu Drogen, Gewalt in der Schule nimmt zu Kampagne zur Gewaltprävention) oder einzelne Highlights den Alltag der Schule bereichern sollten (Theateraufführungen o.ä.). Zudem gingen die zentral angelegten Präventionsvorhaben an den besonderen Bedürfnissen von Schule in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld häufig vorbei und erschienen den sie tragen sollenden Lehrkräften aufgesetzt. Mit einem Patenschaftsmodell könnte mehr Transparenz und Kontinuität in die Präventionsarbeit kommen, gleichzeitig wäre eine bessere Orientierung an den Bedürfnissen und Interessen der einzelnen Schulen möglich. Aktivitäten unspezifisch-präventiver Natur sollten vorrangig in den folgenden Bereichen stattfinden: • Gesunde Ernährung • Entwicklungsfördernde Bewegung • Förderung von Basiskompetenzen (in der Wahrnehmung, bei der Beziehungsgestaltung und im Verhalten) • Reflektierte Konsummuster. Zur Unterstützung bereits stattfindender und Entwicklung neuer Präventionspotenziale an einzelnen Schulen bietet sich nach unserer Einschätzung das angesprochene Patenschaftsmodell an. Als Paten kommen Vertreter aller in der Gesundheitsförderung engagierten Institutionen in Frage. Paten beraten und unterstützen ihre Patenschule(n) bei der Initiierung und Verstetigung präventiver Tätigkeiten in einem, ggf. auch in mehreren der genannten Bereiche. Sie sind Fachleute in den von ihnen vertretenen Schwerpunkten und haben einen Überblick über vorhandene schulische und außerschulische Ressourcen. Solche Ressourcen können von ihnen vermittelt werden, in Einzelfällen können sie sie auch selbst zur Verfügung stellen. Die Paten sollten an den jeweiligen Gesamtkonferenzen in den Schulen teilnehmen und über neue Entwicklungen in der präventiven Arbeit informieren sowie die situativen Bedingungen und den Bedarf schulischerseits aufnehmen. Daneben können sie der Schule bei der Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer sowie ggf. bei der Gewinnung geeigneter außerschulischer Fachkräfte und bei der Umsetzung der präventiven Vorhaben unterstützend zur Seite stehen. Das Angebot wendet sich im Prinzip an alle Schulen, die an einer Verstärkung ihrer präventiven Arbeit interessiert sind. Eine Konzentration der Aktivitäten ist bei der auch in Zukunft vorhandenen Knappheit der Ressourcen unumgänglich. Mit solchen Schulen kann nach Maßgabe vorhandener personeller Ressourcen eine Patenschaftsvereinbarung geschlossen werden. Bei den Schulen muss ein Interesse an einer längerfristigen Zusammenarbeit gegeben sein. Die Patenschaftsvereinbarung sollte zunächst über zwei Jahre laufen. 92 Armut und Gesundheit Ein Pate nimmt pro Schulhalbjahr an mindestens einer Sitzung der Gesamtkonferenz ”seiner“ Schule teil und steht bei Bedarf der Schulleitung, der Elternvertretung und der Schülermitverwaltung als Ansprechpartner zur Verfügung. Außerdem nimmt ein Pate an den dann halbjährlich stattfindenden Patentreffen zum Informations- und Erfahrungsaustausch sowie zur koordinierenden Planung teil. Die Aktivitäten von Paten und Schulen werden durch einen Koordinierungsausschuss begleitet, der von am Projekt teilnehmenden Paten und Schulen bestimmt wird. Der Ausschuss unterstützt laufende Maßnahmen, bemüht sich um Optimierung bzw. auch kritische Diskussion. Er sollte zusätzliche Mittel einwerben und ggf. neue Projekte anstoßen. Initiatoren dieses Projektes: Schulpsychologen des Schulpsychologischen Dienstes D. Geiselbrecht und R. Connemann, Leiter der Suchtberatungsstelle des Diakonischen Werkes Dipl.-Psych., Dipl.-Päd. H. Wulf, Ärztin des Jugendärztlichen Dienstes des Städt. Gesundheitsamtes Dr. G. Hoeltzenbein und die Referentin (Gesundheitsbüro im Gesundheitsamt). Auswirkung der Krebserkrankung eines Elternteils auf die Familie und speziell auf die Kinder Lida Schneider Um über dieses Thema „Auswirkung der Krebserkrankung auf die Familie“ sprechen zu können, müssen wir uns zunächst kurz klarmachen, was die Diagnose „Krebs“ für den Betroffenen selbst und die Familie bedeutet. Wenn wir uns ansehen, vor welcher Krankheit sich die Menschen am meisten fürchten, so ist dies mit Abstand Krebs. Krebs steht für Tod und Leiden. Schon das Wort allein hat eine furchteinflößende Wirkung, die Möglichkeit einer Heilung geht sicher keinem Betroffenen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung durch den Kopf. Dies trifft auf den Patienten wie auf die Familie zu. Ca. 300.000 Menschen sterben jährlich in der Bundesrepublik Deutschland an Krebs, nach Schätzungen leben jedoch etwa sieben bis neun Millionen mit der Krankheit. Wie leben diese Menschen? Wie lebt die Familie? Die meisten Patienten machen die Erfahrung, dass es meist nahestehende Menschen sind, die ihnen am meisten helfen, mit der Krankheit fertig zu werden, Partner, enge Freunde und Kinder. Sie helfen bei konkreten Problemen, übernehmen Aufgaben im Alltag, kümmern sich um Informationen. Der Krebskranke braucht und erwartet von seiner Familie Verständnis, Zuwendung, Toleranz und Geduld. Das bedeutet für die Partner und Kinder oft ein hohes Maß an psychischer, oft auch körperlicher Kraft, manchmal auch Überwindung (z.B. bei der Pflege eines künstlichen Darmausganges/ Tracheostomas). In Familien bauen sich im Lauf der Jahre ganz bestimmte Verhaltensmuster auf: Wir wissen, dass jedes Familiensystem seine spezifische Dynamik hat, in dem die Rollen und Reviere unter den Familienmitgliedern über Jahre verteilt sind. Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 93 Wenn nun ein Familienmitglied durch eine Erkrankung eine neue Rolle bekommt, wird das ganze Familiensystem gezwungen, eine neue Rollenverteilung vorzunehmen, was in der Regel für alle Beteiligten schwierig ist und oft zu großen Widerständen und neuen Krisen führt. Jeder muss seinen individuellen Platz in der Familie wiedersuchen und finden, jeder einzeln und alle zusammen. Wenn die Beziehung zwischen den Partnern vorher schlecht war, kann man nicht unbedingt erwarten, dass sie nun gerade in dieser belastenden Situation über längere Zeit sehr gut und liebevoll ist. Wenn die Familie vor der Krankheit wenig miteinander gesprochen hat, bzw. schwierige Themen immer schon ausgeklammert hat, wird sie dies auch jetzt tun. Oft hat man den Eindruck, dass die Partner fast mehr psychisch belastet sind als die Patienten selbst. Um den Patienten wird sich gekümmert, Freunde und Bekannte versuchen beizustehen, während der Angehörige sich oft sehr allein fühlt, nicht den Mut hat, dem Patienten von seinen Ängsten zu erzählen, und den Zwang verspürt, „immer lieb sein zu müssen“. Andererseits versuchen viele Krebskranke, die Angehörigen zu schonen: Ein Patient schreibt: „Krebs ist die Lepra unserer Zeit. Manchmal fühle ich mich tatsächlich unrein. Bei keiner anderen Krankheit habe ich je dieses Gefühl gehabt. Die ganze Zeit über fühle ich mich gebrandmarkt. Ich habe das Gefühl, ich müsse mich dafür entschuldigen, dass ich bald sterben werde, denn alle fühlen sich dadurch unbehaglich. Ich glaube, ich versuche immer, besonders munter und fröhlich zu sein, damit ich niemanden in Verlegenheit bringe.“ Neben diesen psychischen Problemen gibt es rein praktische: Die Patientin/ der Patient muss zur Therapie oder zum Hausarzt gefahren werden, Kinder und Enkelkinder, deren Betreuung übernommen wurde, müssen von der Schule abgeholt werden, alte, gebrechliche Eltern müssen gepflegt, Haustiere müssen betreut werden. Die Essenszeiten ändern sich, die Gesprächsthemen ändern sich, nichts ist mehr wie früher... Dazu kommt noch, dass der/die Patient/in für kürzere, längere Zeit oder überhaupt nicht mehr arbeiten gehen kann, somit der Verdienst weniger ist, finanzielle Verpflichtungen, wie z.B. Ratenzahlungen fürs Eigenheim laufen jedoch weiter. Der amerikanische Psychologe Lewis fand, dass familiäre Probleme von den Krebspatienten als die zweitschlimmsten Stressfaktoren nach der Krankheit selbst beschrieben wurden. Soviel zur Situation des Krebspatienten und seiner Familie allgemein, nun zur speziellen Belastung der Kinder, wobei hiermit Kleinkinder und ältere Kinder, Jugendliche und auch erwachsene Kinder gemeint sind. Wenn man Literaturrecherchen vornimmt, sieht man, dass es zum Thema fast nur Untersuchungen bei Brustkrebspatientinnen gibt. Die Untersucher geben übereinstimmend an, dass die (Brust-) Krebserkrankung der Mutter viel belastender für Jungen und Mädchen ist, als die Erkrankung des Vaters. Die Heidelberger Psychologin Häberle drückte dies so aus: „Frauen scheinen sich dem Leiden dieser Krankheit mehr auszusetzen als männliche Erkrankte und können in ihrer Rolle als Mutter und ‚Gefühlslieferantin‘ innerhalb der Familie viel weniger entbehrt werden.“ Eine Umfrage der CAWAC (Caring about Women and Cancer) an 799 Frauen zu sozialen Ängsten und Befürchtungen zeigte im November 2000, dass im Durchschnitt bei 49 Prozent der befragten Frauen die Angst im Vordergrund stand, die Beziehung und/oder 94 Armut und Gesundheit Lebensplanung würde negativ beeinflusst. Die Angst, sich nicht um ihre Kinder kümmern zu können, gaben lediglich dreizehn Prozent aller Frauen an, wobei in der Altersgruppe unter fünfzig Jahren diese Sorge natürlich größer war und bei 26 Prozent lag. Hier zeigt sich also, dass die Sorge um die Belastung der Kinder bei den Frauen nicht im Vordergrund steht. Dies sehen wir in der täglichen Praxis, es wird auch von allen Untersuchern so angegeben. Die Eltern sind so beschäftigt mit der Krankheitsverarbeitung und dem Aufrechterhalten einer gewissen „Normalität“ im Alltagsablauf, dass sie nicht mehr viel Zeit haben, sich um die Kinder und ihre Probleme zu kümmern. Dies ist die eine Seite. Andererseits zeigte eine große Umfrage im Auftrag der Zeitschrift „Stern“, die im Juli 2001 veröffentlicht wurde, zur seelischen Gesundheit von Kindern gesunder Eltern zwischen vier und achtzehn Jahren eine erschreckende Diskrepanz zwischen den Angaben der Eltern und denen der Jugendlichen. Es wurden 2000 Eltern und 1065 Jugendliche zwischen elf und achtzehn Jahren interviewt. Bei sämtlichen Feldern, nach denen die Gruppen befragt wurde, zeigte sich, dass Kinder mit größeren Sorgen leben und umzugehen haben. Es wurde etwa gefragt nach „Einsamkeit“, „viel weinen“ und „Albträumen“. „Misstrauen“ zu empfinden gaben zum Beispiel 52,2 Prozent aller Kinder an, gegenüber nur 22,1 Prozent der Eltern. Zu den gleichen Ergebnissen kommen amerikanische Psychologen. Viele Studien belegen, dass die Eltern grundsätzlich geringere Prozentzahlen zu Belastungen der Kinder angeben als diese selbst. Daher sollte man neben den Eltern immer auch die Kinder zu ihren Belastungen befragen. Ich höre öfter von Patienten mit kleineren Kindern: „Da ist alles in Ordnung, wir sprechen nicht darüber.“ Die Kinder, so klein sie auch sind, haben natürlich ganz feine Antennen, spüren genau die Unruhe von Vater oder Mutter, veränderte Minen, Gesprächsfetzen. Kommentare der Mitschüler im Kindergarten oder der Schule verunsichern sie immens, besonders, wenn sie mit den Eltern nicht darüber sprechen können. Je nach Temperament reagieren kleine Kinder unterschiedlich: Sie ziehen sich zurück, verhalten sich zum Teil wieder wie Babys, lutschen am Daumen, kauen Nägel. Wenn sie schon trocken waren, brauchen sie wieder eine Windel. Manchmal werden sie auch aggressiv, machen Spielsachen mutwillig kaputt, was sie früher nie taten. Meist ist eine diffuse Angst der Auslöser. Wenn diese Kinder aufmerksame Zuwendung erfahren, lässt die Aggression in der Regel deutlich nach. Wenn die Mutter nach dem Krankenhausaufenthalt nach Hause kommt, entstehen neue Probleme. Alles freut sich über die Rückkehr, aber die Kinder haben seit Beginn der Erkrankung keine Grenzen mehr gesetzt bekommen: Manche Großeltern oder andere Verwandte versuchen in bester Absicht, den Kindern aus Mitleid alle Wünsche von den Augen abzulesen. Nach der Rückkehr der Mutter soll nun wieder Normalität einkehren, zum Kleinkind muss eine neue Beziehung aufgebaut werden, die Kinder testen jedoch die gewohnte Grenzenlosigkeit weiter aus. Mutter ist körperlich und psychisch noch deutlich angeschlagen, nicht in der Lage, wieder Grenzen zu setzen, auch aus schlechtem Gewissen: „Jetzt war ich so lange weg, jetzt muss ich doch für meine Kinder da sein, ich kann doch nicht streng zu ihnen sein.“ Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 95 Wie kann man diesen Kindern nun helfen? Als Motto für jegliche Hilfe für Angehörige und speziell für die Kinder krebskranker Eltern in jedem Alter kann die Empfehlung in den blauen Ratgebern der Deutschen Krebs-Hilfe im Heft „Hilfe für Angehörige“ dienen: „Offene und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Gespräche zwischen allen Beteiligten von Anfang an werden dazu beitragen, dass sich die Beziehung zwischen dem Kranken und dem Angehörigen entspannt gestaltet, und dies wird sich positiv auf das Erleben der Gesamtsituation auswirken.“ Einige Empfehlungen aus der Winkelwald-Klinik in Nordrach/Schwarzwald, die Mütter-Kind-Kuren für Betroffene anbietet: 1. Man sollte altersentsprechend offen mit den Kindern sprechen. In welchem Alter auch immer gibt es nicht: “Das Kind versteht das noch nicht“, denn Kinder spüren sehr genau die Bedrohlichkeit der Situation und machen sich ihre eigenen Gedanken. 2. Es ist hilfreich, die Erzieherinnen im Kindergarten zu informieren, klare Grenzen zu setzen, deutlich zu machen, dass bei Oma/Opa/Tante Entscheidungen anders sein dürfen als zu Hause. 3. Feste Zeiten einplanen, die nur den Kindern gehören, zum Kuscheln, Schmusen, Vorlesen etc. 4. Wenn möglich, Hilfe annehmen, für zeitweise Versorgung der Kinder, damit Ruhepausen möglich sind, die wiederum den Kindern zugute kommen. Bei Schulkindern vor der Pubertät sieht die Situation anders aus. Wenn das Kind in die Schule geht, löst es sich schrittweise vom Elternhaus, es versteht die Bedrohlichkeit der Erkrankung. Kinder in diesem Alter übernehmen oft eine fürsorgliche Rolle, sie bringen der Mutter Tee ans Bett, bemuttern sie, so gut sie können. das Gefühl „ich kann etwas tun“ vermittelt dem Kind ein Gefühl von Wichtigkeit, es gibt ihm Halt in der Ungewissheit, die die Krebserkrankung ausgelöst hat. Gelegentlich haben die Kinder Schuldfantasien: „Ich bin schuld an Mutters Erkrankung, weil ich nicht brav war“ oder: „Wenn ich nicht brav bin, wird Mutter wieder krank“. Manchmal lassen die Leistungen in der Schule massiv nach. Manchmal gestatten sich die Kinder keine Freude mehr im Alltag. Sie meinen, nicht mehr lachen zu dürfen, wie es übrigens auch bei erwachsenen Angehörigen, Partnern oft vorkommt, die ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie noch fröhlich sind... Kinder in diesem Alter beobachten auch genau, wie der Vater sich verhält. Ist er fürsorglich, wird dies nachgeahmt. Sagt er, die Mutter solle sich zusammennehmen, wird dieses Signal von den Kindern sehr wohl verstanden. Einige hilfreiche Regeln für dieses Alter: • In der Schule mit den Lehrern über die Situation sprechen, Leistungseinbrüche nicht dramatisieren. • Die Kinder von Schuldgefühlen entlasten, Bravsein hat nichts mit Krankheit zu tun. • Den Kindern auch längerfristig kleine Aufgaben im Haushalt zuteilen. • Notwendige Ruhepausen für die Mutter nennen und sagen, dass Mutter sehr wechselnd belastbar ist. • Die Kinder die Narbe ansehen lassen, den Haarausfall erklären, Perücke und Prothese ansehen lassen und erklären. 96 Armut und Gesundheit • Fragen der Kinder über die Gefährlichkeit der Krankheit ernst nehmen, nicht bagatellisieren oder tabuisieren. • Feste Zeiten einplanen, die nur den Kindern gehören. Als dritte und letzte Gruppe interessieren uns die Jugendlichen, das heißt die Altersgruppe zwischen dreizehn und zwanzig Jahren. Die Kinder sind nun selbst in einer Umbruchphase: Die hormonelle Umstellung mit allen gefühlsmäßigen Gewittern, die Entwicklung zur jungen Frau oder zum jungen Mann schafft die Suche nach der eigenen Identität. Die Eltern sind nicht mehr Vorbilder, sondern altmodisch, schwierig, eigentlich entbehrlich. Zum Vorbild wird die Clique, der Verein, Freundschaften und auch die erste Liebe fällt in diese Zeit. In genau diese Zeit der Stürme und Gegensätze, in der die/der Jugendliche aus dem Elternhaus drängt, bricht nun die Krankheit ein und zwingt ihn dazu, sich wieder intensiv mit dem Elternhaus zu beschäftigen, wieder Aufgaben zu übernehmen, die er sich vielleicht mühsam vom Hals geschafft hatte. Die Mutter als verlässliches Zentrum fehlt. Selbst wenn sie aus dem Krankenhaus wieder zurückgekehrt ist, bleibt ein großes Stück Angst: Das Bild der fürsorglichen, ständig verfügbaren Mutter hat einen Riss bekommen. Mädchen in diesem Alter erleben plötzlich eigene Bedrohtheit. Brustkrebs und die Frage der Vererbung münden in: „Mutter hat mir vielleicht Krebs vererbt“. Es gibt Töchter, die sich total von ihrer kranken Mutter zurückziehen, sie reden nicht mehr mit der Mutter oder gehen selber zum Arzt. Untersuchungen zeigen, dass noch viele Jahre nach einer Mastektomie bei der Mutter die Brust der Tochter ein extrem angstbesetztes Organ ist. Der „verstümmelte“ Körper der Mutter ist ein wichtiges Gesprächsthema. Ein Absacken in der Schule ist in dieser Phase sehr häufig, kann jedoch nicht immer der Krankheit angelastet werden. Die Empfehlungen für diese Altersstufe sind praktisch wieder die gleichen. Je geringer das Tabu, je offener der Umgang mit der Erkrankung in der Familie ist, desto geringer ist die Angst. Wie in jeder Altersgruppe ist Ernstnehmen der Probleme, geduldiges Daraufeingehen, offene Gespräche und Zeitnehmen dafür wichtig. Nirgends scheinen jedoch „Patentrezepte“ weniger angebracht als in dieser einmaligen Situation, die durch eine lebensbedrohende Krankheit hervorgerufen ist. Jede Familie muss ihren eigenen Weg finden im Umgang mit den Problemen der Kinder. Kurz möchte ich noch auf die besondere Situation eingehen, wenn die Krebserkrankung nicht mehr zu beherrschen ist, sondern fortschreitet. Gerade auch diese Phase der Erkrankung ist für alle leichter zu ertragen, und macht weniger Angst, wenn klar und offen darüber gesprochen wird, die Fragen der Kinder ernst genommen und offen beantwortet werden. In der Regel wird von allen Beteiligten, auch von den Ärzten das Thema „Sterben und Tod“ eher beiseite geschoben, nicht angesprochen, verneint. Es ist auch für die Angehörigen extrem schwierig, herauszufinden, ob der/die Patient/in über Sterben und Tod sprechen möchte und kann. Es kann für alle eine große Befreiung sein, wenn behutsam nach Plänen und Wünschen für die nächsten Wochen und Monate gefragt wird. Die Kinder brauchen in dieser Lebensphase eine dem Alter angemessene Erklärung, was mit Vater oder Mutter ist, wo er/sie hingeht. Der amerikanische Psychiater Adams-Greenly weist darauf hin, dass Kinder im Gegensatz zu Jugendlichen all ihre Gefühle in die Eltern investieren. Daher trifft der Tod eines Gesundheitsprobleme von Kindern in Armut 97 Elternteils abgrundtief das gesamte Leben des Kindes. Es ist konfrontiert mit einem frühen „dem Schicksal Ausgeliefertsein“, der Notwendigkeit, etwas zu akzeptieren, was eigentlich nicht zu akzeptieren ist, nämlich den Tod, zu einem Zeitpunkt, wo seine geistigen Ressourcen dafür noch nicht genügend sind. Weiterhin weist Adams-Greenly darauf hin, dass die Verlusterfahrung des Kindes nicht gleich der Erfahrung des Erwachsenen ist. Mutter oder Vater verlieren die Gattin/den Gatten, den Geliebten, Freund, Partner. Das Kind verliert den Ernährer, den Beschützer, das Idol. Karolynn Siegel, Psychologin aus New York, stellte 1996 eine Studie vor, in der Kinder untersucht wurden, die vom bevorstehenden Tod von Vater oder Mutter gewusst hatten. Diese Kinder zeigten in der terminalen Phase der elterlichen Krebserkrankung eine deutlich höhere psychische Verletzbarkeit als „normale“ Kinder, die meisten hatten jedoch nach dieser Studie ein Jahr nach dem Tod des Elternteils wieder zum „normalen“ Leben zurückgefunden. Trotzdem warnen Psychologen vor den langfristigen Konsequenzen, hierüber ist bisher wenig bekannt. Es kann sein, dass die Kinder, die nach dem Verlust eines Elternteils wieder gut an das normale Leben angepasst erscheinen, ein Risiko behalten, in einer späteren Lebensphase emotionale Probleme zu bekommen. In vielen, den meisten, Fällen wird es möglich sein, durch die Unterstützung der Familie die Probleme der Kinder zu beherrschen, d.h. sie nicht zu groß werden zu lassen, so dass bleibende psychische Schäden davongetragen werden. In den Situationen jedoch, wo die Eltern oder Angehörigen hilflos sind, sich überfordert fühlen, sollte professionelle Hilfe gesucht werden, in Form einer psychologischen Beratung durch Fachkräfte. Ich möchte zum Schluss kurz eine Initiative vorstellen, das heißt einen Verein, den wir vor vier Jahren in Offenbach gegründet haben: „Hilfe für Kinder krebskranker Eltern“ Wir haben eine Reihe von Vorträgen zum Thema gehalten, als wir etwas Geld durch Spenden und Mitgliedsbeiträge gesammelt hatten, stellten wir eine Psychologin ein, die auf diesem Gebiet Erfahrung hat. Sie bietet, getragen vom Verein und kostenlos für die Nutzer, Gespräche zum Thema an (betreffend immer die Probleme der Kinder, nicht die eigene Krankheitsverarbeitung). Es kommen zu den Gesprächen Ehepaare, Mütter oder Väter allein, mit den Kindern, Kinder allein, je nachdem. Die Reaktionen sind eigentlich immer sehr positiv, die Initiative ist in Deutschland einmalig, die Psychologin führt gelegentlich auch telefonische Beratungen durch, wenn die Betroffenen zu weit weg wohnen. Zum Schluss noch ein Wort des Dichters Novalis, der selbst schwer erkrankt war: „Krankheit liefert aus, aber macht sensibel und offen, Krankheit macht gebrechlich, aber die Gebrochenheit schafft erst Selbstentfaltung“. Bei einem verständnisvollen, einfühlsamen Umgang mit der Krankheitssituation in der Familie kann die Krankheit auch eine Chance sein, eben zur Selbstentfaltung, zum Bewusstwerden der Stellung der Familienmitglieder zueinander, der Gefühle füreinander und zu einem festeren Zusammenwachsen. 98 Armut und Gesundheit Literatur: Adams-Greenly, M. et al. [1983]: Helping the children of fatally ill parents. Amer. J. Orthopsychiat.53 (2), S. 219-229. Brech, Cl. et al. [1999]: Brustkrebserkrankung und weibl. Identitätsentwicklung: die Bedeutung von Beziehungserfahrungen adoleszenter Töchter von Frauen mit Mamma- Ca. Z. Sexualforsch. 12,. Brown, G.W. et al. [1986]: Loss of parent in childhood and adult psychiatric disorders. Psychological Medicine London, 16(3): S. 641-659. Harris, T. et al. [1986]: Loss of parent in childhood and adult psychiatric disorder: the role of lack of adequate parental care. Psycholog. Medicine, S. 16. Kelly, P.T. [1987]: Risk counseling for relatives of cancer patients. J.Psychosoc. Oncol. 5 (1), S. 65 – 79. Lewis, F.M. et al.: The family`s functioning with chronic illness in the mother: the spouse`s perspective. Lewis, F.M. [1996]: The Impact of Breast Cancer on the Family: Lessons learned from the children and adolescents. John Wiley & Sons Ltd. Schäffler, T. [1988]: Auswirkungen der Diagnose „Brustkrebs“ auf Töchter betroffener Frauen. Diplomarbeit, TU Berlin. Siegel, K. et al. [1996]: Pattern of communication with children when a parent has cancer. Cancer and the Family. Social Science and Medicine Oxford 1989; 29(1): S. 1261ff. Trabert, G. [2001]: Als der Mond vor die Sonne trat. Editions Mathieu. Welch, A.S. et al. [1996]: Adjustment of children and adolescents to parental cancer. Cancer April 1, 1996, Vol.77 Number 7. Wellisch, D.K. et al.: Psychological Functioning of Daughters of Breast Cancer Patients. Psychosomatics Vol. 32, Nr 3 1991 (Part I), Vol. 33, Nr 2 1992 (Part II), Psycho-Oncology Vol 5, 1996 (Part III). Wellisch, D.K. [1979]: Adolescent acting out when a parent has cancer. Int J of Family Therapy 1 (3). Wellisch, D.K. [1981]: Family relationships of the mastectomy patient: interactions with the spouse and children. Isr J Med Sci 17: S. 993-996. 99 Kapitel 3 Frauen und Armut 100 Armut und Gesundheit Gesundheitsförderung für Frauen – Netzwerke für Frauen Sigrid Göllnitz, Ute Sonntag Im ersten Beitrag stellt Prof. Dr. Ulrike Maschewsky-Schneider von der TU Berlin den Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland vor, der im Mai 2001 veröffentlicht worden ist. Der Bericht betont den Lebensweisenansatz und spricht auch Ressourcen und Stärken der Frauen an. Es werden ausgewählte Bereiche dargestellt und deren Relevanz für die verschiedenen sozialen Lagen diskutiert. Im zweiten Beitrag weist Helga Kühn-Mengel, Präsidentin der Bundesvereinigung für Gesundheit (BfGe) und Mitglied des deutschen Bundestages (SPD), auf deutliche Defizite bezüglich des Themas Frauengesundheit in Prävention, Forschung und Praxis des bundesdeutschen Gesundheitswesens hin. Dieser defizitäre Ausgangsstand war und ist die Grundlage für zahlreiche politische Aktivitäten der Regierungskoalition, wie die Einbringung des Antrages „Frauenspezifische Gesundheitsversorgung“, die Initiierung des „Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland“, die Einrichtung eines Referates „Frauen und Gesundheit“ im Gesundheitsministerium, die Förderung von Prävention und Selbsthilfegruppen, die Aktivitäten zur Einführung eines flächendeckenden Mammographie-Screenings nach europäischen Leitlinien und weiteres. Angelika May vom Gewaltinterventionsprojekt S.I.G.N.A.L., Berlin, thematisiert die Gewalt gegen Frauen, von der laut internationalen Studien und dem UN-Frauenbericht jede dritte Frau betroffen ist, als großes Gesundheits- und Armutsrisiko mit hohen volkswirtschaftlichen Folgekosten durch enorme körperliche, psychische oder psychosomatische Kurz- und Langzeitfolgen. Nach Einschätzung der Referentin wird dieses Problem in der medizinischen und psychosozialen Versorgung jedoch trotz der bekannten Fakten nach wie vor weitestgehend tabuisiert. Zu selten würde demzufolge Gewalt als Ursache gesundheitlicher Störungen erkannt, und entsprechend eingeschränkt verliefe deshalb auch die geleistete Hilfe. Ziel des Projektes S.I.G.N.A.L sei deshalb, die gesundheitliche Versorgung von Frauen mit Gewalterfahrungen zu verbessern. Das Projekt formuliert dafür entsprechende Forderungen an die Akteure im Gesundheitswesen einschließlich der Politik und kooperiert zwecks modellhafter praktischer Umsetzung derselben mit zwei großen Berliner Kliniken. Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet. Regine Steinwerth, Gesundheitsamt Magdeburg, berichtet schließlich über das im Jahr 2000 gegründete „Kommunale Aktionsbündnis gegen Gewalt an Frauen und Kindern“ in Magdeburg. In diesem Bündnis kooperieren freie Träger, diverse Ämter, Institutionen, Verbände, Fachöffentlichkeit und Initiativen, um gemeinsam zur Minderung von Gewalt im Geschlechterverhältnis beizutragen, arbeitsfeldübergreifend kommunale Handlungsstrategien zu entwickeln, Ressourcen zu überprüfen etc. Vier Fachgruppen bearbeiten die Schwerpunkte Prävention/Öffentlichkeit/Recht, Unterstützungsangebote, Kinder und häusliche Gewalt und Täterarbeit. Im Rahmen der Vernetzung erfolgt aktuell die Mitwirkung an der Erarbeitung eines Leitfadens für die ärztliche Praxis zum Thema häusliche Gewalt. Die Arbeit des Bündnisses ist vom Stadtrat legitimiert. Frauen und Armut 101 Als Fazit dieses Workshops stellen die Teilnehmerinnen folgende Forderungen auf: • Alle wichtigen Gremien im Gesundheitswesen, wie z.B. der Bundesausschuss Ärzte/Krankenkassen und ähnliche, sollten prinzipiell paritätisch besetzt werden, um die spezifischen Erfordernisse und Sichten der Frauen gleichrangig in die zu fällenden Entscheidungen einzubringen • Für die dringend zu schaffenden bzw. auszubauenden Netzwerke und Projekte gegen häusliche Gewalt müssen unbedingt Möglichkeiten zur Regelfinanzierung erschlossen werden. (Das skizzierte S.I.G.N.A.L. – Projekt läuft ehrenamtlich.) • Die Sensibilisierung breiter Bevölkerungsschichten bezüglich des Themas Gewalt gegen Frauen (und Kinder) muss zielgerichtet vorangetrieben werden. • Verstärkt muss im Kindes- und Jugendalter eine effektive bereichsübergreifende Gewaltprävention etabliert werden. • Alle betroffenen Organisationen und Institutionen sollten sich in Forschung und Versorgung stärker an frauenspezifischen Lebenssituationen orientieren. Insbesondere wird die zu gering ausgeprägte frauenspezifische Sicht in der Medizin kritisiert. • Eine Erarbeitung von Behandlungsstandards zum Thema "häusliche Gewalt" ist dringend erforderlich. • Entsprechend notwendige Schulungen von vor allem medizinischem Personal zur Erkennung von und zum Umgang mit häuslicher Gewalt müssen die stets vorhandenen sozialwissenschaftlichen Bezüge adäquat berücksichtigen. • Vor allem aus den Erfahrungen des Magdeburger „Kommunalen Aktionsbündnisses“ heraus, wird die Empfehlung der verstärkten Bildung entsprechender Netzwerke/Aktionsbündnisse sowohl auf lokaler Ebene - und hier mit Stadtratsbeschluss bzw. Stadtratsempfehlung - als auch auf Landesebene abgeleitet. Dem Ausspruch einer Teilnehmerin: „Wir brauchen einen langen Atem!“ wurde nicht widersprochen. Die Erarbeitung konkreter Lösungswege zur Erfüllung der Forderungen, unter Benennung klarer Verantwortlichkeiten und zu mobilisierender Kräfte, Bereiche und Institutionen konnte aus Zeitgründen nicht mehr realisiert werden. Eine weitere Arbeit an diesem Thema ist deshalb erforderlich. 102 Armut und Gesundheit Die gesundheitliche Situation von Frauen in Deutschland7 Ulrike Maschewsky-Schneider 1 Warum frauenspezifische Gesundheitsberichterstattung Ich möchte in meinem Beitrag beispielhaft deutlich machen, warum wir eine frauen- und geschlechtsspezifische Betrachtung von Gesundheit brauchen und welche Konsequenzen daraus für die Gesundheits-, Sozial- und Frauenpolitik resultieren. Ich werde zeigen, welche Konzepte und Sichtweisen notwendig sind, um Geschlechterunterschiede angemessen herauszuarbeiten und einige empirische Belege für Unterschiede zwischen den Geschlechtern und Besonderheiten der gesundheitlichen Situation und Versorgung von Frauen bringen. Mein Vortrag endet mit Forderungen für die gesundheitliche Versorgung von Frauen und Vorschlägen für eine Verbesserung der Forschungssituation. 2 Ziele und Ansätze für frauen- und geschlechtsspezifische Gesundheitsforschung und Gesundheitsversorgung Im Mai letzten Jahres hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den ersten deutschen Frauengesundheitsbericht herausgegeben und im Oktober wurden die Ergebnisse in einem Kreis von fast 200 Expertinnen und Experten auf einer Tagung des Ministeriums in Hinblick auf seine Konsequenzen für die Politik und Versorgung diskutiert. Auch einige Bundesländer wie etwa Berlin, NRW, Bremen oder Baden-Württemberg haben frauen- oder geschlechtsspezifische Gesundheitsberichte herausgegeben. Damit zählen diese Berichte zu den wenigen frauen- und geschlechtsspezifischen Berichten in Deutschland und Europa. Was diese Berichte auszeichnet ist der soziale und gesellschaftliche Bezug. So stand die Tagung zum Frauengesundheitsbericht des Bundes bezeichnender Weise unter dem Motto „FrauenLeben, FrauenArbeit, FrauenGesundheit“. Dieses Motto spiegelt den Ansatz der Frauengesundheitsforschung deutlich wider. Frauengesundheit ist nicht als eine rein medizinische Angelegenheit zu sehen. Sie ist auch nicht auf die reproduktive Gesundheit, also die Gesundheitsbelange, die mit der Gebärfähigkeit der Frauen und ihrer hormonellen Situation zu tun haben, zu reduzieren. Die Gesundheit von Frauen ist nur richtig zu verstehen, wenn ihre Lebensbedingungen in der Familie, in der Haus- und Erwerbsarbeit, im sozialen und im Wohnumfeld mit berücksichtigt werden. In diesen Lebensbereichen müssen wir nach den Einflussfaktoren suchen, die ungünstige Auswirkungen auf die Gesundheit der Frauen haben, aber auch die positiven Elemente herausarbeiten, aus denen die Frauen Kraft und Reserven für den Erhalt ihrer Gesundheit und ihres persönlichen Wohlbefindens schöpfen. Ausgangspunkt für die Frauengesundheitsforschung war eine konsequent frauenspezifische und frauengesundheitspolitische Sichtweise, und sie steht in diesem Sinne in der Tradition der Frauengesundheitsbewegung. Von dieser war an der Medizin kritisiert worden, dass sie die Geschlechterunterschiede nur unzureichend berücksichtigt habe. In 7 Nachdruck des Vortrags: Maschewsky-Schneider, U. Gesundheitliche Situation von Frauen in Deutschland. Veranstaltung des DGB Bildungswerk Bayern (Hrsg.) Frauen und Gesundheit. Forumgesundheit, 10.2.2002 in München Frauen und Armut 103 der Medizin gelte - wie auch in den anderen Wissenschaften - das sogenannte „androzentristische“ Modell. Dies besagt, dass Erkenntnisse, Methoden und Theorien in den Wissenschaften am männlichen Modell ausgerichtet seien. Im androzentristischen Wissenschaftsmodell werden Erkenntnisse, die für Männer gewonnen wurden, ungeprüft auf die Frauen übertragen. Dies war z.B. bei der Herzinfarktforschung Jahrzehnte lang der Fall. Dort wurde angenommen, dass Risikofaktoren, Symptomatik und Verlauf, Diagnostik und Therapie des Herzinfarkts bei Frauen und Männern identisch seien. Eine systematische, nach Geschlecht differenzierende Forschung fand jedoch später heraus, dass es zwischen den Geschlechtern auf allen diesen Ebenen erhebliche Unterschiede gibt. Das androzentristische Modell impliziert auch, dass frauenspezifische Gesundheitsprobleme aus einer männlichen dominierten Werthaltung heraus falsch oder verzerrt betrachtet werden, dass sie mit Entfremdungs- und Entwertungshaltungen gegenüber den Frauen und systematischen Benachteiligungen im Gesundheitswesen verbunden sein können. Dies war Hintergrund für die Entstehung der Frauengesundheitsbewegung in den Siebziger Jahren, als Frauen sich gegen eine Gynäkologie und Geburtsmedizin wandten, in der sie nur unter dem Blickwinkel ihrer Reproduktionsfähigkeit betrachtet wurden, aber nicht ganzheitlich in ihren gesellschaftlichen und sozialen Bezügen als entscheidungsund handlungsfähige Patientinnen. Ein weiteres Beispiel ist die unterschiedliche Wahrnehmung und Behandlung von Frauen und Männern im Gesundheitswesen. So werden bei Frauen häufiger als bei Männern psychische Probleme als Ursachen für bestimmte Symptome angenommen. Geschlechtsspezifische Rollenstereotype scheinen dabei eine handlungsprägende Bedeutung im professionellen System zu haben. Diese Stereotype sind aufzubrechen und zu hinterfragen. Auf diesem Hintergrund haben wir mit dem oben genannten Gesundheitsbericht eine doppelte Zielsetzung verfolgt: Es sollten – ganz im Sinne eines geschlechtsdifferenzierenden Ansatzes - Daten und Fakten über Unterschiede zwischen Frauen und Männern herausgearbeitet werden; es sollten aber insbesondere solche Gesundheitsprobleme aufgegriffen und vertiefend analysiert werden, die nur für Frauen bedeutsam sind. Gleichzeitig wollten wir auf einer theoretischen Ebene androzentristische Betrachtungsweisen der Gesundheit von Frauen aufbrechen und damit Wege zu einer geschlechtssensiblen Gesundheitsforschung und Gesundheitsberichterstattung weisen. 3 Leitlinien für eine frauenspezifische Gesundheitsforschung und berichterstattung Für eine frauenspezifische Herangehensweise in der Gesundheitsforschung und Gesundheitsberichterstattung sind theoretische Leitlinien Ausgangspunkt, die ich hier kurz zusammenfassen möchte: • Frauen und Männer unterscheiden sich hinsichtlich der Krankheiten und gesundheitlichen Einschränkungen, unter denen sie leiden. Das sind Unterschiede in der Lebenserwartung und in der Verteilung der Todesursachen auf Frauen und Männer. So spielen etwa bei den Männern die Herz-Kreislauf-Krankheiten für die Frühsterblichkeit eine große Rolle, während diese bei den Frauen durch die Krebserkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane bestimmt ist. • Es konnte zweitens in vielfältigen Studien gezeigt werden, dass in den Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen und Männern unterschiedliche Faktoren wirksam 104 • • • • • Armut und Gesundheit sind, die ihre Gesundheit und ihre gesundheitsbezogene Lebensweise bestimmen; hierzu zählt vor allem die unterschiedliche Einbindung in Beruf und Familie und die Tätigkeit in unterschiedlichen Berufsfeldern. Auch sind die Lebensumstände der Frauen in den neuen Bundesländern sowie die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten der gesundheitlichen Lage von Frauen in Ost- und Westdeutschland zu betrachten. Der gesellschaftliche Wandel war für die Frauen in Ostdeutschland mit gesundheitlichen Vor- und Nachteilen verbunden, die auch heute noch von Bedeutung sind. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist die Frage, inwieweit verschiedene Sozialund Lebenslagen von Frauen mit einem unterschiedlichen Gesundheitszustand und Gesundheitshandeln verbunden sind. Ein Zusammenhang von Armut und schlechter Gesundheit ist auch für Frauen erkennbar und eng mit den Belastungen und Ressourcen der jeweiligen Lebenswelt der Frauen verknüpft. Beide Geschlechter sind weiterhin verschieden hinsichtlich der körperlichbiologischen Bedingungen, die die Gesundheit beeinflussen. Das betrifft zum einen die reproduktive Gesundheit von Frauen, wie die Bereiche Schwangerschaft, Geburt, Klimakterium, aber auch Zusammenhänge zwischen z.B. hormonellen Faktoren und chronischen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Brustkrebs oder Osteoporose. So konnte in epidemiologischen Studien belegt werden, dass ein Teil der unterschiedlichen Lebenserwartung bei Frauen und Männern durch solche biologischen und hormonellen Faktoren erklärt werden kann: Die hormonelle Situation der Frauen scheint nämlich ein Schutzfaktor gegen die Frühsterblichkeit der Frauen an Herz-Kreislauf-Krankheiten, insbesondere den Herzinfarkt, darzustellen. Frauen und Männer gehen auf dem Hintergrund unterschiedlicher Sozialisationserfahrungen und Lebensbedingungen in verschiedener Weise mit Gesundheit, Krankheit und Belastungen um. Frauen scheinen sensibler auf körperliche und psychische Beeinträchtigungen zu reagieren und haben ein ausgeprägteres Vorsorgedenken als Männer. Es ist deshalb wichtig, die Stärken der Frauen und ihre Fähigkeiten, sich für ihre Gesundheitsbelange einzusetzen, in den Mittelpunkt zu stellen. Ressourcen und Belastungen von Frauen und ihre persönlichen Handlungsstrategien für den Umgang mit diesen bestimmen ihr Wohlbefinden, ihren Gesundheitszustand und ihre Gestaltungsmöglichkeiten. Zentraler Leitgedanke ist auch, Diagnosen in der Medizin kritisch in Hinblick auf Vorurteile über Krankheiten bei Frauen zu hinterfragen. So sind z.B. gynäkologische Beschwerden bei jungen Frauen auch als Ausdruck möglicher psychischer und sozialer Problemkonstellationen zu sehen und in diesem Kontext zu untersuchen und zu bewerten. Ziel der Forschung zur Frauengesundheit ist die Bestimmung des gesundheitlichen Versorgungsbedarfs in der Prävention, der medizinischen Versorgung und der Rehabilitation und Pflege. Dabei sind wichtige Fragen zu stellen wie z.B. die nach der Standortbestimmung von Prävention und Gesundheitsförderung? Profitieren Frauen und Männer in der gleichen Weise von den bisherigen Programmen oder brauchen wir unterschiedliche Zugänge und Konzepte für beide Geschlechter? Wie sehen in der Medizin Diagnose und Therapieverfahren aus? Sind sie für beide Geschlechter in gleicher Weise wirksam oder gibt es Unterschiede? Ist bei der Entwicklung und Evaluation von medizinischen Verfahren und pharmakologischen Anwendungen Frauen und Armut 105 ein möglicher Geschlechtsunterschied überhaupt geprüft worden? In welchen Versorgungsstrukturen verlaufen medizinische Behandlung, Rehabilitation und Pflege? Werden dabei Geschlechterunterschiede berücksichtigt und Benachteiligungen des einen oder anderen Geschlechts vermieden? Wo kann im Gesundheitswesen Über-, Unter- oder Fehlversorgung von Frauen identifiziert werden, und wie ist der Stand des Wissen in Hinblick auf mögliche Erkenntnislücken zu bewerten? 4 Beispiele Mit diesen Leitlinien und Zielvorstellungen wird deutlich, dass Gesundheit von Frauen und Männern stets im Zusammenwirken von medizinischen und sozialen Faktoren zu sehen ist. Dabei bestehen Unterschiede, Gemeinsamkeiten aber auch Besonderheiten in der Gesundheit von Frauen und Männern. Ich möchte dies an zwei Beispielen deutlich machen: • Die These, dass Frauen und Männer sich hinsichtlich Krankheiten und gesundheitlichen Einschränkungen unterscheiden, belege ich an ausgewählten Daten zur Lebenserwartung und Todesursachen. • Die These, dass soziale und geschlechtsspezifische Unterschiede in den gesundheitsbezogenen Lebensweisen bestehen, möchte ich am Beispiel Rauchen erläutern. 4.1 Lebenserwartung und Mortalität In den vergangenen drei Jahrzehnten nahm die Lebenserwartung kontinuierlich zu und die Sterblichkeit ab. Frauen in der Bundesrepublik haben heute eine Lebenserwartung von 79,8 und Männer von 73,3 Jahren. Im Verlauf der Neunziger Jahre haben sich die Differenzen in der Lebenserwartung und der Sterblichkeit zwischen Ost und West verringert. Ungeachtet dieses positiven Trends sind in den neuen Bundesländern die Unterschiede der Lebenserwartung von Frauen und Männern mit 7,4 im Verhältnis zu 6,2 Jahren größer als in den alten Bundesländern. Auch die Mütter- und Säuglingssterblichkeit ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gesunken und hat sich mit 5,5 Gestorbenen je 1.000 Lebendgeborenen auf ein auch im internationalen Vergleich niedriges Niveau eingepegelt. Die gesamte Sterblichkeit wird vom Mortalitätsgeschehen in den oberen Altersgruppen dominiert; sie liegt für die über 79jährigen um den Faktor 10-15 über dem Gesamtdurchschnitt. Zu dieser Altersgruppe gehörten 1995 rund sechzig Prozent der gestorbenen Frauen aber nur etwa 32 Prozent der gestorbenen Männer. Es sind besonders die Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die das Spektrum der Todesursachen bestimmen, wobei diese bei den Frauen mehr als die Hälfte aller Todesursachen ausmachen (siehe Tabelle 1, Spalte 2 und 3). Die Frühsterblichkeit - hier definiert als Verstorbene unter 65 Jahren - wird bei den Frauen jedoch vornehmlich durch die Krebserkrankungen (44 % aller Todesursachen bei den Frauen unter 65 Jahren), hier insbesondere den Brustkrebs (12,1 %), verursacht, während es bei den Männern der Herzinfarkt (11,4 %), Lungenkrebs (8,6 %) und unnatürliche Todesursachen (13,9 %), insbesondere tödliche KFZ-Unfälle, sind (Tabelle 1, Spalte 4 und 5). 106 Armut und Gesundheit Tabelle 1: Anzahl der Gestorbenen in Prozent aller Todesursachen Herz-KreislaufKrankheiten Herzinfarkt Herzinsuffizienz Schlaganfall Erkrankungen der Atmungsorgane Lebererkrankungen Verletzungen/ Vergiftungen Krebserkrankungen Lunge Brust Gebärmutter/ Ovarien Diabetes Psychiatrische Erkrankungen Alle Altersgruppen Männer Frauen 43,5 52,9 < 65 Jahre Männer 28,1 Frauen 20,8 11,9 4,5 8,8 7,1 8,2 8,1 13,7 5,2 11,4 1,6 3,9 3,6 5,6 1,4 4,9 3,1 3,2 6,0 1,5 3,1 7,0 13,9 5,6 8,9 27,0 7,0 1,9 1,7 22,8 1,7 3,9 2,4 3,2 0,9 29,5 8,6 1,5 3,9 44,1 4,2 12,1 6,0 1,7 2,0 Ursachen dieser Unterschiede im Todesursachenspektrum, insbesondere in Hinblick auf die Frühsterblichkeit, sind vielfältiger Art und nicht abschließend erforscht. Neben den offensichtlichen biologischen Bedingungen, etwa bzgl. der Krebserkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane, spielen soziale Faktoren eine Rolle. Herzinfarkt und verschiedene Krebserkrankungen sind durch ungesunde Lebensweise (Rauchen, Fehlernährung, Bewegungsarmut), aber auch durch berufliche Expositionen (Krebs) bedingt. Frauen scheinen weiterhin gegen Herzinfarkt bis ins mittlere Lebensalter durch ihre hormonelle Situation (Östrogene) gegen Herzinfarkt eher geschützt zu sein. 4.2 Rauchen Repräsentative Daten für Deutschland zeigen, dass in den vergangenen Jahrzehnten der Anteil Frauen, die rauchen, kontinuierlich zunahm. Rauchen ist mit erheblichen gesundheitlichen Risiken für Frauen verbunden. Es wird davon ausgegangen, dass das Rauchen der bedeutendste Risikofaktor für die wichtigsten chronischen Erkrankungen wie kardiovaskuläre Erkrankungen, Lungenkrebs, chronische Bronchitis, aber auch Krebse des Mund- und Rachenraumes ist (siehe Tabelle 2). Frauen und Armut 107 Tabelle 2: Gesundheitliche Risiken des Rauchens bei Frauen Rauchen ist Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Krankheiten, Lungenkrebs, chronische Bronchitis, Krebserkrankungen des Mund- und Rachenraums, Speiseröhre, Gebärmutterhals Raucherinnen haben Eine vorverlegte Menopause, erhöhtes Osteoporoserisiko, erhöhtes Risiko für Spontanaborte, Schwangerschaftskomplikationen, Frühgeburten, niedriges Geburtsgewicht des Kindes Kinder von Rauchern und Raucherinnen haben: Mehr Erkrankungen der Atmungsorgane, erhöhtes Risiko für plötzlichen Kindestod Rauchen in Verbindung mit anderen Risikofaktoren Erhöht das Krebsrisiko exponentiell, zusammen mit oralen Kontrazeptiva führt es zu einem erhöhten Thromboserisiko In Deutschland hat die Lungenkrebsrate bei Frauen allein im Zeitraum von 1980 bis 1998 bei der Sterblichkeit um 26% und den Neuerkrankungen um 28% zugenommen; die Sterblichkeit an Krebserkrankungen der Mundhöhle und des Rachenraums um 16%, Krebse der Speiseröhre um 24%. Daten des Augsburger Herzinfarktregisters zeigen eine Zunahme der Herzinfarkt-Neuerkrankungen bei Frauen unter 55 Jahren im Zeitraum von 1985-1995 um 38%. Die Zunahme des Rauchens bei den Frauen scheint hier eine zentrale Rolle zu spielen (BMFSFJ 2001). Auch heute rauchen in Deutschland immer noch mehr Männer als Frauen. Bei den über Fünfzehnjährigen rauchen ein Drittel der Männer und ein Fünftel der Frauen. In den alten Bundesländern hatte in den späten Sechziger und den frühen Siebziger Jahren der Anteil Raucherinnen deutlich zugenommen (BZgA 1985; Hauer/Becker 1999), während dieser Trend bei den Frauen in den neuen Bundesländern mit einer Verzögerung von zehn bis fünfzehn Jahren zu beobachten ist. Insbesondere in den Neunziger Jahren hat das Rauchen bei den Frauen in den neuen Bundesländern deutlich zugenommen, nämlich von 20,5% auf 29,1%, stieg also um beachtliche 42% an! Diese Steigerung ist v.a. auf die Zunahme des Rauchens bei den 25-49jährigen Frauen zurückzuführen, bei denen sich Steigerungsraten von 20 % (25-29 Jahre), 30 % (30-39 Jahre) und 86 % (1992: 14,3%, 1998:27% Raucherinnen in der Altersgruppe von 40-49 Jahren) zeigen. 108 Armut und Gesundheit Abbildung 1: Zeitliche Entwicklung des Rauchens bei Frauen in Ost- und Westdeutschland im Zeitraum von 1990/92 zu 1998, Nationaler Gesundheitssurvey 50 45 40 35 1990/92 W 1998 W 1990/02 O 1998 O % 30 25 20 15 10 5 0 25-29 30-39 40-49 50-59 60-69 Alter (Jahre) Im Westen war der steigende Trend auf die Generation der Frauen zurückzuführen, die in der Nachkriegszeit geboren und in den Fünfziger und Sechziger Jahren aufgewachsen sind. Die höchsten Raucherinnenanteile, die jemals bei Frauen in Deutschland festgestellt wurden, gehen auf die Generation von Frauen, die Mitte der Fünfziger Jahre geboren wurden, zurück (Hauer/Becker 1999). War Rauchen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts das zweifelhafte Privileg der besser gestellten Frauen vergleichbar wie zuvor bei den Männern, so entwickelte es sich nun bei den Frauen zu einem Massenphänomen, und es waren vor allem junge, sozial benachteiligte Frauen, die vermehrt zur Zigarette griffen. Ob Frauen rauchen oder nicht, hängt stark von sozialen Faktoren ab. Höhere Raten haben arbeitslose Frauen, Frauen, die unter der Armutsgrenze leben sowie Sozialhilfeempfängerinnen; ebenso auch Frauen mit niedriger Schulbildung. Berufsspezifische Analysen zeigten vor allem bei jüngeren Frauen, die in einfachen Dienstleistungsberufen tätig sind oder manuelle Tätigkeiten ausüben einen hohen Anteil an Raucherinnen, während Frauen in akademischen Berufen und in Führungspositionen niedrige Raten aufweisen. Frauen mit geringerem sozialen Netz bzw. in schwierigen Lebensphasen (z.B. Trennung, Verlust des Partners) scheinen ebenfalls häufiger zur Zigarette zu greifen. Verschiedene Gründe scheinen für das Rauchen bei Frauen eine Rolle zu spielen: Neben Stressbelastungen sind für junge Frauen gewandelte Rollenbilder, nach denen das Rauchen bei jungen Frauen und Mädchen geradezu zum modernen Selbstbild dazu gehört, Frauen und Armut 109 relevant. Auch die Tabakwerbung sollte in ihren Wirkungen auf die Aufnahme des Rauchens bei jungen Frauen nicht unterschätzt werden. Untersuchungsergebnisse konnten die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen zur Reduzierung des Rauchens nachweisen. Diese sollten zum einen besonders auf Mädchen und junge Frauen ausgerichtet sein und sie darin bestärken, gar nicht erst mit dem Rauchen zu beginnen. Zum anderen sollten sie sich auf Frauen mit niedriger Schulbildung und aus unteren sozialen Gruppen konzentrieren. Besondere Anstrengungen müssen in den neuen Bundesländern unternommen werden. Prävention und Gesundheitsförderung sind durch geeignete strukturelle Maßnahmen zu realisieren. Die Bundesrepublik Deutschland würde gut daran tun, wenn sie ihre Rolle als Schlusslicht in der Förderung des Nicht-Rauchens aufgeben und sich aktiver für Präventionsmaßnahmen – insbesondere für junge und soziale benachteiligte Frauen – engagieren würde. 4.3 Bewertung Bezieht man diese Beispiele auf die in Abschnitt 3 dargestellten Leitlinien für eine frauen- und geschlechtsspezifische Gesundheitsforschung, dann zeigt sich folgendes: • Unterschiede in der Lebenserwartung, den Todesursachen und im Gesundheitszustand sind deutlich erkennbar. Sie geben Anlass, nach Ursachen und Bedingungsfaktoren für solche Unterschiede zu suchen. Dafür scheinen alle in den Leitlinien formulierten Ebenen eine Rolle zu spielen. Gründe und Ursachen für die Unterschiede sind jedoch immer noch nicht ausreichend erforscht: Sie spannen im Grunde ein gesamtes gesundheitswissenschaftliches Forschungsfeld auf, dass soziale, biologische und auf das Gesundheitssystem bezogene Bedingungsebenen umfasst. • Das Beispiel Rauchen zeigt, dass gesundheitsbezogene Verhaltensweisen nicht – im psychologischen Sinne – als rein individuell verursacht verstanden werden dürfen, sondern dass dafür strukturelle gesellschaftliche Faktoren und das persönliche soziale Umfeld wirksam sind. Familie, Partnerschaft und Lebenskrisen können als Stressoren oder als Ressource gesundheitsbezogenes Handeln fördern oder behindern. Soziale Benachteiligungen in einer Gesellschaft scheinen mit ungünstigem Gesundheitsverhalten verbunden zu sein. Aber auch die Marktbedingungen, z.B. eine ökonomisch und politisch starke Tabaklobby, machen ihren Einfluss geltend. Auch in Hinblick auf die Todesursachen konnte die gesundheitswissenschaftliche Forschung zeigen, dass soziale Faktoren eine Rolle spielen. So sind eine Reihe von Krebserkrankungen bei Männern berufs- und expositionsbedingt (z.B. Lunge, Niere) und bei beiden Geschlechtern auch verhaltensbedingt (z.B. Lunge~Rauchen; Darmkrebs~Ernährung; Leberkrebs~Alkohol). • Das Beispiel Rauchen belegt eindrücklich den Zusammenhang von sehr ungünstiger sozialer Lage oder gar Armut und Gesundheitshandeln. Nicht dargestellt wurden die zahlreichen Studienergebnisse zum Zusammenhang von ungünstiger sozialer Lage/ Armut und hoher Sterblichkeit. Diese Zusammenhänge konnten jedoch sowohl für Männer als auch für Frauen gezeigt werden. Sie bestehen bezüglich der Lebenserwartung, bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, diversen Krebserkrankungen und anderen Erkrankungen. Nur bei wenigen Krankheiten wie etwa Allergien und Brustkrebs besteht ein umgekehrter Zusammenhang, d.h. diese kommen in besser gestellten sozialen Schichten häufiger vor. Wie die Wirkungsketten zwischen sozia- 110 Armut und Gesundheit ler Lage, Gesundheitshandeln und Gesundheitsstatus im einzelnen zu verstehen sind, ist jedoch ebenfalls noch nicht ausreichend erforscht. • Biologische Faktoren spielen natürlich im Gesundheits- und Krankheitsgeschehen stets auch eine Rolle. Auf die Faktoren der sogenannten reproduktiven Gesundheit wurde bereits hingewiesen (z.B. bei Krebserkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane, Prostatakrebs). Körperlich-biologische Faktoren (z.B. hormonelle Situation) haben eine Wirkung auch in der körperlichen, neurologischen oder psychischen Verarbeitung von Expositionen und Stressoren (z.B. bei Krebs, Herzinfarkt). • Neben diesen sind unterschiedliche Lern- und Sozialisationserfahrungen wichtig. Das Beispiel Rauchen zeigte den Einfluss der Veränderung von weiblichen Rollenbildern auf das Rauchverhalten. • In den dargestellten Beispielen konnte an dieser Stelle auf den spezifischen Versorgungsbedarf von Frauen im Gesundheitswesen nicht eingegangen werden. Im Frauengesundheitsbericht sind jedoch zahlreiche Beispiele ausgeführt, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern herausarbeiten und auch Unterschiede im Versorgungsbedarf belegen. Am Beispiel Rauchen zeigt sich, welcher immense strukturelle Nachholbedarf in Deutschland hinsichtlich der Förderung des Nicht-Rauchens besteht. 5 Gesundheits- und frauenpolitische Konsequenzen Mit dem Frauengesundheitsbericht sollten Anstöße für eine öffentliche Diskussion zur bedarfsgerechten gesundheitlichen Versorgung von Frauen gegeben werden. Dazu haben wir dafür eine Reihe von Themen und Forderungen aufgeführt, von denen ich hier nur einige kurz nennen kann. Zentrale Forderung ist die nach der Chancengleichheit und Umsetzung des Gender Mainstreaming in der gesundheitlichen Versorgung. Eine bessere, das heißt zielgerichtete, wirksame und qualitativ hochwertige gesundheitliche Versorgung hat sich am Ziel der Gleichberechtigung zu orientieren. Das erfordert ein zweigleisiges Vorgehen. Zum einen sind spezifische Maßnahmen und Programme, die einen Nachteilsausgleich für Frauen anstreben, zu stärken und weiter zu entwickeln. Ein Beispiel dafür ist die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung für Frauen mit Gewalterfahrungen. Darüber hinaus ist es jedoch notwendig, alle Maßnahmen der Gesundheitspolitik und gesundheitlichen Versorgung grundsätzlich unter der Perspektive des unterschiedlichen Bedarfs von Frauen und Männern zu betrachten. Das bezieht sich: • auf sozial-, familien- und arbeitsmarktpolitische Steuerungsmechanismen und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit von Frauen und Männern, • auf die Entwicklung von Gesundheitszielen und Prioritätensetzungen im Gesundheitswesen, • auf Programme zur Krankheitsprävention und zur lebensweltbezogenen Gesundheitsförderung • auf diagnostische und therapeutischen Verfahren in der Medizin und die Entwicklung von geschlechtsspezifischen Behandlungsleitlinien Frauen und Armut • 111 die Entwicklung von Modellen in der ambulanten oder stationären Versorgung oder er Rehabilitation, die dem jeweiligen Bedarf der Geschlechter angemessen sind. In der Planung, dem Management und der Finanzierung von Versorgung ist der jeweils spezifische Bedarf von Frauen und Männern zum Entscheidungskriterium für die Allokation von Ressourcen heranzuziehen. Die Qualität der Versorgung von Frauen könnte erheblich verbessert werden, wenn ein Lernprozess von den punktuell bestehenden Praxisansätzen einer bedarfsgerechten, frauenfreundlichen Versorgung in Gang gesetzt werden könnte. Um Erfolge zu dokumentieren und weiteren Versorgungsbedarf bestimmen zu können, ist frauen- und geschlechtsspezifische Gesundheitsberichterstattung auf allen Ebenen weiterzuführen. Dies ist auch deshalb geboten, weil in den vorliegenden Berichten viele Bereiche nicht abgedeckt werden konnten. Auf Länder- und kommunaler Ebene sollten Frauengesundheitsberichte bzw. Gesundheitsberichte im Geschlechtervergleich erstellt werden, die sich thematisch an einem jeweils vor Ort zu bestimmenden gesundheitspolitischen Bedarf orientieren. Der Aufbau von regionalen Frauengesundheitsnetzwerken wäre wünschenswert. Um die im Frauengesundheitsbericht aufgezeigten Forschungsdefizite zu bearbeiten, sind strukturelle Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine effektive Umsetzung gewährleisten. Dazu gehören neben speziellen Studien zur Frauengesundheit die systematische Berücksichtigung des Geschlechterunterschieds in der gesundheitswissenschaftlich relevanten Forschung und Forschungsförderung und die Entwicklung von entsprechenden Vorgaben für die Begutachtung. Literatur: BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (Hg.) [2001]: Verbundprojekt zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland. Untersuchung zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Entwicklung in West- und Ostdeutschland. BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) (Hg.) [1985]: Frauen und Rauchen. Fallstudie Bundesrepublik Deutschland. Zusammenfassender Bericht. Köln. Heuer C.; Becker, N. [1999]: Smoking prevalence and lung cancer mortality in Germany. Journal of Epidemiology and Biostatistics. (4) 1:45-52. 112 Armut und Gesundheit Gesundheitsförderung für Frauen – eine Herausforderung für die Politik Helga Kühn-Mengel Das Ziel unser Politik ist die Implementierung der Frauenspezifischen Gesundheitsversorgung als ein Gegenmittel zur „Geschlechtsblindheit“ unseres Gesundheitssystems. Aber das ist nicht so einfach, denn von vielen Akteuren im Gesundheitswesen wird das Thema „Frauengesundheit, medizinische Forschung und Versorgung“ unterschätzt. Forschung, Gesundheitsversorgung und Prävention berücksichtigen die geschlechtsspezifischen Unterschiede (im Sinne des Gender-Mainstreaming) nicht in ausreichendem Maße - und dies, obwohl diese geschlechtsspezifische Differenzierung in Ursache, Gestaltung, Ausprägung und Symptomatik von Krankheiten wissenschaftlich unbestritten ist. Die Politik versucht immer, sich so lange wie möglich aus den Aufgaben der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen heraus zu halten, aber die gegenwärtige Praxis der bloßen Absichtserklärung reicht nicht mehr aus. Deswegen hat die Regierungskoalition den Antrag „Frauenspezifische Gesundheitsversorgung“ eingebracht, er nennt beim Namen, was wir ändern wollen und ändern werden: Wir wollen z.B., dass sich in Zukunft alle Entscheidungen über die Bewilligung von Projektanträge generell an das Bewertungskriterium „Berücksichtigung frauenspezifischer Belange“ orientieren, dass eine kontinuierliche Berichterstattung über die gesundheitliches Situation von Mädchen und Frauen institutionalisiert wird, dass die Gesundheitsversorgung von Frauen, deren Gesundheit besonderen Belastungen ausgesetzt ist, besonders gefördert wird. Von diesen Fördermaßnahmen sollen z.B. behinderte Frauen, Migrantinnen, ältere Frauen und junge Mädchen profitieren, aber auch an AIDS erkrankte Frauen. Wir wollen weiter die Benachteiligungen der Karriereverläufe von Frauen in Medizinund Gesundheitsforschung abbauen. Im Gesundheitswesen nehmen überwiegend Männer leitende Funktionen wahr. Laut Statistik sind nur 2,3 Prozent aller Lehrstühle in der klinisch bettenführenden Medizin von Frauen besetzt. Die rot-grüne Bundesregierung hat aber auch schon viel erreicht: z.B. den vom BMFSFJ initiierten „Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland“, das neu eingerichtete Referat im Gesundheitsministerium Frauen und Gesundheit, die Sanierung des Müttergenesungswerks mit acht Millionen DM und die Förderung von Prävention und Selbsthilfegruppen, die besonders Frauen zu Gute kommt. Besonders gravierende Defizite wurden jüngst in vom Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen im Versorgungsbereich Brustkrebs aufgezeigt. Ich zitiere das Gutachten: „Übereinstimmend wurde für den Bereich der Brustkrebsfrüherkennung in Deutschland das Fehlen eines gemäß den Europäischen Leitlinien qualitätsgesicherten Früherkennungsprogramms (Mammographie-Sreening) festgestellt. Im europäischen Kontext liege Deutschland damit weit abgeschlagen hinter den Niederlanden, Schweden, Norwegen, Finnland, Großbritannien und Frankreich.“ Mit dem bereits in die parlamentarische Beratung eingebrachten Antrag „Brustkrebs Mehr Qualität bei Früherkennung, Versorgung und Forschung- Für ein MammographieScreening nach Europäischen Leitlinien“ werden wir den Missstand in Deutschland beenden. Wir werden ein flächendeckendes Mammographie-Screening nach europäi- Frauen und Armut 113 schen Leitlinien einführen. Hierzu gehören flankierend: flächendeckende, standardisierte Brustkrebsregistrierung, ein bevölkerungsbezogenes Einladungssystem, ein externes Qualitätsmonitoring und die Verpflichtung der Krankenkassen, ScreeningMammographien, die den Standards der europäischen Leitlinien voll entsprechen, in den Leistungskatalog aufzunehmen. Und wir wollen, dass die Krankenkassen ein solches Programm bis zum Jahre 2003 einführen. Netzwerkerfordernisse: Gewaltinterventionsprojekt S.I.G.N.A.L. Angelika May Ausgangslage für das Projekt Gewalt gegen Frauen ist weltweit eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen. Gewalt ist zwar keine Krankheit, hat aber enorme körperliche, psychische oder psychosomatische Kurz- und Langzeitfolgen für Frauen. Internationale Studien und der UNFrauenbericht gehen davon aus, dass jede dritte Frau von Gewalt betroffen ist. Gewalt gegen Frauen birgt auch ein (vorübergehendes) Armutsrisiko. Frauen, die sich trennen, sind häufig kurz- oder auch langfristig auf Sozialhilfe oder das Asylbewerberleistungsgesetz angewiesen. Sind sie nach der Trennung dann alleinerziehende Mütter, sind auch die Kinder von der Armutsgrenze betroffen. Gewalt gegen Frauen hat hohe volkswirtschaftliche Folgekosten – besonders für das Gesundheitssystem. Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor ein Tabuthema in der medizinischen und psychosozialen Versorgung. Gewalt wird nur selten als Ursache von gesundheitlichen Störungen erkannt. Die medizinische Versorgung beschränkt sich häufig auf eine Symptombehandlung. Hier werden viele Chancen zur Prävention und Opferhilfe vertan. Die Professionellen in Gesundheitseinrichtungen sind aber oft die ersten, bei denen Frauen – verdeckt oder offen – nach Hilfe suchen. Außerdem werden hier alle Frauen erreicht, da jede Frau irgendwann einmal in ihrem Leben zu einem Arzt oder einer Ärztin geht. Die Reaktion und soziale wie fachliche Kompetenz der Professionellen hat einen enormen Einfluss auf die weitere Hilfestellung. Das S.I.G.N.A.L.- Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt in Berlin verfolgt das Ziel, die Situation von Frauen mit Gewalterfahrungen in der gesundheitlichen Versorgung zu verbessern und formuliert daher auch Anforderungen an das Gesundheitssystem, sowohl an Professionelle in Praxen, Krankenhäusern, Kliniken, Krisenambulanzen, als auch an VertreterInnen der Standesorganisationen und der Frauen- und Gesundheitspolitik: • Implementierung von Interventionsprogrammen analog des S.I.G.N.A.L.Leitfadens mit den Schwerpunkten Identifizierung, gerichtsverwertbare Dokumentation und Information über Hilfsangebote. 114 • • • • Armut und Gesundheit Medizinische Einrichtungen sollen künftig eine Schnittstellenfunktion einnehmen zwischen einer Patientin einerseits und Hilfs- und Schutzangeboten andererseits, die über die rein medizinische Versorgung hinausgehen. Gewalt gegen Frauen muss Thema in allen relevanten Aus- und Weiterbildungsgängen werden. Professionelle müssen geschult und für das Thema sensibilisiert werden. Eine höhere Bewertung sozialmedizinischer Aspekte in der Gesundheitsversorgung ist zu erreichen. Standards und qualitätssichernde Maßnahmen sind für alle Bereiche der Gesundheitsversorgung zu entwickeln. Das S.I.G.N.A.L.-Interventionsprojekt setzt bei seinen Vorhaben ausschließlich auf Kooperation. Änderungen sind niemals gegen, sondern nur mit den Professionellen in Gesundheitseinrichtungen einzuführen. Die Vernetzung von medizinischem Know-How mit den jahrelangen Erfahrungen der feministischen Anti-Gewalt-Arbeit schafft erst die Basis für die Umsetzung neuer Konzepte. Dabei gilt es auch, gegenseitige Vorbehalte ab zu bauen. Erste Ansätze sind in Berlin bereits erreicht. Das S.I.G.N.A.L.-Interventionsprojekt arbeitet mit dem Universitätsklinikum Benjamin Franklin (UKBF) und dem Krankenhaus Spandau an der Umsetzung des S.I.G.N.A.L. – Leitfadens. Im UKBF wird die Entwicklung wissenschaftlich begleitet. Geplant sind Foren bzw. Arbeitsgruppen zu den relevanten Bereichen Krankenhäuser/Kliniken, niedergelassene Ärzte/Ärztinnen, dem Öffentlichen Gesundheitsdienst und Frauen- und Gesundheitspolitik. Zu begrüßen ist auch die Zusammenarbeit mit dem Frauengesundheitsnetzwerk i.G. in Berlin, das häusliche Gewalt als eines seiner Schwerpunktthemen festgelegt hat. Das Thema häusliche Gewalt ist in den letzten Monaten immer mehr als ein Thema in der Gesundheitsversorgung entdeckt worden. Der Weg zu einer verbesserten, standardisierten Versorgung liegt in der Kooperation aller beteiligten Fachmenschen. Offen ist noch die Forderung nach einer finanziellen Absicherung von Maßnahmen und Interventionsprojekten, damit diese neu entstandenen Kooperationen professionell und zielstrebig weiterentwickelt werden können. Frauen und Armut 115 Keine Gewalt gegen Frauen - Netzwerkerfahrungen Regine Steinwerth Gewalt an Frauen hat schwerwiegende Folgen für die Gesundheit von Frauen und geht auch häufig mit einem Armutsrisiko einher. Gewalt gegen Frauen ist das Resultat struktureller Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Es ist eine Tatsache, dass physische, psychische und sexualisierte Gewalt überwiegend von Männern verübt wird. Bei den Gewalthandlungen, die vorwiegend im sozialen Nahbereich stattfinden, handelt es sich oft nicht um Einzeltaten, sondern um ein Misshandlungssystem, das den Lebensalltag von Frauen bestimmt. In den zerstörerischen Aspekt von Gewalthandlungen sind Kinder inbegriffen. Der Frauenbewegung ist es als Verdienst anzurechnen, diese Gewalt nicht nur öffentlich, sondern auch zum Gegenstand politischen Handelns und sozialer Intervention gemacht zu haben. 1992 forderte die Weltgesundheitsorganisation, dass der Gesundheit von Frauen ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Dringlichkeit zugemessen werden muss und formulierte als Ziel auch die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Im Verständnis der Problematik von Gewalt im Geschlechterverhältnis wurden in Deutschland wichtige Etappenziele erreicht, wie z. B. die Vergewaltigung in der Ehe seit 1997 unter Strafe zu stellen, 1999 mit dem Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ein Gesamtkonzept zur Reduzierung von Gewalt vorzulegen, im Jahr 2000 das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung durchzusetzen. In Kürze erwarten wir das Gesetz zur Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung. Mit dem Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland wurde in diesem Jahr erstmalig Gewalt gegen Frauen im Kontext der Gesundheitsberichterstattung thematisiert. Die nationalen Initiativen setzen nicht nur die einzelnen Länder und Kommunen in Verantwortung, sie stützen auch lokale Aktivitäten und die Notwendigkeit weiterer Zusammenarbeit der jeweiligen Wirkungsebenen. Ich bin im Amt für Gleichstellungsfragen der Landeshauptstadt Magdeburg im Sachgebiet „Keine Gewalt gegen Frauen“ tätig. Trotz ständiger Kämpfe um nötige finanzielle Mittel existiert in Magdeburg ein Netz von Angeboten der individuellen und qualifizierten Unterstützung für misshandelte Frauen und deren Kinder, angefangen vom Frauenhaus bis hin zum Zeuginnenschutzzimmer und dem ergänzenden Angebot, Gewalttäter in die Verantwortung zu nehmen und sie zu hindern versuchen, erneut gewalttätig zu werden. Im Land Sachsen-Anhalt verfügen wir außerdem über ein Frauenflüchtlingshaus und eine Beratungsstelle für Zwangsprostituierte und gehandelte Frauen. Dies alles sind Errungenschaften, die eine starke lokale Frauenlobby eingefordert und erkämpft hat. Parallel hierzu muss nun die Entwicklung einsetzen, unterschiedliche Bedürfnislagen von Frauen stärker zu berücksichtigen und spezifischere Konzepte hinsichtlich der Lebenssituation, dem sozialen Hintergrund, der Intensität der Bedrohung und der Schwere der Folgen zu initiieren. 116 Armut und Gesundheit Notwendig ist weiterhin die vernetzte Zusammenarbeit unterschiedlicher Projekte und Einrichtungen für einen Blick auf den institutionellen und gesellschaftspolitischen Kontext der Unterstützungsarbeit. Zur starken Frauenlobby in Magdeburg zählt der Politische Runde Tisch der Frauen, ein Zusammenschluss in Trägerschaft des Amtes für Gleichstellungsfragen, der seit der politischen Wende immer wieder aktuelle Themen aufgreift und frauenspezifische Forderungen öffentlich macht. In etlichen Vereinen und Arbeitsgruppen im Frauen- und Kinderbereich werden ebenfalls Gewaltverhältnisse in ihrer Komplexität und Verflochtenheit gesehen und Veränderungen eingefordert. Zeitgleich mit neuen Gesetzesinitiativen von Bund und Land nutzte das Netzwerk die Vielfalt der Zusammensetzung zur Gründung des Kommunalen Aktionsbündnisses gegen Gewalt an Frauen und Kinder im November 2000. Vorbereitet wurde die Notwendigkeit dieses Gremiums durch Informationen im Stadtrat und über die verschiedenen Ausschüsse. Das Aktionsbündnis setzt sich zusammen aus freien Trägern, Ämtern, Institutionen, Verbänden, Fachöffentlichkeit und Initiativen. Es ist zum Beispiel mit Kenntnisnahme des Stadtrates legitimiert, zur Minderung von Gewalt im Geschlechterverhältnis beizutragen und arbeitsfeldübergreifend kommunale Handlungsstrategien zu entwickeln, Ressourcen zu überprüfen, das koordinierte Vorgehen aller Beteiligten transparent zu machen und im Verbund präventiv zu wirken. Die Sitzungen des Kommunalen Aktionsbündnisses finden vierteljährlich statt und werden von einer unabhängigen Moderatorin geführt. Zu den Höhepunkten der Zusammenkünfte zählte bisher die Vorstellung und Diskussion des Landes Sachsen-Anhalt zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Kinder und der Erfahrungsbericht des Interventionsprojektes CORA Mecklenburg-Vorpommern. In weiteren Sitzungen wurde der Handlungsrahmen abgesteckt und auf der Grundlage des Landesprogramms herausgearbeitet, was kommunal umzusetzen ist. Zwischen den Sitzungsterminen arbeiten derzeit vier Fachgruppen zu den Schwerpunkten Prävention/Öffentlichkeit/Recht, Unterstützungsangebote, Kinder und häusliche Gewalt und Täterarbeit. Angestrebt wird die Erhöhung der Akzeptanz des Kommunalen Aktionsbündnisses und die verlässliche Mitwirkung weiterer Fachkräfte, z. B. aus den Reihen von Polizei und Justiz. Als weitere Beteiligungsprozesse sind Migrantinnen, Frauen mit Behinderungen und Frau und Gesundheit im Blickfeld. Ein Ziel des Aktionsbündnisses ist die Initiierung einer Interventionsstelle für die Stadt. Lücken im Angebotsprofil sieht das Bündnis außerdem in der Langzeitbetreuung schwerst traumatisierter Frauen und in der frauengemäßen Gesundheitsversorgung. Im Rahmen der Vernetzung erfolgt zurzeit die Mitwirkung an der Erarbeitung eines Leitfadens für die ärztliche Praxis zu häuslicher Gewalt. Ähnliches ist für den Kontakt mit gewaltbetroffenen Kindern vorgesehen, da Kinder häufig den Hilfebedarf zuerst signalisieren. Wir sind zuversichtlich, durch Bündelung von Initiative und Kompetenz auch in diesem regionalen Kooperationsgremium das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen verringern zu helfen. Frauen und Armut 117 Gesundheitsfördernde Netzwerke für ältere Frauen Eine Zusammenfassung Viola Schubert-Lehnhardt, Inge Sliep Erika Zoike vom BKK Bundesverband leitete diesen Themenblock ein mit einer Auswertung zum Gesundheitszustand und Krankenstand von weiblichen Arbeitskräften in bestimmten Berufen bzw. Aussagen zum ärztlichem Verordnungsverhalten gegenüber älteren Frauen. Es zeigt sich, dass zum einen bei Maßnahmen des Gesundheits- und Arbeitsschutzes männliche Sichtweisen dominieren. Die von Frauen selbst eingeschätzten anderen Belastungssituationen werden kaum berücksichtigt. Zum anderen, so Erika Zoike, seien auch die Diagnose-, Therapie- und Rehabilitationsangebote nicht geschlechtsspezifisch und entsprächen daher nicht der objektiven Situation weiblicher Arbeitnehmerinnen. Gefordert wird daher zum einen die durchgängige geschlechtsspezifische Datenerfassung durch die (Betriebs–)Krankenkassen sowie daraus abzuleitende frauenorientierte Maßnahmen und Angebote, sowie die stärkere Einbindung dieser Aspekte in künftige Forschungsansätze. Außerdem müssen insbesondere die Anerkennungsverfahren für Berufskrankheiten vereinfacht und entsprechend der Spezifik weiblicher Berufsgruppen überarbeitet werden. Im weiteren Verlauf wurden durch Margit Haberkorn, Ursula Sadowski und Annemarie Merbitz Projekte vorgestellt, die sich schwerpunktmäßig dem Zusammenleben verschiedener Generationen widmen. Die inhaltlichen Besonderheiten der einzelnen Angebote werden von den Autorinnen im Folgenden selbst beschrieben. Die vielfältigen und unterschiedlichen Ansätze der ehrenamtlich oder auf ABM-Basis entwickelten Angebote und Ideen wurden von den Zuhörer/innen interessiert zur Kenntnis genommen. Die anschließende Diskussion rankte sich dann vor allem um die Schwierigkeiten bei der Umsetzung bzw. Fortschreibung von Projekten. Die vorgestellten Netzwerke hatten trotz Verschiedenartigkeit der Ansätze und konkreten Angebote zwei Gemeinsamkeiten, aus denen dann auch die Schwierigkeiten resultierten: Sie widmen sich vorrangig älteren Frauen und sie sind in der Regel von Frauen über 45 entwickelt und umgesetzt worden. Aus der Klientel "ältere Frauen" folgt naturgemäß, dass hier eine langfristige vertrauensvolle Betreuung bzw. Bezugsperson gegeben sein muss. Gerade dies konterkariert jedoch die gegenwärtige Vergabepraxis von ABM, die eher auf dem Rotationsprinzip ("damit immer mal andere Personen in den Genuss einer Maßnahme kommen") aufgebaut sind. Weiterhin wird häufig die Fortsetzung bzw. der Neuantrag einer Maßnahme davon abhängig gemacht, dass der Maßnahmeträger die Vermittlung von bisherigen ABM-ler/innen in den 1. Arbeitsmarkt nachweisen kann. Dies ist auf Grund der Art der Tätigkeit und der dazu einbezogenen Personen (überwiegend ebenfalls ältere Frauen) kaum realistisch. Auch werden ABM-Maßnahmen vom Gesetzgeber nur für Tätigkeiten vorgesehen, die sonst nicht erfolgen würden. Insofern ist es unlogisch zu erwarten, dass die dort tätigen Personen auf Grund dieser Arbeitsinhalte in den 1. Arbeitsmarkt übernommen werden. Ein weiterer Ausschlussgrund ist häufig das Alter dieser ABM-ler/innen, das ebenfalls eine Übernahme in den 1. Arbeitsmarkt unwahrscheinlich macht. Insofern ist die Auflage für den Träger, eine solche Vermittlung für die Wiederbewilligung von Maßnahmen nachzuweisen, kontraproduktiv und führt eher zum Abbruch bestimmter Angebote. Teilweise werden diese Ideen dann 118 Armut und Gesundheit von einem anderen Träger aufgegriffen, der dann ohne vorliegende Erfahrungen und eingearbeitetes Personal eine ähnliche Maßnahme anbietet. Das zum Zeitpunkt des Kongresses noch nicht beschlossene Job-Activ-Gesetz wird diese Situation vor allem auf Grund zweier Bestimmungen weiter verschärfen. Zum einen ist eine zeitliche Sperre für natürliche Personen bis zum Erhalt einer Maßnahme eingebaut, so dass es noch schwieriger werden wird, vertraute Bezugspersonen weiter zu beschäftigen. Zum anderen wird eine anteilmäßig auf mindestens zwanzig Prozent festgeschriebene Qualifizierung der ABM-ler/innen außerhalb vom Träger gefordert. Dies wird für viele Träger finanziell kaum zu realisieren sein, zum anderen handelt es sich um Tätigkeiten in der alltäglichen sozialen Betreuung für die eine so zeitlich aufwendige Qualifizierung keineswegs Voraussetzung ist. Von den Teilnehmer/innen wurde daher gefordert, die Praxis der Vergabe von ABM realitätsnäher zu gestalten, die zu erwartenden Verschlechterungen bei der Vergabepraxis zurückzudrängen und generell mehr finanzielle Mittel für die genannten Tätigkeiten bereitzustellen. Dies schließt eine Verhinderung der immer weiteren Abdrängung solcher gesellschaftlich notwendiger Betreuungstätigkeiten ins Ehrenamt ein. Frauengesundheit – Defizite der Versorgung Erika Zoike Auf der Basis vorliegender Analysen von Arbeitsunfähigkeits-, Krankenhaus- und Arzneimitteldaten der Betriebskrankenkassen ergeben sich wichtige Hinweise auf Unterschiede im Krankheitsgeschehen bei Männern und Frauen sowie auf Fehl-, Unter- und Überversorgung von Patientinnen im deutschen Gesundheitswesen. • Frauen erkranken nicht häufiger, aber anders als Männer: Während z.B. körperliche Verletzungen bei Frauen deutlich seltener Krankheiten verursachen als bei Männern, bestimmen vegetative, psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen wesentlich stärker das Krankheitsgeschehen bei Frauen. • Hierbei erhalten Frauen zu häufig und zu viele Medikamente, insbesondere wenn sie mit psychosomatischen vegetativen Befunden die Arztpraxis aufsuchen. • Ältere Frauen sind zudem von der Polymedikation (gleichzeitige Vergabe von fünf und mehr Wirkstoffen pro Quartal) deutlich stärker betroffen als Männer. Dies ist ein großes Problem in Hinblick auf Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten bis hin zu hieraus entstehenden zusätzlichen Gesundheitsschäden. • Nicht nur im Arzneimittelbereich sondern auch bei operativen Eingriffen sind medizinisch nicht plausible Häufungen erkennbar, die die Vermutung nahe legen, dass oft der ”schnelle Griff zum Messer” eine problemadäquate medizinische Versorgung ersetzt. • Die Medikalisierung natürlicher Lebensphasen von Frauen (Schwangerschaft, Wechseljahre) fällt ebenfalls in den Bereich der Überversorgung. Frauen und Armut 119 58 Prozent der weiblichen BKK-Versicherten wurden 1998 Arzneimittelpatientinnen, während ”nur” 47 Prozent der Männer im Jahr mit einer Medikamentenverordnung die Arztpraxis verließen. Insgesamt sind die Verordnungshäufigkeiten in Deutschland wesentlich höher als in vielen Nachbarländern. Während in den Niederlanden nur 65 Prozent der Arztbesuche mit einem Rezept enden, verzeichnen wir in Deutschland bei jährlich rund 500 Abrechnungsfällen in der ambulanten kurativen Versorgung über 900 Millionen Einzelverordnungen mit ca. 600 Millionen Rezepten. Dass diese ”Therapie” den Patientinnen gesundheitlich immer weiterhilft, darf bezweifelt werden: 33 Prozent mehr Frauen als Männer erhalten umstrittene Arzneimittel, und sie erhalten billigere Medikamente, da trotz höherer Verordnungsmenge der Umsatz in allen Indikationsgebieten nur unterproportional höher ausfällt als bei den Männern. Sie erhalten im Vergleich zu Männern dreimal so häufig Migränemittel, hierunter ebenfalls höhere Anteile an umstrittenen Medikamenten. Nach jüngsten Studien bestätigt sich leider, dass bei denselben chronischen Erkrankungen – beispielsweise Bluthochdruck oder Herzinsuffizienz – Frauen im Vergleich zu Männern ältere und um 15 bis 25 Prozent billigere Präparate verordnet bekommen. Auf der anderen Seite werden Befindlichkeitsstörungen wie die Hypotonie – im Ausland als ”german disease” betrachtet – medikalisiert und trotz des Risikos von Nebenwirkungen in erheblichem Maße mit Arzneimitteln statt mit aktivierenden Maßnahmen behandelt. Von den älteren Frauen über 65 Jahre erhielten 1998 45 Prozent – deutlich mehr als Männer (38 Prozent) - fünf und mehr Wirkstoffe pro Quartal. Die Polymedikation ist vor allem bei den älteren Versicherten ein großes Problem in Hinblick auf Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten bis hin zu hieraus entstehenden zusätzlichen Gesundheitsschäden. Auch bei den operativen Eingriffen gibt es deutliche Hinweise auf eine Über- und Fehlversorgung für Frauen: Akute Unterleibsbeschwerden – häufig als funktionelle Beschwerden bei jungen Frauen mit psychosomatischem Hintergrund - werden häufig als Appendizitis fehldiagnostiziert und dann auch operiert. Im Ergebnis stellen wir eine fünfzigprozentige Erhöhung der Krankenhauseinweisungen mit dieser Diagnose bei Frauen gegenüber Männern fest, wobei in Studien ein Anteil unnötiger Blinddarmoperationen von durchschnittlich 25 Prozent angegeben wird. Als medizinisch nicht begründet gelten ebenfalls etwa ein Viertel der Eierstockund Eileiteroperationen. Noch kritischer werden in der Gesundheitsforschung die Häufigkeit von Gebärmutteroperationen bewertet. Auch wenn die Häufigkeit der Hysterektomien möglicherweise bereits auf Grund der kritischen Diskussion sinkt, so nehmen andere operative Eingriffe (Laparoskopien, Myomausschälungen u.a.) zu. Die Medikalisierung natürlicher Lebensphasen von Frauen fällt ebenfalls in den Bereich der Überversorgung. Hier sind exemplarisch die hohen Anteile der sogenannten ”Risikoschwangerschaften” zu nennen (die Anteile betragenen siebzig Prozent und mehr, wobei die Ausweitung der labortechnischen Leistungen in der Schwangerenvorsorge keine weitere Senkung der 120 Armut und Gesundheit Säuglingssterblichkeit erreicht hat) oder die aktuell unter Nutzen-Risiko-Abwägung zurecht umstrittene sehr häufige Hormonsubstitution bei Beschwerden in den Wechseljahren. In anderen Bereichen bestehen hingegen Versorgungsdefizite in Form einer Unterversorgung oder unzureichender Qualität der medizinischen Behandlung. Ohne hier auf die Einzelheiten eingehen zu können, sei stellvertretend auf die Qualitätsdefizite in der Brustkrebsvorsoge hingewiesen – etwa bei Mammographie-Befundungen – sowie auf das Fehlen evidenzbasierter Leitlinien in der Behandlung des Brustkrebses. Als weiteres Beispiel ist die bis zu fünfzig Prozent höhere Sterblichkeit bei Frauen unter sechzig Jahren nach einem Herzinfarkt zu nennen, die allerdings auch international ein Problem darstellt. Einen weiteren wichtigen Komplex stellt die Unterversorgung bei psychosomatischen Krankheitsbildern dar. Während Frauen überhäufig Psychopharmaka und zudem oftmals umstrittenen Kombinationspräparaten erhalten, dauert es im Schnitt immer noch fünf Jahre, bis eine psychosomatisch erkrankte Patientin nach langer Zeit erfolgloser medizinischer Inanspruchnahme endlich einer geeigneten Rehabilitationsmaßnahme zugeführt wird. Auch die in der Häufigkeit zunehmenden Essstörungen bei Mädchen werden oft zu spät erkannt. Hier besteht eine gesellschaftliche Aufgabe der gesundheitlichen Aufklärung, die gerade bei Mädchen eine Stärkung des Selbstbewusstseins und einer positiven körperlichen Selbstwahrnehmung fördert. Für bessere Qualität und Effizienz Von einer Aufhebung der Budgetierung einzelner Ausgabenbereiche der gesetzlichen Krankenversicherung kann keine Lösung der hier aufgezeigten Probleme erwartet werden. Richtig ist, dass diese Versorgungsmängel durch umfassende Anstrengungen für eine bessere Qualität und Effizienz der Versorgung beseitigt werden müssen. Hierzu gehören deutlich verstärkte öffentliche Investitionen in die Versorgungsforschung (siehe unten), eine Reform der Medizineraus– und –weiterbildung, Qualitätsverbesserungen im stationären Bereich - durch die Arbeit des Ausschusses Krankenhaus nach § 137 c SGB V sowie insgesamt eine stärkere Orientierung der Versorgungspraxis an evidenzbasierten Leitlinien. Darüber hinaus bietet die Entwicklung neuer Versorgungsformen ebenfalls Möglichkeiten, diese im Kontext einer qualitätsgesicherten adäquaten Gesundheitsversorgung von Frauen und Männern stärker zu nutzen. Innovative Versorgungsformen mit veränderten finanziellen Anreizen können sowohl für die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Leistungserbringergruppen als auch für die Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringer/in und Patient/in ein besseres Umfeld bieten. Die Betriebliche Krankenversicherung sieht hier erhebliche Optimierungspotentiale für die Versorgung von Patientinnen und Patienten und beteiligt sich aktiv an der Etablierung solch neuer Versorgungsmodelle. Stärkung der Eigenkompetenz Eine Schlüsselrolle für eine verbesserte medizinischen Versorgung nimmt nach Auffassung des BKK Bundesverbandes die Förderung der Eigenkompetenz von Patient/innen ein. Diese setzt aber wesentlich mehr Aufklärung und bessere Informationen für Patien- Frauen und Armut 121 tInnen wie auch ein Umlernen und verändertes Rollenverständnis zwischen Patientinnen und Patienten auf der einen und Ärztinnen und Ärzten auf der anderen Seite voraus. Patientinnen müssen stärker befähigt werden, auf der Basis ”informierter Entscheidungen” eine aktive Haltung bei der Behandlung und Bewältigung ihrer Krankheit einzunehmen. Dies hieße z.B. klar zu machen, warum bei vielen Behandlungsanlässen mit diffusen Symptomen und funktionellen Störungen (z.B. ”psychovegetatives Syndrom”, ”vegetative Dystonie”, Hypotonie, Depressionen) ein zurückhaltender Umgang mit Medikamenten und stattdessen andere aktivierende Schritte sinnvoll sind. Erwartungen nach einer stets möglichst raschen aber letztlich rein symptomatischen Beseitigung von Beschwerden sind mit einem solchen veränderten Ansatz nicht verträglich. Die Betriebliche Krankenversicherung unterstützt die Stärkung der Eigenkompetenz im Rahmen der Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention sowie durch die Unterstützung von Selbsthilfegruppen nach § 20 SGB V. Von allen Verantwortlichen sollten Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention, insbesondere in Schule und Arbeitswelt verstärkt entwickelt werden. In diesen Lebenswelten bestehen besonders günstige Voraussetzungen für zielgruppenspezifische Information sowie Maßnahmen der Verhältnis- und Verhaltensprävention (Ernährung, Bewegung bis hin zu Körperbewusstsein und Konfliktbewältigungskompetenzen). Gerade die Gesundheitsförderung bedarf aber auch der Flankierung durch eine intensivierte, breite und nachdrückliche Informationsarbeit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Förderung der Versorgungsforschung In Deutschland liegen nur wenige systematische Analysen über das Versorgungsgeschehen vor, mit deren Hilfe Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung bewertet werden könnte. Dieses Forschungsdefizit zeigt sich auch bei der Bestandsaufnahme der Projekte zur Versorgung von Frauen. Trotz eines höheren Finanzvolumens für die Gesundheitsforschung wird die Bundesregierung im Rahmen ihres Gesundheitsforschungsprogramms nicht einmal sechs Prozent für die Forschung zum Gesundheitswesen ausgeben. Die Versorgungsforschung ist aber eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Verhaltensmuster bei der Inanspruchnahme von Leistungen und Behandlungsgewohnheiten transparent werden und Versorgungsdefizite behoben werden können. Der BKK BV plädiert daher nachdrücklich dafür, dass die Ausgaben für Versorgungsforschung erhöht werden, um Über-, Unter- und Fehlversorgung im Gesundheitswesen – unter Einschluss der geschlechtspezifischen Perspektive - erkennen und abbauen zu können. 122 Armut und Gesundheit Erfahrungen aus der Projektarbeit in Berlin–Treptow–Köpenick: Altersstruktur Margit Haberkorn Rund fünfzehn Prozent der Treptower Bevölkerung ist älter als 65 Jahre, wovon ca. sechzig Prozent Frauen sind. Speziell in Treptow/ Baumschulenweg, wo das Domizil des Frauentreff Treptow ist, liegt der Anteil der über 65-Jährigen bei 22 Prozent. Der überwiegende Teil dieser älteren Seniorinnen lebt allein. Insbesondere Alleinlebende und Hochbetagte drohen zu vereinsamen, weil sie nicht mehr in der Lage sind, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Besonders die sozial schwachen Bürgerinnen, die keinen Anspruch auf Pflegeversicherungsleistungen haben, sind davon betroffen. Ähnlich ist die Situation in Köpenick. In Treptow liegt die Lebenserwartung von Frauen bei ca. 78,5 Jahren und ist damit am höchsten im Ostteil Berlins. Besonders problematisch ist die wachsende Zahl der Hochbetagten mit Einschränkungen in der Merkfähigkeit und Behinderungen wie Geh- und Sehschwächen sowie der sozial schwachen alleinstehenden Bürgerinnen. Deshalb ist für diese Seniorinnen die Betreuung, Begleitung und das persönliche Gespräch im Alltag stets ein wichtiger Schwerpunkt der Arbeit des Frauentreff Treptow. Vorstellung und Arbeitsweise des Frauentreff Treptow Der Frauentreff Treptow ist ein soziales Projekt des dfbLVB e.V. und bekannt als Kommunikations-, Begegnungs- und Betreuungsstätte für Frauen aller Altersgruppen. Angesiedelt seit 1991 im Ortsteil Baumschulenweg (Bezirk Treptow-Köpenick) arbeitet er mit geförderten Projekten. Arbeitsprinzip ist, generationsübergreifend, bürgerinnenoffen, parteienunabhängig wirksam zu werden. Und dies besonders für sozial schwache Bürgerinnen. Er hat sich in nunmehr zehn Jahren zu einem festen Bestandteil der sozialen Infrastruktur des Bezirkes entwickelt. Die Angebote des Frauentreffs werden vorrangig von älteren Frauen genutzt. Dies entspricht in etwa der Altersstruktur in Baumschulenweg und der der angrenzenden Ortsteile. Aber auch jüngere Frauen suchen hier Kontakt. Sie nehmen teil an thematischen Gesprächsrunden oder suchen das helfende Gespräch bei Arbeits- und Orientierungslosigkeit sowie bei Problemen mit dem Partner und in der Familie. Der Treff ist Anlaufpunkt für Frauen mit vielerlei Problemen, Sorgen und Nöten. Sie wissen, hier hört man geduldig zu, gibt Rat und Hilfe. Für viele ist es wichtig, dass sie durch Gespräche aus ihrer Einsamkeit herausfinden. Aber es kommen nicht nur Frauen, die Hilfe suchen, sondern auch solche, die ehrenamtlich ihre Hilfe anbieten. Das sind Fähigkeiten und Fertigkeiten, die die Arbeit des Treffs unterstützen und reicht von aktiver Mitgestaltung von Interessengruppen wie Klöppeln, Kreatives Gestalten und Basteln, Handarbeit über Bildbetrachtung und Malen, Englisch-Gesprächsrunden bis zur Gestaltung eigener kleiner Ausstellungen. Welche inhaltlichen Schwerpunkte zeichnen sich besonders in den letzten Jahren ab? In den letzten Jahren hat besonders das persönliche Gespräch mit Frauen in schwierigen Lebenssituationen zugenommen. Das betrifft Problemfelder wie Einsamkeit, Umgang mit Arbeitslosigkeit, Partnerprobleme und Partnerverlust, Alkoholmissbrauch sowie Angst und Depressionen, vor allem auch Angst vor Gewalt und Kriminalität. Hinzu Frauen und Armut 123 kommen finanzielle Sorgen, Schwierigkeiten im Umgang mit Behörden und Ämtern sowie Miet- und Umzugsfragen. Aber es gibt auch Fälle, in denen Besucherinnen völlig orientierungslos sind und Suizidgedanken äußern. Die Bürgerinnen wissen, dass wir diskret und vertraulich arbeiten, zuhören können und ihnen geholfen wird. Hochbetagte Frauen ersuchen insbesondere Unterstützung bei der Bewältigung der Alltagsaufgaben. Hier setzt unsere Arbeit an: Es werden Gespräche geführt, Informationen gegeben, auf geeignete Veranstaltungen/Gesprächsrunden im Frauentreff hingewiesen, und – wenn unsere Möglichkeiten nicht ausreichen – werden Kontakte zu kompetenten Beratungspartnern vermittelt. Dazu arbeiten wir vor allem zusammen mit der Abteilung Soziales und Gesundheit (Fachbereich Soziales und Plan- und Leitstelle Gesundheit), der Gleichstellungsbeauftragten, der Ausländerbeauftragten sowie dem Kulturamt unseres Bezirkes. Aber auch mit anderen Behörden, der Polizei, Ärzten und medizinischen Einrichtungen, kirchlichen Beratungsstellen, anderen Vereinen/Verbänden, dem Selbsthilfezentrum und kommerziellen Partnern. Auf Grund der Vielzahl geleisteter Einzelfallhilfen und des immer größer werdenden Bedarfs an Informationen - vor allem zu gesundheitlichen Problemen - hat der Frauentreff Treptow sein Profil schwerpunktmäßig auf die Unterstützung und Hilfe von Seniorinnen und Hochbetagten bei der Bewältigung von Alltagsproblemen sowie auf die Vermittlung von Informationen zur vorbeugenden Gesunderhaltung/ Gesundheitsprophylaxe, Bewältigung von Gesundheitsproblemen, auf psycho-soziale Themen als auch auf den Erhalt der Lebensfreude orientiert. Viele Probleme aus der täglichen Arbeit werden aufgegriffen und Gesprächsrunden bzw. Informations- und Bildungsveranstaltungen angeboten, die Hilfe zur Selbsthilfe aber auch Lebensfreude geben sollen. So wurden im laufenden Jahr monatlich Gesprächsrunden wie „Lebenskrise und Chancen“ sowie „Kommunizieren – aber wie?“ mit je einer erfahrenen, ehrenamtlich arbeitenden Psychologin bzw. Pädagogin durchgeführt. Hier zur Illustration einige Gesundheitsthemen aus unserem Veranstaltungsprogramm zum „Jahr der Frauengesundheit“: „Gesund denken – gesund ernähren – gesund leben“, „Hilfe, ich bin gestresst“, “Gesunde Ernährung mit Vollwertkost“, „Wasser als Lebenselixier“. Aber auch Themeninhalte zu Osteoporose, Inkontinenz, alternativen Heilmethoden/Naturheilverfahren wie TCM, Akupunktur, zur Anwendung von Heilkräutern wurden angeboten. Und besonders auch solche Veranstaltungen, wie das traditionelle „thematische Frauenfrühstück“ oder nur zum Plaudern, Kontaktfinden, zur Förderung der Gemeinsamkeit oder zu besonderen Anlässen, wie in der Advents- und Weihnachtszeit werden sehr gut angenommen. Viele Bürgerinnen kommen deshalb auch aus angrenzenden Ortsteilen. Das wird aber zunehmend schwieriger, da für sozial schwache Frauen die Fahrkosten immer weniger erschwinglich und sie somit einer wachsenden Isolation ausgesetzt werden. Mit dieser Situation werden wir häufig konfrontiert. Als weiteres Angebot des Frauentreff Treptow betreuen Mitarbeiterinnen der Projekte „Frauenbegleitung“ bzw.„Seniorenbetreuung“ vorrangig hochbetagte und sozial schwache Bürgerinnen, z.B. bei der Begleitung zum Einkaufen, zu Arztbesuchen und medizinischen Einrichtungen, bei Spaziergängen oder zu Veranstaltungen im Frauentreff. Auch betreuen sie sie während der Wohnungssanierung und organisieren Hilfe für bevor 124 Armut und Gesundheit stehende Umzüge. Sie bemühen sich vor allem darum, dass diese Bürgerinnen so lang wie möglich in ihrer eigenen Wohnung verbleiben können. Dazu helfen sie unter anderem auch beim Vorlesen, Erledigen von Behördenpost, machen kleine Handreichungen im Haushalt, gemeinsame Übungen zum Gedächtnistraining und zur Fingerfertigkeit und reden mit ihnen über die kleinen und großen Dinge des täglichen Lebens. Auch Busfahrten – besonders für gehbehinderte Seniorinnen werden unternommen, z.B. Fahrten in die nähere Umgebung oder in die Berliner Innenstadt. Demnächst findet wieder die beliebte Lichterfahrt durch das weihnachtliche Berlin statt. Mit welchen Problemen haben die Projektfrauen selbst zu tun? Der Demokratische Frauenbund Landesverband Berlin e.V. versteht sich als arbeitsmarktpolitischer Träger und beschäftigt in seinen Frauentreffs Arbeitnehmerinnen des zweiten Arbeitsmarktes seit Jahren. Dazu liegt ein breiter Erfahrungsschatz vor. Projektfrauen sind meist Arbeitslose unterschiedlichen Alters aus den verschiedensten Berufen mit mehr oder weniger Praxis. Es sind überwiegend Frauen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt kaum noch Chancen haben (Alter, Behinderung, fehlende spezielle Bildung bzw. nach Weiterbildungsmaßnahmen fehlende Praxis). Da Arbeitnehmerinnen jährlich neu in die Projektaufgaben eingearbeitet werden müssen, kommt auf den Träger einschließlich der Leiterinnen der Treffs eine hohe Verantwortung und Belastung zu, um 1. die Mitarbeiterinnen für die Aufgaben zu motivieren und einzuarbeiten, Langzeitarbeitslose wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren und dabei 2. die soziale Struktur und die Angebote des Treffs zu erhalten bzw. auszubauen. Die Bewältigung dieser Aufgaben erfordert die volle physische und psychische Kraft und Einsatzbereitschaft. Da die Projektmitarbeiterinnen selbst viele Probleme auf Grund ihrer Arbeitslosigkeit und damit vielfach finanzielle Sorgen haben, brauchen auch sie eine gute Betreuung und Begleitung durch diese Zeit. Hier bietet der Träger Weiterbildungsmöglichkeiten verschiedener Art, aber auch tägliche Gespräche und ständige Arbeit mit den Mitarbeiterinnen sind erforderlich. Zudem bedarf es einer großen Erfahrung und Kompetenz, rechtzeitig zu erkennen, ob eine Bewerberin für diese Aufgabe eingesetzt werden kann, denn viele Frauen benötigten selbst psychologische Betreuung. Schlussfolgerungen zur gesundheitsfördernden Arbeit von Projekten Der Frauentreff Treptow mit seinen vielfältigen sozialen und gesundheitsfördernden Angeboten leistet einen nicht geringen Beitrag zur Erhaltung der sozialen Struktur im Bezirk und zur Gesunderhaltung besonders älterer Bürgerinnen. Zudem arbeiten er und ähnliche Projekte äußerst kostengünstig. Deshalb ist es so wichtig, dass die gesamte Bandbreite der Leistungen erhalten bleibt. Werden hier auf Grund finanzieller Kürzungen Abstriche gemacht, wird das letztlich für die Gesellschaft erheblich teurer. Es müssen Möglichkeiten geschaffen werden, dass vor allem ältere Arbeitnehmerinnen mehrjährige Förderzeit erhalten, um ihre Persönlichkeit zu stärken und das Selbstwertgefühl zu verbessern. Das trägt nicht zuletzt bei einigen dazu bei, dass sie sich insgesamt wieder wohler fühlen, gesund bleiben bzw. weniger krankheitsanfällig sind. Frauen und Armut 125 Zusammenleben mehrerer Generationen unter einem Dach Frauenwohnprojekt „Offensives Altern“ Ursula Sadowski Vor fast 25 Jahren setzte sich ein Gesprächskreis älterer Frauen im Frauenzentrum Stresemannstraße (Berlin-Kreuzberg) mit dem eigenen Altwerden auseinander. Für uns, die wir um die fünfzig Jahre alt waren, stand fest, uns nicht an den Stadtrand in Altenoder Pflegeheime abschieben zu lassen oder vereinsamt in der eigenen Wohnung unseren Lebensabend zu verbringen. Alt werden wollten wir in einem lebendigen Umfeld mit jüngeren Frauen und Kindern. Aus dieser Idee entwickelte sich unser Generationen übergreifendes Frauenwohnprojekt. Es brauchte Jahre bis zu seiner Verwirklichung. Damals war es noch schwierig, für ein Projekt, das sowohl Generationen übergreifend, als auch frauenbezogen war, öffentliche Unterstützung zu bekommen. Eigenes Geld hatten wir nicht. Es dauerte Jahre, öffentliche Institutionen zu überzeugen, bei Wohnungsbaugesellschaften und Genossenschaften eine Möglichkeit zu finden, unsere Vorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen. Es war 1989, als uns die Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892 einen geplanten Neubau, im sozialen Wohnungsbau, in Neukölln-Buckow anbot. Es dauerte dennoch zehn Jahre, ehe wir nach Überwindung vieler Hindernisse, im Frühjahr 1999 das neue Haus mit 24 abgeschlossenen, unterschiedlich großen Wohnungen beziehen konnten. Dort gibt es einen großen Gemeinschaftsraum, Garten mit Spielplatz, die Kita gleich gegenüber. Nur, die meisten Frauen, die sich einmal für dieses Projekt stark machten, gibt es nicht mehr: Zu alt, krank oder verstorben. Vier von uns zogen ein, Neue waren in den letzten Jahren dazugekommen, junge Frauen und Mütter mit Kindern mussten gefunden werden. Zurzeit sind alle 24 Wohnungen besetzt. Wir sind zehn Rentnerinnen, elf alleinerziehende Mütter, berufstätige und arbeitslose Frauen und fünfzehn Kinder vom Kleinkind bis zum Teenager. Das erste Jahr voller Aktivitäten ließ uns Leben und Tod miteinander erleben. Eine der aktivsten Mitstreiterinnen starb, von den Mitbewohnerinnen bis zum Ende begleitet. Drei Kinder wurden im ersten Jahr geboren. Nach aller Euphorie des ersten Jahres hat das Gemeinschaftsleben nun nachgelassen. Erste Konflikte treten auf. Unterschiedliches Alter, unterschiedlichste Lebensauffassungen treffen auf einander, erfordern Toleranz und Kompromisse. Wir versuchen die Konflikte an Projekttagen – mit Kinderbetreuung, damit alle Mütter teilnehmen können – zu lösen. Wie suchen uns fachliche Hilfe von außen (Supervision) und wünschen uns so manches mal eine kompetente Projektbegleitung. Die Hilfe unter einander klappt gut, sei es in Krankheitsfällen oder bei Kinderbetreuung. Die Älteren haben eine Gesangs-, eine Tanz- und eine Gymnastikgruppe, leider ohne die Jüngeren. Mit den Kindern gibt es, von kleinen Ärgernissen abgesehen, viel Freude. Und das Feiern miteinander (z.B. Geburtstage) klappt immer noch am Besten. So sind wir sicher auf einem guten, wenn auch nicht immer unproblematischem Weg. Und lebendig ist es auf jeden Fall, zuweilen etwas reichlich. 126 Armut und Gesundheit Gesundheitsfördernde Netzwerke für ältere Frauen, Zusammenarbeit der Generationen Annemarie Merbitz 1. Vorstellung des Humanistischen Verbandes und seines Bürgerhauses Der Humanistische Verband Halle/Saalkreis e.V. ist eine parteipolitisch neutrale Weltanschauungsgemeinschaft konfessionsfreier Bürgerinnen und Bürger. Seine Mitglieder (ca. 120 gegenwärtig) eint ihre weltlich-humanistische Lebensauffassung, die auf einem Welt-Menschenbild beruht, das die Würde des Menschen, das Selbstbestimmungsrecht des Individuums und die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft an die Spitze aller moralischen Werte stellt. Die Mitglieder geben die Hoffnung nicht auf, dass humanere und damit gerechtere Formen menschlichen Zusammenlebens durch menschliches Handeln möglich sind. Diese Standpunkte sind Grundlage des Verbandes der Angebote in der Sozialarbeit und einer sinn- und wertstiftenden Kinder- und Jugendarbeit. Das Bürgerhaus im Halleschen Süden existiert seit 1996 und ist offen für alle Bürgerinnen und Bürger aller Generationen. Angebotsspektrum • Frauenkommunikationszentrum • Offener Kinder- und Jugendtreff • Soziale Beratungen (Schuldnerberatung, Trauer- Hinterbliebenen- und Lebensberatung. Patientenvorsorgeverfügung) • Kreativ-, Sport- und künstlerische Angebote • Jugendbildungsveranstaltungen • Internationaler Jugend- und Kulturaustausch mit Nordrussland • Regelmäßige Klubgespräche (ethische, philosophische Fragen) • Jugendfeiern • Namensfeiern Diese einzelnen Angebote werden durch das Projekt der Generationen verbunden. Die Angebote nehmen monatlich zwischen 2000 und 3000 Besucher in Anspruch, davon ca. 1000 Jugendliche und ca. 700 bis 800 ältere Frauen. Weil es anfangs Reibereien und Ärger gab, alle Generationen unter einem Dach konfliktarm zu vereinigen, haben wir aus der Not eine Tugend gemacht. Viele Vorurteile der Alten gegenüber den Jungen und umgekehrt behinderten die Arbeit. Der Ansatz der Dialogarbeit wurde daraus abgeleitet, dass diese Vorurteile geprägt sind von: • Ungenügendem Wissen und Kenntnissen voneinander • Wenig Erfahrung miteinander und • Verfehlten Erwartungshaltungen an die jeweilig anderen. Dies wollten wir verändern Begonnen haben wir mit der Diskussion aller für eine gemeinsame Hausordnung Der Arbeitsansatz war: jede Alters- und Interessengruppe gestaltet ihr eigenes Programm, sie sind trotzdem offen für alle Interessierten und bestimmte Aktivitäten werden gemeinsam Frauen und Armut 127 organisiert. Verbote existieren nur dort, wo andere unverhältnismäßig eingeschränkt werden oder eine gesetzliche Bestimmung es notwendig macht (Jugendschutzgesetz). „Das-sich-wohl-fühlen“ ist wichtige Voraussetzung für die Gesundheit jedes Einzelnen und das ist das Ziel unserer Arbeit. 2. Wünsche, Bedürfnisse und Eigenheiten der Besucher des Bürgerhauses Die Interessenlage und Einstellungen der Besucher sind sehr unterschiedlich. Die Mehrzahl der Älteren fühlen sich als die Gebenden, als die, die mit ihrer Lebenserfahrung die Jungen erziehen. Und wer will schon mit 18/19 Jahren erzogen werden? Die Jugendlichen empfinden ältere als langweilig, träge. Sie haben andere Ausdrucksformen und oft auch andere Lebenseinstellungen als ältere; sie nutzen modere Kommunikationsformen. Deshalb ist eine Wertevermittlung und –diskussion für Beide (Junge und Alte) notwendig. Ziel ist die Tolerierung anderer Ausdrucksformen und Lebenseinstellungen. Grenzen werden dann gezogen, wenn der Andere unvertretbar eingeschränkt wird, wenn seine Interessen nicht mehr geachtet, das Zusammenleben gefährdet ist. Beispiel Verhalten, Umgangsformen, Hilfe untereinander Die Besucher unseres Bürgerhauses haben unterschiedliche Lebenserfahrungen. • Ältere sind von der DDR geprägt, haben ein Arbeitsleben, meist erfolgreich, hinter sich, Ältere blocken meist ab, führen Gespräche mit Älteren, wenig Bereitschaft mit Jüngeren zu sprechen, sie anzuhören • Junge müssen eigene Erfahrungen sammeln, die meisten sind von sozialer Unsicherheit betroffen. Jeder sieht zu, wie er den Anforderungen gerecht wird. Durch schlechte Arbeitsmarktlage wandern besonders Junge ab. Damit nimmt auch die Familienunterstützung ab. Das sind auch Gründe dafür, dass andere Personen oder Vereine und Verbände einspringen müssen, um Zeit füreinander zu finden und sich zu nehmen. 3. Erfolge und gegenwärtige Grenzen der Dialogarbeit im Bürgerhaus Erfolge treten immer dann ein, wenn an gemeinsamen Zielen gearbeitet wird, wenn gemeinsames Tun im Mittelpunkt steht. Einige Beispiele dafür: • Alle Generationen haben sich aktiv für die Erhaltung des Bürgerhauses nach der Insolvenz des Landesverbandes eingesetzt. Sie haben ihre ehrenamtliche Arbeit so verstärkt, dass für diesen Zeitraum wenigstens einige Veranstaltungen durchgeführt werden konnten und das Haus nie ganz geschlossen werden musste. Sie haben sich an die Verantwortlichen der Stadt mit der Bitte zur Erhaltung des Bürgerhauses gewandt und dafür gute Gründe genannt. Sie haben mehr gespendet und Gäste des Bürgerhauses solidarisierten sich mit dem Verband und wurden Mitglied. • Unser Bürgerhaus ist ein ehemaliger Kindergarten. Schon bei der Übernahme 1996 war der bauliche Zustand problematisch. Schritt für Schritt wurde das Notwendigste, auch mit bereitgestellten Fördermittel, getan (Dacherneuerung, Trockenlegung des Hauses, neue Fenster und Türen u.a.) Die Werterhaltung in den Räumen und die Sanierung der Sanitäranlagen konnten durch die Eigenleistungen der Jugendlichen wesentlich billiger durchgeführt werden. Ein für uns besonders wichtiger Effekt dieser Anstrengungen ist die Anerkennung der Leistungen der Jungen durch 128 Armut und Gesundheit die Älteren und die Achtung vor der eigenen Leistung. Damit haben wir auch erreicht, dass das Selbstgeschaffenen mehr geachtet wird. • Gute Zusammenarbeit entwickelt sich bei der gemeinsamen Vorbereitung und Durchführung von Wohngebiets- und Hausfesten. Gegenwärtige Grenzen Ohne das Bürgerhaus würden sich unsere Besucher wahrscheinlich nie begegnen, weil • die jungen Besucher mehrheitlich sozial schwach sind, • das Bildungsniveau oft unter dem allgemeinen Durchschnitt liegt, sie oft • keine ausgeprägten Interessen besitzen, außer für Musikhören und „abhängen“ Die älteren Besucher sind sozial abgesichert durch die monatliche Rente, sie genießen ihren„geruhsamen“ Lebensabend. Sie besitzen in der Mehrzahl eine gute Ausbildung und zählen oft zu den Intellektuellen. Die Mitarbeiter des Jugendbereiches sind oft nur kurzfristig (ABM) beschäftigt und für diese Arbeit ungenügend ausgebildet Eine sozialpädagogische Arbeit und Erlebnispädagogik ist auf Dauer damit nicht zu realisieren. Jugendliche haben kein Gesprächsbedarf in sogenannten thematischen Gesprächsrunden. Sie suchen ihre Antworten mehrheitlich in Einzelgesprächen. Aber auch nur dann, wenn ein Vertrauensverhältnis aufgebaut wurde. Gerade deshalb ist es notwendig, Mitarbeiter für diesen Bereich gut auszubilden und länger in einer Einrichtung zu beschäftigen. Programm ”Soziale Stadt” Franziska Eichstädt-Bohlig Die Stadtsanierung hat sich bis 1998 darauf konzentriert, städtebauliche Missstände zu beseitigen und strukturelle Veränderungen sozial abzusichern. Zunehmende Arbeitslosigkeit, steigende Abhängigkeit von Sozialhilfe und einer wachsende Zahl von ethnischen Minderheiten verändern unsere Städte tiefgreifend. Kernproblem ist die Konzentration von sozial stigmatisierten Haushalten in sogenannten überforderten Nachbarschaften, wo die Wohnverhältnisse zwar weitgehend in Ordnung sind, die gesellschaftliche Anerkennung und die Integration der Bevölkerung in die Erwerbsarbeit aber immer brüchiger wird. Soziale Netze werden instabil, Gewalt wird zum allgegenwärtigen Phänomen, die Verwahrlosung des öffentlichen Raums greift um sich. Familien mit gesicherter Perspektive ziehen sich in die Vorortgemeinden zurück. Das soziale Auseinanderdriften der Gesellschaft spiegelt sich immer deutlicher in der Topographie unserer Städte wider. Die Zersiedlung geht mit der sozialen Entmischung der Innenstadtquartiere Hand in Hand . Die Städte stehen vor einer dreifachen Aufgabe. Sie erschließen verstärkt Eigenheimgebiete, um einkommensstarke Haushalte in der Stadt zu halten, sie müssen sich um die Wohnwertsteigerung der Innenstadtquartiere Frauen und Armut 129 bemühen, um die Abwanderung zu verhindern, und sie müssen der sozialen Erosion der von Abwanderung betroffenen Stadtteile entgegenwirken. Die bündnisgrüne Fraktion hat sich nach der Bundestagswahl 1998 trotz der enormen Sparzwänge intensiv für das Programm ”Soziale Stadt” eingesetzt – mit Erfolg. Das Programm wird mittlerweile mit einem jährlichen Verpflichtungsrahmen von 75 Millionen Euro ausgestattet, die selbe Summe wird von Ländern und Kommunen bereitgestellt, so dass insgesamt ein jährlicher Finanzrahmen von 300 Millionen DM sichergestellt ist. Inhaltlich baut das Programm im wesentlichen auf einer bereits 1998 von den Ländern beschlossenen, aber bislang nie finanzierten Konzeptvorlage ”Soziale Stadt” auf. Hauptziel ist die ressortübergreifende Bündelung der stadtentwicklungspolitisch relevanten Handlungsfelder (Städtebau- und Wohnungsbauförderung, Verkehr, Arbeits- und Ausbildungsförderung, Sicherheit, Frauen, Familien- und Jugendhilfe, Wirtschaft, Umwelt, Stadtkultur, Freizeit) vordringlich auf der Ebene des Landes und der Kommune. Auf der Bundesebene wurde auf eine verpflichtende Verknüpfung von unterschiedlichen Ressortprogrammen verzichtet. Sie wird aber praktisch angegangen, beispielsweise in der Verbindung mit dem Sofortprogramm zum Abbau von Jugendarbeitslosigkeit. Die Bündelung von Mitteln ist mehr als ein Notbehelf, denn nur durch intensive Zusammenarbeit aller Beteiligten kann diesen Gebieten schnell und nachhaltig geholfen werden und die Zuspitzung sozialer Probleme verhindert werden. Die Entscheidung, welche Maßnahmen wo notwendig und richtig sind muss vor Ort und unter intensiver Beteiligung der Bewohner und Gewerbetreibenden in den Gebieten entschieden werden. Die Stärkung und Ermutigung zu bürgerschaftlichem Engagement in und für das eigene Quartier, die Stärkung sozialer Netze und von Eigeninitiative ist gerade in Stadtteilen, wo viele Menschen aus dem traditionellen Arbeitsmarkt herausgefallen sind, unverzichtbar. Um eine koordinierte Zusammenarbeit von kommunalen Entscheidungsträgern, Verwaltung und Betroffenen sicherzustellen, bedarf es einer organisierten Zusammenarbeit z.B. in Form von Runden Tischen mit Vertretern der Stadtteilakteure, also Kommunalverwaltung, Wohnungsbaugesellschaften und wichtigen Eigentümern, sozialen Projekten, Gewerbetreibende, Kirche, Schulen, Polizei, Betroffenenvertretungen, die die aktuellen Probleme, Strategien und Lösungen besprechen und abstimmen. Das Programm baut auf die Initiativen einzelner Länder auf. Hamburg und NRW haben mit ihren Initiativen maßgeblich zur Realisierung des Programms “Soziale Stadt” beigetragen. Berlin hat im März 1999 mit einem Quartiersmanagement–Programm in fünfzehn Stadtteilen begonnen. Mittlerweile ist das Programm ein großer Erfolg und wird in allen Bundesländern mit Engagement und Erfolg weiterentwickelt. Dabei muss weiterhin darauf geachtet werden, dass die Mittel mit konkreten Zielen eingesetzt werden und nicht in der Städtebauförderung der Länder untergehen. Die Zukunft des Programms wird also maßgeblich von der inhaltlichen Initiative der Länder und Kommunen abhängen – sie sind auch in Zukunft zum Wettbewerb um best practice aufgefordert. 130 Armut und Gesundheit Frauen und Quartiersmanagement Christa Böhme These 1: Gesundheitsförderung für sozial benachteiligte Frauen muss stadtteilbezogen angelegt und vor Ort angesiedelt sein. Geschlechtsspezifisch betrachtet sind es eigentlich nicht die Frauen, sondern die Männer, die gesundheitlich benachteiligt sind bzw. sich selbst gesundheitlich benachteiligen. Daher wären eigentlich Männer die wichtigere Zielgruppe von Gesundheitsförderung. Dem gegenüber nehmen Frauen viel häufiger an Maßnahmen der Gesundheitsförderung teil; als Gesamtgruppe sorgen sie sich stärker um ihre eigene und die Gesundheit von anderen (Kinder, Lebenspartner, Eltern) (Blättner 2001). Berücksichtigt man jedoch neben der Geschlechterdifferenz soziale Faktoren, ändert sich das Bild. So haben beispielsweise arbeitslose Frauen eine niedrigere Lebenserwartung als Männer insgesamt. Und sozial benachteiligte Frauen nehmen deutlich weniger präventive Gesundheitsmaßnahmen in Anspruch. Riskante Lebensformen, wie hoher Alkohol- und Tabakkonsum, sind wesentlich öfter anzutreffen, ebenso wie nicht gesundheitsfördernde Ernährungsweisen (ebd.). Schlechtere Wohnsituationen, schlechtere Qualifikation und häufig die Aufgaben Alleinerziehender sind weitere Umstände, die Belastungen für das gesundheitliche Befinden darstellen. Nicht zuletzt gilt häusliche Gewalt als eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen. Mit anderen Worten Gesundheitsförderung wird von sozial benachteiligten Frauen zwar stärker benötigt, aber weniger nachgefragt. Gesundheitsfördernde Maßnahmen sind aber nicht nur unmittelbar für die Frauen selbst wichtig, sondern auch für die Frauen in ihrer Funktion als Mutter und damit in der Regel als Verantwortliche für die Gesundheit ihrer Kinder. In benachteiligten Gebieten liegt die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen für Kinder und die Vollständigkeit des Impfschutzes in der Regel erheblich unter dem städtischen Durchschnitt. Gleichzeitig ist der Anteil der Kinder mit motorischen Auffälligkeiten, Übergewicht, Sprachstörungen und hohem Kariesbefall deutlich höher als der städtische Durchschnitt. Als wesentlicher Grund für die geringe Teilnahme an Maßnahmen der Gesundheitsförderung wird genannt, dass sozial benachteiligte Frauen besonders stark mit der Aufrechterhaltung ihres Alltags und dem der Familie beschäftigt sind, so dass für die Gesundheitsvorsorge keine Zeit bleibt. Wichtig erscheint aber vor allem auch, dass von sozial benachteiligten Frauen selten Beratungsstellen aufgesucht werden, die außerhalb ihres Stadtteils liegen und die nicht ihr Beziehungsgeflecht repräsentieren. Dies gilt in besonderem Maße für Migrantinnen, bei denen sprachliche und sozial-kulturelle Barrieren das Aufsuchen von gesundheitsfördernden Maßnahmen zusätzlich erschweren. In Selbsthilfegruppen sind ebenfalls kaum Frauen aus den unteren Einkommensschichten oder Migrantinnen vertreten, da die Teilnahme ein spezifisches Gesundheitsverständnis und einen hohen Integrationsgrad voraussetzt (Schäfer/Zollmann 2001). In der Konsequenz heißt dies für Gesundheitsförderung im Hinblick auf sozial benachteiligte Frauen, dass sie in die Räume und Einrichtungen sowie Institutionen im Stadtteil, zu der die Frauen Vertrauen haben, verlagert werden muss und an diesen Orten niedrigschwellige zu Angebote schaffen sind. Dann wird entgegen der vorherrschenden Frauen und Armut 131 Meinung, sozial benachteiligte Frauen seien für Angebote der Gesundheitsförderung nicht zu gewinnen, häufig eine große Offenheit der Frauen sowie die Bereitschaft, das neue Wissen im Alltag zu nutzen, zu beobachten sein (ebd.). These 2: Gesundheitsförderung ist ein zentrales Handlungsfeld sozialer Stadtteilentwicklung, das in der bisherigen Praxis sozialer Stadtteilentwicklung aber noch einen geringen Stellenwert hat. Unzureichende und Konflikte fördernde Wohnverhältnisse, ungenügende Spiel- und Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, fehlende medizinische Angebote, fehlende gesundheitsbezogene Informationen und Unwissenheit sowie ein überdurchschnittliches Suchtpotenzial bei Teilen der Bewohnerschaft führen in benachteiligten Stadtteilen und insgesamt bei allen Bevölkerungsgruppen zu höheren Gesundheitsgefährdungen. Unumstritten ist auch, dass Einkommensarmut und Langzeitarbeitslosigkeit sowie Stress und Resignation krank machen können. Gesundheitsförderung ist daher ein zentrales Handlungsfeld sozialer Stadtteilentwicklung. Auf Grund des wechselseitigen Verhältnisses zwischen Gesundheit und anderen Lebensbereichen, wie Wohnung, Arbeit, soziale Kontakte, muss stadtteilbezogene Gesundheitsförderung integriert erfolgen, d.h. es sind Projekte in unterschiedlichen Handlungsfeldern zu entwickeln. Bislang ist die Gesundheitsförderung aber in der Praxis sozialer Stadtteilentwicklung und in den Köpfen der zuständigen Akteure noch wenig verankert. Dies zeigen unter anderem die Erfahrungen mit der bisherigen Umsetzung des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“: Projekte im Gesundheitsbereich stellen in den Programmgebieten bislang die Ausnahme dar. Generell fehlt bei vielen Akteuren sozialer Stadtteilentwicklung das Bewusstsein für das Thema Gesundheitsförderung. Eine – auf dem im Oktober 2000 im Rahmen der bundesweiten Programmbegleitung „Soziale Stadt“ stattgefundenen Impulskongress „Quartiersmanagement“ – angebotene Arbeitsgruppe zum Thema Gesundheit kam nicht zu Stande, da sich von den mehr als 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus den Programmgebieten der „Sozialen Stadt“ nur zwei Personen für diese Arbeitsgruppe interessierten. Ebenso musste ein vom Deutschen Institut für Urbanistik (DifU) im Jahr 2000 angebotenes mehrtägiges Seminar zur stadtteilbezogenen Gesundheitsförderung wegen zu geringer Anmeldezahl abgesagt werden. These 3: Wenn Quartiersmanagement „Motor“ für stadtteilbezogene Gesundheitsförderung sozial benachteiligter Frauen sein soll, muss Quartiersmanagement sowohl die Zielgruppe sozial benachteiligter Frauen als auch das Handlungsfeld Gesundheitsförderung auf den drei Aktionsebenen des Quartiersmanagements (Verwaltungsebene, intermediärer Bereich, Quartiersebene) stärker als bisher berücksichtigen. Quartiersmanagement gilt inzwischen als Schlüsselinstrument für die soziale Stadtteilentwicklung und als deren „Motor“. Allgemein sollen durch die Einrichtung eines Quartiersmanagements Strategien und Akteure der sozialen Stadtteilentwicklung integriert und vernetzt, ökonomische, soziale, ökologische und städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen miteinander verknüpft sowie die Handlungsmöglichkeiten und –kompetenzen der Quartiersbevölkerung gestärkt werden. 132 Armut und Gesundheit Das Quartiersmanagement übernimmt Koordinierungs-, Moderations-, Mediations- und Aktivierungsaufgaben sowie die Funktion einer „antreibenden Kraft“ direkt vor Ort auf der lokalen Umsetzungsebene. Außerdem vermittelt es zwischen der „Lebenswelt“ des Quartiers und den „Fachwelten“ der Verwaltungsressorts und anderen Akteuren, die nicht direkt im Stadtteil ansässig sind. Aktionsebenen des Quartiersmanagements8 müssen daher die Verwaltungsebene, die intermediäre Ebene und die Quartiersebene sein (Franke/Löhr 2000; Grimm/Hinte/Löhr 2000; Grimm/Micklinghoff/Wermker 2001). Aktionsebene I: Verwaltungsebene Auf der Verwaltungsebene bildet das Quartiersmanagement bzw. die/der „Gebietsbeauftragte“ die federführende Schnittstelle innerhalb der Verwaltung mit Befugnissen zum Einsatz kommunaler Ressourcen in Abstimmung mit den zuständigen Ämtern. Seine Aufgaben auf dieser Aktionsebene sind unter anderem die Gesamtprojektsteuerung, die Bündelung von Ressourcen sowie die Koordination bzw. horizontale Vernetzung der involvierten Ämter (ebd.). In der Regel wird für die ressortübergreifende Abstimmung eine verwaltungsinterne ämter- bzw. dezernatsübergreifende Projekt-, Arbeits- oder Lenkungsgruppe gebildet. Soll Gesundheitsförderung sozial benachteiligter Frauen in die soziale Stadtteilentwicklung integriert und über Stadtteilprojekte kleinräumig organisiert werden, ist die Beteiligung des Gesundheitsamtes, aber auch der Frauenbeauftragten an diesem Gremium unerlässlich. Dass die Mitwirkung des Gesundheitsamtes an den ressortübergreifenden Gremien jedoch noch nicht selbstverständlich ist, zeigen die Ergebnisse der Programmbegleitung in den sechzehn von den Ländern ausgewählten Modellgebieten des Programms „Soziale Stadt“: Das Gesundheitsamt ist hier nur in weniger als der Hälfte der Gebiete in diesem Gremium vertreten. Die Beteiligung der Frauenbeauftragten an den ämter- bzw. dezernatsübergreifenden Gremien kann bislang sogar als Rarität bezeichnet werden. In den sechzehn Modellgebieten wirkt die Frauenbeauftragte der Stadt lediglich in Bremen in der ressortübergreifenden Arbeitsgruppe mit. Aktionsebene II: Intermediäre Ebene Im intermediären Bereich sollen durch das Quartiersmanagement bzw. den/die StadtteilmoderatorIn möglichst alle lokal wirksamen Akteure aus Verwaltung, Politik, dem Dritten Sektor (freie gemeinnützige Träger), der Wirtschaft und der „Zivilgesellschaft“ in Form von „Stadtteilkonferenzen“, „Quartiersforen“, „Runden Tischen“ oder ähnlichen Kooperationsformen auf Stadtteilebene zusammengebracht, unterschiedliche Vorstellungen moderiert, Konflikte mediatisiert und die jeweiligen Leistungen der Beteilig8 Die bisherige Umsetzung des Bund-Länder-Programms „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“ zeigt, dass es in Deutschland zur Zeit noch keine grundsätzliche, allgemein anerkannte Definition des Begriffs Quartiersmanagement gibt. Daher werden je nach Bundesland oder Kommune unterschiedliche Bezeichnungen für Organisationsformen auf den Ebenen Verwaltung, intermediärer Bereich und Quartier verwendet. Die im folgenden für die ebenenspezifischen Organisationsformen des Quartiersmanagements benutzten Begriffe basieren auf einem gemeinsam vom Deutschen Institut für Urbanistik und dem Institut für stadtteilbezogene soziale Arbeit und Beratung der Universität GHS Essen entwickelten Modell zum Quartiersmanagement. Frauen und Armut 133 ten im Rahmen einer ganzheitlichen Projektlandschaft koordiniert werden (horizontale Vernetzung). Ferner sollen auf der intermediären Ebene Bedarfe aus dem Quartier gebündelt und in die Verwaltungs-„Fachwelt“ vermittelt, aber auch Informationen aus der Verwaltungs-„Fachwelt“ in das Quartier weitergegeben werden (vertikale Vernetzung zwischen der Verwaltungs-„Fachwelt“ und der „Lebenswelt“ des Quartiers) (ebd.). Um eine stärkere Berücksichtigung von Gesundheitsförderung für sozial benachteiligte Frauen im Stadtteilentwicklungsprozess zu erreichen, erscheint es auf dieser Aktionsebene erforderlich, dass das Quartiersmanagement von sich aus auf freie Träger der Gesundheits - und Gemeinwesenarbeit, auf Fraueninitiativen und Frauengruppen, Selbsthilfegruppen, ÄrztInnen, ApothekerInnen, Krankenkassen, Sportvereine sowie Schulen und Kindergärten zugeht, sie für die Mitarbeit in den intermediären Kooperationsformen und damit für die gemeinsame Stadtteilarbeit gewinnt. Nicht selten wird auf diese Weise überhaupt das erste Mal die Gelegenheit zum Kennenlernen und zum Austausch unterschiedlicher Sichtweisen und Ideen zur Gesundheitsförderung im Stadtteil entstehen und manchmal vielleicht der Grundstein für ein Aktionsbündnis Gesundheit im Stadtteil gelegt werden können. Aktionsebene III: Quartiersebene Zentrale Aufgabe des Quartiersmanagements auf der Quartiersebene ist die Aktivierung und Beteiligung generell aller lokalen Akteure und GebietsbewohnerInnen. Die VorOrt-QuartiermanagerInnen sollten daher über ein möglichst zentrales und gut erreichbares Stadtteilbüro für alle Interessierten jederzeit erreichbar sein und beispielsweise Beratungsleistungen zur „Hilfe zur Selbsthilfe“ anbieten, über vielfältige Aktionen Eigenengagement und Eigenverantwortung fördern sowie die BewohnerInnen zur Einbringung eigener Vorstellungen und auch Leistungen im Rahmen integrierten Stadtteilentwicklung motivieren. Der „direkte Draht“ zu den QuartiersbewohnerInnen lässt Probleme und Bedarfe erkennen bzw. greift Ideen auf, aus denen gemeinsam mit den BewohnerInnen entsprechende Projekte und Maßnahmen entwickelt werden können (ebd.). Um speziell sozial benachteiligte Frauen stärker in die Stadtteilarbeit einzubinden und für die stadtteilbezogene Gesundheitsförderung zu gewinnen, müssen sie durch das lokale Quartiersmanagement mittels niedrigschwelliger und aufsuchender Angebote, die sich an ihrer Lebenswelt und ihren persönlichen Lebensumständen orientieren, angesprochen werden. Dabei ist ihren speziellen Bedürfnissen und Fähigkeiten Rechnung zu tragen. Als eine geeignete Methode hierfür hat sich im Rahmen sozialer Stadtteilentwicklung die „Aktivierende Befragung“ bewährt. Sie ermöglicht einerseits die Kontaktaufnahme zu den befragten Frauen und vermittelt andererseits Erkenntnisse zum „Gesundheitshandeln“ der Frauen. Gefragt werden kann z.B. nach dem Gesundheitsverständnis und Gesundheitspotenzialen der Frauen und welche Angebote zur Gesundheitsförderung sie wahrnehmen würden (Schäfer/Zollmann 2001). Wesentlicher Erfolgsfaktor einer aktivierenden Befragung sozial benachteiligter Frauen ist, dass die Befragung von Personen durchgeführt wird, zu der die Frauen Vertauen haben können und zu der keine sprachlichen und kulturellen Barrieren bestehen. Mit anderen Worten: Die aktivierende Befragung ist durch Frauen und im Hinblick auf Migrantinnen durch Frauen aus dem gleichen Herkunftsland oder aber mit der entsprechenden sprachlichen und kulturellen Kompetenz durchzuführen. 134 Armut und Gesundheit Eine weitere frauenspezifische Möglichkeit der Aktivierung und Beteiligung ist die Veranstaltung einer Zukunftswerkstatt speziell für Frauen im Stadtteil. „Alte Frauen, junge Frauen, Frauen mit Kindern, Frauen ohne Kinder, deutsche Frauen, nichtdeutsche Frauen planen ihren Stadtteil“ - unter diesem Motto fand beispielsweise im Vicelinviertel der Stadt Neumünster eine Zukunftswerkstatt für Frauen statt. Im Mittelpunkt standen dabei die Fragen: • Wie wünschen sich die Frauen den Stadtteil – für sich persönlich und für ihre Familien? • Was kann frau selber tun, was können andere tun, und wer übernimmt welche Verantwortung? Wesentlich für den Erfolg der Zukunftswerkstatt war vor allem die Kinderbetreuung durch Mitarbeiterinnen der Kindertagesstätte im Stadtteil während der Veranstaltung und die Überwindung sprachlicher Barrieren; dafür wurden Frauen gefunden, die als Übersetzerinnen mitwirkten. Wichtig erscheint ferner, dass das Quartiersmanagement gezielt darauf hin arbeitet, Gesundheitsprojekte im Stadtteil in die Eigenverantwortung der Frauen zu legen, um das Verantwortungsbewusstsein zu stärken und selbsttragende Strukturen zu schaffen. Ein Beispiel für ein solches Projekt ist der Sonntagsbrunch der „Luruper Frauenoase“ im Stadtteil Lurup in Hamburg-Altona. Der Brunch findet in den Räumen des Hauses der Jugend und eines Bewegungskindergarten mitten in Lurup statt. Nach dem gemeinsamen Essen werden die Kinder im Rahmen eines psychomotorischen Bewegungsangebots von zwei dafür speziell ausgebildeten Mitarbeiter/innen betreut. Diese „kinderfreie Zeit“ nutzen die Frauen und Mütter, um sich über Möglichkeiten zur Gesundheitsförderung zu informieren und zu beraten. Bisherige Themen waren unter anderem bislang „Harninkontinenz“, „Brustselbstuntersuchung“, „Beckenbodengymnastik“, „Rückenschule“, „Wirbelsäulengymnastik“ und „Wechseljahre“. Information und Anleitung bieten dafür Fachfrauen aus dem Stadtteil, der Frauenoase selber und Mitarbeiterinnen des Hamburger Frauengesundheitszentrums. Die Frauen beteiligen sich mit einem Kostenbeitrag von bis zu zehn DM, der vor allem für die Kinderbetreuung entrichtet wird. Ferner bringt jede Frau einen kulinarischen Beitrag zum Frühstücksbüffet mit. Darüber hinaus erbringen die Teilnehmerinnen regelmäßig die Gesamtreinigung. Der Brunch wurde auf Grund einer ausführlichen Bedarfsanalyse (Zukunftswerkstatt, Workshop, Befragung) entwickelt, die ergab, dass viele Frauen in Lurup isoliert und vereinsamt leben und dass nachbarschaftliche Netzwerke, die insbesondere Frauen mit Kindern entlasten, Anlässe und Möglichkeiten, eigene Potentiale zu entfalten, die über Familienarbeit hinausgehen, kinderfreundliche Orte der Begegnung, zur Bewegung und Erholung, zur preiswerten gesundheitsfördernden Bewegung und Entspannung fehlen (DIFU 2001). Fazit Quartiersmanagement ist ein geeignetes Instrument, um Gesundheitsförderung für sozial benachteiligte Frauen stärkeres Gewicht in der sozialen Stadtteilentwicklung zu verleihen. Hierfür ist aber erforderlich, dass Quartiersmanagement das Thema Gesundheitsförderung und vor allem die Zielgruppe benachteiligter Frauen aktiv in seine Arbeit integriert und Vernetzungs- und Kooperationsstrukturen zwischen den relevanten Ak- Frauen und Armut 135 teuren in der Verwaltung, im intermediären Bereich und im Quartier anstößt, unterstützend mit aufbaut und koordiniert. Wenn dies gelingt, wird Gesundheitsförderung für sozial benachteiligte Frauen nicht nur in der Theorie, sondern auch vor Ort, in der Praxis sozialer Stadtteilentwicklung ein zentrales Handlungsfeld sein. Literatur: Blättner, Beate [2001]: Brauchen benachteiligte Frauen Gesundheitsförderung oder braucht die Gesundheitsförderung benachteiligte Frauen? In: Geene, R.; Gold, C.; Hans, C. (Hg.): Armut macht krank! Teil 2. Berlin: b_books, S. 86-90. DIFU (Deutsches Institut für Urbanistik) [2001]: Projektdarstellung in der InternetProjektdatenbank des Deutschen Instituts für Urbanistik zum Bund-LänderProgramm „Soziale Stadt“ (www.sozialestadt.de, Stand: November 2001). Franke, Thomas; Löhr, Rolf-Peter [2000]: Überlegungen zum Quartiermanagement, in: Soziale Stadt info 2, September 2000, S. 2-3. Grimm, Gaby; Micklinghoff, Gabriele; Wermker, Klaus [2001]: Raumorientierung der Verwaltung. Vom Modell zur Regelstruktur: Erweiterung der Verwaltungsreform-Debatte um den räumlichen Aspekt, in: Soziale Stadt info 6, Oktober 2001, S. 13-17. Grimm, Gaby; Hinte, Wolfgang; Löhr, Rolf-Peter [2000]: Netzwerkknoten Quartiermanagement, unveröffentlichtes Papier für das Netzwerk „Kommunen der Zukunft“, Essen und Berlin 2000 Schäfer, Christine; Zollmann, Angelika [2001]: Gesundheitsförderung für sozial benachteiligte Frauen“- ein Kooperationsprojekt des Feministischen Frauengesundheitszentrums Frankfurt. In: Geene, R.; Gold, C.; Hans, C. (Hg.): Armut macht krank! Teil 2. Berlin: b_books, S. 102-104. 136 Armut und Gesundheit Sozialpolitik und Arbeitsmarktpolitik für sozial benachteiligte Frauen am Beispiel des Mütterzentrum Osterholz-Tenever e.V. Christa-Maria Brämsmann Tenever – ein besonderer Bremer Stadtteil Tenever ist eine typische Großwohnanlage, entstanden in den Sechziger/Siebziger Jahren am Stadtrand von Bremen. Tenever ist gekennzeichnet durch eine hochverdichtete Bauweise (5– bis 22–geschossig). Hier leben ca. 7.000 Menschen in Sozialwohnungen. Das Leben in diesem Ortsteil ist geprägt vom Kinderreichtum und von der kulturellen Vielfalt seiner Bewohnerinnen und Bewohner. Tenever ist international. Hier leben Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zusammen. Vierzig Prozent der Bewohner sind Ausländer, dreißig Prozent sind Aussiedler. Viele BewohnerInnen leben von Sozialhilfe oder müssen mit geringem Einkommen an der Existenzgrenze zurecht kommen und sind finanziell arm. Ein Indikator für die Armut ist, dass ca. 35 Prozent der BewohnerInnen – also in erster Linie alleinerziehende Frauen, Migrantinnen, Aussiedlerinnen, kinderreiche Familien, Jugendliche – auf Sozialhilfe angewiesen sind. Die Fluktuation im Stadtteil ist hoch und liegt bei zwanzig Prozent. Viele, die einen sozialen Aufstieg geschafft haben, ziehen weg. Wer in Tenever wohnt, hat allein auf Grund dieser Tatsache mit Vorurteilen zu kämpfen. Menschen die hier leben, haben es zum Teil schwerer, einen Arbeits- bzw. einen Ausbildungsplatz zu finden, da viele Arbeitgeber/innen durch Tenevers Image negativ beeinflusst werden. Die überwiegende Mehrheit der Nutzerinnen des Mütterzentrums leben von Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, beziehungsweise Arbeitslosenhilfe oder müssen mit geringem Einkommen auskommen. Viele erwerbstätige Frauen arbeiten häufig in schlecht bezahlten oder ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen ohne soziale Absicherung. Dies ist oftmals die einzige Möglichkeit, um die materielle Situation zu verbessern. In den Lebensgeschichten vieler Frauen spiegeln sich finanzielle Nöte, Motivations- und Selbstwertverlust sowie berufliche Orientierungslosigkeit wieder. Einige Frauen fühlen sich sozial ausgegrenzt, vereinsamt, isoliert und ausgeschlossen vom gesellschaftlichen Leben. Begegnung - Orientierung- Arbeit und Qualifizierung Das Mütterzentrum Osterholz-Tenever Wie alles anfing 1989 wurde der Verein Mütterzentrum Osterholz-Tenever e.V. von aktiven Müttern vor Ort gegründet. Mit der Vereinsgründung war und ist das Ziel verbunden, einen Treffpunkt, einen Ort vorrangig für Frauen und Mütter zu schaffen, wo die Möglichkeit gegeben ist, eigene Ideen umzusetzen. Wo Kinder betreut werden und wo es neben dem ehrenamtlichem Engagement auch Beschäftigungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten für die Frauen gibt. Die Realisierung des Vorhabens verlangte von allen Beteiligten Ausdauer. Die Frauen wurden in der Planungs- und Bauphase vom Architekten und vom Stadtplanungsamt mit einbezogen, und es entstand ein Mütterzentrum nach den Wünschen der Frauen in einem der Wohnblöcke. Frauen und Armut 137 Die Überlegungen des Architekten und den beteiligten Frauen und Müttern stießen bei den BewohnerInnen des Hochhauses auf keine große Zustimmung, unter anderem fürchteten sie Lärmbelästigung oder Kindergeschrei und vieles mehr. So einigte man sich mit den Betroffenen nach dem – im Rahmen des Nachbesserungsprozesses praktizierten – Konsensprinzip. Die Lage der Kinderräume wurden verändert, die Öffnungszeiten auf die Wochentage beschränkt. Der Beginn der Bauphase verzögerte sich. Mütterzentrum heute – Der Verein – Initiative von Unten Heute, im Jahr 2002, ist das Mütterzentrum ein nicht mehr weg zu denkender Bestandteil der sozialen Einrichtungen in Tenever. Die Vorbehalte der Bewohner/innen konnten ausgeräumt werden. Inzwischen gehören einige von ihnen sogar zu den häufigsten Gästen des Cafés. Denn das Mütterzentrum bietet Frauen und Müttern, Männern und Vätern aus Tenever und dem Bremer Osten die Möglichkeit, sich zu treffen, Gleichgesinnte kennen zu lernen und sich auszutauschen. Die Frauen können an unterschiedlichen Kursangeboten teilnehmen oder selbst durchführen. Das Zentrum ist aber mehr als nur ein Treffpunkt. "Hilfe zur Selbsthilfe" nach dem "Laien für Laien“-Prinzip bedeutet hier: Anerkennung der Kompetenzen, gegenseitige Ermutigung zum aktiven Handeln, Stärkung des Selbstbewusstseins und des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten. Für viele Frauen aus Tenever ist dies neu und ungewohnt. Manche erleben nach langer Zeit zum ersten Mal, dass ihre Stärken ernstgenommen werden. Wo bleiben die Kinder? Mütter können ihre Kinder selbstverständlich mitbringen, denn wir bieten zu allen unseren Kursangebote Kinderbetreuung an. Die Kinder werden in der Nähe der Mütter betreut, so dass diese, wenn es notwendig ist, schnell erreichbar sind. Für kleine Kinder unter drei Jahren, die regelmäßiger betreut werden sollen, stehen unterschiedliche Spielkreise zur Verfügung. Der interkulturelle Ansatz Das Mütterzentrum Tenever fördert insbesondere den interkulturellen Ansatz. Iranische, türkische, polnische, afrikanische, tamilische, indische und russische Frauen sind als Arbeitnehmerinnen in die einzelnen Projekte und in die Vorstandsarbeit eingebunden. Durch unterschiedliche Aktivitäten und Angebote wird das Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen gefördert, Unsicherheiten werden abgebaut. Im Mütterzentrum wird ein internationaler Mittagstisch angeboten. Frauen kochen Gerichte aus ihren Herkunftsländern. Mitessen kann jede/r, die Preise sind bewusst niedrig gehalten, so dass auch Erwerbslose oder Menschen mit geringem Einkommen sich ein Essen leisten können. An den internationalen Abenden wird neben einem köstlichen Buffet auch ein umfangreiches Kulturprogramm angeboten. Schwerpunkt ist dabei ein bestimmtes Land, eine Region oder auch bestimmte Rituale und Feste aus unterschiedlichen Kulturen. Frauen, die noch nicht besonders gut Deutsch sprechen, können an Deutschkursen teilnehmen. Etwa die Hälfte aller im Mütterzentrum beschäftigten Frauen sind Zuwanderinnen. Gerade diese Frauen haben auf dem Arbeitsmarkt oft wenig Chancen. 138 Armut und Gesundheit Orientierung, Beschäftigung und Qualifizierung Die meisten Frauen, die ins Mütterzentrum kommen, sind arbeitslos und/oder sind auf Sozialhilfe angewiesen. Viele Mütter sind alleinerziehend. Die Frauen verfügen selten über anerkannte formale Qualifikationen. "Ich möchte weg von der Sozialhilfe und habe gehört, dass man bei euch arbeiten kann." Diesen Satz hören die Mitarbeiterinnen des Mütterzentrums häufig. Viele Frauen möchten nicht dauerhaft auf Sozialhilfe angewiesen sein. Sie möchten arbeiten, eigenes Geld verdienen und damit materiell unabhängig werden. Sie möchten die Möglichkeit haben, sich trotz Berufstätigkeit verantwortlich um ihre Kinder kümmern zu können. Diese Frauen werden beraten und unterstützt bei ihrer beruflichen Orientierung. Manche finden hierdurch zu einer Ausbildung oder Umschulung. Anderen Frauen wird über Arbeitsmöglichkeiten im Mütterzentrum ein beruflicher (Wieder-)Einstieg ermöglicht. Die Anzahl der im Mütterzentrum beschäftigten Frauen hat sich in den letzten Jahren erheblich vergrößert. Mittlerweile sind zwölf bis fünfzehn Frauen pro Jahr über öffentlich geförderte Beschäftigung oder als Teilzeitkräfte in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in unterschiedlichen Arbeitsbereichen tätig: Dienstleistung Handwerk Hauswirtschaft Pädagogische Arbeit Verwaltung/Büro Kultur Verkauf (Second - Hand - Tausch) Service (Café) Schneider-, Näh- und Kreativwerkstatt im Küchenbereich/Mittagstisch Kinderbetreuungsangebote berufsbegleitende Ausbildung zur Erzieherin Praktikum für Kinderpflegerinnen E@stside - Internetcafe - EDV-Zentrum Eingliederung verschiedener Kulturen Interkulturelle Arbeit Die Arbeitszeiten sind familienfreundlich und damit auf die Bedürfnisse von Frauen mit Kindern abgestimmt. Die beschäftigten Frauen verfügen in der Regel nicht über eine abgeschlossenen Ausbildung. Sie nehmen daher an internen und auch externen Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen teil, unter anderem finden regelmäßige Fortbildungsveranstaltungen für Frauen, die in der Kinderarbeit tätig sind, statt. Obwohl nicht allen Frauen nach einem oder manchmal auch zwei Jahren gleich der Übergang in den regulären Arbeitsmarkt gelingt, ist damit doch oft der erste Schritt für die weitere berufliche Zukunft getan. Soziale Vernetzung im Stadtteil – Das Projekt E@stside Gerade für das Quartier Tenever hat die Vernetzung der Sozialen Einrichtung einen hohen Stellenwert. Die sozialen Bereiche sind in verschiedenen Arbeitskreisformen vernetzt, um sozialbenachteiligte Menschen zu erreichen. Hier wird regelmäßig gemeinwesenorientiert zusammen gearbeitet, sozialpolitisch diskutiert, um Projekte zur Verbesserung der Lebenssituation zu initiieren. Ein Beispiel der Vernetzung und der Bürgerbeteiligung ist das E@stside Internetcafé, ein Projekt des Mütterzentrums. "Hier wollen Frauen mehr als Kaffee kochen" lautete die Überschrift eines Zeitungsartikels über das Projekt. Mit diesem Internetcafe möchten wir insbesondere Frauen als Zielgruppe ansprechen und sie dazu ermutigen, sich aktiv Frauen und Armut 139 mit den neuen Technologien auseinander zu setzen und diese für sich zu nutzen. Surfgutscheine des Arbeitsamtes können ebenfalls im E@stside eingelöst werden. Grundsätzlich steht das E@stside allen Menschen offen. Es wird ein umfassendes Kursprogramm angeboten und während der Kurszeit werden die Kinder betreut. Angebote und Preis- Leistungsprinzip orientiert sich an der sozialen/kulturellen Struktur und der materiellen Armut vor Ort. In Kooperation mit dem Bewohnertreff, mit Capito (Bremer Lernforum) der VHS Bremen Ost und dem Arbeitslosenzentrum Tenever wird ein umfangreiches Kursprogramm angeboten. Die Anzahl der BesucherInnen verdeutlicht die große Resonanz des Internetcafés in Tenever. Das E@stside ist ein weiteres Beispiel für gelungene Projekte, bei denen BewohnerInnen aktiv an der Planung beteiligt waren und sind. Renovierung, technische Ausstattung und Betriebskosten wurden bisher aus Mitteln des WiN (Wohnen in Nachbarschaft) finanziert. Zusammenfassend Frauen unterschiedlicher Nationalitäten sollen die Möglichkeit erhalten, außerhalb ihres Alltags neue eigenständige Wege mit anderen Frauen erkunden, ihre Fähigkeiten zu erkennen und zu nutzen. Eigene Fähigkeiten werden nach dem "Laien für Laien“Prinzip weitergegeben und das Selbstwertgefühl wird gestärkt, um perspektivische Schritte in die Zukunft zu planen. Insbesondere soll dabei arbeitslosen oder von Sozialhilfe lebenden Frauen der Wiedereinstieg in das Erwerbsleben durch die Möglichkeit öffentlich geförderter Beschäftigung erleichtert werden, durch ein innovatives Konzept. Verschiedene Angebote ermöglichen den Frauen individuelle Einstiegschancen in den Bereichen Initiativarbeit, Berufsorientierung und Beschäftigung/Erwerbstätigkeit. Das Testen der eigenen beruflichen Fähigkeiten werden im Mütterzentrum wahrgenommen, um eine Entscheidung für einen Wieder - Einstieg ins Berufsleben zu überprüfen, ob eine Umstrukturierung des Familienalltags möglich ist. Die Arbeitszeit ist familienfreundlich, und eine Kinderbetreuung wird angeboten. Mit dieser Aussage lassen sich die Ziele des Mütterzentrums Osterholz–Tenever in aller Kürze beschreiben. 140 Armut und Gesundheit Zuhause Zuhause ist ein großer Platz, "Mütterzentrum" in einem Satz. Arbeitsort und doch privat, das ist manchmal ein schmaler Grad. Ein Platz für Mütter und auch Frauen, sich kennenlernen und vertrauen. Zuhause, das kann für jeden anders sein, Geborgenheit, Rückzugsort, manchmal auch Schein, jeder sieht das für sich individuell, Zuhause - für den einen dunkel, den anderen hell. Dort, wo ich mich wohlfühlen kann, mit Freunden, Kind und auch mit Mann, wo ich sein kann, wie ich bin, da ergibt "Zuhause" einen Sinn. (Bianca Bergmann ist 24 Jahre alt und lebt in Tenever. Sie hat ein Jahr im Büro des Mütterzentrums gearbeitet und ist weiterhin aktive Besucherin.) Frauen und Armut 141 Frauen und Sucht Monika Püschl Wie viele Frauen sind von Suchtproblemen betroffen? In der Altersgruppe von 18 bis 59 Jahren betreiben bundesweit ca. 720.000 Frauen einen missbräuchlichen Alkoholkonsum, und ca. 450.000 sind behandlungsbedürftig alkoholabhängig. Das entspricht ca. dreißig Prozent aller Betroffenen (Missbrauch insgesamt: 2,4 Millionen / Abhängigkeit insgesamt: 1,5 Millionen). Von den sogenannten harten illegalen Drogen, z.B. Opiaten wie Heroin, Crack oder Kokain sind etwa 30.000 bis 45.000 Frauen abhängig. (Insgesamt ca. 100.000 bis 150.000). Hier sind ebenfalls dreißig Prozent der Betroffenen Frauen. In ihrem Essverhalten gestört sind etwa elf bis dreißig Prozent der Bevölkerung. Das entspricht mindestens acht Millionen Menschen. Davon sind 95 Prozent Frauen und Mädchen. 1.125.000 Frauen in Deutschland konsumieren Arzneimittel in problematischer Weise bzw. sind medikamentenabhängig. Diese Summe entspricht einem Anteil von 75 Prozent der Gesamtzahl der Betroffenen (1,5 Millionen). Aktuelle Entwicklung des Konsumverhaltens Grundsätzlich war die Bereitschaft, legale und illegale Drogen zu nehmen bei Frauen und Mädchen in den vergangenen Jahren geringer als bei Jungen und Männern. Die Daten im Hinblick auf Alkohol und Tabak verdeutlichen, dass seit Mitte der Neunziger Jahre insgesamt der Konsum abnimmt aber vor allem im Hinblick auf die Konsummenge der Männer. Die Konsummenge der jungen Frauen nimmt zu. Die Vermutung liegt nahe, dass junge Mädchen sich der Konsummenge der jungen Männer anpassen. Ob es eine solche Annäherung auch im Zusammenhang mit den traditionell weiblichen Ausprägungen der Sucht wie z.B. im Zusammenhang mit Essstörungen und Medikamentenabhängigkeit vorliegt, kann mit Zahlen derzeit nicht belegt werden. Warum greifen Mädchen und Frauen zu Suchtmitteln ? Suchtmittel werden von Frauen im Wesentlichen dazu eingesetzt, um mit psychosozialen Belastungen besser umgehen zu können. Schwierigkeiten, die auf Grund von äußeren Bedingungen entstehen, z.B. in Ausbildung und Arbeitsplatz, Überforderung als Mutter, Ehe- und/oder Berufsfrau werden häufig als eigenes Ungenügen empfunden – und nicht zuletzt mit Suchtmitteln bekämpft. Insofern bildet Sucht auch die psychosozialen Belastungen ab, denen Frauen im gesellschaftlichen Zusammenleben ausgesetzt sind. Sucht betrifft daher Frauen aller Altersgruppen und zieht sich durch alle soziale Schichten und Berufsgruppen. Für die Prävention heißt das, dass wir unter anderem auch an diesen Belastungen ansetzen und versuchen müssen, strukturelle Erleichterungen zu schaffen. Bei den Mädchen steht das Experimentieren im Vordergrund. Die Erfahrungen von Mädchenprojekten verdeutlichen, dass die Attraktivität von Suchtmitteln sehr eng mit ihrem Verhältnis zu Körper und Sexualität verbunden ist. Das verwundert nicht, wenn man weiß, dass Mädchen sehr viel häufiger als gleichaltrige Jungen ein negatives Körperbild haben. Auch in ihrem Gesundheitszustand schätzen sie sich generell schlechter 142 Armut und Gesundheit als Jungen. 63 Prozent der dreizehn- bis vierzehnjährigen Mädchen möchten gerne besser aussehen und 56 Prozent wären gerne dünner (Universität Bremen 1999). Die Vorstellung, dass Schönheit immer auch mit Schlankheit einhergeht, ist sehr wirksam und bildet eine Grundlage für gestörtes Essverhalten und rigide Manipulationen hinsichtlich Gewichtabnahme, in denen auch Suchtmittel eine Rolle spielen. Auch sind bei der sexuellen Identitätsfindung Suchtmittel bedeutsam. Alkohol wird z.B. oft benutzt, um trotz Angst mit einem Jungen zu schlafen. Auf Festen betrinken sich Mädchen, um mit Jungen „knutschen“ zu können, „ohne als Eine zu gelten, die es mit Jedem tut“. Angetrunken sein gilt hier als kulturelle Erlaubnis. Jungen und Männer spielen eigentlich immer eine große Rolle bei beginnendem Suchtmittelkonsum. Der Zugang zu illegalen Drogen erfolgt häufig über die Clique oder über einen bestimmten Mann. Die Hamburger Einrichtung Frauenperspektiven e.V., die Beratungs- und Therapieangebote für süchtige Frauen vorhält, berichtet von zwei unterschiedlichen Motiven, die zum Einstieg in das Drogenmilieu führen: 1. Einem konkreten, bereits abhängigen Mann helfen zu wollen und dies im Sinne von einmal nützlich und wertvoll sein zu können und 2. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach sozialer Anerkennung durch die Clique. Die Ergebnisse einer Untersuchung von Alexa Franke, Universität Dortmund (Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychosomatik, 1999), zur Gesundheit und Abhängigkeit von Frauen, bei der sie die Normalpopulation befragt hat, verdeutlichen Folgendes zur Konsummotivation: Die Durchschnittsfrau trinkt Alkohol vor allem zur Steigerung positiver Gefühle in als gut erlebten Situationen und nimmt Medikamente um körperliche Beschwerden zu verringern. Nicht so bei alkoholabhängigen Frauen: Hier ist die genussvolle Seite in den Hintergrund geraten. Sie trinken Alkohol, um ihr momentanes Befinden zu verbessern und um unangenehmen und schwierigen Situationen zu entfliehen oder sie auszuhalten. Dabei ist ihnen durchaus bewusst, dass sie Alkohol benutzen, um ihre psychische Situation zu verbessern. Ganz anders stellt sich die Situation bei den medikamentenabhängigen Frauen dar: Ihnen geht es ausschließlich um die Verbesserung des momentanen körperlichen Befindens. Psychopharmaka werden ihnen verschrieben (und sie fordern die Verschreibung ein), um Unruhe, Schlafstörungen, Depressionen und Erschöpfung, die Folge langanhaltender Überforderung sein können, zu minimieren. Solange sie ein vermeintlich organisches Leiden haben, bleibt diesen Frauen das Ausmaß ihres Konsums unbewusst, ebenso wie ihre psychischen Probleme und ihre Abhängigkeit. Die von illegalen Drogen abhängigen Frauen sind in der Wahl ihrer Konsummittel am wahl- und auch am hilflosesten. Sie konsumieren Drogen in jeder Situation, ob es ihnen gut oder schlecht geht, bei körperlichen Beschwerden oder auch um diesen vorzubeugen. Frauen und Armut 143 Was wissen wir über Frauen, die mit Suchtmitteln umgehen? Alter Drogenabhängige Frauen stellen mit durchschnittlich ca. 28 Jahren die jüngste Gruppe der süchtigen Frauen dar. Wobei nach den Daten der Hamburger BADO 2000 (Erhebung von Basisdaten der Hamburger ambulanten Suchthilfeeinrichtungen zur Situation der Suchtkranken) deutlich mehr jüngere Frauen bis 21 Jahre (zwölf Prozent) zu den Drogenabhängigen zählen als Männer. Das Durchschnittsalter der Alkoholikerinnen liegt bei mit ca. vierzig Jahren und den Medikamentenabhängigen mit ca. 45 Jahren. Familienstand Abhängige Frauen sind seltener verheiratet und häufiger geschieden. Dies gilt insbesondere für die Drogenkonsumentinnen. Aber auch bei den Abhängigen von Alkohol und Medikamenten ist eine deutlich höhere Scheidungsrate zu verzeichnen als in der Bevölkerung der substanzunauffälligen Frauen. Was Ursache und was Wirkung ist, bleibt dahin gestellt. Etwa sechzig Prozent der abhängigen Frauen haben Kinder mit Ausnahme der Drogenabhängigen. Hier sind es aber immerhin noch 44 Prozent, wie die BADO verdeutlicht. Die Tatsache, dass Kinder vorhanden sind, beeinflusst die Lebenssituation der Frauen entscheidend. Schulbildung Die Schulbildung unterscheidet sich von Frauen, die keine Suchtprobleme haben, insofern weil die medikamentenabhängigen Frauen niedrigere und die alkoholabhängigen Frauen eine höhere Schulbildung haben als der Durchschnitt. Unter den drogenabhängigen Frauen finden sich die meisten (dreizehn Prozent), die keinen Schulabschluss haben. Andererseits hat ein großer Anteil höhere Schulabschlüsse (zwölf Prozent). Berufstätigkeit Im Hinblick auf die Berufstätigkeit ist eindrucksvoll, dass siebzig Prozent der Alkoholikerinnen, die im ambulanten Suchthilfeeinrichtungen in Hamburg in Behandlung sind, berufstätig sind (vgl. sechzig Prozent aller Frauen). Bei den Medikamentenabhängigen sind es lediglich 25 Prozent, und bei den Drogenabhängigen in Hamburg, die im Hilfesystem angebunden sind, sind immerhin 18 Prozent berufstätig. Partnerschaft Vierzig bis fünfzig Prozent aller abhängigen Frauen sehen ihre Partnerschaft als problematisch an. Insbesondere im Zusammenhang mit Alkohol lässt sich feststellen, dass mit zunehmendem Alkoholkonsum die Partnerschaften konfliktträchtig und durch Gewalt des Partners geprägt ist. Besonders auffällig ist die Betroffenheit von sexueller Gewalt. 47 Prozent der alkoholabhängigen Frauen, 38 Prozent der Medikamentenabhängen und 75 Prozent der Drogenabhängigen berichten, dass sie sexuelle Gewalt erfahren haben. Insbesondere in Zusammenhang mit alkoholabhängigen Frauen fällt auf, das Frauen mit Kindern deutlich mehr Gewalterfahrungen haben (BADO 2000). Psychische und physische Gesundheit Das schlechteste Urteil über ihre psychische und physische Gesundheit haben die medikamentenabhängigen Frauen. Sie schätzen ihr Wohlbefinden deutlich schlechter ein als 144 Armut und Gesundheit die Frauen ohne Auffälligkeiten im Hinblick auf eine Substanz, die alkoholabhängigen und sogar als die drogenabhängigen Frauen. Im Zusammenhang mit dem Gefühl, das Leben beeinflussen zu können (Kohärenz- und Kontrollüberzeugung), wird bei den drogenabhängigen, insbesondere aber auch bei den medikamentenabhängigen Frauen deutlich, dass sie nur ein sehr geringes Ausmaß an internalen Ressourcen haben, also wenig Möglichkeiten sehen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und etwas bewirken zu können. Ganz im Gegensatz dazu die alkoholabhängigen Frauen: Sie gehen im gleichen Maß wie die Durchschnittsfrauen davon aus, dass sie ihr Leben schon meistern werden. Dies kann allerdings auch Folge eine Realitätsverlustes sein, der gerade bei hohem Alkoholkonsum eine Rolle spielt. Geld Zu den ökonomischen Bedingungen lässt sich sagen, dass es hier vor allem die drogenabhängigen Frauen sind, die einen deutlichen Mangel in ihrer gesamten finanziellen Situation haben. Erheblich mehr drogenabhängige Frauen als Männer leben von Sozialhilfe (BADO 2000: Frauen 67 Prozent, Männer 54 Prozent). Soziales Umfeld Alle Frauen, ob Suchtmittelkonsumentinnen oder nicht, beurteilen die Belastung durch das soziale Umfeld als hoch. Unterschiede zur „Normalfrau“ ergeben sich bei den Suchtmittelabhängigen bei dem Ausmaß, in dem sie weniger soziale Unterstützung erfahren. Frauen mit Drogenproblemen fühlen sich besonders von ihrer sozialen Umgebung in Stich gelassen, gefolgt von den alkohol- und medikamentabhängigen Frauen: Je höher der Konsum, desto geringer die soziale Unterstützung. Essstörungen Sucht von Frauen kann nicht diskutiert werden, ohne das Thema Essstörungen mit ein zu beziehen. Auch wenn es sich hier eher um eine psychosomatische Krankheit handelt, die bei einigen Patienten auch Suchtcharakter haben kann, so gibt es doch vielfältige Verbindungen zwischen Essstörungen und Sucht. Essstörungen stellen Konfliktlösungsversuche dar, die mit den unterschiedlichen, sich zum Teil widersprechenden Rollenanforderungen an Frauen einhergehen: Einerseits die Erwartung weiblich zu sein, d.h. lieb, freundlich, anschmiegsam, emotional und ängstlich und andererseits leistungs-, durchsetzungsfähig und selbstbewusst. Die Anorexie wird als Möglichkeit gesehen, dem Konflikt auszuweichen und sich auf etwas anderes, vermeintlich Wichtigeres zu konzentrieren, die Bulimie ist ein Versuch, beiden sich widersprechenden Anforderungen gleichzeitig gerecht zu werden und die Adipositas wird als Versuch interpretiert, den Konflikt zu verachten. Die Problematik der Essstörungen ist umfangreich und ihre verschiedenen Ausprägungen betreffen bevorzugt bestimmte Gruppen, die durch die Variablen Alter, Geschlecht und soziale Herkunft determiniert sind. • Anorexia Nervosa: O,2 bis 2 Prozent der Frauen sind hiervon betroffen. 90 bis 95 Prozent aller erkrankten sind weiblich . Das Alter bzw. der Erkrankungsgipfel liegt im Alter von 15 bis 23 Jahren. Betroffen sind vor allem Angehörige der höheren Mittelschicht. Frauen und Armut • • 145 Bulimia Nervosa: 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung sind hiervon betroffen. 90 Prozent aller Erkrankten sind weiblich. Der Erkrankungsgipfel liegt im Alter zwischen 20 und 30 Jahren und die soziale Herkunft liegt eher in der Mittelschicht. Adipositas: 9 bis 25 Prozent der Frauen sind betroffen (10 bis 16 Prozent der Männer), die Häufigkeit liegt also nur geringfügig häufiger bei Frauen, der Erkrankungsgipfel liegt im Alter von 40 bis 65 Jahren und das Verhältnis zwischen Oberund Unterschicht liegt bei 1 zu 6 Essstörungen und Sucht Essstörungen können ebenso wie der Konsum von Suchtmitteln als ein ungeeigneter Konfliktlösungsversuch gewertet werden. Es liegen Schätzungen vor, die den Anteil der Personen mit manifesten Essstörungen in der Gruppe der Alkohol- und Medikamentenabhängigen mit zwanzig bis dreißig Prozent beschreiben. Einige Therapeutinnen, die mit drogenabhängigen Frauen arbeiten, berichten, dass die mit Entzug und Therapie verbunden Gewichtszunahme bei vielen Frauen ein Grund ist, die Therapie abzubrechen. Berichten aus der Praxis von Suchtberatung und Therapie zu Folge, ist der Anteil derjenigen Frauen, bei denen nicht verarbeitete Essstörungen in der Entwicklung von Sucht eine wesentliche Rolle spielt, sehr hoch. Gesicherte Daten gibt es dazu nicht. Im individuellen Krankheitsverlauf entwickeln sich Essstörungen und Suchtmittelmissbrauch in enger Verzahnung miteinander. Stehen Essstörungen im Zusammenhang mit einer sexuellen Thematik, dann muss die Unterstützungswirkung von Alkohol und Drogen als besonders hoch angesehen werden, insbesondere bei sexuellen Missbrauchserfahrungen, aktueller Erfahrung von sexueller Gewalt und Prostitution. Meistens stehen anfangs die Essstörungen im Vordergrund, dann kommt die Suchtproblematik dazu. Phasenweise können beide Störungen auftreten. Fazit: Was beeinflusst die Entwicklung von Suchterkrankungen bei Frauen insbesondere? • Soziale, besonders familiäre Belastungen • Männliche Partner, die bereits süchtig sind • Unerreichbares Körperideal • Unklares Rollenbild • Belastungen der Berufstätigkeit, Unsicherheit bezüglich beruflicher Identität. • Empfinden, wenig Einfluss auf den Verlauf des eigenen Lebens nehmen zu können • Gewalterfahrungen • Sexueller Missbrauch Hier könnten durch gezielte Maßnahmen, u.a. durch mehr Forschung, durch strukturelle Maßnahmen und durch Öffentlichkeitsarbeit primärpräventive Effekte erzielt werden. Problemlagen und Handlungsnotwendigkeiten bezogen auf die spezifischen stoffgebundenen und ungebundenen Abhängigkeiten Hier beziehe ich mich auf die drei zahlenmäßig umfangreichsten Aspekte Alkohol, Medikamentenabhängigkeit und Essstörungen. Alkohol Alkohol ist eine häufig in ihrem Suchtpotential unterschätzte Alltagsdroge. Da sie so gut integriert ist, machen die Konsumenten und Konsumentinnen erst sehr spät die Erfah- 146 Armut und Gesundheit rung, dass sie Missbrauch betreiben bzw. abhängig sind. Alkoholabhängigkeit trifft Frauen härter als Männer. Der Weg zur Sucht ist kürzer, denn sie werden schneller abhängig. Innerhalb kürzerer Zeit trinken sie ebenso viel Alkohol wie Männer. Sie leiden schneller unter alkoholbedingten Folgekrankheiten wie Leberzirrhosen und hirnorganischen Störungen. Auch haben Frauen häufiger psychische Begleitprobleme wie Depressionen und Angstzustände. Dies mag auch mit der häufigen Erfahrung von familiärer Gewalt zusammenhängen, der sie ausgesetzt sind. Allerdings fällt ihnen der Schritt, sich Beratung und Hilfe zu holen leichter als Männern. Gute Erfahrungen in der Beratung und Behandlung werden da gemacht, wo die Zugangsvoraussetzung den Lebenssituationen von Frauen angepasst wurden, z.B. hinsichtlich Öffnungszeiten, Austauschmöglichkeiten der Betroffenen untereinander und ambulanten Therapieangeboten. Die Kosten für ambulante Therapie – die von Frauen besonders gern genutzt wird, obwohl sie nicht immer adäquat ist – werden nur unzureichend von den Sozial- und Rentenversicherungsträgern übernommen und müssen durch die Beratungsstellen subventioniert werden. Dies gilt natürlich ebenso für die Therapie mit Drogenabhängigen. Für die Prävention ist es wichtig, das Wissen zu vermitteln, dass Alkohol von Frauen deutlich schlechter vertragen wird als von Männern. Aber auch die Förderung der sexuellen Selbstbestimmung und des Selbstbewusstseins scheint hier für Mädchen besonders wichtig zu sein. Erwähnenswert ist hier noch einmal der Zusammenhang zwischen Berufstätigkeit und Alkoholabhängigkeit. Erfahrungen aus der Suchtberatung lassen sich unter dem Motto „Süchtig und tüchtig“ zusammenfassen. Und das betrifft nicht nur das Arbeitsleben, sondern es ist ja tatsächlich eine ganze Palette von Tätigkeiten, die bewältigt werden muss: Erwerbsarbeit, Kindererziehung, Haushaltsführung usw. Die Belastung von Frauen im Arbeitsleben sollte unbedingt genauer untersucht werden, um Entlastungsmöglichkeiten schaffen zu können. Essstörungen Essstörungen und Suchterkrankungen scheinen sich bei vielen Frauen gegenseitig zu bedingen. Angesichts der Anzahl der betroffen Frauen, sind hier verstärkte Aktivitäten notwendig. Die Prävention und insbesondere die Gesundheitsförderung ist dazu aufgerufen, frühzeitig Einfluss auf das Essverhalten von Kindern und Jugendlichen zu nehmen. Das Verknüpfen von Schönheit und Schlankheit, das nun mal das Körperbild von Frauen prägt, sollte möglichst immer beeinflusst werden. Durch frühzeitige Intervention bei jungen Frauen und Mädchen könnte eine Chronifizierung von Essstörungen und möglicherweise die zusätzliche Entwicklung einer Suchterkrankung verhindert werden. Therapien können in deutlich kürzerer Zeit abgeschlossen werden, als bei erwachsenen Frauen. Deshalb ist es auch vor dem Hintergrund der Kostenersparnis nur schwer nachvollziehbar, dass zu wenige Angebote zur frühen Intervention bei Essstörungen insbesondere bei jüngeren Frauen und Mädchen zur Verfügung stehen. Derzeit werden Mädchen mit unklarer Essproblematik im Wesentlichen an Erziehungsberatungsstellen verwiesen, die allerdings nicht auf Essstörungen spezialisiert sind und die völlig überlaufen sind. Die Behandlung von Mädchen erfolgt über niedergelassene Kinder- und Jugendtherapeuten, häufig ohne dass die gebotene Multiprofessionalität und Gruppenarbeit dort in die Behandlung einbezogen werden kann. Frauen und Armut 147 Medikamentenabhängigkeit Von Medikamentenabhängigkeit sind vor allem ältere Frauen betroffen. Ihnen und ihrer Umgebung ist die Abhängigkeit in der Regel nicht bewusst. Ein besonderer Risikofaktor für die Entwicklung von Medikamentenabhängigkeit ist die sogenannte Gefühls- und Beziehungsarbeit für die sich mehrheitlich Frauen zuständig fühlen. Eine Folge dieser „beziehungsnahen Lebensweise“ können, sofern Selbstschutz und Abgrenzungsvermögen nicht genügend ausgebildet sind, psychosomatische Beschwerden, und chronische Erschöpfungszustände sein. Mit Hilfe von Arzneimitteln scheinen Anforderungen und Belastungen bewältigbarer zu sein, indem Gefühle und Schmerzen, Ängste, Depressionen und Erschöpfungen unterdrückt werden. Die Leistungsfähigkeit kann zunächst trotz Beschwerden aufrechterhalten werden. Aus Verschreibungsstatistiken geht hervor, das rund 65 Prozent aller TranquilizerVerordnungen von Allgemeinmedizinern vorgenommen werden, 23 Prozent von Internisten und nur zehn Prozent von Nervenärzten. Dies deutet darauf hin, das die weniger spezialisierten Ärzte ein höhere Bereitschaft zeigen, Befindlichkeitsstörungen medikamentös zu behandeln. Sogenannte Benzodiazepin-Schwerpunktpraxen, werden vielfach von den abhängigen Patientinnen aufgesucht. Eine sorglose Verschreibungspraxis ist maßgeblich bei der Entwicklung und der jahrelangen Aufrechterhaltung von Abhängigkeit beteiligt. Für die Patientinnen ist es typisch, dass sie einerseits von den verordnenden Ärzten kaum über Nebenwirkungen und Gefahren der Medikamente aufgeklärt wurden, aber ein Gespräch über die Risiken auch nicht wünschen. Bedeutsam ist, das Medikamentenabhängige kaum von den bestehenden Suchthilfeangeboten Gebrauch machen. Das ergibt jedenfalls die Hamburger BADO (2000). Für die Prävention der Medikamentenabhängigkeit ist es notwendig, weiterhin auf ein verändertes Verhalten der Ärzte aber auch der Apotheker abzuzielen, die ja auch einen Beratungsauftrag haben. Ziel sollte sein, die Haltung der Patientinnen hinsichtlich des selbstbestimmten Umgangs mit den eigenen Problemen zu unterstützen. Breit angelegte Fachinformation und die Veränderung des öffentlichen Bewusstseins hinsichtlich der Gefahren psychisch wirksamer Medikamente sind hier von Nöten. Die Entwicklung von regional orientierten Beratungsangeboten für Frauen, die die Bildung von sozialen Netzen fördern und den Zugang zu Selbsthilfegruppen erleichtern, Angebote zur Qualifizierung, Bildung und zur Kinderbetreuung vorhalten, und Beratung bei Alltagsproblemen leisten, könnte eine Möglichkeit sein, Vorbeugung und Hilfe zu leisten. Das ist insbesondere auch deshalb von Nöten, weil Medikamentenabhängige kaum von Hilfeangeboten des Suchthilfesystems erreicht werden. Literatur: Simmerdinger, Renate; Schmid, Martin; Vogt, Irmgard (BADO 2000) [2001]: Ambulante Suchthilfe in Hamburg: Statusbericht 2000 zur Hamburger Basisdatendokumentation im ambulanten Suchthilfesystem, Frankfurt/Main. Franke, Alexa. In: Suchtreport 6/1999: „Suchtmittel im Leben von Frauen“ Universität Bremen [1999]: Millhofer-Studie. Bremen. 148 Armut und Gesundheit Gebrauch und Abhängigkeit von Psychopharmaka bei älteren Frauen Maya Krock Die Auffassung vom stetigen und unaufhaltsamen Abstieg ab den mittleren Lebensjahren ist wissenschaftlich revidiert. Aber die gesellschaftliche Situation der Älteren hat sich nicht grundlegend geändert. „Älter“ oder gar „alt“ zu sein hat immer noch für viele etwas Negatives. Besonders Frauen sind davon betroffen. So werden schon natürliche physische Veränderungen, die das Älterwerden begleiten, als defizitär empfunden. Die Medizin spricht vom „Hormonmangel“, wo kein Mangel ist, sondern eine altersentsprechende körperliche Veränderung vor sich geht. So erklärte „Altersdefizite“ und die Konfrontation mit Altersdiskriminierung führen gerade im Übergang zum Älterwerden vermehrt dazu, dass Frauen sich in ärztliche Praxen begeben, um weiterzufunktionieren wie bisher. Ihre Symptome, wie z.B. Unruhe, Ängste, Stimmungsschwankungen und Niedergeschlagenheit sind häufig durchaus angemessene Reaktionen auf ihre Situation. Die ärztliche Definition als Störung, Krankheit und Mangel und die folgende Medikamentierung legen den Grundstein für die weitere kontinuierliche Karriere der älteren Frauen als Patientinnen. Dabei nehmen sog. psychotrope Medikamente einen wichtigen Platz ein. Von der Bundesärztekammer wurde 1998 festgestellt, dass auf ältere Patient/innen unverhältnismäßig viele Psychopharmaka-Verschreibungen entfallen: „Über 65jährige machen etwa ein Sechstel der Bevölkerung aus, sie erhalten aber fast die Hälfte aller Schlaf- und Beruhigungsmittel.“ Dabei sind Frauen mindestens doppelt so häufig betroffen. (Da sie häufiger als Männer Psychopharmaka verschrieben bekommen und in den höheren Lebensjahren einen immer größeren Bevölkerungsanteil bilden, sind sie Hauptkonsumentinnen dieser Medikamente.) Im Folgenden gehe ich auf drei Gruppen von Psychopharmaka ein: 1. Schlaf- und Beruhigungsmittel auf der Basis von Benzodiazepinen. Die Übergänge zwischen den Mitteln gegen Schlafstörungen und den Tages-Tranquilizern sind fließend. 2. Neuroleptika 3. Antidepressiva Benzodiazepine Am häufigsten nehmen ältere Frauen benzodiazepinhaltige Schlaf- und Beruhigungsmittel ein. Deren Abhängigkeitspotential ist schon nach relativ kurzer Zeit (zwei bis vier Wochen) und oft auch bei gleichbleibend niedriger Dosierung gegeben. Das heißt, dass beim Absetzen die ursprünglichen Symptome wie Angst, Unruhe und Schlaflosigkeit verstärkt wiederkehren (der sogenannte rebound effect) und als Fortbestehen der Beschwerden interpretiert werden. Dies führt zu dem dringlichen Wunsch, die entlastenden Medikamente weiter zu nehmen – und oft eben auch zu weiteren Verordnungen. An sich sind Benzodiazepine, die (muskel)entkrampfend, entspannend und angstlösend wirken, im Vergleich zu anderen Psychopharmaka relativ unschädlich und nebenwirkungsarm. Problematisch wird es, wenn sie zu häufig und über längere Zeit verschrieben werden: Wie in den vergangenen Jahren festgestellt, gingen viele der Verordnungen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln (überwiegend: achtzig Prozent) vom Benzodiazepin- Frauen und Armut 149 Typ in Langzeitverordnungen für mehrere Quartale über. Dabei gingen die meisten dieser Langzeitverordnungen an ältere Menschen (über 55 Jahre). Abgesehen davon verweise ich noch auf die Dunkelziffer der Frauen, die ohne weitere Besuche bei Ärzt/innen „ihr“ Schlafmittel und „ihren“ Tranquilizer von den Apotheken auf der Grundlage der vorherigen Verschreibungen erhalten - eventuell für die weiteren Jahre! (Die erfassten Daten allein zeigen, dass im Schnitt insgesamt ca. ein Fünftel der älteren Patient/innen ab sechzig Jahren mit den Mitteln vom Benzodiazepin-Typ behandelt wurden.) Die Konsequenzen des Dauerkonsums sind für Menschen in höherem Lebensalter besonders fatal, da die Inhaltsstoffe viel langsamer abgebaut und ausgeschieden werden als in jüngeren Jahren. Die Wirkungen halten länger an und auch die Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Das führt zu sogenannten hang-over-Effekten und zu ständig steigenden Wirkstoffkonzentrationen. Gegen deren Folgen werden dann wieder Medikamente verordnet - z.B. zur Ankurbelung des Kreislaufs! Grundsätzlich sind schon die Anfangsdosierungen zu hoch, da im Alter Einflussfaktoren wie z.B. eingeschränkte Nierenfunktion, Labilität im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt, vermindertes Durstempfinden, schlechter Ernährungsstatus, geringe Muskelmasse und niedriges Körpergewicht zu berücksichtigen sind. Für Patient/innen über 45 Jahre wäre als Richtschnur die halbe Dosierung anzunehmen, für über Sechzigjährige ein Drittel oder ein Viertel. Sehr häufig sind Unfälle mit Knochenbrüchen Folge von Medikamentenkonsum. Da die beschriebene Wirkstoffkumulation z.B. zu Benommenheit und Schwindel führt, ist Benzoediazepin-Einnahme ursächlich dafür, dass die Lebensqualität älterer Menschen erhebliche Einbußen erfährt. Denn nach Stürzen ist Heilung und vor allem auch Rehabilitation oft nicht gewährleistet. Häufig führen Stürze unmittelbar oder mittelbar zu vorzeitigem Tod. Auch ohne diese äußerlich dramatischen - und allzu „normalen“ - Konsequenzen ist das Leben durch die entstandene Abhängigkeit und die daraus resultierenden (Dauer)Wirkungen entscheidend beeinträchtigt. Die Mittel führen zu Abstumpfung, Konzentrationsstörungen, Verwirrung, auch zu depressiv gereizten Verstimmungszuständen, zu (weiterem) sozialen Rückzug usw. Die Symptomatik kann bis hin zur Schein-Demenz verschärft sein. Die physische, geistige und seelische Beweglichkeit und Lebendigkeit geht verloren, der Allgemeinzustand verschlechtert sich, statt - wie von den Mitteln erhofft - einen Aufschwung zu nehmen. Beruhigungs- und Schlafmittel auf der Basis von Benzodiazepinen gerieten wegen ihrer Abhängigkeitsgefahr und deren Folgen in die Kritik, was seit Anfang der achtziger Jahre tatsächlich zum Verordnungsrückgang führte. So verweist die Autorin Vera Herbst (1999/2000) etwa auf eine Halbierung der Verordnungen zwischen 1984 und 1994 und seitdem konstante Zahlen, bezogen auf Westdeutschland. Andere konstatieren, dass zwar eine Verschreibungsabnahme der Tages-Tranquilizer sichtbar sei, auf der anderen Seite aber die Medikamentierung der Schlaflosigkeit mit Benzodiazepinen noch zugenommen habe. Außerdem würden immer mehr Schlafmittel mit Wirkstoffen wie Zolpidem und Zoplicon verschrieben, deren Abhängigkeitspotenzial ungeklärt ist. Dass Schlafmedikamente im Zentrum der Einnahme stehen, zeigt sich daran, dass diese in Deutschland von etwa einem Fünftel der Frauen über sechzig Jahre ständig eingenommen werden. Insgesamt ist der Verbrauch von Benzodiazepinen für den Tag wie für die 150 Armut und Gesundheit Nacht weiterhin umso höher, je älter die Menschen sind. Dabei steigert er sich insbesondere bei Frauen rasant, im Durchschnitt verdoppeln sich die Verordnungen im ZehnJahresabstand. Die höchsten Raten finden sich folglich bei den über Achtzigjährigen. Dies stellt z.B. der Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland fest. Und das, obwohl die Statistiken der GKV (Gesetzlichen Krankenversicherung) „schöner als die Wirklichkeit“ sind, wie Glaeske (2000) schreibt. Denn sie erfassten zum Beispiel 1998 nur etwa die Hälfte der tatsächlich verkauften Benzodiazepine. Er führt dies darauf zurück, dass sie offensichtlich auch für GKV-Versicherte auf Privatrezept verschrieben werden, damit sie nicht in die Kassenstatistiken eingehen. Denn dies könnte dann zu einer Überprüfung des Verordnungsverhaltens bei den Ärztinnen und Ärzten führen. Trotz der Schwierigkeit, Schätzungen über den Umfang der Abhängigkeit von benzodiazepinhaltigen Medikamenten vorzunehmen, - zumal die Betroffenen typischerweise völlig unauffällig sind, ja gerade aufgrund der Dämpfung, Zähmung und Beruhigung still funktionieren - , ist davon auszugehen, dass sie ärztlicherseits nicht mehr ganz in dem Ausmaß wie früher empfohlen werden. Dafür stieg aber die Verschreibungshäufigkeit von Neuroleptika und Antidepressiva an. Hier werden, so die Medizinerin KrauseGirth (1992), „irrationale Verordnungen nicht aufgehoben, sondern verschoben.“ Neuroleptika Neuroleptika sind stark dämpfende Mittel, die gegen Psychosen (in Verbindung mit Schizophrenie und Manie) eingesetzt werden. Doch sind negative Begleiterscheinungen und Langzeitschäden so gravierend und die positive Wirkung so unsicher, dass auch bei Psychosen ein Einsatz nur bei strengster Risiko-Nutzen-Abwägung in Betracht kommen sollte. Nichtsdestotrotz haben Neuroleptika, gerade bei älteren Menschen, oft die Benzodiazepine ersetzt und werden ebenso wie diese erstens weitgehend von Allgemeinärzt/innen und Internist/innen und zweitens für unspezifische „Befindlichkeitsstörungen“ verschrieben. Dies beruht auf der Unkenntnis über die großen Gefahren bzw. auf der Tatsache, dass die Ärzt/innen sich offensichtlich auf die Indikationsansprüche der Hersteller stützen, die z.B. Angst- und Spannungszustände, psychosomatische Beschwerden, psychovegetative Störungen usw. nennen. Da Frauen mindestens doppelt so häufig wie Männer mit solch undefinierbaren Diagnosen und entsprechenden Rezepten die ärztlichen Praxen verlassen, sind sie auch in Bezug auf Neuroleptika besonders betroffen. Langzeitverordnungen werden insbesondere bei niedrig dosierten Neuroleptika festgestellt. Als Begleiterscheinungen von Neuroleptika werden Verlangsamung der Reaktionen, Erstarrung, völlige Abstumpfung gegen äußere Reize, quälende Blick- und Zungenkrämpfe, Zittern und die Hemmung der intellektuellen Leistungsfähigkeit registriert. Wenn sie - was häufig geschieht - als Depotspritzen gegeben werden, sind diese Wirkungen nicht einmal mit sofortigem Einnahmestopp beendbar. Auch bei niedrig dosierten Neuroleptika und noch viel mehr bei deren häufigen Langzeitverordnungen (z.B. Imap) sind Spätfolgen wie kaum heilbare Dyskinesien (unkontrollierbare Gesichtsmuskulatur, Zitterbewegungen) nicht ausgeschlossen. Die Hälfte der Neuroleptika wird inzwischen an Menschen über 65 Jahre verschrieben. Häufig werden diese Medikamente gegen „Unruhe“ eingesetzt, obwohl sie unwägbare Risiken für die Frauen und Armut 151 Betroffenen bedeuten. Auch als Schmerzmittel werden sie verwendet, oft deswegen, weil Ärzt/innen der angemessenen Behandlung mit Opiaten ausweichen wollen. Antidepressiva Verordnungen von Antidepressiva haben ebenfalls stark zugenommen. Schon 1992 wurde festgestellt, dass ein Drittel dieser Mittel bei Diagnosen eingesetzt werden, die nichts mit Depressionen zu tun haben. Der Zuwachs an Verschreibungen von Antidepressiva betrug zwischen 1990 und 1995 mehr als sechzig Prozent. Und dieser Trend hält auch weiterhin an. Vor allem die Verkaufszahlen der neuen Art von Antidepressiva, die ihre Karriere in den USA als „Glückspillen“ (zuerst Prozac) begann, stiegen steil an. Diese gelten als besser verträglich, haben aber ebenfalls Nebenwirkungen wie etwa Kopfschmerzen, Übelkeit, Desorientiertheit und Schlafstörungen. Die traditionellen (meist trizyklischen) Antidepressiva können unter anderem zu Verstopfung, Herzrhythmusstörungen und Krampfanfällen führen. Sowohl neue wie alte Antidepressiva erhöhen das Sturzrisiko gravierend um 80 bzw. 100 Prozent. Dazu kommt, dass die neuen Antidepressiva, die sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI), im Verdacht stehen, die Patient/innen abhängig zu machen. Auch wird berichtet, dass zum Teil eine Toleranzentwicklung eintritt, die zu Dosis-Steigerung, Präparate-Wechsel und -Kombination führe. Das Arznei-Telegramm (1998) spricht hier von einem „SSRI-Karussel“ und zieht eine Parallele zur Geschichte der Benzodiazepine mit der Frage: „Bilden Antidepressiva, insbesondere SSRI, ein neues Glied in der Kette ärztlich verordneter Suchtdrogen...?“ Folgerungen Zusammenfassend ist festzustellen, dass vor allem ältere Frauen zu viele Psychopharmaka zu lange verordnet bekommen. Psychopharmaka werden allzu häufig ohne medizinische Notwendigkeit und ohne sinnvolle Wirksamkeit verschrieben, die Dosierung wird sehr oft nicht an die im Alter veränderten physiologischen Voraussetzungen angepasst. Insofern sind auch Erstverordnungen in den meisten Fällen nicht angemessen. Dies bezieht sich immer noch in großem Ausmaß auf Schlaf- und Beruhigungsmittel, die Benzodiazepine enthalten. Da auch Antidepressiva die Sturzgefahr verdoppeln und mit zum Teil sehr unangenehmen und gesundheitsgefährdenden Wirkungen verbunden sein können, sind sie gegebenenfalls als begleitendes Medikament nur bei schwereren Depressionen indiziert und dürfen nicht an die Stelle von Benzodiazepinen treten. Neben unmittelbar quälenden Begleiterscheinungen haben insbesondere Neuroleptika Abstumpfung und Erstarrung zur Folge und bergen die Gefahr von schweren Spätschäden in sich. Nicht umsonst wird in bezug auf Psychopharmaka auch von der chemischen Gewalt gegen Menschen im Alter gesprochen, Neuroleptika gelten als „chemische Keule“. Besonders massiert treten diese Verschreibungen und Verabreichungen in Pflegeheimen auf, wo Personal- und Zeitmangel mit Hilfe der Ärzt/innen durch die Ruhigstellung der Bewohner/innen meist Frauen - kompensiert wird. Chemische Psychopharmaka können ein manchmal vielleicht notwendiger und hilfreicher erster Schritt sein, den Weg aus schweren Ängsten, Depressionen und Selbsttötungsgefahr herauszufinden. Wenn pflanzliche Mittel wie z. B. Johanniskraut (Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten beachten!), dessen positiver Effekt bei leichteren und mittelschweren Depressionen in vielen Fällen nachgewiesen ist, nicht anschla- 152 Armut und Gesundheit gen, so können eventuell auch die in Verruf geratenen Tranquilizer begrenzt sinnvoll sein. Sie wirken - im Gegensatz zu chemischen und pflanzlichen Antidepressiva - unmittelbar, und sie sind - gewissenhaft und angemessen verordnet, das heißt für sehr kurze Zeit und in niedrigstmöglicher Dosierung - am wenigsten schädlich und beeinträchtigend. Bei quälender Angst und Unruhe, die mit einer Depression einhergehen können, schaffen sie günstigenfalls eine Pause, die notwendig sein kann, um weitere Schritte zu planen und zu gehen. Da Benzodiazepine beruhigend, nicht aber stimmungsaufhellend wirken, ist bei schwereren Depressionen möglicherweise die Einnahme von Antidepressiva hilfreich zur ersten Veränderung einer verzweifelten Situation. Dabei ist zu beachten, dass die antidepressive Wirkung oft erst nach längerer Zeit (bis zu ca. vier Wochen) eintritt. Aber: Chemische Psychopharmaka sind keine Heilmittel, sondern Hilfsmittel, die günstigenfalls eine Wende zu notwendigen eigenen Schritten einleiten können. Und: Sehr häufig bedarf es keiner Medikamente, sondern einer Unterstützung und Beratung im Hinblick auf mögliche Veränderungen von Lebensstrukturen und -umständen, die zu Störungen des Befindens führen. Dazu gehören Wege zur Selbsthilfe und Angebote von Kommunikation in Selbsthilfegruppen, in sozialen Zusammenhängen oder auch in einer Psychotherapie. Fakt ist, dass Verschreibung von Medikamenten meist die gesundheitliche Beratung ersetzt, bei älteren Menschen noch krasser als bei jüngeren. (Beträgt die normale durchschnittliche Konsultationszeit sechs Minuten, sinkt sie bei älteren Patient/innen auf vier bis fünf Minuten. Dazu kommt noch, dass empirisch nachgewiesen ist, dass Frauen sich kürzer im ärztlichen Sprechzimmer aufhalten und mit größerer Wahrscheinlichkeit die Praxis mit einem Rezept verlassen als Männer. Ausführlich diagnostisch-therapeutische Beratungsgespräche oder psychotherapeutische Hilfen, die über kürzere ärztliche Beratungsgespräche hinausgehen, erfahren weniger als zwanzig Prozent aller Patient/innen mit Langzeitverordnungen.) Da ältere Frauen die Hauptgruppe der Dauerkonsument/innen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln sind, besteht gerade für sie ein eklatantes Defizit an Information und Beratung über Alternativen zur Medikamenteneinnahme. In Bezug auf psychotherapeutische Angebote wird ebenfalls eine mangelhafte Versorgungsrealität für über Sechzigjährige und eine „nicht-existente“ (Radebold 1997) für über 75jährige konstatiert. Die Berliner Altersstudie zeigt: Keine/r der von Depressionen Betroffenen erhielt eine Psychotherapie. Hemmfaktoren sind unter anderem das Altersbild von Ärzt/innen und Therapeut/innen sowie deren mangelhafte Ausbildung und Kompetenz in Bezug auf die Therapie Älterer (ebd.). Als Abhilfe der massenhaften schädlichen Verordnungen von Psychopharmaka an ältere Menschen, besonders an Frauen, erscheint häufig die Forderung an die Hausärzt/innen, Hilfesuchende an Spezialist/innen zu überweisen. Dies erscheint mir kurzschlüssig. Erstens ist eine hohe Variabilität von Diagnosen auch bei Psychiater/innen und Fachärzt/innen der Nervenheilkunde zu verzeichnen. Zweitens sind auch diese Meister/innen der Verschreibung! Das Rezept hilft nicht nur Allgemein- sondern auch Fachärzt/innen über Hilflosigkeit hinweg - und erfüllt die Erwartungen der Patient/innen, dass ihr Leiden als Krankheit diagnostiziert wird, die durch eine Rezeptur der Expert/innen zu beheben sei. Das Leiden aber ist häufig keine durch Medikamente heilbare Krankheit, sondern Reaktion auf physische, psychische und soziale Veränderungen im Alter. Frauen reagieren Frauen und Armut 153 auf Leidensdruck, der sich psychisch und psychosomatisch niederschlägt, häufiger mit einem Besuch bei Ärzt/innen als Männer. Da unnötige Arzneimittel allgemein eine immer größere Gefährdung darstellen, je älter Frauen werden, ist der Umschwung vom Rezept zum Gespräch in der Praxis notwendig. Darin einzuschließen ist die Forderung nach einem differenzierten, vielfältigen und selbstverständlichen Angebot psychotherapeutischer und anderer heilsamer Verfahren für Ältere. Im Vorfeld aber, und das halten wir für das Wichtigste, ist ein breites, leicht zugängliches und weitgehend kostenfreies öffentliches Angebot für Frauen ab ca. fünfzig Jahren zu installieren, das gesundheitliche Aufklärung im weitesten Sinne und Kontaktmöglichkeiten beinhaltet. So können Frauen leichter an Informationen über Veränderungen im Prozess des Älterwerdens gelangen, z.B. über Verschiebungen der Schlafstadien, die meist erst einmal ganz normal sind und per se nicht als krankhafte Störungen zu bewerten sind. Sie können sich bei ihren Altersgenossinnen und professionellen Ansprechpartner/innen kundig machen darüber, wie sie für ihr weiteres physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden sorgen und auch Ausstiegswege aus selbstzerstörerischen Strategien finden können. So werden sie selbst zu Expertinnen der Störungen und Verbesserung ihrer Befindlichkeit, ohne (weiter) die lebensgefährdende Erwartung zu haben, dass es für jedes Leiden eine Pille gebe. Medikalisierung als Antwort auf die schwierige Lebenslage älterer Frauen zerstört noch zusätzlich ihre physischen, psychischen und sozialen Ressourcen, die sie dringend brauchen, um nicht klein beizugeben in unseren frauen- und altersfeindlichen Strukturen. Diese sind es, für die auf gesamtgesellschaftlicher Ebene endlich ein Behandlungsplan zu erstellen ist! Literatur: arznei-telegramm: Informationsdienst für Ärzte und Apotheker. Berlin 02/98, 11/98, 02/2000. Baier, Tina [1998]: Pillen statt Personal, Süddeutsche Zeitung (SZ) 2.11.98. Bundesärztekammer (BÄK) [1998]: Gesundheit im Alter. Köln. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) [2001]: Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland. Berlin. Christeiner, Sigrid [1999]: Frauen im Spannungsfeld zwischen Gesundheit und Krankheit. Subjektive Befindlichkeitseinschätzungen und Ursachenattribuierungen von Laien. Bielefeld. Deutsches Ärzteblatt [2001]: Suchtkontrollrat: Gefährliche Psychopharmaka. UNGremium kritisiert Verordnungsverhalten von Ärzten. 9.März 2001. Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hg.) [1992]: Medikamentenabhängigkeit. Freiburg. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung [2001]: Sucht- und Drogenbericht 2000. Berlin. 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In: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hg.) Melchinger, Heiner [1992]: Zur Prävalenz der iatrogenen Medikamentenabhängigkeit. Verordnungspraxis von Medikamenten mit Abhängigkeitspotential. In: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hg.) Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales; Landesvereinigung f. Gesundheit Niedersachsen e.V. [1999/2000]: Dokumentation der 9. Tagung des Netzwerkes Frauen/Mädchen und Gesundheit Niedersachsen 1999: Frauen im Alter: Lust oder Frust? Hannover. Radebold, Hartmut [1997]: Psychoanalytische Psychotherapie von Depressionen über 60jähriger. In: Radebold, Hartmut et al. (Hg.): Depressionen im Alter. Darmstadt. Rüthlein, Ingrid [1998]: Die stille, heimliche Frauensucht. Medikamentenmißbrauch und -abhängigkeit bei älteren Frauen. In: CLIO 46, FFGZ Berlin. Stuhlmann, Wilhelm; Hinze, Elke [1997]: Psychotherapeutische Behandlungskonzepte und -erfahrungen. In: Radebold, H. et al. (Hg): Depressionen im Alter. Darmstadt. Sußmann, Claudia (Hg.) [1995]: Schlucken und Schweigen? Frauen und Medikamente. Frauen Therapie Zentrum München. Walch-Heiden, Erika [1992]: Medikamentenkonsum von Frauen. In: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hg.) Frauen und Armut - 155 Wernicke, Thomas F.; Linden, Michael [1997]: Psychopharmakotherapie bei Depressionen im Alter – Die Berliner Altersstudie (BASE). In: Radebold, H. et al. (Hg.): Depressionen im Alter. Darmstadt. Schwindel-Frei Erfahrungen aus der Frauensuchtarbeit Gabriele Jeuck Schwindel-Frei Die Beratungs- und Behandlungsstelle „Schwindel-Frei“ FRAUEN-MEDIKAMENTEALKOHOL ist aus der Informations- und Beratungsstelle „Schwindel-Frei“ FRAUENMEDIKAMENTE hervorgegangen. Die ursprüngliche Konzeptionierung von „Schwindel-Frei“ ist auf dem Erfahrungshintergrund von engagierten Fachfrauen des Trägervereins Frau & Sucht Berlin e.V. erfolgt. 1992 wurden vom Senat für Gesundheit Berlin die erforderliche Finanzierung bereitgestellt, und die Arbeit der Informations- und Beratungsstelle Schwindel-Frei in der Schönburgstr. 3 in Berlin-Tempelhof konnte beginnen. Es entstand eine überregional arbeitende Frauenberatungsstelle, die einmalig im Bundesgebiet war und die medikamentengefährdeten und -abhängigen Frauen Aufklärung über die Wirkungsweise und Risiken bei der Einnahme psychisch wirksamer Medikamente bot. Des weiteren bestand das Angebot aus Beratung und Betreuung, medikamentenspezifische Nachsorge, Vermittlung in Entzugs- und Entwöhnungseinrichtungen, Selbsthilfe und Psychotherapie. Die Aufklärung, Information, Fort- und Weiterbildung war ein wichtiger Bestandteil der Informations- und Beratungsstelle. Konzeptionell wurde neben der Frauenspezifik der Medikamentenabhängigkeit die Verknüpfung von Suchtmittelabhängigkeit und Psychosomatik berücksichtigt. In der Umsetzung des Konzeptes bedeutete dies das Angebot von Indikationsgruppen z. B. Angst- und Schmerzbewältigung, Entspannungsgruppen. 1994 wurde „Schwindel-Frei“ obwohl es überregionales Angebot war im Zuge der Regionalisierung in die finanzielle Zuständigkeit des Bezirks Tempelhof übergeben. „Schwindel-Frei“ ist seit dieser Zeit fester Bestandteil der bezirklichen Pflichtversorgung. 1998 wurde in Übereinstimmung mit dem Bezirk das Angebot von „Schwindel-Frei“ auf alkoholgefährdete und –abhängige Frauen erweitert. Auf Grund der Angebotserweiterung veränderte sich die inhaltliche Arbeit wesentlich. Neben der Fachstelle für psychotrope Medikamentengebraucherinnen, entwickelte sich eine Frauensuchtberatungsstelle mit den entsprechenden Angeboten für alkoholgefährdete und –abhängige Frauen. Da der Personalstand nicht erhöht wurde, musste der Schwerpunkt Information, Aufklärung, Fort- und Weiterbildung zu Medikamentenge- und missbrauch und insbesondere die Arbeit mit konsumierenden medikamentenabhängigen Frauen stark eingeschränkt werden. 156 Armut und Gesundheit 1999 erhielt der Trägerverein Frau & Sucht Berlin e.V. für „Schwindel-Frei“ im Verbund mit dem Verein zur Hilfe suchtmittelabhängiger Frauen e.V. einem anderen Frauensuchtprojekt die Genehmigung von der Bundesanstalt für Arbeit (BA) zur Durchführung der ambulanten medizinischen Rehabilitation nach EVARS auf der Basis eines anerkannten wissenschaftlichen und feministischen Konzeptes. Zurzeit gibt es übrigens von der BA bundesweit nur zwei Anerkennungen für ein frauenspezifisches Konzept zur Durchführung ambulanter Therapie. Mit finanzieller Unterstützung der AOK, der Deutschen Hauptstelle gegen Suchtgefahren (DHS), und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gab „Schwindel-Frei“ Informationsmaterial heraus: 1993 die Broschüre „3 x täglich reden!“ und 1996 ein Video mit gleichnamiger Begleitbroschüre : „Ich wollte einfach nur Hilfe“. Heutige Situation Schwindel-Frei ist ein kleines Projekt und hat 1,95 Stellen: ehemals zwei Stellen, doch wir blieben wie andere Projekte auch nicht von Kürzungen verschont. Unser konzeptioneller Hintergrund basiert auf einem Suchtverständnis, das Suchtmittelgebrauch als Selbstheilungsversuch ansieht, auch wenn dieser als inadäquat anzusehen ist. Dabei ist von einem zentralen Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt auszugehen. Dieser allgemeine Ansatz ist frauenspezifisch modifiziert. Und analysiert und reflektiert gesellschaftliche Verhältnisse. Ziele der Arbeit sind: Autonomie, Selbständigkeit, Selbstbestimmung, Selbstwahrnehmung, Selbstbeurteilung, Selbstverantwortung zu fördern und zu stärken. Dabei ist das Vorgehen ressourcenorientiert. Arbeitsprämissen Frauenraum Durch die Schaffung der Rahmenbedingungen im Konzept eines Frauenraumes wird die Erfahrungsmöglichkeit eines Lebens- und Arbeitsraumes geschaffen, der ausschließlich von Frauen gestaltet ist. Der Frauenraum bedeutet nicht nur Schutz und Unterstützung, sondern ist auch Quelle der Inspiration und Solidaritätserfahrung und formgebende Struktur für unterschiedliche Formen von Frauenleben. Parteilichkeit Wir arbeiten in Beratung, Betreuung, Therapie und Selbsthilfe vor dem Hintergrund einer feministischen Analyse unserer Gesellschaft, die die ungleichen Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern herausgearbeitet hat. In unserer Arbeit reflektieren wir die sich daraus ergebende strukturelle Gewalt gegen Frauen mit ihren Erscheinungsformen und Auswirkungen und mit dem Wissen, das sich Herrschaftsverhältnisse in die Psyche einschreiben und sich mit der Lebensgeschichte der Klientin verknüpfen. Unsere bewusst parteiliche Arbeitshaltung Klientinnen gegenüber bedeutet, geschlechtsspezifische Unterschiede in der Entwicklung und Manifestation von Suchtmittelabhängigkeit zu sehen und zu benennen. Zielgruppe • Medikamentenabhängige und –gefährdete Frauen in allen Phasen der Erkrankung • Alkoholabhängige und -gefährdete Frauen in allen Phasen der Erkrankung Frauen und Armut • • • • 157 Frauen, die neben Medikamenten und Alkohol auch andere Suchtmittel gebrauchen Angehörige und Vertrauenspersonen Multiplikator/innen (Ausbilder/innen, Lehrer/innen, Erzieher/innen, Ärzt/innen, Sozialpädagogische Dienste, Suchtbeauftragte etc.) Medien Angebote Wir halten Angebote von niedrigschwelligem Kontakt über Beratung, Betreuung, ambulante Therapie, Nachsorgetherapie, Selbsthilfe, aufsuchende Arbeit in Krankenhäusern etc. vor. Erfahrungen in der Frauen-Sucht-Arbeit Zehn bis fünfzehn Jahre Frau und Sucht. Was hat es gebracht! Viel Arbeit! Arbeiten können Frauen nun mal. Und was hat es sonst noch gebracht? Problembewusstsein? Eingang in Therapiekonzepte? Eine allgemeine Akzeptanz? Oder sogar Abgesicherte Finanzen? Wohl kaum! Frauen-Sucht-Arbeit ist immer noch „Nischenarbeit“ sei es in gemischtgeschlechtlichen Einrichtungen oder als „Frauensuchteinrichtung“. Wir selbst gelten als „Spezialeinrichtungen“. Der Kampf um die politische und finanzielle Absicherung ist nicht zu Ende, beginnt mal wieder unter dem Druck der Finanzmiseren. Wir haben viel erreicht in diesen Jahren gemessen an Jahrhunderte langen Traditionen! Doch wir haben es nicht geschafft, aus diesen Nischen herauszukommen. Auch auf der Seite der „Frauensuchtmacherinnen“ gibt es Strategien die behindern eine breitere Basis für Frauensuchtarbeit zu schaffen. Das Misstrauen gegenüber Macht ist groß, ebenso die Angst vor Ohnmacht...- Lieber klein und überschaubar, lieber alles unter Kontrolle. Unsere eigene „Unfähigkeit“ sich zu solidarisieren, Konkurrenzen auszutragen, sich zu verbünden oder zusammen zu schließen, auch das behindert. Und so ringen auch wir um Anpassung und Autonomie. Die „Kundin“ Frau Die „Kundin“ Frau – wie es heute im Qualitätsjargon heißt – ist stark umworben. In Gemischtgeschlechtlichen Einrichtungen sorgt sie für angenehmes Klima, versorgt Männer emotional und sexuell. Kaum ein Therapeut oder eine Therapeutin, die gerne mit reinen Männergruppen arbeitet! Frauenspezifische Arbeit ist in diesen Einrichtungen häufig privates Engagement von Mitarbeiterinnen und bleibt oft auf freiwillige Angebote beschränkt. Die Kundin Frau ist auch von Frauensuchteinrichtungen stark umworben, ist sie doch unser Klientel und damit unser „Überleben“ als Frauensuchteinrichtung. Nicht immer haben wir es leicht mit dieser Kundin. Mit unseren Zielen von Autonomie und Selbstbestimmtheit, mit Frauenräumen, taucht auch das Bild der Feministinnen und Emanzen als Schreckgespenst auf. „Die sind gegen Männer“, „das sind lauter Lesben“, Vorurteile die wirken, wie alles was auch Angst macht. Autonomie und Selbstbestimmtheit: Es ist ein weiter Weg bis dorthin, und wir müssen in der täglichen Arbeit darum ringen. Es ist für Frauen keine Selbstverständlichkeit, dies für sich zu beanspruchen. 158 Armut und Gesundheit Die Kundin Frau macht sich rar! Von den etwa 2,5 Millionen Alkoholabhängigen sind Drittel Frauen (DHS 1994), ein Drittel der ca. 120.000 Drogenabhängigen und ca. zwei Drittel der ca. 1,4 Millionen Medikamentenabhängigen. Der Anteil der Frauen in stationären Behandlungseinrichtungen beträgt jedoch nur ca. 18-20 Prozent. Bei ambulanten Behandlungen ist der Frauenanteil höher, nämlich ca. 25 Prozent. Diese Daten spiegeln nur eine Tendenz der zahlenmäßigen Geschlechterverhältnisse dar. Wo sind die Frauen? Ich versuche diese Frage, mit meinen Erfahrungen aus der Arbeit mit Medikamentenabhängigen Frauen zu beantworten: • Sie verbleiben im medizinischen Gesundheitssystem, das sie ja auch größtenteils mit dem Originalstoff auf Rezept und auf Krankenschein versorgt. • Es fehlt Fachkenntnis (bei Ärzten, in Betrieben, etc.) und Aufklärung, die Abhängigkeit zu erkennen. • Es gibt keine Identifikation mit der Abhängigkeit/Sucht bei Niedrig-Dosis-Abhängigkeit, die überwiegende Abhängigkeitsform bei Medikamenten-abhängigkeit. • Es fehlen Angebote zu Schlafstörungen, Ängste, Depressionen etc. die auch abhängigkeitsmachende Medikamente thematisieren und Abhängigkeit behandeln. • Medikamentenabhängigkeit ist die stille, heimliche Frauensucht, die es ermöglicht zu funktionieren, die Frauen versuchen auch „unentdeckt“ zu bleiben , wobei Medikamente aufgrund der Wirkung dies noch unterstützen. • Es fehlen Angebote für ältere Frauen. • Frauen werden kaum wg. Abhängigkeit an Fachstellen weitervermittelt, sondern verbleiben in der „Psychosomatischen“/ ärztlichen Versorgung . So bleiben Frauen in ihren „Nischen“ still, leise, angepasst, funktionierend, gezähmt mit der Diagnose „krank“. Was für Alkohol- und medikamentabhängige Frauen meiner Meinung nach eine weitere wichtige Rolle spielt, nicht in Suchteinrichtungen zu gehen, ist: Die Scham versagt zu haben, süchtig zu sein, nicht zu funktionieren, die Scham nicht alles unter Kontrolle zu haben, die Scham sich zu zeigen. Die Angst abgelehnt zu werden, weil sie etwas falsch gemacht haben, die Angst verlassen zu werden, die Angst zu entdecken, dass etwas in ihrem leben falsch läuft, die Angst vor Veränderung. Und Schuldgefühle... Eine Frau hat für andere da zu sein bis zur Selbstaufgabe. Für Mann, Kinder, Beruf, Hauhalt und sie hat gut zu sein. Ansonsten macht sie sich „schuldig“. Die Nur–Hausfrauen bekommen häufig zu wenig Anerkennung, die berufstätigen Mütter sind heillos überlastet, die alleinlebenden Müttern und Frauen fehlt die Akzeptanz in der Gesellschaft. So wird schnell verfügbarer Stoff gesucht, der Energie spendet oder Kummer, Sorgen, Unzulänglichkeit aushaltbar macht. Und warum befreien sich Frauen nicht selbst? Frauen leben immer noch im höchsten Maße in Abhängigkeit, von Männern, von Familie, von Beziehungen. Sie „opfern“ dafür ihr eigenen Bedürfnisse und ihre eigenen Freundinnen und Freunde. Sie vereinsamen und bleiben alleine mit ihren Sorgen und Nöten. Abhängigkeit ist immer noch ein weibliches Lebensprinzip. Im Lebenskontext von Frauen kommt der sexualisierten Gewalt Frauen und Armut 159 gegenüber von Frauen eine immense Bedeutung zu. Kaum eine Klientin die nicht über sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung, demütigende Sexualitätspraktiken von Männern berichtet. Opfer sein, Ohnmacht, Traumatisierung, Demütigung sind in der Regel die Erfahrungen die süchtige Frauen mit bringen. Die Folge ist häufig ein Aushalten und Über-Sich-Ergehen-Lassen, den Körper abzuspalten, nicht mehr zu spüren, sich irgendwie anzupassen - aber wie? Mit Tabletten und Alkohol gelingt dies, zeitweise , scheinbar. Frauen die sich auf geben; Männer die fordern. Der Druck ist hoch, ist doch da auch häufig die Drohung vom Partner, verlassen zu werden. Abhängige Frauen protestieren und fliehen mit Hilfe des Suchtmittels, versuchen sich zu entziehen, Grenzen zu setzen, sich zu verweigern, nicht mehr zu funktionieren, suchen Trost, Wärme, Geborgenheit beim Suchtmittel. Nur langsam verändern sich unsere gesellschaftlichen Realitäten, und Frauen genießen mehr Möglichkeiten und eine bessere finanzielle Absicherung, übernehmen mehr Verantwortung für ihr Leben, haben eine breitere Auswahl von Beziehungsentwürfen zur Verfügung. Fazit Es ist deutlich geworden, dass die Arbeit mit süchtigen Frauen nicht bedeuten kann: „Bleibe wie du bist, nur höre auf Tabletten zu nehmen oder zu trinken.“ Dies wäre der Versuch einer Reparaturarbeit, die auf die Anpassung der Klientinnen abzielt, aber Entwicklung von Autonomie und Selbstbestimmtheit verhindert. Ohne diese Ziele, und ohne die gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht zu berücksichtigen, ist Therapie mit Frauen fragwürdig. Es wird Zeit, dass Frauen-Sucht-Arbeit aus der Nische kommt, auch wenn ich sehe, dass wir viel erreicht haben. Doch sicher ist das erreichte nicht! Ich bin es leid, immer wieder zu hören, das Frauensuchteinrichtungen Spezialeinrichtungen sind, etwas mildtätig belächelt, da Frauen ja Schutz brauchen. Ich bin es leid um Finanzen, fachliche und politische Anerkennung zu kämpfen. Ich bin es leid zu hören, das gemischtgeschlechtliche Einrichtungen ja „alles“ abdecken, bei einem Frauenanteil von höchstens zwanzig bis dreißig Prozent. Das ist für mich etwas so, als fördere man Sport für alle und diese Förderung ginge an Sportvereine, die überwiegend Angebote für Männer haben. Dringend erforderlich sind meines Erachtens: • Therapieerfolgsstudien, die evaluieren, was die Qualität feministischer Suchtarbeit ausmacht, welche Wirkfaktoren in einer Therapie mit Frauen maßgeblich sein müssen. • Die Beantwortung der Frage, wohin sich abhängige Frauen wenden, die das Suchthilfesystem nicht erreicht und welche Folgen dies für die Frauen hat. • Und insbesondere zum Thema Medikamentenabhängigkeit: Aufklärung und die Entwicklung neuer Konzepte und Beratungsstellen auf dem Hintergrund der gemachten Erfahrungen. Dies bedeutet auch politisches Engagement und sichere Finanzierung. [Literatur bei der Verfasserin] 161 Kapitel 4 Altersarmut und Gesundheit 162 Armut und Gesundheit Altersarmut und Gesundheit - Schlussfolgerungen und Forderungen Heinz Trommer Inge Frohnert, Petra Fock, Gabi Tammen-Parr, Claudia Fuchs, Carola Pawlowski Der Arbeitskreis „Altern und Gesundheit“ von Gesundheit Berlin e. V. koordinierte drei Foren: „Altersarmut – Ergebnisse aus Forschung und Praxis“ (Moderation: Inge Frohnert, Heinz Trommer), „Verbesserung der Situation pflegebedürftiger älterer Menschen“ (Moderation: Petra Fock, Gabi Tammen-Parr) und „Ältere Menschen in schwierigen Lebenslagen“ (Moderation: Claudia Fuchs, Carola Pawlowski). Aus den zehn Beiträgen sowie den Diskussionen können aus vorliegenden Einschätzungen folgende Schlussfolgerungen und Forderungen abgeleitet werden: (1) In allen drei Foren gab es eine gute Resonanz zu den ausgewählten Beiträgen mit der übergreifenden Thematik „Psychische Gesundheit erhalten und wiederherstellen“. Es wurde übereinstimmend festgestellt, dass die psychische Gesundheit im Alter und unter den risikoreichen Bedingungen der Armut bisher zu wenig sowohl in empirischen Studien als auch im Alltag beachtet wurde. Die Folgen sind erhebliche Informationsdefizite. (2) In den Einzelbeiträgen und den diesbezüglichen Diskussionen wurden aktuelle Inhalte der Sozialarbeit sowie geeignete Problemlösungsansätze vorgestellt. Die Erfahrungsberichte von Diskussionsteilnehmern bereicherten die Aussagen über erforderliche Beratung, Betreuung und Pflege innerhalb der Altenhilfe in den Regionen und Kommunen, die in den Pausengesprächen engagiert fortgesetzt und vertieft wurden. (3) Kritisch wurde darauf verwiesen, dass es in der Alltagspraxis großen Handlungsbedarf mit hoher Dringlichkeit gibt: „Wir haben geeignete Strategien, Konzepte und Modelle. Jetzt muss politisch und fachlich konsequent und nachhaltig gehandelt werden.“ Die gesellschaftliche Akzeptanz des älteren Menschen muss erhöht werden: die Altersdiskriminierung hat schwerwiegende Folgen für die psychische Gesundheit der Betroffenen. (4) Der Staat darf nicht aus der sozialstaatlichen Verantwortung des Grundgesetzes entlassen werden: Gegenwärtig erfolgt die Übertragung vieler sozialer Aufgaben an freie Träger verschiedener Art, gemeinnützige Einrichtungen und Selbsthilfeorganisationen - oft ohne ausreichende finanzielle, materielle und personelle Voraussetzungen. Es müssen diesbezügliche Rahmenbedingungen und Grundsätze geschaffen werden, die dem alten Menschen ermöglichen, in Würde und Sicherheit alt zu werden. (5) In den Foren wurden insbesondere gefordert: • Obligatorische berufsbegleitende Fortbildung für Ärzte und alle übrigen Mitarbeiter im Gesundheitswesen (Gerontologie, Psychogerontologie, Geriatrie) • Sicherung von fachlich kompetenten Beratungs- und Betreuungseinrichtungen in Kommunen - auch mobile Angebote für kleine Gemeinden Altersarmut und Gesundheit • • • • • • 163 Psychohygiene für pflegendes Personal in Heimen und Kliniken (BurnoutSyndrom!) Sorgfältigere Auswahl bei Vermittlung von Mitarbeitern in der Altenpflege (Kriterien für die Eignung in der Pflege psychisch Kranker) Effizientere Unterstützung von pflegenden Angehörigen psychisch Kranker Senkung der Kosten für Medikamente bei psychischen Störungen Höhere Anerkennung des Engagements ehrenamtlicher Tätigkeit Forschung zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung der psychischen Gesundheit unter den Bedingungen der Altersarmut. (6) Generell wurde empfohlen, mehr als bisher Erfahrungen aus bewährten Konzepten und Modellen auszuwerten und für die Umsetzung nutzbar zu machen. Dazu gehören unter anderem: • Präventive geriatrische Hausbesuche in München - Machbarkeitsstudie Diesbezügliche Modelle in der Schweiz • Diverse Formen des betreuten Wohnens und der neuen Formen des Wohnens: Die Generation der „jungen Alten“ hat andere Ansprüche an Lebensstil im Alter - selbstbestimmtes Leben im Alter bewusster gestalten • Koordinierungsstellen für ambulante Rehabilitation älterer Menschen in Berlin • Bundesweite Initiativen der Alzheimer Gesellschaften (Seminare, Selbsthilfegruppen) • Tätigkeit von Seniorenbeauftragten in Kommunen (Soziale Integration) • Konzepte in der Betreuung von Demenzkranken in Kliniken und Heimen (Trennung von demenzkranken und nichtdemenzkranken Patienten, Bildung von Wohngruppen) • Fortsetzung solcher Aktionen „Beschwerdetag zur Altersdiskriminierung“ und „Fehlt Ihnen etwas?“ (Verdeckte Altersarmut) • Differenziertere Analysen von Kritiken und Beschwerden im Sozialmanagement: „Jede Beschwerde ist eine kostenlose Beratung.“ • Auswüchse der sogenannten „Jugendkultur“ in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit Gefahren der sozialen Isolierung und Ausgrenzung - Konzepte für soziale Integration und soziale Akzeptanz für von Altersarmut Betroffene. (7) Eine der wichtigsten Konsequenzen aus der Auswertung der durchgeführten Foren ist die künftige Zeitplanung für solche Kongresse: Für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist mit der Vermittlung von Informationen durch Beiträge der Erfahrungsaustausch, das Kennenlernen von erfahrenen, fachlich kompetenten Kolleginnen und Kollegen: Beispielhaft die Aussage einer Teilnehmerin: „Das ist für uns, die wir oft ‚Einzelkämpfer’ im beruflichen Alltag sind, besonders wichtig. Wir können nicht nur unser Wissen ergänzen und präzisieren, sondern gewinnen auch Motivation (Mut-machen) und viele praktische Anregungen.“ Diese Aspekte zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung der psychischen Gesundheit der engagierten Akteure sollte noch bewusster in die Zielstellung solcher Veranstaltungen integriert werden. 164 Armut und Gesundheit Altersarmut - Risiken bei der Erhaltung der psychischen Gesundheit im Alter Strategien zur Stabilisierung der psychischen Gesundheit älterer Menschen Heinz Trommer 1. 2. 3. 4. Was ist psychische Gesundheit? Welche Risiken bei Erhaltung bzw. Wiederherstellung der psychischen Gesundheit können durch Altersarmut entstehen? Warum brauchen wir neue Strategien und Konzepte zur Stabilisierung der psychischen Gesundheit sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen im Alter? Gibt es geeignete Modelle? Welche Schlussfolgerungen sind erforderlich? 1. Was ist psychische Gesundheit? „Keine Gesundheit ohne Psychische Gesundheit“, so lautete die weltweite Orientierung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Für das Jahr 2001 wurde deshalb als zentrale Aufgabenstellung formuliert: • „Psychische Gesundheit erhalten und wiederherstellen“ • „Psychische Gesundheit als das Kernstück der Gesundheit erkennen“ Die WHO geht dabei von dem systemischen Ansatz für Gesundheit aus: Der Mensch ist ein biopsychosoziales Lebewesen. Die Basis ist das erweiterte Gesundheitsverständnis der WHO (1986): „Gesundheit ist die Fähigkeit und Motivation, ein wirtschaftlich und sozial aktives Leben zu führen.“ - Mit dieser Bestimmung wird die Eigenaktivität des Individuums betont, das nicht mehr nur auf Belastendes reagiert und sich davor schützt, sondern vorausschauend aktiv und bewusst förderliche Bedingungen schafft. Mit der Auswertung internationaler Studien, insbesondere zur gegenwärtigen Gefährdung der psychischen Gesundheit in allen Altersgruppen, wurden zum Weltgesundheitstag 2001 zwei Teilziele genannt: • Förderung der psychischen Gesundheit • Verbesserung der Diagnostik und Therapie psychischer Störungen und Erkrankungen. Logisch werden daraus zwei Konsequenzen für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der psychischen Gesundheit als Basis des menschlichen Wohlbefindens abgeleitet: • „eine Umwelt, die die psychische Gesundheit fördert und nicht belastet“ • „ein gesundheitsfördernder Lebensstil“ In den vergangenen Jahrhunderten waren vor allem psychische Störungen und psychische Krankheitsbilder Gegenstand der medizinischen Diagnostik und Therapie, vorrangig der Psychiatrie und Neurologie. Es dominierte die Untersuchung somatischer (organischer) Faktoren. Erst im vergangenen Jahrhundert entstanden Ansätze der Analyse sozialer Bedingungen (Sozialmedizin, Sozialpsychiatrie), noch später erfolgte die Akzeptanz der Psychotherapie. Unter der Erkenntnis der erforderlichen Interdisziplinarität in Diagnostik und Therapie beginnt eine diesbezügliche Veränderung von Strategien und Konzepten. Altersarmut und Gesundheit 165 Die WHO führt die Dringlichkeit dieser Aufgabenstellung auf die veränderten Lebensbedingungen und Lebenslagen vieler Bevölkerungsgruppen zurück. Bereits Kinder und Jugendliche sind von psychischen Beeinträchtigungen wie Nervosität, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafproblemen, Ängsten und Leistungsversagen betroffen. Bekannt sind die schwerwiegenden Auswirkungen von Drogen, Ess-Störungen und sozialer Ausgrenzung. - Gravierend veränderten sich die Arbeits- und Freizeitbedingungen als lebenswichtige Voraussetzungen für psychisches Wohlbefinden von Erwachsenen: Überforderung und Unterforderung, berufliche Höchstbelastungen und Arbeitslosigkeit, Mobbing, Burnout-Syndrom, stressfördernde Kommunikations- und Organisationsstrukturen, soziale Isolierung ... Die WHO geht davon aus, dass psychische Störungen und Erkrankungen jeden treffen können, dass jedoch gegenwärtig viele psychische Störungen und Erkrankungen heilbar sind. Es ist deshalb dringend erforderlich, das Bewusstsein für derartige Krankheitsbilder in der Bevölkerung zu steigern sowie die leider noch vorhandene Diskriminierung von Betroffenen und deren Angehörigen zu verhindern. Analog dem Paradigmenwechsel (Wechsel von Grundannahmen) von der Pathogenese („Was macht krank?“) zur Salutogenese („Was macht bzw. hält gesund?“) ist nachweisbar, dass die wissenschaftliche Forschung zur psychischen Gesundheit erst vor wenigen Jahrzehnten begann. Erst durch neuere Beiträge wird belegt, dass die psychische Gesundheit eine integrierte Komponente der menschlichen Gesundheit ist: • Gesundheit ist eine durch viele Ausprägungen und Formen gekennzeichnete biopsychosoziale Fähigkeit zur Lebensgestaltung. • Psychische Gesundheit ist die gelungene Balance zwischen äußeren (externen) und inneren (internen) Ressourcen • Psychische Gesundheit basiert auf jener Ausgeglichenheit - biopsychosoziales Gleichgewicht -, die hohe Belastbarkeit ermöglicht. • Psychische Gesundheit wird durch lebenslange Veränderungen (einschließlich möglicher Störungen) determiniert, deren Ausmaß erst im Alter abnimmt. D.h., psychische Gesundheit ist sowohl Ursache als auch Folge komplexer biopsychosozialer Prozesse. Warum hat die psychische Gesundheit einen so hohen Stellenwert? Durch neue Erkenntnisse aus der gesundheitswissenschaftlichen Forschung, - z.B. der Psychoneuroimmunologie oder der Psychoonkologie über nachweisbare Wechselwirkungen zwischen Zentralen Nervensystem und Immunsystem - konnte die Annahme bestätigt werden, dass die psychische Gesundheit das Kernstück der Gesundheit ist. - Psychische Bedingungen können die Entstehung organischer Erkrankungen, sowohl die Reaktion darauf als auch deren Bewältigung / Verarbeitung sowie deren Rückfall / Fortschreiten wesentlich beeinflussen (s. psychosomatische Störungen). Es gibt heute noch keine weltweit anerkannte Definition des Terminus „Psychische Gesundheit“. In vielen Publikationen wurden verschiedene Merkmale vorgeschlagen und diskutiert. Im Ergebnis umfangreicher Recherchen legte Jahoda 1958 folgende Kriterien vor: • Einstellung eines Individuums zu sich selbst = positive und zugleich realistische Selbsteinschätzung Selbstvertrauen, Annahme des eigenen Ich 166 • • • • • Armut und Gesundheit Fähigkeit des Individuums zur Selbstverwirklichung = Sinnfindung für das eigene Leben: Lebensmut Fähigkeit zur flexiblen Identifikation mit dem eigenen Ich = Individuelle Annahme des eigenen Ich Autonomie gegenüber sozialen Einflüssen = Fähigkeit zur Selbstbestimmung des eigenen Handelns Unverzerrte Wahrnehmung der Realität = Fähigkeit zur Unterscheidung von Wunsch und Wirklichkeit Fähigkeit zum Meistern der Umweltanforderungen = Durchsetzungs- und Anpassungsfähigkeiten Fähigkeiten, um lieben und arbeiten zu können. Trotz vorhandener kritischer Einwände (eingeschränkte terminologische Präzision / Abhängigkeit der Bestimmung von Spezifika des jeweiligen Kulturkreises und des sozialen Status) enthalten diese Aussagen geeignete Ansätze für die begriffliche Kennzeichnung „Psychische Gesundheit“ auch in den folgenden Überlegungen. 2. Welche Risiken bei der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der psychischen Gesundheit können durch Altersarmut entstehen? Aus der Armutsforschung ist die Unterscheidung zwischen monetärer und nichtmonetärer Armut bekannt. Monetäre Armut – oft als Armut im engeren Sinne bezeichnet – bezieht sich auf Einkommensarmut. Nicht-monetäre Armut umfasst die Defizite in Bildung / Ausbildung, Erwerbstätigkeit, Wohnverhältnissen / Wohnumfeld, Familienstruktur und Gesundheit. Armut als Voraussetzung und Folge wird durch den mehrdimensionalen Ansatz bestimmt: materielle Armut, Bildungsbenachteiligung, geistigkulturelle Armut, soziale Armut, fehlende Werte für Lebensorientierung, psychische (emotionale) Armut, soziale Vernachlässigung und mangelnde Basisversorgung. Armut in diesen verschiedenen Dimensionen führt zu Einschränkungen für Lebenschancen betroffener alter und sehr alter Menschen. Es fehlen vor allem die oben angegebenen externen und internen Ressourcen, z.B. fehlendes Erfahrungswissen in unterschiedlichen Lebenssituationen oder nicht umgesetzte, weil nicht verstandene Therapieempfehlungen. Mögliche altersbedingte psychophysische Veränderungen können durch mangelnde Disponibilität die Bewältigung von Alltagsanforderungen erschweren bzw. verhindern; psychische Überforderung und geringe Belastbarkeit lösen Hilflosigkeit und Verweigerung aus. Aus Untersuchungen sind schwerwiegende Folgen des Verlustes von psychischer Gesundheit durch Altersarmut bekannt: • Verlust des sozialen Status = Folge: Auswirkungen auf soziale Akzeptanz und soziale Kompetenz • Verlust der eigenen Identität = Folge: Mangel an Glaubwürdigkeit • Verlust der sozialen Kommunikation = Folge: soziale Isolierung, soziale Ausgrenzung, soziale Einsamkeit • Verlust des Lebenssinns = Folge: Auswirkungen auf Lebensperspektive und Lebensmut Insgesamt also Risiken für die Voraussetzungen psychischer Gesundheit! Altersarmut und Gesundheit 167 Aus vorliegenden umfangreichen empirischen Studien ist bekannt, dass von potenzieller Altersarmut vor allem folgende Risikogruppen betroffen sind: • Langzeitarbeitslose = geringe Vermittlungschancen, materielle Verluste, Fertigkeitsverluste: Beschleunigung der Alternsprozesse • Personen mit Erwerbsarbeit im Niedriglohnsektor = geringes, unregelmäßiges Einkommen, Unterversorgung von Sozialhilfe abhängig • Personen mit geringer oder keiner beruflichen Qualifikation = geringe Vermittlung, Stoßarbeit, Gelegenheitsarbeit, Unterversorgung • Personen aus der „Neuen Selbständigkeit“ = Risiken: keine oder unzureichende Sozialversicherung, Konkurs und Verschuldung • Personen in prekären Lebenslagen = mehrjährige Unterversorgung Alleinerziehende und kinderreiche Familien Sozialhilfeempfänger • Personen mit Frühverrentung = reduziertes Einkommen, Folgen für Rentenberechnung, bei Zwang: mögliche psychische Störungen (Nicht-Mehr-Gebrauchtwerden) Personen aus diesen Risikogruppen sind häufig mehrmals benachteiligt. Die individuelle Lebensbiographie determiniert aktuelle Lebenslagen und Lebensstile. Viele von ihnen haben starke Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit, die bereits durch Erlebnisse aus der Kindheit in Armut geprägt sein können. Die Folgen können bis in das Erwachsenenalter nachweisbar sein. So wurde während einer Tagung in Weimar berichtet, dass Missverhältnisse von Essgewohnheiten und Bewegung in der Kindheit und Jugend bis zu psychischen und sozialen Problemen im Erwachsenenalter führen können. Soziale Armut und Kommunikationsdefizite, die essbedingtes Übergewicht initiieren können, sind auf „kompensatorisches Essen als Abwehrreaktion“ bei Kindern und Erwachsenen zurückzuführen, z.B. „Kummerspeck“ bei psychischen Störungen. Während der Auftaktveranstaltung zum Weltgesundheitstag 2001 wurde hervorgehoben, dass psychische Störungen die zweithäufigste Erkrankungsursache sind - aber im Gesundheitswesen und in der Öffentlichkeit werden sie völlig unzureichend beachtet: • „Über 10%der Bevölkerung werden einmal im Leben depressiv. 15% der Depressiven verüben Suizid. - 50% versuchen es. 50% der Depressionen werden zu spät erkannt. • 5% der 60- bis 70jährigen leiden an Demenz, schon 30% der über 80jährigen.“ Den Weltgesundheitstag 2001 nahm die WHO zum Anlass, über die Zunahme psychischer Störungen und psychiatrischer Erkrankungen, die in allen Altersgruppen nachweisbar sind, zu berichten und erforderliche Maßnahmen weltweit zu organisieren: • „Dramatischer Anstieg von Depressionen, Alkoholabhängigkeit, Psychosen, Epilepsie, 168 Armut und Gesundheit • eine Million Menschen starben im Jahr 2000 durch Suizide (Zunahme um 60% in 45 Jahren).“ Die WHO bezieht sich vor allem auf Nachweise über den Zusammenhang von psychischen Störungen und extremer Armut. In dem Gutachten der Expertenkommission zur Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen wird kritisch eingeschätzt, dass das deutsche Gesundheitswesen zur Zeit auf die neuen Herausforderungen nur ungenügend vorbereitet ist: auch in der Bundesrepublik Deutschland ist dringend eine sozialkompensatorische Prävention zu entwickeln und umzusetzen. Es gibt in unserem Alltag noch viele Beispiele, dass dieses Thema durch Stigmatisierung und Tabuisierung sowie fehlende Akzeptanz belastet ist. Das trifft auch für die „altersbedingte Ungleichbehandlung“ im Gesundheitswesen zu, davon sind vor allem arme, ältere Personen betroffen: „Wir haben keine Lobby“, „Psychisch Kranke stoßen immer noch auf Vorurteile“, „Geisteskranke behandeln, nicht ausschließen“, „Mehr Hilfe für pflegende Angehörige psychisch Kranker“, „Psychische Krankheiten aus der Tabuzone!“, so lauten die Aussagen aus zahlreichen Befragungen. Fazit: Altersarmut ist sowohl eine relevante Ursache als auch Folge für Risiken bei der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der psychischen Gesundheit. Der einzelne Betroffene sowie dessen Angehörige bedürfen einer wirksamen, nachhaltigen gesellschaftlichen Unterstützung. 3. Warum brauchen wir neue Strategien und Konzepte zur Stabilisierung der psychischen Gesundheit im Alter? Gibt es geeignete Modelle? Aus der Kenntnis der demografischen und epidemiologischen Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland kann auf eine Zunahme des Bedarfs von Strategien, Konzepten und Modellen zur Erhaltung und Wiederherstellung der psychischen Gesundheit geschlossen werden. Unter dem Einfluss des Salutogenese-Ansatzes entwickeln sich in vielen Bereichen des Gesundheitswesens neue Denkrichtungen und Handlungsmöglichkeiten: Effektive Gesundheitsförderung setzt Selbstbestimmung, Emanzipation und Persönlichkeitsentfaltung voraus. Die psychische Gesundheit erhält einen neuen Stellenwert. Die Generation der jungen Alten hat ein anderes Anspruchsniveau an die Lebensphasen des Alterns. Sie entwickeln andere Lebensstile, sie beginnen gesundheitsfördernde Verhaltensweisen bewusster anzunehmen. Nach vorliegenden Untersuchungen werden die individuelle Lebensweise und die Einflüsse der sozialen Umwelt immer bedeutsamer. Gesundheitsbezogenes Verhalten des Individuums unter dem Einfluss gesundheitsschützender Lebensverhältnisse ist als lebensgeschichtliche Genese interpretierbar. Das gilt analog auch für die Entstehung und Wirkung von Defiziten, z.B. sind die Altersarmut und deren Risiken bei der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der psychischen Gesundheit nur lebenslaufbezogen zu verstehen. Die Zunahme der Anzahl der Betroffenen mit psychischen Störungen und psychischen / psychiatrischen Erkrankungen stellt neue Anforderungen an alle Bereiche unserer Gesellschaft. Neue Strategien, Konzepte und Modelle werden im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen dringend benötigt. Am Beispiel der Zunahme der Demenz – zur Zeit gibt es ca. 1,5 Millionen demenzkranke Menschen in Deutschland – wird schon gegenwärtig und noch mehr in den nächsten Jahrzehnten die Komplexität erforderlicher Maßnahmen deutlich. Nach Einschätzung des Deutschen Pflegerates drohe nicht der Pflegenotstand, Altersarmut und Gesundheit 169 sondern „wir haben ihn“. So fehlen notwendige Kenntnisse des Einflusses von Altersarmut auf die Entstehung und den Verlauf der verschiedenen Formen von Demenz. Die eigentliche Bedürfnislage dieser älteren Menschen und deren Angehörigen ist weitgehend nicht ausreichend bekannt. Bemerkenswert sind darum auch solche Aktivitäten wie die Berliner Initiative für psychisch und psychiatrisch Kranke, um deren ambulante Versorgung zu verbessern. Neue Strategien, Konzepte und Modelle werden ebenfalls für die gesundheitsfördernde Unterstützung von Angehörigen der Betroffenen gebraucht. Die psychische Stabilisierung dieser Frauen, Töchter, Mütter und männlichen Partner ist eine vorrangige Aufgabe, da das Engagement dieser Helfer oft bis an die Belastungsgrenze reicht. Die Bedingungen für familiäre Pflege verändern sich in den folgenden Generationen (mehr Einzelkinder: keine Geschwister; Veränderung familiärer Strukturen, Mobilität der Kinder...). Neue Strategien müssen von dem Ziel ausgehen, ein selbstbestimmtes Leben so lange wie möglich zu erhalten. Das erfordert einerseits, objektive Rahmenbedingungen zu schaffen und andererseits, für diesen Lebensstil Alternde subjektiv zu befähigen. Künftige Konzepte sollten auf der Grundlage einer hohen Eigenaktivität basieren: psychische Funktionen durch mentales und psychomotorisches Training erhalten und für protektive Lebensstile motivieren. Die Motivation für gesundheitsgerechte Verhaltensänderung hängt wesentlich davon ab, dass das Individuum überzeugt ist, erfolgreich handeln zu können. Insbesondere Defizite in der Kompetenzerwartung, Selbstwirksamkeit, Selbstsicherheit sowie erlebte mangelnde soziale Unterstützung erschweren bzw. verhindern eine gesundheitsförderliche Verhaltensänderung. - Eine ganz andere, aber sehr aktuelle Aufgabenstellung ergibt sich im Pflegebereich für psychisch Kranke: Es ist dringend erforderlich, passgerechte (lebenslaufbezogene) Betreuungskonzepte in der Pflege zu entwickeln, zu erproben und umzusetzen, das heißt unter anderem als Voraussetzung auch Trennung von dementen und nichtdementen Patienten in Heimen und Kliniken. Die Entwicklung, Erprobung und Umsetzung neuer Modelle zur Erhaltung selbständiger, individueller Lebensführung unterstützen die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der psychischen Gesundheit älterer Menschen. Dazu gehören verschiedenartige Formen des betreuten Wohnens, die Bildung von Wohngruppen in Pflegeheimen sowie die Eröffnung eines Tanzcafes für Alzheimer Patienten und deren Angehörige. In diesem Zusammenhang gibt es berechtigte Kritik an hohen Mieten in privat finanzierten Häusern für Betreutes Wohnen. Ältere Menschen aus der sozial benachteiligten Bevölkerung werden so ausgegrenzt. Bei allen Strategien, Konzepten und Modellen für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der psychischen Gesundheit sind in der Gruppe der älteren und sehr alten Menschen mit sozialer Benachteiligung bzw. durch Altersarmut differenzierte Erfahrungen erforderlich. Die jeweilige Betroffenheit wird sehr unterschiedlich erlebt, in der Regel ist jedoch eine höhere Sensibilität und Verletzbarkeit bei sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung vorhanden als oft vermutet wird. Ein typisches Beispiel ist der Verstoß gegen das Vier-Augen-Prinzip in Sozialämtern und anderen Behörden: „Eine vertrauliche Datenübermittlung lässt das derzeitige Raumangebot nicht zu“. Diese und andere Missstände erleben viele Hilfesuchende als mangelnden Respekt und psychische Belastung. 170 Armut und Gesundheit 4. Welche Schlussfolgerungen sind erforderlich? Es gibt einen aktuellen Handlungsbedarf mit höchster Dringlichkeit; es muss konsequent und nachdrücklich gehandelt werden. Altersarmut ist eine relevante Gefährdung der psychischen Gesundheit bereits gegenwärtig. Mit der Zunahme sozialer Polarisierung werden diese Auswirkungen noch brisanter werden. Benötigt wird eine mittelfristige Planung zur Umsetzung von Strategien und Konzepten sowie Modellen. Dabei ist von einer bewussten Integration des Gesundheits-, Sozialund Bildungssystems mit interdisziplinären, multiprofessionellen und sektorenübergreifenden Aufgabenstellungen auszugehen. Durch Vernetzung können nachweisbar potenzielle Ressourcen erschlossen werden. Psychische Barrieren, die den Zugang bzw. die Annahme von Hilfen für Menschen aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen erschweren oder verhindern, sind zu erkennen und zu vermindern. Vorhandene beachtliche Informationsdefizite erfordern eine qualifiziertere Beratung und Betreuung sowie bürgernahe Formen der Zuwendung wie niedrigschwellige Sprechstunden in den Kommunen sowie stärkere Einbeziehung der Betroffenen in das Versorgungssystem. Werden die Bürger in die Entscheidungsfindung einbezogen, ist deren Umsetzung wesentlich nachhaltiger. Psychische Gesundheit Betroffener ist bedroht, wenn z.B. deren Selbstbestimmung durch Entscheidungen in Verwaltungen, die diskriminieren und ausgrenzen, ignoriert wird. Besondere Unterstützung sollten jene Untersuchungen erhalten, die die Auswirkungen defizitärer Bedingungen in benachteiligten Wohngebieten erfassen (siehe Public-Health-Forschung), um z.B. Ressourcen für die Partizipation gesellschaftlicher Angebote zu erkennen und zu nutzen. In jüngster Zeit wird darauf aufmerksam gemacht, dass bei der Vermittlung von Bewerbern für soziale Berufe durch die Arbeitsämter verantwortungsbewusster die erforderliche berufliche Eignung beachtet werden muss. Die speziellen Anforderungen für eine Befähigung in einer solchen Tätigkeit in sozialen, zum Teil konfliktreichen Bereichen wird allzu oft unterschätzt (z.B. Fähigkeit zur Empathie in der Altenpflege). Eine weitere vorrangige Schlussfolgerung ist die Verbesserung der berufsbegleitenden Fortbildung aller Akteure im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen (Hausärzte, Fachärzte, Pflegepersonal, Berufsbetreuer ...), um die erhöhten Anforderungen in der sozialkompensatorischen Prävention zu erfüllen. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls auf die notwendige Unterstützung der interdisziplinären Forschung zu verweisen. Die Defizite sind erheblich. Konsequenzen ergeben sich insgesamt für die Sicherung der psychosozialen Versorgung der betroffenen Bevölkerungsgruppen (unter anderem Einrichtung von Kontakt- und Beratungsstellen sowie von Tagesstätten für psychisch Kranke, Umsetzung von personenzentrierten Hilfen, Unterstützung der Angehörigen- und Familienarbeit, spezifische Formen der Betreuung älterer Bürger aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen, Kostensenkung für Pharmaprodukte). Psychische Gesundheit sowie psychische Störungen sind als bedeutsame Komponenten einer Gesunden Stadt im Gesunde StädteNetzwerk zu verstehen. Die Erhaltung bzw. Verbesserung der Lebensqualität für alle Bevölkerungsgruppen sind ohne diese Voraussetzung nicht realisierbar. Die in diesem Jahr begonnene Durchführung von „Wochen der seelischen Gesundheit“, die die verschiedenen Formen der Zusammenarbeit in Verbünden, Netzwerken und Kooperationsprojekten innerhalb der Kommunen widerspiegelte, sollte weiter ausgebaut werden. Altersarmut und Gesundheit 171 Psychische Gesundheit erhalten und wiederherstellen ist nicht nur Thema eines Weltgesundheitstages. Zweifellos wurde mit der Orientierung der WHO ein relevanter Ansatz zur Förderung der psychischen Gesundheit in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Interessen gerückt. Die diesbezüglichen erhöhten Risiken unter den Lebensbedingungen der Altersarmut sind fast ausschließlich auf psychosoziale Belastungen zurückzuführen. Aus Längsschnittuntersuchungen ist bekannt, dass nicht selten Störungen der psychischen Gesundheit bereits bei Kindern in Armutsfamilien entstehen, die die sozial-emotionale Entwicklung prägen. Deshalb ist eine der wichtigsten Schlussfolgerungen, personale und soziale Ressourcen bewusst zu machen und effektiv zu nutzen, um die Bewältigung von Belastungen zu ermöglichen. Dazu gehören vor allem die Hilfe bei der Entwicklung und Stabilisierung psychischer Komponenten (Selbstsicherheit, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, positive und realistische Selbsteinschätzung und Lebensmut sowie solche Fähigkeiten wie zum selbstbestimmten Handeln, zur Durchsetzung, Anpassung und Kommunikation). Ausgeprägte soziale Kompetenzen und die Zugehörigkeit zu einem sozialen Netzwerk sowie die Kompensationsfähigkeit eigener Defizite in Konfliktsituationen und in Lebenskrisen sowie emotionale Stabilität und hohe psychophysische Belastbarkeit sind Merkmale einer psychisch gesunden Persönlichkeit. Hilfe zur Selbsthilfe gilt auch bei dieser anspruchsvollen Aufgabenstellung im sozialen Bereich, um älteren Menschen, die von Altersarmut betroffen sind, zu unterstützen, ihre psychische Gesundheit zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Sie beginnt mit der Fähigkeit, Zuhören zu können und sich auf die individuelle Lebenslage des Anderen einzustellen. Sie kostet in der Regel viel Zeit und Geduld, sie benötigt einen langen Atem und die Strategie der kleinen Schritte. Sie bedingt aber auch die notwendigen Räume für soziale Begegnungen - noch immer werden z.B. Begegnungsstätten in Wohngebieten aus finanziellen Gründen geschlossen! - sowie auch das soziale Klima in Wohngebieten, das psychische Gesundheit von Menschen fördert, in dem sie soziale Geborgenheit und psychisches Wohlbefinden erleben. Psychische Gesundheit zu erhalten bzw. wiederherzustellen ist somit eine sehr komplexe gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Literatur: Antonovsky, A. [1997]: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. dgvt, Tübingen. Dorsch [1998]: Psychologisches Wörterbuch. – 13. Aufl. Bern: Huber. Krech, D.; Crutchfiel, R. u. a. [1992]: Grundlagen der Psychologie. Weinheim: Beltz. Trommer, H. [2001]: Psychische Gesundheit erhalten und wiederherstellen. In: Info-Dienst von Gesundheit Berlin e. V., 2/01. Weltgesundheitstag 2001 „Psychische Gesundheit erhalten & wiederherstellen“. Dokumentationsmaterialien. Herausgegeben von der Bundesvereinigung für Gesundheit e. V. im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit. 172 Armut und Gesundheit Armut und soziale Ausgrenzung im Alter Petra Böhnke Spätestens seit der Veröffentlichung des ersten Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung 2001 wird die Debatte um soziale Ungleichheiten und die Reformbedürftigkeit des deutschen Sozialstaats wieder heftig geführt. Vorrangiges Ziel deutscher und europäischer Sozialpolitik ist die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung. Chancengleichheit und Lebensqualität werden nicht mehr nur im Hinblick auf die gerechte Verteilung materieller Ressourcen diskutiert; es geht darüber hinaus um soziale, politische und kulturelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ausgrenzungsprozesse werden dabei vor allem mit prekärer Arbeitsmarktanbindung in Verbindung gebracht. Langzeitarbeitslosigkeit und dauerhafte Armut gelten als Hauptmerkmale, die über „Drinnen“ und „Draußen“ entscheiden. Gesellschaftliche Teilhabe im Alter hingegen wird als eigenständige Thematik im öffentlichen Diskurs um soziale Ausgrenzung bislang vernachlässigt, obwohl die Forschung zu Lebenslagen im Alter breit gefächert ist und Ergebnisse zu Armut und gesellschaftlicher Partizipation bereitstellt (Kohli/Kühnemund 2000, Alber/Schölkopf 1999, Mayer/Wagner 1996, Mathwig/Mollenkopf 1996). Ein Grund dafür ist darin zu vermuten, dass Zahlen zur Einkommenssituation, zum Beispiel aus dem Armuts- und Reichtumsbericht, eine stetige Verbesserung der Wohlfahrtslagen alter Menschen im Zeitverlauf anzeigen. Im Vergleich zur Armut anderer Bevölkerungsgruppen hat Armut unter Älteren an Bedeutung verloren, so die generelle Einschätzung. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre gab es zwar einen leichten Anstieg der Armutsquote älterer Menschen von acht auf neun Prozent, die jedoch immer noch unter der gesamtdeutschen Armutsquote von etwa zehn Prozent blieb. Der leichte Anstieg relativer Einkommensarmut älterer Menschen hat ausschließlich in den alten Bundesländern stattgefunden. Erklärungen weisen auf die jungen Alten hin, die im Berichtszeitraum zwischen 1993 und 1998 in das Rentensystem eingetreten sind und bei denen brüchigere Erwerbsbiographien das Rentenanspruchsniveau drücken. Bei Männern und Frauen stellen wir den gleichen Trend fest. Auch im Alter sind Frauen jedoch stärker von Einkommensarmut betroffen als Männer (BMA 2001:53ff.). Dieser Beitrag widmet sich prekären Lebensbedingungen im Rentenalter. Es soll gefragt werden, was über Zugehörigkeit und Teilhabe entscheidet, wenn die Perspektive nicht mehr auf den Arbeitsmarktzugang verengt ist und sich ältere Menschen im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen in relativ gesicherten Wohlstandspositionen befinden. Welche Rolle kommt der Gesundheit im hohen Alter zu, wenn es um soziale Teilhabe geht? Ausgrenzungsprozesse im fortgeschrittenen Lebensalter werden insbesondere unter genderspezifischen Gesichtspunkten diskutiert. Die Ausgestaltung des Lebensstandards, gesundheitliche Aspekte, soziale Netzwerke und die subjektive Wahrnehmung der Lebensbedingungen im Hinblick auf Teilhabechancen stehen im Mittelpunkt der Analyse. Die empirischen Ergebnisse werden mit Umfragedaten des Wohlfahrtssurveys aus dem Jahr 1998 berechnet. Der Wohlfahrtssurvey ist eine bevölkerungsrepräsentative Umfrage, die sich nicht ausschließlich Armutsfragen widmet, sondern die Wohlfahrtsentwicklung und die Lebensqualität der Gesamtbevölkerung im Blick hat. Es ist daher von einer Altersarmut und Gesundheit 173 leichten Unterschätzung der Verbreitung von Benachteiligung auszugehen, weil die stark betroffenen Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise Obdachlose von diesem Umfrageinstrument nicht erfasst werden können. Der Vorteil dieser Umfrage liegt hingegen darin, dass sie nicht nur Informationen zu objektiven Lebensbedingungen bereitstellt, sondern auch nach der subjektiven Wahrnehmung in der Bevölkerung, nach Wohlbefinden, Ängsten und Sorgen fragt. Interviewt wurden etwa 3000 Deutsche in Privathaushalten in der gesamten Bundesrepublik (Habich/Noll/Zapf 1999). Zur Debatte um soziale Ausgrenzung Es ist derzeit üblich, diverse Formen sozialer Benachteiligung pauschalisierend als soziale Ausgrenzung zu interpretieren. Obwohl der Begriff häufig benutzt wird, in politische Programme und sozialpolitische Rahmenrichtlinien Eingang gefunden hat, ist seine Verwendungsweise sehr unklar: er dient gewissermaßen als Metapher für verschiedene Formen von Benachteiligung, die von tatsächlichem Ausschluss bis hin zu relativer Benachteiligung reichen. Obwohl soziale Ausgrenzung in der öffentlichen Debatte als Synonym für Armut gebräuchlich ist, geht das dahinterstehende Konzept doch weit darüber hinaus. Armut bezieht sich auf die materielle Seite lebensnotwendiger Ressourcen; ein niedriges Einkommen ist als Indikator für Armut weithin akzeptiert, wenn auch nie kritiklos geblieben. Seit einigen Jahren wird die Armutsmessung um Indikatoren zur gesamten Versorgungslage eines Haushaltes erweitert (ein detaillierter Überblick zu entsprechenden Debatten und Konzepten findet sich beispielsweise bei Barlösius/Ludwig-Mayerhofer 2001). Soziale Ausgrenzung, ursprünglich im französischen politischen Diskurs verhaftet, knüpft an diese Mehrdimensionalität von Benachteiligung an und bezieht sich in umfassender Weise auf Chancengleichheit im Hinblick auf soziale Rechte und soziale Teilhabe (Kronauer 1997, Leisering 2000). Merkmale sind die Destabilisierung von Lebenslagen, die gegenseitige Verstärkung von Benachteiligungen sowie die Auswirkungen prekärer Lebenslagen auf das Wohlbefinden und auf gesellschaftliche Partizipation. Es geht in dieser Debatte nicht mehr allein um fokussierte Problemgruppen wie etwa Einkommensarme oder Sozialhilfebezieher, sondern um einen grundlegenden Wandel der Sozialstruktur. Es geht um die Annahme, dass die bisher sicher geglaubte Mitte der Gesellschaft von Ausgrenzungstendenzen bedroht sei, dass immer mehr Personen durch periodisch auftretende Arbeitslosigkeit oder Phasen von Armut in ihrem Lebenslauf die Erfahrung genereller biographischer Verunsicherung machten. Befürchtet wird eine Entwicklung, die eine gespaltene Gesellschaft entstehen lässt, in der es nicht mehr nur um Ressourcenverteilung geht, sondern um Zugehörigkeit, um Drinnen und Draußen, um die Verwirklichung oder Verwehrung sozialer Rechte. Für die Sozialberichterstattung stellt sich die Frage, welche Indikatoren geeignet sind, um Tendenzen sozialer Ausgrenzung empirisch dokumentieren zu können. Über die Auswahl besteht bislang keinerlei Konsens. Mit repräsentativen Bevölkerungsumfragen können wir einen kleinen Ausschnitt des facettenreichen Ausgrenzungskonzeptes erfassen: Im folgenden werden Indikatoren zu prekären materiellen Lebensbedingungen, zur Kumulation von Benachteiligung sowie zur sozialen Teilhabe im Alter zusammengestellt. 174 Armut und Gesundheit Informationen über die Bewertung der Lebensbedingungen und Teilhabechancen aus der Sicht der Befragten geben darüber hinaus eine Einschätzungshilfe im Hinblick auf Marginalisierungstendenzen und Risiken sozialer Ausgrenzung im höheren Lebensalter. Prekäre Lebensbedingungen und soziale Teilhabe im Alter: Empirische Ergebnisse Tabelle 1 gibt Auskunft über die materielle Versorgung im Alter. Die Zahlen bestätigen den oben genannten Befund: Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung hat die Gruppe der über 65jährigen keine wesentlich schlechtere Wohlstandsposition. Untersucht man jedoch Alleinlebende und Mehrpersonenhaushalte getrennt, verschiebt sich das Bild etwas: Überdurchschnittlich gut versorgt sind vor allem die Mehrpersonenhaushalte, Alleinlebende hingegen (das sind nahezu ausschließlich Frauen) sind relativ schlechter gestellt mit einem Versorgungsniveau, das etwas unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt liegt. Dies ist insbesondere bei den Armutsquoten der Fall. Für den Lebensstandard, der sich auf die Ausstattung mit Konsumgütern wie etwa einem Fernseher oder einem Telefon bezieht, trifft dies nicht zu. Die Auswertungen zu Kumulationen von materiellen Benachteiligungen bestätigen den bereits gewonnenen Eindruck: Es sind vor allem alleinlebende Hochbetagte, die mehrfach materiell unterversorgt sind. Tabelle 1: Armut und Wohlstand im Alter (Spaltenprozente) Gesamt 65 Jahre + Gesamt Einkommensarmut Unzureichender Lebensstandard Schlechte Wohnungsausstattung Kumulation: mehrfache Armut In keinem Bereich benachteiligt In einem Bereich benachteiligt In zwei Bereichen benachteiligt In drei Bereichen benachteiligt MehrpersonenHaushalt 65-74 Jahre MehrpersonenHaushalt 75 Jahre + Alleinlebend Alleinlebend 65-74 Jahre 75 Jahre + 10 9 5 5 15 24 10 6 5 2 8 8 7 9 6 7 7 17 78 77 84 82 75 62 15 18 14 18 19 26 5 4 2 0 6 11 1 1 0 0 0 2 Altersarmut und Gesundheit 175 (Quelle: Wohlfahrtssurvey 1998; Anmerkungen: Befragt wurden 582 Personen im Alter von 65 Jahren und älter; Einkommensarmut: weniger als fünfzig Prozent des durchschnittlichen bedarfsgewichteten Äquivalenz-Haushaltsnettoeinkommens; Unzureichender Lebensstandard: unterstes Dezil des Proportionalen Deprivationsindex; Schlechte Wohnungsausstattung: kein Bad/Toilette/Dusche in der Wohnung, keine Küche oder keine Zentral-/Etagenheizung.) Wenn es um soziale Teilhabe geht, spielen Alterseffekte und gesundheitliches Wohlbefinden eine große Rolle. Tabelle 2 präsentiert eine Zusammenstellung von Indikatoren, die verschiedene Aspekte sozialer Teilhabe abdecken: Soziale Beziehungen, Gesundheit, allgemeines Wohlbefinden und schließlich eine Selbsteinschätzung bezüglich der Teilhabechancen aus der Sicht der befragten Personen. Ältere Menschen sind erwartungsgemäß in höherem Maße von gesundheitlichen Problemen betroffen als die Bevölkerung im Durchschnitt, sie haben weniger soziale Kontakte und sind in ihrem subjektiven Wohlbefinden, je älter sie werden, um so eingeschränkter. Aber auch hier kann man eine Gruppe hervorheben, die besonders belastet ist. Die Teilhabechancen hochbetagter Frauen sind mit Abstand am stärksten eingeschränkt, insbesondere was deren Kontaktmöglichkeiten angeht. Auch Männer sind im Alter zwar etwas stärker in ihren Teilhabechancen beschnitten, doch vorrangig in Form von gesundheitlichen Problemen. Niedergeschlagenheit, Ängste und Sorgen äußern sie hingegen viel seltener als gleichaltrige Frauen. Als zusammenfassenden Indikator für die soziale Teilhabe kann man die Zufriedenheit mit den Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, interpretieren: Abermals sind es die hochbetagten Frauen, die hier besonders betroffen sind. Von ihnen fühlt sich jede vierte nicht mehr voll und ganz zugehörig. 176 Armut und Gesundheit Tabelle 2: Soziale Teilhabe und Wohlbefinden im Alter (Spaltenprozente) Gesamt Soziale Beziehungen Keine engen Freunde außerhalb der Familie Keine Kontaktmöglichkeiten, um Freunde zu finden Keine Vereinsmitgliedschaft Gesundheit Zittern und Schütteln Dauerhaft behindert oder pflegebedürftig Durch Krankheit zur Lebensumstellung gezwungen Unzufrieden mit Gesundheit Wohlbefinden Unglücklich und niedergeschlagen Kompliziertes Leben, finde mich nicht mehr zurecht Immer wieder Ängste und Sorgen Unzufrieden mit dem Leben allgemein Eingeschränkte soziale Teilhabe Unzufrieden mit Möglichkeiten, am gesell. Leben teilzunehmen (Quelle: Wohlfahrtssurvey 1998) Männer Frauen 65 bis 75 > 75 65 bis 75 > 75 14 23 24 25 38 2 3 2 3 15 46 40 59 54 65 5 5 8 5 11 17 10 7 16 17 11 13 23 17 16 11 17 14 16 32 12 7 15 17 26 3 3 2 5 7 21 16 16 27 43 5 2 0 4 7 7 4 3 8 24 Als besonders prekäre Lebenslage wird in der Debatte um soziale Ausgrenzung vor allem das Zusammentreffen von materieller Unterversorgung mit Partizipationsdefiziten diskutiert. Welche Rolle spielt die Einkommensverteilung im Alter, wenn es um Teilhabemöglichkeiten geht? Tabelle 3 zeigt folgende empirische Ergebnisse: Wer im Alter arm ist oder sich in einer prekären Versorgungssituation befindet, ist vergleichsweise häufig in seinen Möglichkeiten eingeschränkt, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Etwa jede fünfte einkommensarme Person über 65 Jahren ist äußerst unzufrieden mit ihren Teilhabechancen; je höher das Einkommen, desto besser sind die Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Für gesundheitliche Einschränkungen trifft das nur bedingt zu, die entsprechenden Prozentwerte sind nicht so eindeutig an die Einkommenshöhe gebunden und im statistischen Sinne nicht signifi- Altersarmut und Gesundheit 177 kant. Beim subjektiven Wohlbefinden und den sozialen Beziehungen hingegen sehen wir einen relativ deutlichen Zusammenhang: je niedriger das Einkommen, desto schlechter die Kontaktmöglichkeiten. Tabelle 3: Einkommensverteilung und soziale Teilhabe im Alter (Spaltenprozente) < 50% 50-75% 75-100% > 100% ... des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens Keine engen Freunde außerhalb der Familie Keine Kontaktmöglichkeiten, um Freunde zu finden Dauerhaft behindert oder pflegebedürftig Durch Krankheit zur Lebensumstellung gezwungen Immer wieder Ängste und Sorgen Unglücklich und niedergeschlagen Eingeschränkte soziale Teilhabe Unzufrieden mit Möglichkeiten, am gesell. Leben teilzunehmen (Quelle: Wohlfahrtssurvey 1998) 38 37 21 29 8 11 1 3 14 8 7 12 21 24 15 16 43 28 25 15 29 18 24 8 19 13 9 5 Welche Merkmale sozio-demographischer Art bergen ein erhöhtes Risiko, arm zu werden? Welche Personengruppen sind insbesondere von dem Gefühl belastet, nicht mehr voll und ganz am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können? Macht man entsprechende statistische Analysen für die Gesamtbevölkerung, so tragen vor allem Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Arbeitslose das Armutsrisiko. Für die Erklärung subjektiver sozialer Ausgrenzung spitzen sich die Risikofaktoren weiter zu. Es sind vor allem Langzeitarbeitslosigkeit und eine lang anhaltende schlechte materielle Versorgungslage, die die Teilhabemöglichkeiten beschneiden (Böhnke 2001). Wie stellen sich die Befunde für die ältere Bevölkerungsgruppe dar, die sich in einem Lebensabschnitt befindet, in dem weder Kindererziehung noch Erwerbsbeteiligung für den Alltag eine bedeutende Rolle spielt? Relative Einkommensarmut trifft überwiegend Personen, deren Rentenbezüge auf Grund einer niedrigen beruflichen Stellung im vergangenen Erwerbsleben entsprechend gering sind. Außerdem betrifft es diejenigen, die nie hauptberuflich erwerbstätig waren, das heißt vor allem Frauen, die sich der Familie und dem Haushalt gewidmet haben und nur geringe Rentenansprüche geltend machen können. Einkommensarmut im Alter lässt sich also nahezu ausschließlich auf die Anbindung an das Erwerbsleben zurückführen. Ausgrenzungserfahrungen, das zeigen weitergehende statistische Auswertungen mit den Wohlfahrtssurvey-Daten, sind auch an eine niedrige Einkommensposition und eine niedrige ehemalige berufliche Stellung geknüpft, werden aber von weiteren Merkmalen überlagert: Das Alter, das Geschlecht und vor allem der Gesundheitszustand stehen als 178 Armut und Gesundheit Erklärungen im Vordergrund. Vor allem hochbetagte Frauen, die zudem gesundheitlich stark eingeschränkt sind, beklagen ein Integrationsdefizit. Aus den vorangegangenen Erläuterungen wissen wir, dass diese Bevölkerungsgruppe auch in materieller Hinsicht relativ schlecht versorgt ist. Wenn wir subjektive Ausgrenzungserfahrungen für ältere Menschen erklären wollen, haben wir es dem zu Folge mit einer Vielzahl von Aspekten zu tun: Auswirkungen materieller Benachteiligungen auf die soziale Teilhabe werden insbesondere durch gesundheitliche Probleme verstärkt. Sozialpolitik zur Verhinderung sozialer Ausgrenzung im Alter müsste sich auf eine hinreichende Versorgung von Frauen, die nicht erwerbstätig waren bzw. zu geringes Einkommen hatten, konzentrieren. Derlei Forderungen sind nicht neu (Bäcker 1995). Herauszustellen ist allerdings immer wieder, dass diese Gruppe der Rentnerinnen bei Betrachtung des allgemein relativ guten Wohlfahrtsniveaus der älteren Generation in den Hintergrund gedrängt, wenn nicht vergessen wird. Darüber hinaus muss überlegt werden, welche Mittel geeignet sind, um auch bei gesundheitlichen Problemen, bei allein lebenden Personen und bei mit zunehmendem Alter einhergehenden Beeinträchtigungen des Wohlbefindens die Chancen sozialer Teilhabe aufrechtzuerhalten. Hier geht es in erster Linie um die Bereitstellung einer erreichbaren Infrastruktur vor Ort und ein entsprechendes Informationsangebot, aber auch um institutionelle Netzwerke, die zur Verfügung stehen müssen, um Aktivität und Unterstützung im Alter zu fördern und zu fordern. Literatur: Alber, Jens; Schölkopf, Martin [1999]: Seniorenpolitik. Die soziale Lage älterer Menschen in Deutschland und Europa. G+B Verlag Fakultas. Bäcker, Gerhard [1995]: Altersarmut – Frauenarmut. Dimensionen eines sozialen Problems und sozialpolitische Reformoptionen. In: Hanesch, Walter (Hrsg.): Sozialpolitische Strategien gegen Armut. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 375-403. Barlösius, Eva; Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang [2001]: Die Armut der Gesellschaft. In: dies. (Hrsg.): Die Armut der Gesellschaft. Opladen, S.11-67. BMA (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung) [2001]: Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Daten und Fakten. Materialienband. Böhnke, Petra [2001]: Nothing Left to Lose? Poverty and Social Exclusion in Comparison. Empirical Evidence on Germany. Discussion paper FS III 01-402, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Habich, Roland; Noll, Heinz-Herbert; Zapf, Wolfgang [1999]: Subjektives Wohlbefinden in Ostdeutschland nähert sich westdeutschem Niveau. Ergebnisse des Wohlfahrtssurveys 1998. In: Informationsdienst Soziale Indikatoren, 22, Juli 1999, S. 1-6. Kohli, Martin; Kühnemund, Harald (Hrsg.) [2000]: Die zweite Lebenshälfte. Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey. Opladen: Leske+Budrich. Kronauer, Martin [1997]: „Soziale Ausgrenzung“ und „Underclass“: Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung. In: Leviathan 25 (1), S. 28-49. Altersarmut und Gesundheit - - - 179 Leisering, Lutz [2000]: „Exklusion“ - Elemente einer soziologischen Rekonstruktion. In: Diewald, Martin u.a. (Hrsg.): Zwischen drinnen und draußen. Arbeitsmarktchancen und soziale Ausgrenzungen in Deutschland. Opladen, S. 11-22. Mathwig, Gasala; Mollenkopf, Heidrun [1996]: Ältere Menschen: Problem- und Wohlfahrtslagen. In: Zapf, Wolfgang; Habich, Roland (Hrsg.), Wohlfahrtsentwicklung im vereinten Deutschland, S. 121-140. Mayer, Karl Ulrich; Wagner, Michael [1996]: Lebenslagen und soziale Ungleichheit im hohen Alter. In: Mayer, Karl Ulrich; Baltes, Paul B. (Hrsg.): Die Berliner Altersstudie. Berlin: Akademie Verlag. Armut, Unterversorgung und Gesundheit im Alter Thomas Lampert Ältere Menschen befinden sich heute in einer vergleichsweise günstigen wirtschaftlichen Lage. Sowohl im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2001) als auch in dem gemeinsam von HansBöckler-Stiftung, Deutschem Gewerkschaftsbund und Paritätischem Wohlfahrtsverband vorgelegtem neuen Armutsbericht (Hanesch/Krause/Bäcker 2000) werden für die ältere Bevölkerung Armutsquoten berichtet, die unter denen in der Gesamtbevölkerung liegen. Betrachtet man die Armutsentwicklung in den letzten Jahrzehnten, dann lässt sich ein kontinuierlicher Rückgang der Altersarmut feststellen, während sich das Ausmaß der Armut in der Bevölkerung im mittleren Lebensalter seit Beginn der 1990er Jahre nicht weiter verringert hat und bei Kindern sogar ein Anstieg der Armutsquote zu beobachten ist. Im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion über Armut und soziale Ungleichheit steht dann auch heute nicht mehr die Armut älterer Menschen, sondern das Armutsrisiko kinderreicher Familien und allein erziehender Mütter. Warum ist es dennoch geboten, sich mit der Armut im Alter zu befassen? Ein Grund hierfür ist, dass auch niedrige Armutsquoten einen politischen Handlungsbedarf anzeigen. Armut und Unterversorgung stehen in Widerspruch zum Selbstverständnis eines modernen Sozialstaates, der eine gerechte Verteilung der Ressourcen und für jeden Einzelnen die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben vorsieht. Außerdem gehören die heutigen Alten Geburtskohorten an, die trotz der Erfahrung von zwei Weltkriegen und der dazwischen liegenden Weltwirtschaftskrise wirtschaftlich relativ gut abgesichert und versorgt sind. Die ihnen nachfolgenden Generationen werden zwar im Durchschnitt über höhere Einkommen und Vermögen verfügen können, gleichzeitig wird aber aller Voraussicht nach der Anteil derer zunehmen, die auf Grund einer unzureichenden Altersvorsorge nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben in eine prekäre Wohlstands- oder Armutslage geraten. Neben dem Abbau sozialstaatlicher Leistungen wird diese Entwicklung durch die Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsbiographien unterstützt. Von Bedeutung ist ferner, dass als Folge der verbesserten allgemeinen Le- 180 Armut und Gesundheit bensbedingungen auch die Lebenserwartung in den sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen ansteigt. Darüber hinaus sollte die Armut älterer Menschen thematisiert werden, weil sie einem optimalen bzw. erfolgreichen Alternsverlauf (Gerok/Brandtstätter 1994) entgegen steht. Das Altern geht mit zahlreichen Verlusten und Einbußen einher, die unter anderem die körperliche und geistige Gesundheit, die soziale Integration, die gesellschaftliche Beteiligung, die Lebensform und Lebensweise und nicht zuletzt die wirtschaftliche Lage betreffen. Wie mit diesen Verlusten und Einbußen umgegangen wird, inwieweit sie bewältigt oder durch stärkere Konzentration auf andere Bereiche kompensiert werden können, hängt entscheidend von den vorhandenen personalen, sozialen und materiellen Ressourcen ab. Armut und Unterversorgung bedeuten so gesehen einen Mangel an Ressourcen, um den mit dem Alter einhergehenden Herausforderungen gerecht zu werden und den Alternsverlauf positiv zu beeinflussen. Dies wiegt umso schwerer, weil die Handlungs- und Teilhabechancen älterer Menschen in den meisten gesellschaftlichen Bereichen nach wie vor vergleichsweise gering sind. Durch die gesetzlichen Ruhestandsregelungen bleibt den Älteren der Zugang zum Arbeitsmarkt weitgehend versperrt und auch in Bereichen wie Bildung, Kultur und Freizeit sind sie im Vergleich zu jüngeren Menschen deutlich schlechter gestellt. Die Benachteiligung älterer Menschen in zentralen gesellschaftlichen Bereichen verschärft sich noch einmal erheblich, wenn gesundheitliche Einbußen eine Teilhabe erschweren. Die geringe gesellschaftliche Teilhabe von älteren Menschen, die in Alten-, Pflege- und Krankenheimen leben, macht dies überdeutlich. Vor diesem Hintergrund befasst sich der vorliegende Beitrag mit drei Fragen. Die erste Frage lautet: Wie stark sind Armut und Unterversorgung in der älteren Bevölkerung ausgeprägt? Dabei geht es nicht nur um die Identifizierung der Gruppen unterhalb von definierten Armuts- und Unterversorgungsschwellen, sondern um die Verteilung von Ressourcen in verschiedenen Versorgungsbereichen über die gesamte soziale Stufenleiter. Dies erscheint schon deshalb sinnvoll und erforderlich, weil das Interesse heute zuvorderst der relativen Armut gilt und diese nur eingeschätzt werden kann, wenn das gesamte Spektrum der Ungleichverteilung betrachtet wird. Die zweite Frage eröffnet eine Perspektive auf den gesamten Lebensverlauf, indem sie eine Beziehung zwischen der Lebenslage im Alter und der früheren Stellung in der Arbeitswelt herstellt. Gefragt wird, inwieweit die berufliche Qualifikation und der berufliche Status auch noch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben die Lebensbedingungen und Lebenschancen der Menschen bestimmen. Die dritte Frage schließlich thematisiert den Einfluss von Armut und Unterversorgung auf die Gesundheit im Alter. Wenn schon die Armut älterer Menschen ein von Politik und Wissenschaft vernachlässigtes Thema darstellt, dann gilt dies ganz besonders für die gesundheitlichen Auswirkungen der Armut im Alter. Die Berliner Altersstudie Die Untersuchung, deren Ergebnisse nachfolgend vorgestellt werden, basiert auf Daten der multidisziplinären Berliner Altersstudie (BASE). Die Berliner Altersstudie ist eines der größten gerontologischen Forschungsprojekte weltweit und zeichnet sich durch einen Fokus auf das sehr hohe Alter aus. Getragen wurde das Projekt in den vergangenen Jahren von bis zu vierzig wissenschaftlichen Mitarbeitern, die vier Forschungseinheiten angehören: Innere Medizin und Geriatrie, Psychiatrie, Psychologie sowie Sozio- Altersarmut und Gesundheit 181 logie und Sozialpolitik. Die hier verwendeten Daten der BASE-Hauptuntersuchung wurden zwischen Mai 1990 und Juni 1993 im Querschnitt erhoben. Die BASEHauptuntersuchung bestand aus einem Ersterhebungsprotokoll, mit dem allgemeine Informationen für alle Forschungseinheiten erfragt wurden, und einem dreizehn Sitzungen umfassenden Intensivprotokoll, wobei jede Forschungseinheit für drei bzw. vier Sitzungen hauptverantwortlich war. Seit einigen Jahren wird die Berliner Altersstudie als Längsschnittstudie weitergeführt. Inzwischen konnten vier weitere Erhebungswellen realisiert werden. An der multidisziplinären Ersterhebung haben 928 Personen teilgenommen. Für 516 von diesen konnte zusätzlich ein vollständiges Intensivprotokoll erhoben werden. Beide Stichproben sind für die 70jährige und ältere Wohnbevölkerung der Stadt Berlin (West) repräsentativ. Da bei der Stichprobenziehung nach Alter und Geschlecht geschichtet wurde, sind sehr alte Menschen und Männer in den Stichproben überrepräsentiert. Dementsprechend verteilen sich die Studienteilnehmer gleichmäßig auf sechs Altersgruppen (70 bis 74, 75 bis 79, 80 bis 84, 85 bis 89, 90 bis 94, 95 Jahre und älter), und zwar zu gleichen Anteilen von Frauen und Männern. Eine Schichtung der Stichproben wurde als sinnvoll erachtet, um auch für relativ kleine Gruppen der Altenbevölkerung, z.B. die sehr alten Männer, zuverlässige Aussagen treffen zu können. Für die hier vorgestellte Untersuchung wurden nur Informationen zu Personen herangezogen, die in Privathaushalten leben, da die wirtschaftliche Lage der Bewohner von Alteneinrichtungen nur schwer einzuschätzen und mit der Situation der übrigen Altenbevölkerung zu vergleichen ist. Damit konnten Informationen von 790 (Ersterhebungsprotokoll) bzw. 445 Studienteilnehmern (Intensivprotokoll) genutzt werden (zu Design und Stichproben der Berliner Altersstudie siehe auch Mayer/Baltes 1996). Ausmaß der Armut und Unterversorgung im Alter Ausgangspunkt der Untersuchung stellt die heute vorherrschende Definition von Armut als unterem Randbereich der Gesamtverteilung von Ressourcen und Lebenslagen dar (vgl. Hanesch u.a. 2000). Dieser Armutsbegriff bezieht sich nicht nur auf die Einkommensarmut, sondern auf die unzureichende Versorgung in verschiedenen Bereichen, wobei vor allem die Unterversorgung in mehreren Bereichen als Ausdruck einer benachteiligten Lebenssituation erachtet wird. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung richtet sich das Interesse insbesondere auf fünf Versorgungsbereiche, und zwar die Einkommenssituation, das Vermögen, den Wohnstandard, die gesellschaftliche Beteiligung und die soziale Versorgung. 182 Armut und Gesundheit Tabelle 1: Armut und Wohlstand nach Alter und Geschlecht (in Prozent)1 Männer 70-84 85+ Jahre Jahre Gesamt2 Frauen 70-84 85+ Jahre Jahre Strenge Armut 2,3 2,3 1,2 6,4 2,0 40%-Schwelle = 683 DM Armut 50%-Schwelle = 853 2,8 4,0 2,4 9,2 3,2 DM Prekärer Wohlstand 75%-Schwelle = 1282 19,2 16,7 19,0 24,1 19,8 DM Wohlstand 200%-Schwelle = 3414 6,8 9,2 3,0 0,7 3,6 DM 2.136 1.885 1.738 1.906 Mittleres Einkommen 2.043 Mean (Stdv.) in DM (1.335) (1.229) (738) (661) (955) 1 Ermittelt auf der Basis des Äquivalenzeinkommens (N = 660, ohne Heimbewohner). Die Schwellen beziehen sich auf das mittlere Äquivalenzeinkommen für die alten Bundesländer gemäß ALLBUS 1990. 2 Gewichtet auf die 70jährige und ältere Wohnbevölkerung der Stadt Berlin (West) zum Zeitpunkt der Stichprobenziehung. In Tabelle 1 sind verschiedene Armutsquoten dargestellt, die auf der Grundlage des Äquivalenzeinkommens, d.h. des nach Anzahl der Haushaltsmitglieder und deren eingeschätzten Bedarf gewichtete Haushaltsnettoeinkommen pro Kopf (vgl. Motel/Wagner 1993), ermittelt wurden. Als Bemessungsgrundlage wurde das arithmetische Mittel des Äquivalenzeinkommens für das Gebiet der alten Bundesländer herangezogen, das gemäß der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften 1990 (ALLBUS 1990) bei 1.707 DM lag (vgl. Wagner u.a. 1996). Als arm werden zumeist Personen bezeichnet, deren Einkommen unter 50 Prozent des im Bevölkerungsdurchschnitt verfügbaren Äquivalenzeinkommens liegt. Ergänzend werden hier die 40-Prozent-Schwelle zur Abgrenzung strenger Armut und die 75-Prozent-Schwelle zur Abgrenzung des prekären Wohlstandes angegeben (vgl. Hanesch u.a. 2000, Hübinger 1996). Neben den Armutsquoten geht aus der Tabelle außerdem das mittlere Einkommen sowie die Wohlhabendenquote hervor, die sich auf ein Einkommen von mehr als 200 Prozent des Durchschnittswertes bezieht. Gemessen an der 50-Prozent-Schwelle leben 3,2 Prozent der 70jährigen und älteren Westberliner in Armut, 2 Prozent sind von strenger Armut betroffen und 19,8 Prozent befinden sich in einer prekären Wohlstandslage. Betrachtet man die Armutsquoten nach Geschlecht und Altersgruppen getrennt, dann fällt auf, dass die 85jährigen und älteren Frauen sowohl im Vergleich zu den gleichaltrigen Männern als auch zu den 70- bis 84jährigen Frauen deutlich stärker von Armut betroffen sind. Dass die hochbetagten Frauen in Bezug auf die Einkommenssituation offenbar eine stark benachteiligte Gruppe Altersarmut und Gesundheit 183 darstellen, lässt sich auch an der Wohlhabendenquote und dem mittleren Einkommen ablesen. Das mittlere Einkommen lag in der Westberliner Altenbevölkerung immerhin um 200 DM über dem für die Gesamtbevölkerung ermittelten Vergleichswert. Selbst die 85jährigen und älteren Frauen konnten über ein Einkommen verfügen, das – wenn auch nur geringfügig – über dem deutschen Durchschnittswert lag. Insgesamt gesehen ist festzustellen, dass die Armutsquoten zu Beginn der 1990er Jahre in der älteren Westberliner Bevölkerung durchweg niedriger waren als in der deutschen Gesamtbevölkerung. In Tabelle 2 sind die Ergebnisse zu den übrigen Armuts- und Versorgungsdimensionen zusammengefasst. Das Vermögen bezieht sich auf Vermögenswerte, über die im Alter verfügt werden kann, z.B. Sparbuch, Lebensversicherung oder Wertpapiere. In Anlehnung an Stolarz (1992) wird als Mindestanforderung an eine moderne Wohnungsausstattung das Vorhandensein einer Sammelheizung und eines Bades oder einer Dusche vorausgesetzt. Von Substandard wird gesprochen, wenn diese Anforderung nicht erfüllt ist (vgl. Wagner u.a. 1996). Die gesellschaftliche Beteiligung wird über Aktivitäten gemessen, die regelmäßig außerhalb der eigenen Wohnung ausgeübt werden, z.B. Tanzen, Tagesausflug, Museums- oder Konzertbesuch. Mit Blick auf die soziale Versorgung interessierte, ob informelle oder professionelle Hilfe in Anspruch genommen wird, wenn 9 Schwierigkeiten bei einer selbständigen Alltagsgestaltung bestehen. Die Kumulation von Armuts- und Unterversorgungslagen wird über einen Index erfasst, der die Anzahl der Nachteile in den fünf betrachteten Bereichen angibt (Prekärer Wohlstand, kein Vermögen, Wohnen im Substandard, keine soziale Aktivität und keine Hilfestellung trotz Bedarf). 9 Von einem Hilfebedarf ist auszugehen, wenn eine oder mehrere der in BASE untersuchten Aktivitäten des alltäglichen Lebens (ADLs), z.B. Essen, Vom-Bett-Aufstehen oder Treppensteigen, nicht mehr ohne fremde Hilfe ausgeführt werden können (vgl. Gilberg 1999). 184 Armut und Gesundheit Tabelle 2: Unterversorgung in verschiedenen Bereichen nach Alter und Geschlecht (in Prozent) Gesamt1 Männer Frauen 70-84 85+ Jahre 70-84 85+ Jahre Jahre Jahre Vermögen 14,4 30,4 14,3 18,1 9,5 Vermögensarmut 1,30 0,84 1,30 1,28 1,52 Anz. Vermögenswerte, (0,81) (0,67) (0,80) (0,84) (0,87) Mean (Stdv.) Wohnstandard Wohnen im Substandard 9,5 11,5 3,4 8,9 5,8 Gesellschaftl. Beteiligung keine soziale Aktivität 7,1 23,6 5,9 25,8 8,6 Anz. Aktivitäten, 4,13 2,13 4,21 1,78 3,82 Mean (Stdv.) (2,43) (1,79) (2,32) (1,71) (2,39) Soziale Versorgung keine Hilfe trotz Bedarf 1,6 1,9 7,6 11,8 7,3 Kumulative Armut mindestens ein Defizit 30,2 49,5 36,1 61,3 38,2 0,40 0,68 0,45 0,94 0,50 Index (1-5)2, Mean (Stdv.) (0,71) (0,79) (0,67) (0,99) (0,75) 1 Gewichtet auf die 70jährige und ältere Wohnbevölkerung der Stadt Berlin (West) zum Zeitpunkt der Stichprobenziehung. 2 Anzahl der Defizite: Prekärer Wohlstand, Vermögensarmut, Wohnen im Substandard, keine soziale Aktivität, keine Hilfe trotz Bedarf. Fallzahlen: Vermögen (N = 442), Wohnstandard (N = 439), gesellschaftliche Beteiligung (N = 444), soziale Versorgung (N =4 45), Kumulationsindex (N = 443). Aus der Tabelle ist unter anderem zu ersehen, dass 14,4 Prozent der 70jährigen und älteren Menschen in Westberlin über keine Vermögenswerte verfügen, 5,8 Prozent sehr schlechten Wohnbedingungen ausgesetzt sind, 8,6 Prozent keine Aktivitäten außerhalb der eigenen Wohnung ausüben und 7,3 Prozent weder informelle noch professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, obwohl sie bei der Alltagsbewältigung Schwierigkeiten haben. 38,2 Prozent der Westberliner Alten weisen zumindest in einem der fünf betrachteten Bereiche erhebliche Defizite auf, im Durchschnitt sind sie in 0,5 Bereichen unterversorgt. Wiederum sind es die 85jährigen und älteren Frauen, die sich in der schlechtesten Position befinden. Im Vergleich zu den 70- bis 84jährigen Frauen sind sie in allen Bereichen benachteiligt. Besonders stark ausgeprägt ist diese Benachteiligung in Bezug auf die vorhandenen Vermögenswerte und die soziale Versorgung. Beinahe zwei Drittel der hochbetagten Frauen sind zumindest in einem der betrachteten Bereiche benachteiligt, im Durchschnitt weisen sie ungefähr eine Armuts- oder Unterversorgungslage auf. Im Vergleich zu den gleichaltrigen Männern zeigen sich deutliche Unterschiede hinsichtlich des Vermögens und der sozialen Versorgung. Während der Vermögensunterschied noch einmal die materielle Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern unterstreicht, ist Altersarmut und Gesundheit 185 der Unterschied in der sozialen Versorgung darauf zurückzuführen, dass Frauen im hohen Alter häufiger alleine leben und auf sich alleine gestellt sind. Dass sich in Bezug auf die gesellschaftliche Beteiligung sowohl bei Männern als auch bei Frauen ein starker Alterseffekt zeigt, deutet auf die große Bedeutung einer guten Gesundheit für die soziale Aktivität hin (vgl. Lampert/Wagner 1998). Schichtspezifität der Armut und Unterversorgung im Alter Um der Frage nach der Bedeutung der früheren Position in der Arbeitswelt für die Lebenslage im Alter nachzugehen, wird der Einfluss der beruflichen Stellung auf die fünf Versorgungsbereiche untersucht. Ausgehend von Informationen zur letzten beruflichen Stellung vor dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben werden fünf soziale Schichten unterschieden, von der Unterschicht, die von un- und angelernten Arbeitern gebildet wird, bis hin zur oberen Mittelschicht, der größere Selbständige, akademisch freie Berufe, Beamte im höheren Dienst sowie Angestellte mit umfassenden Führungsaufgaben angehören (vgl. hierzu Mayer/Wagner 1996). Tabelle 3: Schichtspezifität der Armut und Unterversorgung im Alter (in Prozent) Schichtzugehörigkeit Unterschicht Untere Mittelschicht Mittlere Mittelschicht Gehobene Mittelschicht Obere Mittelschicht Chi Quadrat-Test Prekärer Wohlstand Vermögensarmut Wohnen im Substandard Keine soz. Aktivität keine Hilfe trotz Bedarf Mindestens ein Defizit 32,1 11,1 20,5 10,8 15,7 2 χ =11,10; df=4; p<0,05 28,2 23,5 19,2 11,6 10,7 2 χ =10,13; df=4; p<0,05 9,7 15,1 9,4 3,6 5,4 2 χ =10,14; df=4; p<0,05 25,0 23,3 13,1 10,9 8,9 2 χ =11,10; df=4; p<0,05 6,3 9,3 4,6 5,0 1,8 2 χ =4,22; df=4; n.s. 62,5 57,0 44,6 32,4 32,1 2 χ =21,0 7; df=4; p<0,001 Fallzahlen: Schichtzugehörigkeit (N = 443), prekärer Wohlstand (N = 397), Vermögensarmut (N = 441), Wohnen im Substandard (N = 437), keine soziale Aktivität (N = 442), keine Hilfe trotz Bedarf (N = 443), mindestens ein Defizit (N = 443). Tabelle 3 zeigt eindrücklich, dass Armut und Unterversorgung im Alter schichtspezifisch geprägt sind, das heißt mit der früheren beruflichen Stellung in Zusammenhang stehen. Sehr stark ausgebildete Schichtunterschiede sind hinsichtlich prekärer Wohlstandslage, Vermögensarmut und gesellschaftlicher Beteiligung zu erkennen. Demnach befindet sich jeder dritte Angehörige der Unterschicht in einer prekären Einkommenssituation, aber nur rund 15 Prozent der Angehörigen der oberen Mittelschicht. In der Vermögensarmut und gesellschaftlichen Beteiligung kommt ein Schichtgradient zum Ausdruck, der sich über alle Schichten zeigt und dem zu Folge in der Unterschicht dreimal mehr Personen über keinerlei Vermögen verfügen und keine außerhäuslichen Aktivitäten ausüben als in der oberen Mittelschicht. Mit Blick auf den Wohnstandard zeigt sich zwar ein weniger eindeutiges Muster, aber auch dieses deutet auf eine Benachteiligung der unteren sozialen Schichten hin. Nur geringe schichtspezifische Unterschiede sind in der sozialen Versorgung festzustellen. Zumindest in der oberen Mittel- 186 Armut und Gesundheit schicht tritt aber das Problem ausbleibender Hilfe trotz eines vorhandenen Bedarfs deutlich seltener auf als in allen anderen Schichten. Dass Armut und Unterversorgung im Alter in den unteren Schichten verstärkt auftritt, lässt sich auch anhand des Kumulationsindex belegen: Je niedriger die Sozialschicht ist, umso höher ist der Anteil der Personen, die mindestens in einem der betrachteten Bereiche benachteiligt sind und umso höher ist die durchschnittliche Anzahl der Nachteile (1,16 Nachteile in der Unterschicht gegenüber 0,40 Nachteile in der oberen Mittelschicht, t=4,42, df=93, p<0,001).10 Auswirkungen von Armut und Unterversorgung auf die Gesundheit im Alter In Deutschland fehlt es bis heute an empirischen Studien, die sich mit den gesundheitlichen Auswirkungen von Armut und Unterversorgung bei älteren Menschen befassen, da die sozialepidemiologische Ungleichheitsforschung einseitig auf die Bevölkerung im Erwerbsalter ausgerichtet ist und Gerontologen die Armut älterer Menschen nur selten unter dem Gesichtspunkt der möglichen gesundheitlichen Auswirkungen thematisieren. Die wenigen vorliegenden Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Beziehung zwischen Armut und Gesundheit bei älteren Menschen schwächer ausgeprägt sein könnte als in jüngeren Bevölkerungsgruppen (Mayer/Wagner 1996, Lampert 2000). Dies wird auch für die Vereinigten Staaten, Schweden und Großbritannien berichtet, wenn gleich in diesen Ländern gelegentlich ein bis ins hohe Alter andauernder Einfluss der Armut auf die Gesundheit beobachtet wurde (zum internationalen Forschungsstand vgl. Robert/House 1996, Thorslund/Lundberg 1994). Im Folgenden werden die Auswirkungen von Armut und Unterversorgung auf vier zentrale Aspekte der Gesundheit im Alter untersucht, nämlich die subjektive Gesundheit, die Multimorbidität, das Demenzrisiko und die ADL-Kompetenz. Mit subjektiver Gesundheit ist die selbsteingeschätzte allgemeine körperliche Gesundheit gemeint, die in der Berliner Altersstudie anhand einer fünfstufigen Schulnotenskala von sehr gut (1) bis mangelhaft (5) gemessen wurde. Die Multimorbidität bezieht sich auf die Anzahl der klinisch signifikanten Diagnosen, die von den Projektärzten der Berliner Altersstudie gestellt wurden. Das Demenzrisiko wird anhand des Short Mini Mental State Cutt-Off Testergebnisses eingeschätzt, wobei die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer dementiellen Erkrankung mit einem niedrigen Testwert ansteigt. Die ADL-Kompetenz wurde in der Berliner Altersstudie im Hinblick auf zehn Aktivitäten des alltäglichen Lebens untersucht. Der Grad der Selbständigkeit bei diesen Aktivitäten wurde anhand eines Punktesystems bewertet. Verwendet wird hier der Punktsummenscore über sämtlicher Aktivitäten, der bis zu 100 Punkte betragen kann (zur Messung der Gesundheit in der Berliner Altersstudie siehe Steinhagen-Thiessen/Borchelt 1996). 10 Die beschriebenen Schichtunterschiede wurden in einem weiteren Analyseschritt mittels logistischer Regressionen multivariat analysiert, unter anderem um den Einfluss möglicher Drittvariablen statistisch kontrollieren zu können. Die Ergebnisse der Regressionsanalysen unterstützen weitgehend die dargestellten deskriptiven Befunde. Beispielsweise konnte für die Angehörigen der Unterschicht im Vergleich zu den Angehörigen der oberen Mittelschicht auch bei Kontrolle des Altersund Geschlechtseinflusses eine mehr als doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit ermittelt werden, im höheren Lebensalter in eine prekäre Wohlstandslage zu geraten (odds ratio=2,5, p<0,05). Altersarmut und Gesundheit 187 Tabelle 4: Auswirkungen von Armut und Unterversorgung auf die Gesundheit im Alter. Ergebnisse allgemeiner linearer Regressionen (β-Werte). Subjektive Gesundheit Modell Mo1 dell 2 Schichtzugehörigkeit1 Unterschicht Untere Mittelschicht Mittlere Mittelschicht Gehobene Mittelschicht Einkommen Äquivalenzeinkommen Vermögen Anz. Vermögenswerte Wohnstandard Wohnen im Substandard Kumulative Armut Index (1-4)2 Multimorbidität Demenzrisiko Modell 1 Modell 2 Modell 1 Modell 2 ADLKompetenz Modell Mo1 dell 2 -0,01 -0,13* -0,01 -0,14* 0,01 0,03 0,01 0,03 -0,10 -0,11 -0,12* -0,10 -0,03 -0,10 -0,05 -0,11 -0,03 -0,02 -0,05 -0,08 -0,17* -0,14* -0,09 -0,05 0,03 0,04 -0,04 -0,05 -0,02 -0,03 -0,09 -0,10 0,09 0,07 -0,10 -0,08 0,10* 0,10* 0,08 0,06 0,16** 0,13* -0,14* -0,08 0,21*** 0,15** 0,16* 0,06 0,01 0,00 0,03 0,03 -0,05 -0,04 0,02 0,03 -0,03 -0,01 0,09* 0,06 0,20*** 0,17*** -0,03 0,02 Signifikanzniveau: * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001. 1 Referenzkategorie: obere Mittelschicht. 2 Anzahl der Defizite: Unterschicht, prekärer Wohlstand, Vermögensarmut, Wohnen im Substandard. Fallzahlen: Schichtzugehörigkeit (N=443), Einkommen (N=397), Vermögen (N=441), Wohnstandard (N=437), kumulative Armut (N=442), subjektive Gesundheit (N=445), Multimorbidität (N=445), Demenzrisiko (N=433), ADL-Kompetenz (N=445). In Tabelle 4 sind die Ergebnisse linearer Regressionen dargestellt, mit denen der Einfluss einer oder mehrerer Prädiktoren auf eine Kriteriumsvariable geschätzt werden kann. Die β-Werte in Modell 1 bringen die Effektstärke der einzelnen Prädiktoren in einem bivariaten Modell zum Ausdruck. In Modell 2 wurden die Effekte der Prädiktoren unter Kontrolle des Einflusses des Alters und Geschlechts untersucht. Dargestellt sind die Effekte für die Schichtzugehörigkeit als Indikator für die frühere berufliche Stellung 188 Armut und Gesundheit sowie für das Einkommen, das Vermögen und den Wohnstandard, die sich auf die gegenwärtigen Lebenslage älterer Menschen beziehen. Die Variablen der gesellschaftlichen Beteiligung und sozialen Versorgung wurden in diesen Analysen nicht berücksichtigt, weil zwar starke Zusammenhänge mit den betrachteten Gesundheitsaspekten erwartet werden konnten, diese aber vermutlich weniger für deren Einfluss auf die Gesundheit sprechen, als vielmehr für die Bedeutung der Gesundheit für die gesellschaftliche Teilhabe bzw. soziale Versorgung (vgl. Lampert/Wagner 1998). Wie aus der Tabelle zu ersehen ist, sind die Effekte der betrachteten Prädiktoren auf die Gesundheit nur sehr schwach. Lediglich in Bezug auf die subjektive Gesundheit und das Demenzrisiko lassen sich Effekte beobachten, die auch bei Kontrolle des Alters- und Geschlechtseinflusses signifikant sind. Demnach schätzen die Angehörigen der unteren Mittelschicht ihre allgemeine körperliche Gesundheit schlechter ein als die Angehörigen der oberen Mittelschicht, die hier die Referenzgruppe darstellen. Außerdem beurteilen die Studienteilnehmer ihre eigene Gesundheit umso besser, je mehr Vermögenswerte ihnen zur Verfügung stehen. Stärkere Effekte lassen sich auf die Wahrscheinlichkeit einer dementiellen Erkrankung beobachten. Dieses ist in den unteren Schichten höher als in der oberen Mittelschicht. Außerdem scheint sich ein höheres Einkommen und Vermögen in einem geringeren Demenzrisiko niederzuschlagen und auch die Kumulation von Armuts- und Unterversorgungslagen erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Demenz. Mit Blick auf die anderen Aspekte der Gesundheit konnte die eingangs formulierte Erwartung, dass vor allem das Nebeneinander mehrerer Armuts- und Unterversorgungslagen eine besonders problematische Lebenssituation anzeigt, allerdings nicht bestätigt werden. Zusammenfassung und Diskussion In der vorliegenden Untersuchung wurden auf der Grundlage von Querschnittsdaten der Berliner Altersstudie drei Fragen untersucht. Die erste Frage bezog sich auf das Ausmaß der Armut und Unterversorgung in der älteren Bevölkerung. Die Ergebnisse zeigen, dass das mittlere Einkommen der 70jährigen und älteren Westberliner zu Beginn der 1990er Jahre über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung in den alten Bundesländern lag. Auch die Armutsquote war mit 3,2 Prozent (50-Prozent-Schwelle) vergleichsweise niedrig. Dies sollte aber nicht als Entwarnung interpretiert werden, weil auch dieser Wert als zu hoch angesehen werden muss, zumal älteren Menschen kaum Möglichkeiten gegeben sind, ihre Einkommenssituation zu verbessern. Die 85jährigen und älteren Frauen stellen eine besonders benachteiligte Gruppe dar. Dies zeigt sich nicht nur in einer deutlich erhöhten Armutsquote (9,2 Prozent gemäß der 50-Prozent-Schwelle), sondern drückt sich auch in einer größeren Vermögensarmut, schlechteren sozialen Versorgung und stärkeren Kumulation von Armuts- und Unterversorgungslagen aus. Angesichts dieser Befunde scheint es durchaus angemessen zu sein, von einer Feminisierung der Altersarmut zu sprechen (Tews 1993). Des weiteren konnte gezeigt werden, dass die frühere berufliche Stellung offenbar über das Erwerbsleben hinaus die Lebensbedingungen und Lebenschancen der Menschen beeinflusst. Bis auf die soziale Versorgung konnten in allen Bereichen ein deutlich ausgeprägter Schichtgradient beobachtet werden, dem zu Folge die Wahrscheinlichkeit von Armut und Unterversorgung mit abnehmender Sozialschicht ansteigt. Besonders deutlich zeigt sich dieser Gradient in der Vermögensarmut, der gesellschaftlichen Beteiligung und der Kumulation von Versorgungsdefiziten. Diese Ergebnisse lassen sich als Altersarmut und Gesundheit 189 Unterstützung der These der sozioökonomischen Differenzierung der Lebenslage im Alter (Mayer/Wagner 1996) bzw. der Kontinuität sozialer Ungleichheit (Kohli 1990) auffassen. Diese besagt in einer allgemeinen Formulierung, dass die Stellung in der Arbeitswelt weitgehend unabhängig von Alter und Gesundheit die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bestimmt und auf Grund dessen auch bei Menschen im höheren Lebensalter zur Erklärung der Lebensbedingungen und Lebenschancen beitragen kann. Letztlich vermochte die Untersuchung zu zeigen, dass die Auswirkungen der Armut und Unterversorgung auf die Gesundheit im Alter – mit Ausnahme des Demenzrisikos – nur gering sind. Dieser Befund steht in Widerspruch zu einer Vielzahl an Studien, die einen starken Einfluss der Armut auf die Gesundheit von Menschen im mittleren Erwachsenenalter belegen, lässt sich aber durchaus in Einklang bringen mit den wenigen Studien zu diesem Thema, die auch ältere Menschen mit berücksichtigt haben (vgl. Lampert 2001). Dies muss aber nicht unbedingt heißen, dass Armut und Unterversorgung keine Bedeutung für die Gesundheit älterer Menschen mehr haben. Es könnte durchaus sein, dass biologische Alternsprozesse den gesundheitsrelevanten Einfluss von Lebensbedingungen und Lebenschancen überlagern. Altersbedingte physiologische Veränderungen verlaufen zwar interindividuell sehr unterschiedlich und werden nicht zuletzt durch die Lebenslage beeinflusst, ab etwa dem 85. Lebensjahr ist aber in vielen Funktionsbereichen ein rascher Abbau der vorhandenen organischen Kapazitätsreserven zu beobachten, der vermutlich eher auf genetische Dispositionen als auf Aspekte der Lebenslage zurückgeführt werden kann. Außerdem ist zu bedenken, dass ältere Menschen und insbesondere die Hochbetagten eine selektive Gruppe relativ gesunder Überlebender darstellen. Da Armut und Unterversorgung mit einer höheren Frühsterblichkeit einhergehen, könnten diejenigen, die trotz einer benachteiligten Lebenslage ein hohes Alter erreichen, im Hinblick auf ihre Gesundheit und Widerstandsfähigkeit stärker positiv selektiert sein als die Angehörigen sozial besser gestellter Bevölkerungsgruppen, die zu einem größeren Anteil alt oder sehr alt werden. Literatur: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung [2001]: Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Daten und Fakten. Materialband. Gerok, W.; Brandtstätter, J. [1994]: Normales, krankhaftes und optimales Altern: Variationen und Modifikationsspielräume. In: Baltes, P.B.; Mittelstraß, J.; Staudinger, U. (Hrsg.), Alter und Altern: Ein interdisziplinärer Studientext zur Gerontologie. Berlin/New York: Walter de Gruyter. Gilberg, R. [1999]: Hilfe- und Pflegebedürftigkeit im höheren Alter. Eine Analyse des Bedarfs und der Inanspruchnahme von Hilfeleistungen. Berlin: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Studien und Berichte, Vol. 68). Hanesch, W.; Krause, P.; Bäcker, G. [2000]: Armut und Ungleichheit in Deutschland. Der neue Armutsbericht der Hans-Böckler-Stiftung, des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtverbandes. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. Hübinger, W. [1996]: Prekärer Wohlstand. Neue Befunde zu Armut und sozialer Ungleichheit. Freiburg. 190 Armut und Gesundheit - - - - Kohli, M. [1990]: Das Alter als Herausforderung für die Theorie sozialer Ungleichheit. In: Berger, P.; Hradil, S. (Hrsg.), Lebenslagen – Lebensläufe – Lebensstile (S. 387-408). Göttingen: Schwartz & Co. Lampert, T. [2000]: Sozioökonomische Ungleichheit und Gesundheit im höheren Lebensalter. Alters- und geschlechtsspezifische Differenzen. In: Backes, G. M.; Clemens, W. (Hrsg.), Lebenslagen im Alter. Gesellschaftliche Bedingungen und Grenzen (S. 159-185). Opladen: Leske + Budrich. Lampert, T. [2001]: Gesundheitliche Ungleichheit bei älteren Menschen. Public Health Forum, Vol. 33. Lampert, T.; Wagner, M. [1998]: Zur Bedeutung der Gesundheit für die soziale Integration und die subjektive Befindlichkeit im Alter. In: Backes, G. M.; Clemens, W. (Hrsg.), Altern und Gesellschaft. Gesellschaftliche Modernisierung durch Altersstrukturwandel (S. 187-215). Opladen: Leske + Budrich. Mayer, K. U.; Baltes, P. B. (Hrsg.) [1996]: Die Berliner Altersstudie. Berlin: Akademie Verlag. Mayer, K. U.; Wagner, M. [1996]: Lebenslagen und soziale Ungleichheit im hohen Alter. In: Mayer; K. U.; Baltes, P. B. (Hrsg.), Die Berliner Altersstudie (S. 251-275). Berlin: Akademie Verlag. Motel, A.; Wagner, M. [1993]: Armut im Alter? Ergebnisse der Berliner Altersstudie zur Einkommenslage alter und sehr alter Menschen. Zeitschrift für Soziologie, Vol. 22, S. 433-448. Robert, S.; House, J. S. [1996]: SES differentials in health by age and alternative indicators of SES. Journal of Aging and Health, Vol. 8, S. 359-388. Steinhagen-Thiessen, E.; Borchelt, M. [1996]: Morbidität, Medikation und Funktionalität im Alter. In: Mayer, K. U.; Baltes, P. B. (Hrsg.), Die Berliner Altersstudie (S. 151-184). Berlin: Akademie Verlag. Stolarz, H. [1992]: Wohnungsanpassung: Maßnahmen zur Erhaltung der Selbständigkeit alter Menschen. Grundlagen und praktische Hinweise zur Verbesserung der Wohnsituation (2. Auflage). Köln: Kuratorium Deutsche Altershilfe. Tews, H. P. [1993]: Neue und alte Aspekte eines Strukturwandels des Alter. In: Naegele, G.; Tews, H. P. (Hrsg.), Lebenslagen im Strukturwandel des Alters (S. 13-42). Opladen: Westdeutscher Verlag. Thorslund, M.; Lundberg, O. [1994]: Health and inequalities among the oldest old. Journal of Aging and Health, Vol 6, S. 51-69. Wagner, G.; Motel, A.; Spieß, K.; Wagner, M. [1996]: Wirtschaftliche Lage und wirtschaftliches Handeln alter Menschen. In: Mayer, K. U.; Baltes, P. B. (Hrsg.), Die Berliner Altersstudie (S. 277-299). Berlin: Akademie Verlag. Altersarmut und Gesundheit 191 Altenbetreuung – Qualitätsabbau in der Pflege Ute Herbst Das mir gestellte Thema werde ich in folgenden Schritten behandeln: 1. Erläuterung des Begriffes "Pflege" nach dem Selbstverständnis der professionell Pflegenden. 2. Der Pflegebegriff in der Sozialgesetzgebung • SGB V • SGB XI 3. Anspruch auf qualifizierte Pflege versus Finanzierung pflegerischer Leistung. • Beispiele, die die Diskrepanz zwischen Qualitätsanspruch und Wirklichkeit verdeutlichen. 4. Kritische Würdigung der jüngsten qualitätsverbessernden Gesetze. • PQSG (Pflegequalitätssicherungsgesetz) • Heimgesetz • PergG (Pflegeergänzungsgesetz) 5. Fazit • Realität der “Altenbetreuung”. • Perspektiven 1. Erläuterung des Begriffes "Pflege" nach dem Selbstverständnis der professionell Pflegenden Ich stelle bewusst eine Auseinandersetzung mit dem Begriff Pflege voran, um zu verdeutlichen dass Pflege einen grundsätzlich hohen Anspruch hat. Die Pflegeberufe verstehen Pflege als eine selbständige Aufgabe, die ihren ”Auftrag” vom Bedürfnis der jeweils Betroffenen abhängig macht. Sie legen der Beschreibung von Pflege einen ganzheitlichen Gesundheitsbegriff zugrunde, und sie verstehen unter pflegerischer Intervention Maßnahmen zur Wiederherstellung der Selbstpflegefähigkeit des Einzelnen und gegebenenfalls die Unterstützung bei bestimmten Maßnahmen. Zur Erfassung des pflegerischen Ausgangsstatus (Pflege-Diagnose) gehört daher die Ermittlung des Grades der Abhängigkeit oder Selbständigkeit eines Betroffenen, oder die Einschätzung nach Kriterien der Funktionsfähigkeit versus Behinderung. Pflege, die innerhalb des Pflegeprozesses geplant, durchgeführt und evaluiert wird, bezieht ebenso körperliche wie geistig-seelische und soziale Aspekte ein und unterstützt die individuellen Stärken und Fähigkeiten der jeweils Betroffenen. Sie erstreckt sich sowohl auf präventive, kurative und rehabilitative als auch auf palliative Maßnahmen. Dementsprechend ist Pflege als hochkomplexe Gesundheitsleistung zu verstehen, die grundsätzlich jedem Menschen unseres Sozialstaates zur Verfügung stehen muss. 2. Der Pflegebegriff in der Sozialgesetzgebung Unter welchen Bedingungen Pflegeleistungen über das Sozialversicherungssystem finanziert werden, regelt die Sozialgesetzgebung, hier insbesondere die Sozialgesetzbü- 192 Armut und Gesundheit cher SGB V (gesetzliche Krankenversicherung) und SGB XI (soziale Pflegeversicherung). SGB V Das Sozialgesetzbuch V unterscheidet zwischen häuslicher Krankenpflege und Krankenhauspflege. Häusliche Krankenpflege sieht der § 37 SGB V dann vor, wenn Krankenhausbehandlung geboten, aber nicht durchführbar ist, oder wenn sie (gemeint ist die Krankenhausbehandlung) durch häusliche Krankenpflege vermieden oder verkürzt wird (Krankenhausvermeidungspflege). In diesem Kontext wird häusliche Krankenpflege auch als eine Unterstützung der ärztlichen Behandlung wahrgenommen, die dem Ziel dient, ambulante ärztliche Behandlung zu ermöglichen und deren Ergebnis zu sichern (Sicherungspflege). Grundsätzlich kann sich häusliche Krankenpflege auf Grund- und Behandlungspflege sowie hauswirtschaftliche Versorgung erstrecken. Jedoch finden wir im Gesetz weder eine Definition der Begriffe Grund- und Behandlungspflege, noch handelt es sich etwa um eine Pflichtleistung der Kassen. Der Anspruch auf Pflege besteht, bis auf begründete Ausnahmen, längstens vier Wochen und auch nur dann, wenn eine im Haushalt lebende Person den Kranken nicht pflegen und versorgen kann. Es ist nicht anzunehmen, dass vorausgesetzt wird, in den überwiegenden Haushalten stünden Pflegefachkräfte zur Verfügung. Die Bestimmung soll wohl eher das alte Klischee bestätigen, dass Pflege jederzeit von Familienangehörigen übernommen werden kann. Um die Leistungen der häuslichen Krankenpflege zu präzisieren, hat der Gesetzgeber den Bundesausschuss "Ärzte und Krankenkassen" ermächtigt, Richtlinien über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege zu erlassen. Das zeigt, dass Notwendigkeit pflegerischer Leistungen nicht etwa durch Pflegeexperten, sondern durch ärztliche Anordnung entschieden wird. Auch der Regelfall, der in den genannten Richtlinien beschrieben wird, wurde ausschließlich zwischen Ärzten (Kassenärztliche Bundesvereinigung) und Krankenkassen (Spitzenverbände der Krankenversicherungen) ausgehandelt. Entsprechend folgt die Definition von Pflege nicht dem Prinzip der Ganzheitlichkeit, sondern zergliedert nach ärztlichen Gesichtspunkten in: • Behandlungspflege: Maßnahmen der ärztlichen Behandlung, die dazu dienen, Krankheiten zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern und die üblicherweise an Pflegefachkräfte/Pflegekräfte delegiert werden können. • Grundpflege: Grundverrichtungen des täglichen Lebens. • Hauswirtschaftliche Versorgung: Maßnahmen, die zur Aufrechterhaltung der grundlegenden Anforderungen einer eigenständigen Haushaltsführung allgemein notwendig sind. Auch im Rahmen der Krankenhausbehandlung wird der Begriff Krankenpflege durch das SGB V nicht genauer präzisiert. Allerdings wurde im Zusammenhang mit dem Gesundheitsstrukturgesetz 1993 für die pflegerische Versorgung in Krankenhäusern eine Pflegepersonalregelung (PPR) getroffen. In der dort sehr konkreten Beschreibung des Pflegebegriffs finden sich Parallelen zum eingangs vorgestellten Pflegeverständnis. § 1, Abs. (3), PPR: „Ziel dieser Regelung ist, eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche sowie an einem ganzheitlichen Pflegekonzept orientierte Pflege der stationär oder teilstationär zu behandelnden Patienten zu gewährleisten, die einer Altersarmut und Gesundheit 193 Krankenhausbehandlung im Sinne § 39 Abs. (1), des Fünften Buches Sozialgesetzbuch bedürfen.“ (Schöning et al. 1993:1) Im Kommentar von Schöning et al. (ebd.:38) heißt es dazu: „Damit wird ein Grundsatz wirtschaftlicher Betriebsführung mit der Pflegephilosophie, der den ganzen Menschen, seine emotionalen, sozialen, geistigen, physischen und wirtschaftlichen Bedürfnisse umfassenden Pflege verbunden und vom Gesetzgeber als Maxime des Handelns vorgegeben. Das heißt auch, dass beide Ziele gleichrangig nebeneinander stehen und sich nicht etwa gegenseitig aufheben, und nur in ihrer Verknüpfung notwendige Pflegeleistungen erkennbar machen (ganzheitliche Pflege muss wirtschaftlich, wirtschaftliche Pflege muss ganzheitlich sein).“ Mit ganzheitlicher Pflege ist die umfassende geplante Pflege gemeint, die im § 4 des Krankenpflegegesetzes als Ausbildungsziel formuliert ist, und die zugleich aktivierende Elemente enthält. Leider hat sich diese Maxime nicht durchgesetzt. Zwar soll das ganzheitliche Pflegekonzept weiterhin Gültigkeit haben, jedoch wurden die daraus abgeleiteten Personalanhaltszahlen außer Kraft gesetzt. Das bedeutet, bei stagnierender Personalzahl aber stetig abnehmender Verweildauer nimmt die Zahl der Patienten mit hohem Abhängigkeitsgrad und entsprechend hohem Pflegeaufwand in beängstigender Weise zu. Für die Pflege im Krankenhaus hat diese Entwicklung eine stetig wachsende Diskrepanz zwischen dem qualitativen Anspruch und dem unter wirtschaftlichen Aspekten Machbaren zur Folge. SGB XI In der gesellschaftspolitischen Betrachtungsweise wird Pflege überwiegend als Leistung nach Pflegeversicherungsgesetz verstanden und bedeutet hier: Pflege bei so genannter Pflegebedürftigkeit. Diese wird ausdrücklich gegen Rehabilitation abgegrenzt (Rehabilitation geht vor Pflege). Daher entsteht in der Bevölkerung der Eindruck, Pflege sei eine Leistung, die erst dann zur Anwendung und Geltung kommt, wenn therapeutische und rehabilitative Maßnahmen keine Wirkung mehr erwarten lassen. Damit haftet dem pflegebedürftigen Menschen ein Makel an, der nicht selten auch auf die Pflegenden übertragen wird. Während die Aussage "Rehabilitation geht vor Pflege" ein eher bewahrendes Pflegeverständnis vermuten lässt, geht das SGB XI grundsätzlich wie die vorgestellte Pflegepersonalregelung von aktivierender Pflege aus. Der § 2 SGB XI postuliert: „Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfen sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen wieder zu gewinnen oder zu erhalten.“ Das SGB XI sieht sowohl Leistungen der häuslichen als auch der stationären Pflege vor. Entsprechend § 3 SGB XI „soll die Pflegeversicherung [jedoch] vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in der häuslichen Umgebung bleiben können.“ Allerdings, so behaupte ich, dient diese Regelung vor allem als Maßnahme der Kostendämpfung. Denn das Pflegegeld, das für die Pflege durch Angehörige bereitgestellt wird, ist für die Kassen billiger als die von professionellen Pflegefachkräften erbrachten Sachleistungen. „Pflegebereitschaft" der Angehörigen ist zwar sehr wichtig zur Ergänzung der professionellen Pflege und für die Kontinuität in der Betreuung. Die 194 Armut und Gesundheit zeitlichen Ressourcen und die persönliche Belastbarkeit der Angehörigen sollten jedoch kritisch überprüft und in Relation zur Schwere der Pflegebedürftigkeit gesehen werden. Außerdem muss sichergestellt werden, dass die Angehörigen die Pflege nicht nur übernehmen, um das Pflegegeld zu erhalten. 3. Anspruch auf qualifizierte Pflege versus Finanzierung pflegerischer Leistung. Um den kostenbewussten Umgang mit Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung zu sichern, hat der Gesetzgeber vor alle Leistungen des SGB V die Forderung des § 12, Abs. (1) gestellt, in dem es heißt: „Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.“ Wie bereits angedeutet, lässt sich mit dieser Bestimmung meine Eingangsforderung, Pflegeleistung müsse grundsätzlich jedem Menschen zur Verfügung stehen, relativieren. Das Pflegeversicherungsgesetz bezeichnet zwar im § 8, Abs. (1) ausdrücklich „die pflegerische Versorgung der Bevölkerung“ als „eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“. Jedoch entsteht, wie bereits dargestellt, der Eindruck, dass diese Aufgabe im Wesentlichen die Sache der Angehörigen bleibt oder die Verantwortung bei häuslichen Pflegediensten oder stationären Pflegeeinrichtungen abgegeben wird, die in dem beschriebenen Dilemma zwischen Qualitätsanspruch und Finanzierbarkeit allein gelassen werden. Beispiele, die die Diskrepanz zwischen Qualitätsanspruch und Wirklichkeit verdeutlichen 1.) Eine alte Dame, die nach einem Schlaganfall aus dem Krankenhaus entlassen wird, hat noch eine rechtsseitige Lähmung des rechten Arms und zusätzlich einen sehr schwankenden Bluthochdruck als auch einen noch nicht eingestellten Diabetes. Die alte Dame lebt mit ihrem Ehemann (83 Jahre alt) allein in der Wohnung. Der Ehemann kann seine Frau hinsichtlich der grundpflegerischen Handlungen unterstützen. Einmal in der Woche kommt der Pflegedienst zur Ganzkörperpflege (Duschen). Auch die hauswirtschaftliche Versorgung übernimmt der alte Herr mit Unterstützung einer Reinigungshilfe. Entsprechend ärztlicher Anordnung muss zunächst zweimal, dann einmal täglich die Kontrolle von Blutzucker und Blutdruck durchgeführt werden. Die Krankenkasse erwartet, dass der Pflegedienst den Ehemann in die Durchführung beider Untersuchungen einführt und er auch die Insulininjektion erlernt. Der alte Herr, der sehr schlecht sieht, traut sich diese Maßnahmen nicht zu. Dennoch wird er mehrfach vom Sachbearbeiter der zuständigen Krankenkasse angerufen und bedrängt, er solle die Maßnahmen erlernen, um sie zu übernehmen. Andernfalls müsse er die Kosten für den damit beauftragten Pflegedienst selbst tragen. Als der alte Herr mit Symptomen eines Herzinfarktes ins Krankenhaus eingewiesen wird, klagt die Familie beim Sozialgericht und bekommt Recht. 2.) Während in der häuslichen Pflege zwischen Leistungen zu unterscheiden ist, die nach SGB V also von der Krankenkasse vergütet werden, und Leistungen, die bei anerkannter Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI, also von der Pflegekasse zu zahlen sind, ist die Sachlage bei pflegedürftigen Bewohnern in stationären Alteneinrichtungen anders. Hier geht der Gesetzgeber davon aus, dass Leistungen der Behandlungspflege nicht gesondert zu vergüten, sondern in der Vergütung durch die Pflegekasse bereits enthalten sind. Entsprechend der erwähnten Richtlinien zur häuslichen Krankenpflege gehört das Einlegen eines Urindauerkatheters in die Harnblase zu den verordnungsfähigen Leistungen, Altersarmut und Gesundheit 195 die durch ambulante Pflegedienste durchgeführt und von Krankenkassen vergütet werden. In Altenheimen dagegen geht man davon aus, dass diese Leistung in der Vergütung durch die Pflegeversicherung bereits enthalten ist. Nun kann das Katheterisieren, vornehmlich bei männlichen Bewohnern, recht schwierig sein, so dass es vorkommt, dass für diese Leistung, die eigentlich als Maßnahme der Behandlungspflege ausgewiesen ist, die Hilfe eines Urologen in Anspruch genommen werden muss. Es ist mehrfach vorgekommen, dass der Urologe Abrechnungsschwierigkeiten mit der Krankenkasse bekam. Die Konsequenz war, dass Urologen die erbrachten Leistungen dem jeweiligen Altenheim in Rechnung stellten. 4. Kritische Würdigung der jüngsten qualitätsverbessernden Gesetze Die Beispiele zeigen, dass Qualitätsdefizite zum Teil durch unzureichende Rahmenbedingungen verschuldet sind. Dies wird jedoch nur bedingt anerkannt. Statt dessen wurden im Jahr 2001 drei neue Gesetze zur Qualitätsverbesserung verabschiedet. Die Gesetze haben gemeinsam, dass sie neben möglichen Verbesserungen einen hohen organisatorischen und administrativen Mehraufwand bewirken werden. Hinsichtlich ihrer qualitätsverbessernden Wirkung bin ich noch skeptisch. PQSG (Pflegequalitätssicherungsgesetz) Das grundsätzliche Anliegen des Gesetzes, die Pflegequalität zu sichern und weiter zu entwickeln sowie die Verbraucherrechte zu stärken, ist zu begrüßen. Für die "Verbraucher" pflegerischer Leistungen, (pflegebedürftige alte Menschen) wird als entscheidendes Qualitätsmerkmal gelten, dass sie ganzheitlich betreut ihr Pflegebedarf nicht nach Kostenträgern getrennt betrachtet wird. Hier wird das Gesetz keinerlei Veränderung bringen. Daher ist die Sicherung der Rechte der Betroffenen kaum zu erreichen. Solange die bestehende Schnittstellenproblematik zwischen den Leistungsträgern erhalten bleibt, können die geforderten ganzheitlichen Pflegekonzepte weder geplant noch umgesetzt werden. Das Gesetz sieht vorrangig zusätzliche Kontrollen vor, diese werden vor allem den organisatorischen und administrativen Aufwand der Pflegeeinrichtungen erhöhen und entsprechend pflegesatzrelevant wirksam werden, ohne dass die Pflegebedürftigen eine konkrete Qualitätsverbesserung erleben. Die finanziellen Auswirkungen einer gewollten Qualitätsverbesserung werden im Übrigen seitens der Politik nicht realistisch eingeschätzt. Es wird nur über die Finanzierung des Verwaltungsmehraufwandes bei Einführung von Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen nachgedacht. Diese Kostenüberlegung halte ich für wenig effektiv. Wenn eine tatsächliche Qualitätsverbesserung angestrebt wird, muss es erlaubt sein, auch über eine Erhöhung der Gesamtausgaben der Pflegeversicherung nachzudenken. Die Leistungssätze der Pflegeversicherung sind seit ihrer Einführung trotz steigender Lohnkosten und Inflation unverändert geblieben. Der Gesetzgeber und die Selbstverwaltungspartner sollten gegenüber der Bevölkerung ehrlich argumentieren. Sie sollten deutlich machen, dass nachweisbare Pflegequalitätsverbesserung nur durch eine ausreichende Zahl hochqualifizierter Pflegekräfte erzielt werden kann. Diese ist unter Gesichtspunkten der Kostenneutralität jedoch nicht zu haben. Daher müssen Versorgungsverträge und Qualitäts- und Leistungsvereinbarungen immer im Kontext mit Vergütungsvereinbarungen betrachtet werden. 196 Armut und Gesundheit Das Ziel einer ganzheitlichen, qualitativ hochwertigen Pflege und Versorgung ist nur erreichbar, wenn der tatsächliche individuelle Pflegebedarf zum Leistungsmaßstab gemacht wird. Vor allem für stationäre Pflegeeinrichtungen und Tagespflegeeinrichtungen sind daher bewohnerbezogene, leistungsabhängige analytische Personalberechnungsmethoden zugrunde zu legen. Heimgesetz Es ist zu begrüßen, dass das neue Heimgesetz die Rechte der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner und damit auch die Mitwirkung des Heimbeirates in den Blick rückt. Jedoch wird die Zielerreichung davon abhängig sein, mit welchen personellen und finanziellen Ressourcen ein Heim ausgestattet wird. Hier wird es auf die Gestaltung der Rechtsverordnungen laut § 3 ankommen, in denen die räumlichen, technischen und personellen Mindestanforderungen festgelegt werden sollen. Dreh- und Angelpunkt wird dabei die Regelung der Personalmindestausstattung in Bezug auf Zahl und Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Pflegedienst sein und damit verbunden die Zusicherung, dass ihre Finanzierung sichergestellt wird. Skeptisch macht mich an dieser Stelle die Tatsache, dass das zuständige Seniorenministerium bereits im August dieses Jahres Vorschläge für eine Heimmindestbauverordnung und eine Heimmitwirkungsverordnung vorgelegt hat, während über eine Heimmindestpersonalverordnung bisher geschwiegen wird. Letztere lässt sich unter den bereits erwähnten Gesichtspunkten der Kostenneutralität nicht diskutieren und bleibt daher unpopulär. PergG (Pflegeergänzungsgesetz) Mit diesem Gesetz wird endlich zur Kenntnis genommen, dass die Leistungen der Pflegeversicherung im Hinblick auf demenzkranke Menschen unzureichend sind. Familien, die einen altersverwirrten Menschen betreuen, sollen unabhängig von der körperlichen Befindlichkeit des Pflegebedürftigen zur Entlastung eine Sonderzuwendung erhalten. Das Ziel dieses Gesetzes und die grundsätzliche Entscheidung sind sehr zu begrüßen. Allerdings halte ich die Höhe der Leistung (900,00 DM im Jahr) für völlig unzureichend. Ein Betrag von umgerechnet ca. drei DM pro Tag, wird eine Familie, in der ein altersverwirrter Mensch lebt, wohl kaum entlasten können. Nutzt man diesen Betrag, um - wie es wohl ursprünglich gedacht war - einmal pro Monat eine Tagespflege zu ermöglichen, stellt sich nicht nur die Frage, ob der Betrag ausreichen wird. Es scheint, dass nicht bedacht wurde, wie wesentlich für altersverwirrte Menschen ein strukturierter, regelmäßiger Tagesablauf ist, in dem jede Veränderung, die zu Unruhezuständen führen kann, vermieden wird. Nützlich wäre hier eher der regelmäßige Besuch einer gerontopsychiatrisch erfahrenen Pflegefachkraft in der Häuslichkeit, die täglich zur selben Zeit kommt, die Angehörigen berät und immer die gleiche entlastende pflegerische Aufgabe übernimmt. Verständlicherweise ist dies allerdings nicht für drei DM zu haben. 5. Fazit Realität der Altenbetreuung Die Auseinandersetzung mit den gesetzlichen Regelungen und den Beispielen aus der Praxis haben gezeigt, dass weder das SGB V noch das SGB XI eine qualitativ hochwertige Pflege, entsprechend der Zielsetzung dieser Gesetze oder des pflegerischen Selbstverständnisses garantieren. Im Gegenteil, durch Schnittstellen zwischen den Gesetzen Altersarmut und Gesundheit 197 entstehen Finanzierungslücken, die zu Lasten pflegebedürftiger alter Menschen, ihrer Angehörigen oder der ambulanten Pflegedienste gehen. Wie dargestellt wurde, werden auch die neueren Gesetze zur Qualitätssicherung diesem Mangel nur bedingt entgegenwirken können, da sie das Dilemma zwischen Qualitätsanspruch und Leistungserstattung bisher nicht aufheben. Perspektiven Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat in seinem jüngsten Gutachten ein Missverhältnis zwischen der Professionalisierungstendenz der Pflegeberufe und der tatsächlichen Situation vor allem in Einrichtungen der ambulanten und stationären Altenhilfe festgestellt. Während sich an Universitäten und Fachhochschulen Pflegestudiengänge etablieren, sich eine selbständige Disziplin Pflegewissenschaft entwickelt, die spezielle pflegerische Qualitätsstandards entwirft, findet in den genannten Einrichtungen eher eine Deprofessionalisierung statt. Diese drückt sich vor allem in einem überproportional hohen Anteil ungelernter Pflegekräfte aus. Ursache für diesen Mangel an qualifizierten Fachkräften ist vor allem das Fehlen von allgemein anerkannten Klassifizierungssystemen zur Leistungserfassung und daraus abgeleiteten übergreifenden Personalbemessungsverfahren. Diese wiederum führen zur dargestellten Diskrepanz zwischen beruflichem Selbstverständnis und tatsächlicher Berufspraxis und somit zur Berufsflucht. Weder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für nicht vermittelbare Sozialhilfeempfänger (wie sie Rudolf Scharping vorgeschlagen hat), noch der Vorschlag von Bundesarbeitsminister Walter Riester, Green Cards für ausländische Pflegekräfte, werden aus meiner Sicht die geforderte Qualität in der Altenbetreuung bringen. Aus Sicht der Pflegeberufe ist es höchste Zeit, durch Richtlinien oder Verordnungen die Leistungsgesetze (SGB V und SGB XI) zu präzisieren, sowie in einer Heimmindestpersonalverordnung leistungsbezogene Messzahlen zur Personalbedarfsermittlung festzulegen. Damit lassen sich Rahmenbedingungen für qualitativ hochwertige pflegerische Arbeit schaffen, die sowohl die Situation pflegebedürftiger alter Menschen als auch die Attraktivität der Pflegeberufe verändern können. Damit ließe sich kurz- bis mittelfristig eine Perspektive für die Betreuung und Pflege alter Menschen und für die Entwicklung des Arbeitsmarktes Pflege schaffen. Literatur: Schöning, Brigitte; Luithlen, Eberhard; Scheinert, Hanns [1993]: PflegePersonalregelung, Kommentar mit Anwendungsbeispielen für die Praxis. Kohlhammer: Köln. 198 Armut und Gesundheit Armut und Gewalt in der Pflege älterer Menschen Sigrid Henße, Gabriele Tammen-Parr, Dorothee Unger Gewalt ist ein menschliches Phänomen, dass uns in vielfältigster Form begegnen kann. Jeder Mensch trägt Gewaltpotenziale in sich, die durch die Umwelt aufrecht erhalten, verstärkt oder verringert werden können. Gewalt entsteht nicht zufällig und selten nur spontan. Sie hat eine lange Vorgeschichte und wird von zahlreichen Faktoren, insbesondere von psychosozialen Faktoren beeinflusst. Gewalt gegen ältere, insbesondere pflegebedürftige Menschen ist ein weitreichendes und zunehmendes Problem unserer Gesellschaft. Gewalt gegen ältere Menschen kommt am häufigsten in der Familie vor, sie ist eine häufig vernachlässigte Form von familiärer Gewalt, die in der Fachliteratur mit einer Häufigkeit von drei bis sieben Prozent angegeben wird (Eastman 1985, Pillemer/Finkelhor 1988:51ff.). Die Prävalenz in Deutschland wird mit 6,6 bis 10,8 Prozent angegeben (Hirsch/Kranzhoff 1999). Die Dunkelziffer wird aber bedeutend höher eingeschätzt, da Gewalt im familiären Bereich meist nicht als wirkliche Gewalt betrachtet und somit nicht als solche erfasst wird. In den USA wird geschätzt, dass lediglich zehn Prozent der Gewaltfälle gegen Ältere überhaupt gemeldet werden (Anetzberger 1998). Wer aber pflegebedürftige alte Menschen besucht, für sie ehrenamtlich oder berufsmäßig tätig ist oder indirekt für sie und ihre Bedürfnisse arbeitet, kann, muss aber nicht gewalttätig sein. Einbezogen hierbei sind Angehörige, Pflegekräfte, versorgende Ärzte, medizinische Fachkräfte, Sozialberufler, Betreuer und Richter. Gewalt ist kein klar und einheitlich definiertes Konzept. Die Verwendung des Begriffes im Alltag evoziert meist Bilder körperlicher Kraftentfaltung und Zwangseinwirkung, begangen von Menschen an Menschen. Gewalt lässt an schwerwiegende und nicht gerechtfertigte Handlungen denken. Gewaltbegriffe umfassen aber eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Ereignisse, Handlungen, Verhaltensweisen, Situationen oder Lebensbedingungen. Margaret Dieck stellt zunächst klar, dass Gewalt sowohl in aktiven Tun als auch im Unterlassen einer gebotenen Handlung bestehen kann (Dieck 1987:305ff.). Somit kann Gewalt die Grundformen der Misshandlung und der Vernachlässigung annehmen. Bei Misshandlung wird unterschieden zwischen der körperlichen Misshandlung – aktive körperliche Beeinträchtigungen, Immobilisierung, sexuellen Missbrauch, Übermedikamentierung – und der psychischen Misshandlung – vor allem Beschimpfung, Einschüchterung, Drohung, Isolierung, Einschränkung des freien Willens, finanzielle Ausbeutung. Vernachlässigung ist die Unterlassung von Handlungen, die situationsadäquat wären. Dies kann vorsätzlich bzw. aktiv sein, im Sinne des bewussten verweigern bestimmter Handlungen. Vernachlässigung kann aber auch nicht-intentional oder passiv sein im Sinne des Nichterkennens von Bedarfssituationen. Gewalt gegen ältere Menschen lässt sich nicht sinnvoll als ein unidirektionales Phänomen auffassen, bei dem eine Person der anderen etwas zufügt. Jede Gewalthandlung ist mehrdimensional und führt oft zu weiteren Gewalthandlungen. Direkte Gewalt lässt sich objektivieren und beschränkt sich auf bestimmtes Handeln oder Nicht-Handeln. Hier stehen Täter und Opfer sich gegenüber. Eine Vielfalt von Faktoren, die direkte Gewalt erst ermöglichen oder zu deren Rechtfertigung dienen, sind struktureller Art und so wird auch von struktureller Gewalt gesprochen. Ein für die Gewaltentstehung bedeutender Faktor ist das Gewaltklima in der Ge- Altersarmut und Gesundheit 199 sellschaft, das auch kulturelle Gewalt bezeichnet wird. Hierbei spielen gesamtgesellschaftliche Wertvorstellungen, Leitbilder und Gewohnheiten eine wichtige Rolle. Galtung zeigt in sehr anschaulicher Form, wie die verschiedenen Faktoren, die Gewalt ermöglichen bzw. wie die verschiedenen Gewaltformen sich gegenseitig beeinflussen und mit einander in Wechselwirkung stehen in seinem Gewaltdreieck (Abbildung 1). Abbildung 1: Gewaltdreieck nach Galtung Beispiele: •einseitige Vorschriften und Gesetze •Armut •Fremdbestimmung •Abhängigkeit kulturelle strukturelle (metadirekte) (indirekte) Gewalt Beispiele: •religiöse Wertvorstellungen von Schuld und Scham •Ideologen •naturwissenschaftliche Sichtweise der Medizin •Negatives Bild vom Alter in der Gesellschaft personale Gewaltdreieck (Galtung 1993, in: Buijssen / Hirsche 1997, S. 378 (direkte) Beispiele: •Einschränkung des äußeren, lokalen oder inneren Bewegungsspielraumes Zu den Theorien zur Erklärung der Ursachen von Gewalt in Familien gehört unter anderem die Zugehörigkeit zur Unterschicht und die Belastung durch soziale und wirtschaftliche Stressfaktoren (Biegel et al. 1994:473ff.). Anhand der wissenschaftlichen Auswertungen von mehr als 2000 telefonischen Beratungsgesprächen, die bei „Pflege in Not Krisentelefon für Gewalt in der Pflege älterer Menschen“ seit Juni 1999 geführt wurden sind, wird versucht diese Theorie zu belegen. Es wird gezeigt, dass strukturelle Gewalt häufig andere Gewaltformen unterstützt, und dass insbesondere sozial und wirtschaftlich schlechter gestellte Personen diese strukturellen Faktoren unterliegen. „Pflege in Not“ entstand aus den Erfahrungen vieler Jahre Angehörigenarbeit und wurde in der Berliner Arbeitsgemeinschaft gegen Gewalt im Alter vorbereitet. Das Krisentelefon nahm seine Arbeit am 1.6.1999 auf. Zum Beratungsteam gehören zwei hauptamtliche Mitarbeiterin (eine Diplom-Sozialpädagogin und eine Diplom-Psychologin) und drei ehrenamtliche Mitarbeiterinnen (Ärztin, Pflegekraft, Diplom-Sozialarbeiterin). Es gehen ca. 100 Anrufe im Monat bei Pflege in Not ein, bei täglich zwei Stunden telefonischer Beratungssprechstunde. 200 Armut und Gesundheit Abbildung 2 zeigt die relative Häufigkeit verschiedener Gesprächsthemen, gegliedert nach den Personen, die sich telefonisch meldeten. Die Häufigkeit, mit der sich Personen telefonisch zu dem Thema Gewalt meldeten, liegt bei ungefähr zehn bis fünfzehn Prozent, wobei pflegende Angehörige sich etwas häufiger als Betroffene zu diesem Thema meldeten. Nur ein geringer Prozentsatz der pflegenden Angehörigen rief wegen eigener Gewalthandlungen an. Die häufigsten Telefonate sowohl bei den Betroffenen als auch bei den Angehörigen waren wegen struktureller Gewalt. Diese strukturelle Gewalt bezog sich oft auf ambulante Pflegeanbieter, auf Pflegeheime, auf Behörden: MDK, Pflegebzw. Krankenkassen, Heimaufsicht oder auf andere Dienstleistungsanbieter. Abbildung 2: Relative Häufigkeiten der Gesprächsthemen gegliedert nach der Person, die sich telefonisch meldete Häufigkeitsverteilung der Themen, nach Anrufer (VI/99 -IV/01) (Merfachnennungen möglich) 90 80 Häufigkeit in Prozent 70 Gewalt 60 P flege B etreuung 50 Info. Zu P flege in Not S onstige Info 40 30 20 10 0 P flegebedürftiger S ohn/Tochter (Ehe)partner/in Schwiegersohn/tochter Sonstige/r V erwandte Anrufer Die Abbildung 3 liefert einen Überblick zu der Häufigkeit von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit bei Personen ab 65 Jahren in Berlin, die nicht in einer Pflegeeinrichtung wohnen (Mayer/Baltes 1996). Aus dieser Abbildung geht hervor, dass ca. 91 Prozent der Berliner/innen ab 65 Jahren nicht in einer Pflegeeinrichtung wohnen und zeigt zudem wie viele erheblich Pflegebedürftige noch in Privathaushalte wohnen. Die Auswertungen der telefonischen Meldungen bei „Pflege in Not“ ergaben, dass ca. 52 Prozent der Pflegebedürftigen die Pflegestufe II, nicht ganz zehn Prozent die Pflegestufe I und ungefähr fünf Prozent die Pflegestufe III hatten. Fast vier Prozent waren Härtefälle. Der Rest hatte entweder noch keine Pflegestufe oder diese war nicht bekannt. Die Ergebnisse von Altersarmut und Gesundheit 201 „Pflege in Not“ deuten sehr deutlich auf die erhöhte Notsituation, die sich bei Pflegebedürftigkeit einstellen kann. In Abbildung 4 werden relative Häufigkeiten zur Wohnsituation der Pflegebedürftigen dargestellt, gegliedert nach der Person, die sich bei „Pflege in Not“ telefonisch gemeldet hat. Die Abbildung zeigt, dass ca. 85 Prozent der Pflegebedürftigen, die selber anriefen, alleine wohnten. Auch geht aus dieser Abbildung hervor, dass in fast dreißig Prozent der Fällen, in dem der Sohn oder die Tochter anriefen, der Pflegebedürftigen mit dem Sohn oder der Tochter zusammen wohnten. (Ehe-)Partner, die sich meldeten, wohnten in fünfzig Prozent der Fällen mit dem Pflegebedürftigen zusammen. Zu berücksichtigen ist, dass hier keine repräsentative Erhebung vorliegt, sondern selektive Ergebnisse anhand der ausgewerteten Telefonate, die bei „Pflege in Not“ geführt wurden, angegeben sind. Abbildung 3: Relative Häufigkeit der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit der Bewohner Berlins ab 65 Jahren, die nicht im Pflegeheim wohnen Verteilung der Bewohner Berlins ab 65 Jahren, in Privathaushalten und Seniorenwohnhäusern wohnend, anhand von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit HILFS- UND PFLEGEBEDÜRFTIG Voll selbständig Hilfsbedürftig Pflegestufe 1 Pflegestufe 2 Pflegestufe 3 PRIVATHAUSHALT N IN % 82,9 330 220 11,6 46 210 1,5 5 980 2,3 9 160 1,7 6 770 SENIORENWOHNHAUS N IN % 75,4 28 950 23,2 8 910 0,2 80 1,2 460 0,0 Quellen: Die Berliner Altersstudie; Statistisches Landesamt Berlin 2000 Von 479 919 Einwohner Berlins, die 65 Jahre und älter sind, wohnen 83% (398 333) in Privatwohnungen und 8% (38 393) in Seniorenwohnungen. Die Probleme der Anrufer und/bzw. der Pflegebedürftigen stehen sehr oft in Zusammenhang mit deren Wohnsituation. Sehr oft kommen starre pflegerische oder gesetzliche Strukturen, die Pflegeprobleme und somit auch Gewalt begünstigen können, dazu. 202 Armut und Gesundheit Abbildung 4: Relative Häufigkeitsverteilung der Wohnsituation der Pflegebedürftigen, gegliedert nach der Person, die sich telefonisch bei Pflege in Not meldete. Häufigkeitsverteilung der Wohnsituation des Pflegebedürftigen, nach Angaben des Anrufers (VI/99 - IV/01) 90 80 Alleine mit (Ehe)partner 70 mit Kind Häufigkeit in Prozent Sonstige Verwandte Sonstige 60 50 40 30 20 10 0 P flegebedürftiger S ohn/Tochter (Ehe)partner/in Schwiegersohn/tochter Sonstige/r Verwandte Anrufe r In Abbildung 6 wird dargestellt, wer sich nach Angaben des Anrufers in Not befand. Mehr als 90 Prozent der Pflegebedürftigen, die anriefen, waren selber in Not. Angehörige dagegen meldeten sich überwiegend wegen der Notsituation des Pflegebedürftigen und seltener zur eigenen Notsituation. Altersarmut und Gesundheit 203 Abbildung 5: Relative Häufigkeit der Person in Not, nach Angabe der Person, die sich bei Pflege in Not meldete. Häufigkeitsverteilung der Person in Not, nach Angaben des Anrufers (VI/99 - IV/01) 100 90 80 Häufigke it in Proze nt 70 60 (Ehe)partner/in Eltern/Schwiegereltern 50 Großeltern sonstige Verwandte Anrufer/in selbst 40 30 20 10 0 Pflegebedürftiger Sohn/Tochter (Ehe)partner/in Schwiegersohn/tochter Sonstige/r Verwandte Anrufer Die letzte Abbildung (Nr. 6) zeigt die Häufigkeitsverteilung der Anrufer bei „Pflege in Not“. Am häufigsten meldeten sich die Töchter und Söhne der Pflegebedürftigen und an zweiter Stelle die Pflegebedürftigen selbst. Auffallend sind die verhältnismäßig seltenen Meldungen der (Ehe-)Partner, obwohl aus der Literatur hervor geht, dass (Ehe-)Partner ca. 50 bis 56 Prozent und Töchter/Schwiegertöchter ca. 12 bis 25 Prozent der Pflegenden ausmachen (Infratest 1993). Diese letzte Abbildung, deren Ergebnisse andere Auswertungen ähneln (Hensse et al. 2000, Henße et al. 1997), zeigt, dass ältere Pflegenden Hilfsangebote seltener in Anspruch nehmen bzw. von den Hilfsangebotsstrukturen nicht erreicht werden. 204 Armut und Gesundheit Abbildung 6: Häufigkeitsverteilung der Anrufer bei Pflege in Not Häufigkeitsverteilung der Anrufer bei Pflege in Not (VI/99 - IV/01) Frauen = 74,1 % Sonstige/r Verwandte Frauen = 75 % Interessierte/r Frauen = 66,7 % Anrufer Freund/in Frauen = 89,3 % Pflegekraft Schwiegersohn/-tochter Frauen = 28,6 % (Ehe)partner/in Frauen = 67,9 % Sohn/Tochter Frauen = 68,1 %) Pflegebedürftiger Frauen = 90,2 % 0 5 10 15 20 25 30 35 Häufigkeit in Prozent Es muss davon ausgegangen werden, dass auch diese Gruppe in der Pflegesituation unter Umständen erhebliche Belastungen erfährt. Deshalb ist es wichtig, dass Angehörige, Pflegekräfte, versorgende Ärzte und sonstige Personen, die diese Personen Gruppe erreichen, aufmerksam sind, dass sie Belastungssignale erkennen und darauf reagieren, um nicht selber indirekt zur Gewalt beizutragen. Leider sind es nicht die sozial und wirtschaftlich schlechter gestellten Personen, die überwiegend die vorhandenen Beratungsangebote in Anspruch nehmen. Eine andere Vorgehensweise ist notwendig, um den Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zur Unterschicht und Gewalt in der Pflege älterer Menschen zu belegen oder widerlegen. Geht man aber davon aus, dass das Gewaltrisiko in dieser Gruppe erhöht sein könnte, ist es besonders wichtig diese Gruppe zu erreichen. Literatur: Anetzberger, G. [1998]: A Model Intervention for Elder Abuse and Dementia Curriculum. The Benjamin Rose Institute. Cleveland, Ohio USA. Biegel, D.E.; Milligan S.E.; Putnam P.L.; Song L.-Y. [1994]: Predictors of burden among lower socioeconomic status caregivers of persons with chronic mental illness. Community Mental Health Journal 30:473-494. Dieck, M. [1987]: Gewalt gegen ältere Menschen im familialen Kontext – Ein Thema der Forschung, der Praxis und der öffentlichen Information. Z Gerontol 20: 305-313. Altersarmut und Gesundheit - - - - 205 Eastman, M. [1985]: Gewalt gegen alte Menschen. Lambertus-Verlag. Freiburg. Hensse, S.; Ruhnau-Wüllenweber, M.; Steinhagen-Thiessen, E. [2000]: Counseling Services and Prevention. The Gerontologist 40 (Special Issue 1), p. 258. Henße, S.; Ruhnau-Wüllenweber, M.; Steinhagen-Thiessen, E. [1997]: Das Hilfesuchverfahren ältere Menschen und ihrer Angehörigen – Praxisbericht der Berliner Beratungs- und Koordinationsstelle für ältere Mitbürger am Evangelischen Geriatriezentrum (EGZB). 16. Österreichsicher Geriatriekongreß, Bad Hofgastein. Hirsch, R.D.; Kranzhoff, E.U. [1999]: Prävention von Gewalt gegen alte Menschen: Im häuslichen Bereich und in Einrichtungen. Bonner Schriftenreihe „Gewalt im Alter“, Band 3. Infratest Sozialforschung, Infratest Gesundheitsforschung [1993]: Hilfe- und Pflegebedürftige in privaten Haushalten. Stuttgart (Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie und Senioren, Band 20.2). Mayer, KU, Baltes, PB (Hrsg.) [1996]: Die Berliner Altersstudie. Akademie Verlag, Berlin. Pillemer, K.; Finkelhor, D. [1988]. The Prevalence of Elder Abuse: A Random Sample Survey. The Gerontologist 28, pp. 51-57. 206 Armut und Gesundheit Netzwerk im Alter – Konzept, Struktur und Praxis des gerontopsychiatrischengeriatrischen Verbundes in Berlin-Marzahn-Hellersdorf Aus Sicht des Bezirksamtes Herbert Höhne “NETZWERK IM ALTER“ Beirat zur Umsetzung der Altenplanung (in Vorbereitung) Interessenverbund „Wohnen im Alter“ Interessenverbund „Aktiv im Alter Interessenverbund „Gesundheit im Alter“ (Altenplanung für den Bezirk Marzahn-Hellersdorf - Stand: 08.11.2001) Netzwerk im Alter - Konzepte Struktur Als Ergebnis der Bezirksreform im Land Berlin wurden die Bezirke Marzahn und Hellersdorf am 1.1.2001 zu einem gemeinsamen Bezirk zusammengeführt. Unter dem Begriff „Netzwerk im Alter“ wurde für den Fusionsbezirk Marzahn-Hellersdorf begonnen, die in beiden ehemaligen Bezirken bestehende Altenplanung fortzuschreiben. Dabei kam es darauf an, in beiden Bezirken bestehende Planungen und Strukturen zu bewahren, in neue zu überführen bzw. weiter zu entwickeln. Auf Initiative des Gerontospychiatrisch-geriatrischen Verbundes (GGV), der für die damalige Planungsregion 1997 geschaffen wurde, begann in Verantwortung der beiden Bezirksstadträte für Soziales im August 1999 die fachpolitische Diskussion zur Entwicklung des Netzwerkes im Alter. Auf der Grundlage des GGV, der mit seiner Organisation und Arbeitsweise beispielgebend wirkte, wurde vereinheitlicht eine Verbundstruktur gewählt, die maßgeblich durch kooperative Beziehungen der Mitglieder untereinander bestimmt wird. Die einzelnen Verbundmitglieder sind gleichberechtigt. Inhaltlich erfasst wurden die Lebensbereiche • Wohnen, • (Freizeit-)Aktivität, • Gesundheit. Die Darstellung „Netzwerk im Alter“ veranschaulicht das Netzwerk in seiner Gesamtheit. Die drei Interessenverbünde „Wohnen im Alter“, „Aktiv im Alter“ und „Gesund- Altersarmut und Gesundheit 207 heit im Alter“ beschreiben die fachliche Ebene. Jeder Interessenverbund besitzt eine eigene spezifische Fachlichkeit, die einerseits eine Abgrenzung von den anderen Verbünden erfordert, andererseits aber auch auf Grund der Komplexität vieler Problembzw. Fragestellungen eine verbundübergreifende Zusammenarbeit verlangt. Im „Beirat zur Umsetzung der Altenplanung“ wird die Verbindung zwischen der fachlichen Ebene und der kommunalpolitischen Ebene erfolgen. Er leitet nicht die Tätigkeit der Verbünde. Der Beirat, befindet sich in Vorbereitung. Die möglichen Aufgaben und ständigen Mitglieder sind in der Übersicht zum Beirat dargestellt. Beirat zur Umsetzung der Altenplanung (Stand: 18.10.2001) Aufgaben Die von den lnteressenverbünden erarbeiteten Beschlussentwürfe zur Umsetzung von Maßnahmen der Altenplanung zu prüfen, zu beraten und zu beschließen und somit die politische Umsetzung sowie die Koordinierung einer abgestimmten regionalen Kooperation zu gewährleisten. • • • Entwicklung, Fortschreibung der bedarfsbezogenen sozialen Infrastruktur Einbeziehung des bürgerschaftlichen Engagements Erhalt / Entwicklung der Anbieter-/Trägervielfalt ständige Mitglieder • alle Bezirksstadträte/-innen • BVV-Ausschuss Gesundheit/Soziales • Vertreter der Wohlfahrtsverbände • Seniorenvertretung • Vertreter der lnteressenverbünde „Wohnen im Alter“ (1) „Aktiv im Alter“ (2) „Gesundheit im Alter“ (3)“ Interessenverbund „Gesundheit im Alter“ Die Begriffe Interessenverbund Gesundheit im Alter und Gerontopsychiatrischgeriatrischer Verbund werden synonym verwendet. Der ursprünglich 1997 gegründete Verbund (mit seinen Arbeitskreisen Patientenorientierte Zusammenarbeit, Qualitätssicherung und Fortbildung, Planung und Steuerung, Trägerdarstellung und Öffentlichkeitsarbeit) wurde um den Arbeitskreis Mobilitätshilfe erweitert. Der GGV hat das Ziel, die Behandlungs-, Betreuungs- und Pflegesituation und damit die Lebensqualität psychisch und somatisch kranker. älterer Menschen im Bezirk zu verbessern. In der Kooperationsvereinbarung wird dazu ausgeführt: • Ziel des Kooperationsvertrages soll es ein, die im Verbundsystem bereits regional vorhandenen und noch zu schaffenden Angebote verschiedener Träger der Gerontopsychiatrie und Altenhilfe so zu vernetzen, dass Patienten mit gerontopsychiatrischem oder geriatrischem Krankheitsbild entsprechend ihrer jeweiligen 208 Armut und Gesundheit Betreuungsbedürftigkeit versorgt werden. In den Betreuungsprozess sind alle an der Versorgung Beteiligten einschließlich der Angehörigen einzubeziehen. • Der jeweilige Kooperationspartner ist verpflichtet, an der gemeinsamen Planung für den Auf- und Ausbau des Verbundsystems teilzunehmen. Die Kooperationspartner sind verpflichtet, eine gemeinsame inhaltliche Konzeption zu erarbeiten und stimmen bausteinbezogene Veränderungen im Verbund ab. • Die Kooperationspartner erklären ihre Bereitschaft, sich gegenseitig über ihre jeweiligen Planungen zu informieren, soweit sie den Auf- und Ausbau des Verbundsystems betreffen. Ziel ist, sich gegenseitig bei dem Aufbau neuer und der Veränderung bestehender Projekte kollegial zu beraten und die Inhalte abzustimmen. Vertragsveränderungen, ergänzende Verträge und neue Verträge erfordern die Zustimmung aller Vertragspartner. • Die Vertragspartner sind bestrebt, ihre Zusammenarbeit und ihre Planungen so zu gestalten, dass eine Versorgung aller alten Menschen, die im gerontopsychiatrischen oder geriatrischen Sinn erkranken, in einer lückenlosen Behandlungskette und im Sinne einer Versorgungsverpflichtung möglich ist. Hierbei ist eine Problematik so lange zu bearbeiten, bis eine im Sinne des Klienten adäquate Lösung gefunden ist. Im Vordergrund stehen dabei die adäquate Behandlung und Versorgung des einzelnen Klienten und nicht die ökonomischen Interessen der jeweiligen Vertragspartner. Altersarmut und Gesundheit 209 lnteressenverbund Gesundheit im Alter“ (Gründung 25.04.1997) Aufgaben Der lnteressenverbund “Gesundheit im Alter“ hat das Ziel, die Behandlungs-, Betreuungs-, und Pflegesituation und damit die Lebensqualität. psychisch und somatisch kranker älterer Menschen in der Region zu verbessern. Der lnteressenverbund umfasst den GGV und weitere Mitglieder, die eine Arbeitsvereinbarung mit dem Verbund haben. Mitglieder • Albatros e. V., • Bezirksamt Hellersdorf von Berlin, Abt. Gesundheit und Ökologische Stadtentwicklung, • Bezirksamt Hellersdorf v. Berlin, Abt. Verwaltung, Haushalt und Soziales, • Bezirksamt Marzahn von Berlin, Abt. Gesundheit und Soziales, • Caritasverband Berlin e. V., • Diakonie-Sozialstation Hellersdorf Marzahn gGmbh, • FSE Förderung sozialer Einrichtungen Gemeinnützige GmbH, • Gemeinnützige Heimbetriebsgesellschaft der Graf Schwerin Forschungsgesellschaft in der Diakonie mbH, • Häusliche Pflege Meißner & Walter, • Häusliche Krankenpflege Hellfach, • Häusliche Krankenpflege lrmtraud Reichel, • Hauskrankenpflege Carola Bormann, • Marzahner Heimverbund gemeinnützige Betriebsgesellschaft mbH • Krankenhaus Hellersdorf, Krankenhausbetrieb von Berlin-Hellersdorf, ö. B.: Krankenhaus Kaulsdorf • Krankenhaus Hellersdorf, Krankenhausbetrieb von Berlin Hellersdorf, ö. B. WGK, • Pflegeheim Riemeisterstraße GmbH & Co. Betriebs-KG, • Pflegewohnzentrum Kaulsdorf Nord gGmbH, • Refugium Betriebsmanagement GmbH, • Volkssolidarität — Landesverband Berlin e. V., • Wuhlgarten- u. Krankenhausnaher Hilfsverein für psychisch Kranke e.V. Die Umsetzung der Verbundziele vollzieht sich durch die Tätigkeit des gewählten Koordinierungsgremiums, der Trägerkonferenz, der Arbeitskreise und natürlich der einzelnen Mitglieder in der täglichen Arbeit. Als Schwerpunktaufgaben der Gremien des Verbundes sind zu nennen: Koordinierungsgremium Das Koordinierungsgremium ist im Verbund organisierend tätig, bereitet Trägerkonfe- 210 Armut und Gesundheit renzen vor, moderiert, protokolliert diese und dokumentiert deren Arbeitsergebnisse. Im Auftrag der Trägerkonferenz arbeitet das Koordinierungsgremium selbständig und gestaltet auch die Außenbeziehungen des GGV. Es wird den Interessenverbund im zukünftigen Beirat zur Umsetzung der Altenplanung vertreten. Trägerkonferenz Zur Trägerkonferenz gehören die Träger, die die Kooperationsvereinbarung unterzeichnet haben, ein Vertreter der Senioren, Angehörigen und Patienten. Die Trägerkonferenz wählt das Koordinierungsgremium. Sie setzt Arbeitskreise für die einzelnen Aufgabenbereiche ein, die hierfür Konzeptionen erarbeiten. Diese werden von der Trägerkonferenz diskutiert bzw. bestätigt. Arbeitskreis Patientenorientierte Zusammenarbeit Der Arbeitskreis beschäftigt sich mit Projekten, die die Zusammenarbeit der Verbundpartner untereinander fördern sollen. Zum Beispiel: Effektivierung von Helferkonferenzen durch die Erprobung einer Checkliste, bessere Überleitungen zwischen ambulantem und stationärem Bereich (beim Einzug ins Heim), Kennenlernen anderer Einrichtungen durch Hospitationen. Arbeitskreis Qualitätssicherung und Fortbildung Hier erfolgte die Beratung zu Qualitätsstandards und Zertifizierungen im ambulanten und stationären Pflegebereich, die Durchführung des Gerontoplenums als organisierte Form der Fortbildung, z.B. zum Thema Gewalt in der Pflege unter Nutzung der im Bezirk vorhandenen Fachkapazitäten. Die Teilnahme ist auch für Projekte und Einrichtungen möglich, die noch kein Verbundmitglied sind. Arbeitskreis Planung und Steuerung Der Arbeitskreis bietet Beratung zur bedarfsgerechten Bereitstellung von Pflegesachleistungen für den Bezirk, z.B. bei der Fortschreibung des Landespflegeplanes im Bereich der vollstationären und teilstationären Pflege. Er beschäftigt sich verbundübergreifend mit der Begrifflichkeit zum „Betreuten Wohnen“. Für das zweite Quartal 2002 war beabsichtigt, einen Pflegetag unter dem Aspekt des Verbraucherschutzes durchzuführen. Arbeitskreis Trägerdarstellung und Öffentlichkeitsarbeit Seine Tätigkeit ist gerichtet auf die Herstellung der Transparenz der Leistungsangebote im Verbund und die einheitliche Trägerdarstellung. Dazu wurde im Jahr 2001 ein sogenanntes GGV-Handbuch erarbeitet, das sich zurzeit noch in der Herstellung befindet. Darüber hinaus werden regionale und überregionale Presseinformationen erarbeitet. Arbeitskreis Mobilitätshilfe Die AG ist ein Zusammenschluss von Projekten freier Träger, die im Bezirk Marzahn-Hellersdorf Mobilitätshilfe hauptsächlich für ältere Menschen leisten. Die Treffen verfolgen das Ziel, die ständig wechselnden Angebote transparent zu halten und somit eine bessere Kooperation untereinander zu erreichen. Auch werden inhaltliche Themen bearbeitet (z.B. Umgang mit verwirrten Klienten), um den Projekten mehr Handlungssicherheit in ihrer Arbeit vor Ort zu ermöglichen. Altersarmut und Gesundheit 211 Interessenverbund „Wohnen im Alter“ Der lnteressenverbund Wohnen im Alter wurde gegründet durch Zusammenführung der Arbeitsgruppen „Altenfreundliches Wohnen“ und „Altengerechtes Wohnen“ der ehemaligen Bezirke Hellersdorf und Marzahn. Zur Gründung zählte der Interessenverbund 24 Mitglieder. Die Mitglieder des Interessenverbundes haben es sich zum Ziel gesetzt das Wohnen im Alter im Bezirk qualitativ zu Verbessern und eine größere Vielfalt an Wohnformen für Senioren zu schaffen. Die Bezahlbarkeit der Mieten steht dabei im Vordergrund. Als Hauptrichtungen zur Entwicklung des altengerechten Wohnens wurden vereinbart: • die individuelle Anpassung von vorhandenem Wohnraum in Verantwortung der Vermieter, • die Vermieter bemühen sich, im Rahmen der Sanierungsmaßnahmen seniorenfreundliche Wohnungen und soweit die Möglichkeit besteht, seniorengerechte Wohnungen herzustellen, • die Wohngebiets- bzw. Standortentwicklung durch Wohnumfeld- bzw. Infrastrukturgestaltung als kommunale Planungsaufgabe gemeinsam mit den Vermietern, • die Form des „eingestreuten Wohnens“ hat gegenüber den anderen Wohnformen den Vorrang. Die Umsetzung der Verbundziele vollzieht sich durch die Tätigkeit des Koordinierungsgremiums, der Verbundkonferenz und der Arbeitskreise. 212 Armut und Gesundheit Interessenverbund Wohnen im Alter (Gründung 26.10.2000) Aufgaben • von strategischer/grundsätzlicher Art für die Entwicklung des Wohnens im Alter im Bezirk, • Sensibilisierung der Vermieter für die Belange des Wohnens im Alter, • Empfehlungen an die Kommunalpolitik / Vermieter, • Zusammenführung der Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus den Arbeitskreisen, • Öffentlichkeitsarbeit Mitglieder • Land Berlin, vertreten durch das BA Hellersdorf von Berlin und das BA Marzahn v. Berlin, • Arbeiterwohlfahrt, • Behindertenverein Marzahn e. V., • Berlin Brandenburgische Wohnungsgesellschaft e. G., • BW-Ausschuss f. Gesundheit und Soziales, • Caritasverband für Berlin e. V., • City-Meile GbR, • Diakonie Bezirkssteile Marzahn, Hellersdorf, Lichtenberg • Energie- u. Wärmetechnik GmbH, • Erste Marzahner Wohnungsgenossenschaft e• G., • GWA Umweltkonzept GmbH, • Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft „Marzahner Tor“ e. G., • FSE Pflegeeinrichtung gGmbH, • Koordinierungsstelle für ambulante Rehabilitation, • MEGA Entwicklungs- u. Gewerbeansiedlungs-AG, • Pflegewohnzentrum Kaulsdorf-Nord gGmbH, • Seniorenbetreuungsprojekte Riemeister, • Seniorenvertretung Hellersdorf/Marzahn, Volkssolidarität, Landesverband Berlin e. V., • Wohnungsbaugesellschaft Wuhletal e. G., • Wohnungsbaugenossenschaft „Grüne Mitte“ e. G., • Wohnungsbaugesellschaft Hellersdorf mbH, • Wohnungsbaugesellschaft Marzahn mbH, • Wohnungsbaugenossenschaft „DPF“ e. G. Altersarmut und Gesundheit 213 Interessenverbund „Aktiv im Alter“ Dieser Interessenverbund befand sich bis vor kurzem in der Vorbereitung. Die Gründung erfolgte am 08.11.2001. Es haben sich außer dem Bezirksamt und der Seniorenvertretung 24 Träger der offenen Altenarbeit und Jugendarbeit bereit erklärt, im Interessenverbund Aktiv im Alter mitzuarbeiten. Die Mitglieder haben es sich zum Ziel gesetzt, die Möglichkeiten der Aktivität im Alter im Bezirk qualitativ zu verbessern und eine größere Vielfalt für Senioren zu bieten, um individuellen Ansprüchen gerecht zu werden und damit die Lebensqualität für ältere Bürger zu erhöhen. Folgende Hauptrichtungen haben sich herausgebildet: • Entwicklung flächendeckender kleinräumiger Angebote in Wohnnähe • qualitative Weiterentwicklung der Angebotsstruktur und der Angebotsinhalte • differenziertere interessenspezifische Angebote für verschiedene Generationen der Senioren • Einbeziehung, Ausbau, Motivation und Unterstützung von Freiwilligenarbeit, Ehrenamt und bürgerschaftlichen Engagement • Entwicklung generationsübergreifender Angebote auch in Zusammenarbeit mit Trägern der Kinder- und Jugendarbeit Netzwerk im Alter – Konzept, Struktur und Praxis des gerontopsychiatrischgeriatrischen Verbundes in Berlin-Marzahn-Hellersdorf Aus klinischer Sicht Renate Stemmler Praxis des Gerontopsychiatrisch-geriatrischen Verbundes Ich arbeite als Sozialarbeiterin in einem wichtigen Knotenpunkt dieses Netzwerkes, nämlich im Klinikum Hellersdorf, in der Klinik für Gerontopsychiatrie mit drei Stationen, einer Tagesklinik und einer lnstitutsambulanz. Die Gerontopsychiatrie beschäftigt sich mit den psychisch und somatisch kranken älteren und alten Menschen. Das Erkennen der komplexen Problemlagen, der Unterstützungserfordernisse des Unterstützungsbedarfs bei den Patienten/Klienten und ihren Angehörigen ermöglicht durch gezielte, effiziente und kostengünstige Diagnostik, Therapie, Rehabilitation, Betreuung und Pflege im Umfeld ihres bisherigen Lebensmittelpunktes ‚ Lebensqualität wieder herzustellen, zu verbessern bzw. zu erhalten. An dieser Stelle sollte darauf hingewiesen werden, dass sich unser Krankenhaus besonders beim Aufbau der Kooperationsmodelle eingebracht hat. Vom Krankenhaus aus wurden neue Formen der Zusammenarbeit mit initiiert, wie Helferkonferenzen, Familiengespräche und —therapien. Es fungiert als Schrittmacher für innovative Versorgungskonzepte, als Motor für die Qualitätssicherung im komplementären Bereich und als lmpulsgeber in der Region. Unser Handeln im Verbund basiert auch auf Rechtsgrundlagen (z.B. BSHG, Planungsgrundlagen auf Landes- und Bezirksebene), und es orientiert 214 Armut und Gesundheit sich an den Zielvorstellungen aller Verbundmitglieder und letztendlich natürlich an den Bedürfnissen, Erwartungen und Wünschen der Hilfesuchenden. Es geht uns vor allem um die subjektive Verbesserung der Befindlichkeit derjenigen, die sich uns als Professionelle anvertraut haben, wie auch darum, Drehtüreffekte zu verringern bzw. zu verlangsamen und auch Heimeinweisungen hinaus zu zögern oder vielleicht sogar zu vermeiden. Werden Patienten in unserer Klinik behandelt, die bereits vor der Krankenhauseinweisung von einem Verbundträger betreut wurden, bemühen wir uns regelmäßig um die Umsetzung, der mit allen Verbundpartnern getroffenen Absprachen über Vorgehensweisen bei der Aufnahme, während der stationären Behandlung und zur Entlassung. Die Verweildauern von Patienten in Krankenhäusern, insbesondere auch in den psychiatrischen Kliniken ‚ haben sich in den letzten Jahren immer mehr verkürzt. Um so eher steht die Frage für den Patienten im Raum, was nach der Entlassung passiert, wo er weiter behandelt und wie er betreut wird. Gerade bei psychisch Kranken kommt es darauf an, dass alle Beteiligten (Patient, Angehörige und Professionelle) gut zusammen arbeiten und vertrauens- und würdevoll miteinander umgehen Durch die Mitwirkung aller an dem Vorgang beteiligten Verbundpartner wird das Erkennen notwendiger Veränderungen bei dem Hilfesuchenden selbst oder in seinem Umfeld gefördert und entsprechend unterstützt. Somit wird es möglich, effektiver die Probleme einer Lösung zuzuführen. Die spezifischen Bedürfnisse und Probleme des Hilfesuchenden und seiner Angehörigen können so ganzheitlich betrachtet und behandelt werden. Die Hilfsangebote werden gemeinsam beraten und auf einander abgestimmt, um den oder die Hilfesuchenden zu unterstützen, anzuregen, Eigenkräfte zu entwickeln, die noch zur Verfügung stehenden Ressourcen nutzen zu können. Trotz aller Bemühungen und Engagement gelingt es natürlich nicht immer, den Vorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen der Hilfesuchenden voll zu entsprechen‚ aus welchen Gründen auch immer. Das gemeinsame Wirken jedoch‚ das gemeinsame Ziel verbindet und macht stark für die Interessen der Hilfesuchenden und Hilfebedürftigen. Die fallbezogene Zusammenarbeit von Verbundmitgliedern möchte ich an folgendem Beispiel aus unserer Praxis deutlich machen: Eine 75jährige Patientin wurde wegen nächtlicher Unruhezustände, Verfolgungswahn und zunehmender Orientierungslosigkeit zum ersten Mal vor einem Jahr in unsere Klinik aufgenommen und behandelt. Die Patientin lebte mit ihrem 80jährigen Ehemann allein in einer Zwei-Zimmerwohnung. Kinder hat das Ehepaar nicht. Freunde und Bekannte gab es nicht mehr‚ sie waren verstorben oder hatten sich zurückgezogen bzw. unsere Patientin hatte den Kontakt abgebrochen. Der Ehemann hatte damals bereits seit fast fünf Jahren seine hilfsbedürftige Ehefrau unterstützt, gepflegt und betreut. Die ambulante Pflegestufe war erst kurz vor der Krankenhauseinweisung beantragt worden, nachdem eine Sozialstation zwecks lnsulininjektion die Patientin zweimal täglich zu Hause aufgesucht und den Hilfebedarf bemerkt hatte. Beim ersten Angehörigengespräch in der Klinik‚ das in der Regel mit Arzt, Sozialarbeiter, Pflegekraft und dem Patienten erfolgt, stellten wir fest, dass der Ehemann mit der alleinigen Pflege seiner Frau total überfordert war und er dringend Hilfe und Entlastung brauchte, die er, wie er sagte, bereits durch dieses Gespräch erfuhr. Er wollte in jedem Fall seine Frau nach Abschluss der Behandlung wieder zu sich nach Hause nehmen, aber auch ambulante Hilfsangebote annehmen. Der Ehemann regte beim Amtsgericht, Altersarmut und Gesundheit 215 auf unsere Empfehlung hin, Betreuung an‚ die auch er übernehmen wollte. Etwa zwei Wochen nach der stationären Aufnahme fand eine Helferkonferenz statt mit dem Personenkreis, der uns in dem vorangegangenen Beratungsgespräch mit dem Ehemann und der Patientin sinnvoll erschien. Teilgenommen haben neben Patientin und Ehemann, Arzt, Schwester, Sozialarbeiterin der Klinik, eine Mitarbeiterin der Sozialstation, die bereits zu Hause das lnsulin verabreichte, eine Mitarbeiterin der Koordinierungsstelle für ambulante Rehabilitation älterer Menschen im Stadtbezirk und die Leiterin der in Wohnnähe der Patientin gelegenen geriatrischen Tagespflegestätte. Ziel der Helferkonferenz war die Entlassungs- und Hilfeplanung, die bereits wie immer mit der Aufnahme begann, aber erst zum jetzigen Zeitpunkt zu konkretisieren war. Es wurde gemeinsam beraten, empfohlen und Folgendes festgelegt: • Unterstützung bei Durchsetzung der MDK—Begutachtung im Krankenhaus für ambulante Pflegeleistungen, • Einbeziehung der Sozialstation in die tägliche Pflege einmal am Tag, • Besuch der Tagesstätte vorerst nur einmal pro Woche, weil sich die Patientin nur schwer von ihrem Mann trennen wollte und konnte, nur auf ihn fixiert war, was wir auch auf der Station bemerkten. • Zur Entlastung des Ehemannes wurde ihm die Teilnahme an einer Angehörigengruppe vermittelt und • Als Ansprechpartnerin für alle sozialen Probleme im ambulanten Bereich wurde er mit der Kollegin der Koordinierungsstelle und deren Hilfsangeboten bekannt gemacht. Die Patientin konnte vor Krankenhausentlassung noch zwei Schnuppertage in der Tagesstätte absolvieren, die sie gemeinsam mit ihrem Ehemann wahrnahm. Die Entlassung erfolgte eine Woche nach der Helferkonferenz, wie abgesprochen, nach Hause; die angebotenen Hilfen wurden angenommen. In größeren Abständen, z.B. bei den Beratungen in der Arbeitsgruppe des Verbundes „Patientenorientierte Zusammenarbeit“, besteht die Möglichkeit des Austausches unter uns Professionellen, derjenigen, die an der Versorgung des Betroffenen beteiligt waren oder sind. In diesem Fall funktionierte die Betreuung zu Hause relativ gut, so dass die Patientin auf diese Art die Möglichkeit hatte, noch mehr als ein Jahr zusammen mit ihrem Mann zu Hause zu leben. Der Umzug in ein Seniorenheim konnte hinausgeschoben werden. Es stellte sich jedoch bei erneuter stationärer Aufnahme und Behandlung in der Klinik heraus, dass die Betreuung unter ambulanten Bedingungen nicht mehr wie bisher gegeben ist. Der Umzug in ein Pflegeheim ist nun nicht mehr aufzuhalten. Die Zusammenarbeit im Verbund setzt sich für diese Patientin mit anderen Verbundmitgliedern fort. Jetzt ist der vollstationäre Pflegebereich gefragt und zur bewährten Zusammenarbeit aufgerufen. 216 Armut und Gesundheit Verbesserung der Situation pflegebedürftiger älterer Menschen Petra Fock Pflegebedürftige und nicht mobile Menschen leiden besonders stark an Kontaktarmut. Dabei ist für den Genesungsprozess besonders der Kontakt wichtig! Doch vorab einige Worte zu den Aufgaben und Zielen der Berliner Koordinierungsstellen für ambulante Rehabilitation älterer Menschen: Wir bieten älteren, kranken und behinderten Menschen sowie deren Angehörige Information, Beratung und Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben im Alter. Damit verfolgen wir das Ziel, den Verbleib in den eigenen vier Wänden so lange wie möglich zu sichern und damit verbunden unnötige Heimeinweisungen zu verhindern. Ich selbst arbeite in der Koordinierungsstelle in den Bezirken CharlottenburgWilmersdorf, die bereits 1988 existiert und sich seit 2001 unter der Trägerschaft des Unionhilfswerks befindet. Angelehnt an die Gebietsreform halten seit Ende 1999 zwölf Koordinierungsstellen ihr Angebot vor. Die Einrichtungen werden von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz gefördert und über die Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege finanziert. Die Koordinierungsstellen sind dem Prinzip der Neutralität gegenüber Ämtern und Leistungsanbietern verpflichtet. Sie sind nicht an das Dienstleistungsangebot ihrer Träger gebunden und arbeiten daher unabhängig und verbraucherorientiert. Unsere Arbeitsschwerpunkte sind, wie bereits erwähnt, die Information und Beratung zu allen Themen „Rund ums Alter“, dazu gehört auch die Wohnungsberatung und anpassung. Bei sehr komplexen Problemen bieten wir „Einzelfallorientierte Unterstützung“ und Begleitung nach der sozialarbeiterischen Methode des Case Management. Ein weiterer, wichtiger Schwerpunkt unserer Einrichtung ist aber auch die jahrelange Zusammenarbeit mit „Freiwillig Engagierten“, die ältere, kranke und vor allen Dingen immobile Menschen in ihren Wohnungen besuchen, damit diese nicht vereinsamen. Hierzu ein paar Zahlen: • In der Stadt leben ca. 395.000 Berliner Senioren/innen in Ein-Personen-Haushalten (Tagesspiegel 2001). • Davon sind Hochbetagte ab 90 und 101 Jahre und älter ca. 26.367 Bewohner/innen. • Des weiteren leben zur Zeit in Berlin ca. 26.000 Menschen in Pflegeheimen, davon sind ca. 50 Prozent dementiell erkrankt. Diese Zahlen verdeutlichen, wie groß die soziale Not der pflegebedürftigen und immobilen Senioren/innen ist, die sich hinter den Häuserwänden der Ein-PersonenHaushalte verbergen. Wir werden auf Grund unserer Arbeit tagtäglich mit diesem Problem konfrontiert. Der Grund von mangelnden Kontakten hat unterschiedlichste Ursachen: Entweder ist ein Lebenspartner inzwischen verstorben, es gibt keine Kinder oder diese leben nicht in Berlin, oder die Hochbetagten haben ihre eigenen Kinder überlebt. Aber auch Verwandte und Freunde gibt es nicht mehr. Eine Möglichkeit neue soziale Kontakte zu knüpfen ist auf Grund von Krankheit, Pflegebedürftigkeit und den oftmals damit verbundenen körperlichen Einschränkungen kaum gegeben, selbst wenn eine gewisse Mobilität noch vorhanden wäre. Denn sich in der Öffentlichkeit mit seinen Handicaps zu zeigen, ist auch immer verbunden mit Hemmungen, Ängsten und Altersarmut und Gesundheit 217 zeigen, ist auch immer verbunden mit Hemmungen, Ängsten und Schamgefühlen. Ich möchte hier nur die Erkrankung der Inkontinenz erwähnen. Sie ist nach wie vor ein großes Tabuthema, besetzt mit Scham gegenüber Verwandten, Freunden und den doch so vertrauten Hausärzten. Doch zurück zu all denen, die ihre Wohnung nicht mehr verlassen, weil sie das Treppensteigen nicht mehr bewältigen können oder weil sie bettlägerig sind oder weil sich Außenstehende von Demenzerkrankten abgewendet haben. All diese Menschen leiden bedingt durch ihre Immobilität an nicht gewollter Kontaktarmut und haben kaum eine Chance am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Das heißt, es fehlen wichtige Außenreize. Damit verbunden geht die Kommunikation verloren. Das Selbstbewusstsein nimmt ab. Das Leiden an sozialer Vereinsamung ruft wiederum psychische Erkrankungen hervor, wie z. B. die Altersdepression. Körperliche Immobilität führt somit auch zu geistigem Abbau, die Gedanken kreisen um die Erkrankung und vorhandenen Ängste verfestigten sich. All dies verhindert den Gesundungsprozess, die Lebensqualität sinkt rapide. Daraus resultieren folgende Forderungen Menschen, die pflegebedürftig sind und an Immobilität leiden, brauchen nicht nur Kontakte und menschliche Wärme zur Weihnachtszeit, sondern benötigen regelmäßige Ansprache, geistige Auseinandersetzung und kontinuierliche Begleitung. Die Kontinuität sollte hier nicht nur an die Zeit, sondern auch an die Personen gebunden werden. Damit ist eine feste Ansprechperson gemeint, die Zeit mitbringt, Verständnis und Geduld hat, die eventuell auch bereit ist, eine sogenannte Patenschaft zu übernehmen. Wir versuchen durch die Zusammenarbeit mit freiwillig Engagierten und durch die Förderung des nachbarschaftlichen Engagements, dieser Kontaktarmut ein Stück entgegen zu treten, wissen aber gleichzeitig, dass wir von den vielen Vereinsamten in dieser Stadt nur Wenige erreichen können. Zur Aufhebung dieser Vereinsamung bei pflegebedürftigen und immobilen Menschen, können Mediziner in den stationären wie ambulanten Einrichtungen einen großen Teil beitragen. Denn sie sind zunächst Dreh- und Angelpunkt bei Krankheitsbeginn, sind Ansprechperson, stellen die Diagnose. Sie haben zum einen den Kontakt zu Menschen in Krisensituationen, die z. B. eine neue Lebensaufgabe suchen. Zum anderen behandeln sie chronisch kranke Menschen, die unter Einsamkeit leiden. Hier bietet sich die Möglichkeit eine Brücke zwischen den Menschen zu bauen. Eine weitere Voraussetzung ist jedoch auch die Bereitschaft mit anderen sozialen Einrichtungen zusammenzuarbeiten. Denn eine Zusammenarbeit bietet regelmäßig Wissens- und Informationsaustausch, so dass bei Bedarf entsprechende Unterstützung vermittelt werden kann. Nicht nur die Ärzte, sondern alle anderen Verantwortlichen in der Gesundheits- und Sozialpolitik, müssen gegen die Kontaktarmut – und damit zur Gesundheitsverbesserung des älteren Menschen ihren Beitrag leisten. Zum Beispiel Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus verschiedensten Arbeitsbereichen müssen für die Personengruppe „Der pflegebedürftige immobile Mensch“ verstärkt sensibilisiert werden. Dazu gehören Kenntnisse über gesundheitliche Abbau- und Aufbauprozesse im Alter sowie das Angebot von fachlich kompetenten Fortbildungen. Die gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung des Freiwilligen-Engagements sollte gefördert werden, z.B. in Form durch wöchentliche Freistellungen am Arbeitsplatz. 218 Armut und Gesundheit Aber auch alle Privatpersonen können ihren Teil zur Verbesserung der Situation pflegebedürftiger, immobiler Menschen leisten: • Dazu gehört zunächst Verständnis und Geduld gegenüber diesen Menschen • Soziale Verantwortung übernehmen, in dem sich freiwillig engagieren, d. h. einmal wöchentlich Zeit zur Verfügung zu stellen Längerfristige Gesundheitsschäden, die die Gefahr einer dauerhaften Kontaktarmut in sich tragen, können zukünftig nur durch das Freiwilligen-Engagement eines jeden Einzelnen und das Zusammenwirken Vieler verhindert werden. Der erste bundesweite Beschwerdetag zum Thema Altersdiskriminierung war leider ein Erfolg Hanne Schweitzer Wir waren fest davon überzeugt, dass es Altersdiskriminierung hier zu Lande gibt. Weil uns in Politik und Verwaltung niemand glaubte, fühlten wir uns herausgefordert und wollten dieses Phänomen beweisen. Wir fanden 61 Gruppen der unterschiedlichsten Art und in allen Himmelsrichtungen der Republik. Sie wollten uns bei den Vorbereitungen und bei der Durchführung unterstützen. 31 Gruppen arbeiteten im Osten, hauptsächlich in Thüringen, 30 im Westen. Inhaltlich changierte das ungewöhnliche Bündnis von der Sozialistischen Jugend Deutschlands Die Falken, über das Bundesforum Katholische Sozialarbeit, die Stiftung Mitarbeit, das Netzwerk spanischsprechender Senior/innen „Adelante“, den DGB Thüringen bis hin zum Rat und der Verwaltung der Landeshauptstadt Erfurt. Am 21. November letzten Jahres (2001) war es so weit. Zwischen acht Uhr morgens und acht Uhr abends wurden 4.079 (kostenpflichtige) Anrufe registriert. 4.079 Anrufe! Die Mitarbeiter des WDR, der uns dankenswerterweise im Kölner Sender zehn Telefonleitungen für unsere Hotline zur Verfügung gestellt hatte, zeigten sich von dieser Resonanz ebenso tief beeindruckt, wie sie vorher skeptisch gewesen waren. Mit einer so massiven Reaktion hatte niemand gerechnet. Allerdings auch nicht mit so viel technischem Versagen. Von den 4079 Anrufer/innen, die über Altersdiskriminierung sprechen wollten, kamen die meisten nicht durch, weil die Leitungen ständig besetzt waren. Wir hätten gut und gerne doppelt so viele Telefonapparate und doppelt so viele Freiwillige zum Notieren der Anrufe gebrauchen können. Immerhin: Trotz der widrigen Umstände erreichten uns 1.300 Anrufer/innen. Und diese sprachen insgesamt 6.000 Minuten über das, was ihnen zum Thema Altersdiskriminierung einfiel. 6.000 Minuten. Das sind drei Tage und drei Nächte und noch mehr. Das Altersspektrum der Anrufenden lag zwischen 24 und 93 Jahren. Besonders bemerkenswert erscheint mir die hohe Zahl von Anrufer/innen aus kleinen und Kleinstorten. Die allermeisten Beschwerden kamen zum Thema Altersdiskriminierung im Arbeitsbereich. „Germany is discriminating against its older workers“ (Deutschland diskriminiert Altersarmut und Gesundheit 219 seine ältere Arbeitnehmer/innen), schrieb Jack Ewing in der Zeitschrift Business Week (2002:19). Wir können das bestätigen. Obwohl wir in einem Land leben, in dem die alten Männer das Sagen haben, also in einer Gerontokratie, gelten auf dem Arbeitsmarkt mittlerweile schon Dreißigjährige als zu alt. In diesen Zusammenhang passt ein Zitat des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1987:462): „Die Differenzen zwischen den Generationen (und die Wahrscheinlichkeit von Generationenkonflikten) steigt umso mehr, je bedeutendere Veränderungen in der Definition beruflicher Positionen eintreten (...), d.h. im Generierungsverfahren dem die Individuen unterzogen werden, die diese Position besetzen sollen.“ An den insgesamt sechzehn Telefonen, die in Berlin, in Erfurt, in Köln und in Lübeck geschaltet waren, saßen ehrenamtliche Mitarbeiter/innen. Sie hatten sich für einige Stunden oder sogar für den ganzen Tag zur Verfügung gestellt, um die Anrufe entgegenzunehmen und sie auf kodierten Fragebogen zu notieren. Trotz diverser Anfragen, die wir gestartet hatten, hatte sich für diese Aufgabe kein einziger Prominenter bereit gefunden. Die Ehrenamtlichen erklärten unisono, dass diese Arbeit kein Zuckerschlecken gewesen sei. Der Beschwerdetag hatte – so scheint's – bewirkt, dass viele Bürger/innen die ungerechte Behandlung, die sie wegen ihres Lebensalters erlebt hatten, nicht mehr länger ins persönliche Gramkästchen stecken und auch nicht mehr als individuelles Versagen ansehen wollten. Es wurde so viel Bedrückung, Elend und Ungerechtigkeit von den Anrufenden geschildert, so viele Frechheiten und Gemeinheiten, so viel personelle oder strukturelle Diskriminierung benannt, dass wir – ohne zu übertreiben – zu dem Schluss gekommen sind: Der Entwurf des Gesetzes zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht vom 10. Februar 2002 muss sehr viel stärker auf die Tatsache reagieren, dass Diskriminierungen wegen des Alters hier zu Lande immer häufiger vorkommen. Oft wurden die Geschäftspraktiken von Geldinstituten und Krankenkassen als diskriminierend beschrieben. Rentner/innen aber auch Pensionär/innen und Hausbesitzer/innen werden Dispositionskredite gekürzt oder ganz gestrichen, selbst wenn Sie nur zur Vorfinanzierung von schriftlich zugesagten staatlichen Leistungen benötigt werden. Hypotheken werden nicht gewährt oder verlängert. Krankenkassen und Ärzte verweigern Leistungen mit dem Hinweis darauf, dass Krankheiten oder Beschwerden altersbedingt seien, oder sie behaupten gar fälschlich, eine bestimmte Leistung müsse privat gezahlt werden, die Kassen kämen dafür nicht auf. Als diskriminierend wurde auch das miserable Image empfunden, dass ältere Menschen in dieser Gesellschaft haben, ein Image, dass durch Politikeräußerungen wie „Alterslast“, „Überalterung“, „Altersquotient“ oder „Pensionslastenwucht“ zusätzlich verschlechtert würde. Eine deutsche Anruferin, die seit zwanzig Jahren in Ägypten lebt, aber einmal pro Jahr in die Bundesrepublik zurückkommt, äußerte sich entsetzt über die schlechte Stimmung, die hier zu Lande gegenüber älteren oder nichtdeutschen Menschen herrsche. Überraschend waren die vielen Beschwerden, die sich auf den Öffentlichen Nahverkehr sowie den Öffentlichen Raum bezogen. Beide wurden häufig als „Zumutung“ oder als „Diskriminierung“ bezeichnet, von der alle Menschen betroffen seien, die nicht gut zu Fuß sind, vom Kleinkind bis zu den Rollstuhlfahrer/innen. 220 Armut und Gesundheit Das Thema Rente wurden ebenfalls sehr häufig angesprochen. Hier waren vor allem die Frauen die Beschwerdeführerinnen. Die immer noch ausstehende Anpassung der Ostrenten wurde ebenso als Diskriminierung empfunden, wie die Nichtanerkennung der DDR-Betriebsrenten. Viele Beschwerden über Altersdiskriminierung kamen aus dem Bereich des betreuten Wohnens und der ambulanten oder stationären Pflege. Der Personalmangel bzw. der Einsatz von überhaupt nicht oder schlecht ausgebildeten Arbeitskräften führt hier sehr oft zu mehr als Ungleichbehandlung. Vernachlässigung, strukturelle und personelle Gewalt wurden geschildert. Eine Frau beschrieb ihre Situation mit den Worten: „Zwischen Scheintod und Notschlachtung“. Mit Abstand am häufigsten wurden Altersdiskriminierungen im Bereich von Arbeit / Weiterbildung / Beförderung / Arbeitslosigkeit / Umschulung beschrieben. Ein Anrufer kommentierte seine Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt so: „Arbeitgeber, die keine älteren Leute einstellen, verstoßen gegen das Gleichheitsgebot im Grundgesetz.“ Der erste bundesweite Beschwerdetag hat die These des angelsächsischen Gerontologen Erdman Palmore bestätigt. Sie besagt, dass Altersdiskriminierung nach Rassismus und Sexismus die dritte und „jüngste“ biopolitische Diskriminierungsvariante ist (2001:572). Im deutschen Recht gibt es bislang keine Vorschrift, die es dem Individuum verbietet, andere Menschen zu diskriminieren. Anders gesagt: „Die Beachtung der Werte des Grundgesetzes wird den BürgerInnen dieses Landes nicht durch eine unmittelbare Zivilrechtsnorm zur Pflicht gemacht.“ (BMJ 2001) Diskriminierung, das bedeutet ungleich behandeln, verächtlich machen, sozial ausgrenzen. Die Politik der Gleichbehandlung aller Bürger/innen muss betrachtet werden im weltweiten politischen Kontext, der 1948 mit den allgemeinen Menschenrechten der UNO eröffnet wurde, und in den sechziger Jahren in den USA während der Bürgerrechtsbewegung konkrete Gestalt annahm. Literatur: Bourdieu, P. [1987]: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. Bundesministerium der Justiz (BMJ) [2001]: Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht. Stand 10.12.2001. Ewing, J. [2002]: Germany: Giving Middle-Aged workers the Boot. In: Business Week, February 11 2002, p. 19. Palmore, E. [2001]: Ageism Survey: First Findings. In: The Gerontologist, 41(5), p. 572. Altersarmut und Gesundheit 221 Verdeckte Armut – Alte Menschen – Fehlt Ihnen etwas (anderes)? Rainer Lachenmeyer www.fehlt-ihnen-etwas.de: Wer über einen PC verfügt, hat es leicht informiert zu bleiben. Dokumentationen des Vergangenen, Hinweis auf neue Aktivitäten sind hier abrufbar. Auf Anfrage informieren aber auch die Wohlfahrtsverbände, die Caritas, das Diakonische Werk und der Paritätische Wohlfahrtsverband über den aktuellen Sachstand. Beim Informationsgegenstand handelt es sich um eine Aktion, die sich zur Kampagne ausgewachsen hat: Von einem Projektkurs im Sommersemester 1999 beim Otto-SuhrInstitut der FU Berlin bis zum heutigen Tag kann die zeitliche Dimension als eine beträchtliche Strecke bezeichnet werden. Noch immer ist die Kampagne „laufendes Geschäft“. Sie setzt sich fort. „Schlussfolgerungen“ sind weniger angezeigt als kritische Reflektionen: Immer besteht die Gefahr, dass über die Verselbstständigung der Entwicklung – dies ist im Regelfall nur ein Begriff für „vom Tun getrieben, ohne Zeit zu finden, über das, was man tut, nachzudenken“ – Akzente falsch gesetzt werden. Sprachwissenschaftlich Geschulte wissen, wie falsch gesetzte Akzente Wort und Aussagen beeinträchtigen. Eine Reflektion kann dabei auf vier logischen Blöcken aufbauen, die jeweils in Wechselwirkung zu einander stehen. Es ist dabei nahezu beliebig, mit welchem Aspekt man seine Reflektion beginnt. Aus der Entwicklung heraus steht fest, dass diese einzelnen logischen Blöcke nicht einer Logik des Handelns entsprungen sind. Die im Zusammenhang mit der Kampagne entwickelten Aktivitäten sind für alle Akteure ein „Nebengeschäft“ gewesen. Über die ersten Erfolge und über die Stringenz in den Bemühungen ergab sich für alle ein neues System des vernetzten Denkens und Arbeitens, das sicherlich noch verbesserungswürdig ist, das seinen Wert aber gerade auch aus der Tatsache bezieht, dass gemeinschaftliches Engagement Vieles bewegen kann. Gerade dieser Kerngedanke sollte Mut machen! In den verschiedenen Diskussionen, die in Arbeitstreffen der Aktiven geführt wurden, wurde immer wieder deutlich, dass es zum Teil recht unterschiedliche Motive und Denkansätze sind, die für eine Beteiligung an der Kampagne und bei Prioritätensetzungen ausschlaggebend gewesen sind. Eine Art Querschnittsmotiv, das sich entsprechend aus Sicht der Wohlfahrtsverbände in jedem Falle aber so definieren lässt, ist die Grundannahme, dass es eben nicht die Konsumption finanzieller Hilfen zum Lebensunterhalt ist, wenn es um die Erfolgsbewertung geht: Menschen auf ihre Sozialhilfeberechtigung aufmerksam zu machen, sie zu ermutigen, Leistungen der Sozialhilfe (wieder) in Anspruch zu nehmen, bedeutet insbesondere auch, ihnen den Zugang zur ideellen Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeit zu verschaffen. Dieser Kerngedanke ist – man kann schon sagen über Jahrzehnte – vernachlässigt worden. Ziel der Sozialhilfe ist es, von ihr unabhängig zu werden. Dies geht eben nur durch Beratung, Unterstützung und Förderung und keineswegs nur über das zur Verfügung stellen finanzieller und materieller Ressourcen. In Bezug auf die älteren Menschen bleibt hier schon ein Fragezeichen, auf das es sich lohnt, zu einem späteren Zeitpunkt stärker einzugehen: Unabhängigkeiten zu schaffen, Selbsthilfepotenziale zu entwickeln, Handlungsautonomie zu gewährleisten - in wel- 222 Armut und Gesundheit chem Maße können derartige Ziele für ältere Menschen mit ihren spezifischen Bedarfen und Ausgangssituationen erreicht werden? Aus dem erklärten Ziel, das Beraterpotenzial im Zusammenhang mit der Kampagne so weit zu verstärken, dass in allen zwölf Berliner Bezirken eine Präsenz am zweiten Beratungstag, am 12. Mai 2001, gewährleistet war, ergab sich auch ein Interesse, das Beraterspektrum zu erweitern. Die Berliner Koordinierungsstellen für die ambulante soziale Rehabilitation älterer Menschen wurden in das Beratungsangebot einbezogen. Eine inhaltliche Akzentsetzung mit Bezugnahme auf die Generation der Alten wurde damit vorgenommen; aber – ehrlichen Herzens muss das gesagt werden – nicht um in besonderer Weise die ältere Generation als ratsuchende, demographische Mehrheit anzusprechen. Im Wesentlichen ging es darum, für mehr personelle Präsenz zu sorgen. Naheliegend ist aber, dass die spezifischen Arbeitsausrichtungen dieser Koordinierungsstellen selbstverständlich auch ihre Wirkung auf die Angebotsausrichtung in der Beratung und auf die Nachfragestruktur mit sich gebracht haben, zusätzliches Interesse wurde geweckt. Formal betrachtet haben die Berliner Koordinierungsstellen in einer spezifischen Hinsicht durchaus eine identische Angebotsstruktur wie die allgemeinen Beratungsstellen oder allgemeinen Sozialdienste der Verbände in den Bezirken: Soziale Beratung wird immer einerseits auf die Existenzsicherung abzielen, andererseits aber auch die Lebenslagenkonzepte von Zielgruppen berücksichtigen müssen. Positiv hervorzuheben ist, dass über den integrativen Ansatz, d. h. die Einbindung der Koordinierungsstellen in den allgemeinen Beratungstag mittelbar auch das spezielle Beratungsangebot der Koordinierungsstellen in den Gesamtkontext sozialer Beratung öffentlich präsentiert wurde. Selbstverständlich ist das hier weitaus reflektierter dargestellt als es an einem entsprechenden Beratungstag von der Öffentlichkeit auch nachvollzogen wird. Es handelte sich aber auch bislang nur um einen Tag, in einem Monat, in einem Jahr. Über die Verstetigung derartiger Ansätze lässt sich durchaus auch Werbung in der Sache betreiben. Es erwächst eine weitere Möglichkeit, den zweifelsohne vorhandenen Nachfragebedarf über Berliner Angebotsstrukturen näher zu bringen. In einer weiteren formalen Abstraktion des Überlegens wird jedoch dann die Frage in den Vordergrund rücken müssen, wie sehr vielleicht die Qualität von Kernaussagen beeinträchtigt wird, wenn man bezogen auf Hilfebedarfe das Kernfeld der Hilfe zum Lebensunterhalt mit den Hilfen in besonderen Lebenslagen (zu beachten hier auch die Korrespondenz mit vorgeschalteten Hilfesystemen wie z.B. der Pflegeversicherung) verknüpft: Es sind doch gerade die besonderen Lebenslagen, die das Autonomieprinzip der Hilfeberechtigten regelmäßig stärker beeinflussen, als es der Zielgruppe recht sein kann. Gebrechlichkeiten, Behinderungen, modifizierte Defizite jedweder Art können eben nicht durch die Inanspruchnahme von Beratung überwunden werden. Aber es besteht die Möglichkeit, auch hier über qualifizierte Beratung die Möglichkeiten auszuloten, die im Einzelfall bestehen können, um – im Rahmen des personengebunden Vorstellbaren - verbesserte Lebensqualitäten zu gewährleisten. Auch in derartigen Situationen ist „das Beratungsangebot auf dem Marktplatz“ ein unkonventioneller Weg, auf den Anspruch der persönlichen Beratung hinzuweisen und Mut zu machen, sich unterstützen zu lassen. Bezogen auf finanziellen und konsumptiven Hilfebedarf sind die Fragestellungen allerdings noch einmal anders zu formulieren: Würde die im Zusammenhang mit Altersarmut und Gesundheit 223 der sogenannten Rentenreform, die wesentliche Risiken der Altersabsicherung privatisiert, angekündigte Grundsicherung im Sinne des Wortes dem Anspruch der Grundsicherung genüge tun, müsste das Thema „Altersarmut“ in einem völlig neuen Licht betrachtet werden, nämlich als „aussterbendes Phänomen“. Da es sich aber bei der gewählten Form der Grundsicherung um einen Zuschlagsbetrag zu den Regelsätzen der Sozialhilfe handelt und diese Regelsätze seit Jahren künstlich verordnet knapp gehalten werden, wird der Anspruch bei Weitem nicht erfüllt. Übrig bleibt die Feststellung: Wenn sich die Politik für eine Grundsicherung im Alter einsetzt, dann tut sie dies auch aus der Erkenntnis heraus, dass für eine bestimmte Personengruppe die existenzielle Sicherung im Alter nicht gewährleistet ist. Unabhängig von neuen Ansätzen wie dem Grundsicherungsmodell ist es aber schon jetzt die Aufgabe der Sozialhilfe, die „Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“. Nach wie vor: Aufklärung tut not. Gerade ältere Menschen neigen dazu, ihre Bedarfe knapp zu halten, Ansprüche nicht extensiv zu formulieren. Es kann und darf nicht sein, dass sich der Staat am Schamgefühl Älterer dadurch saniert, dass er wegen fehlender Antragstellung nicht das gewährt, was eigentlich unabdingbar zur Verfügung stehen sollte. Wie die Kampagne „Fehlt Ihnen etwas?“ ihre eigentliche Kraft gerade dadurch entfaltet, dass sie in relativ schlichter Form sozialpolitische Schnittlinien aufzeigt, die relativ leicht nachvollziehbar sind, verliert die Aussagekraft sofort an Wert, wenn man sich dezidierter mit besonderen Aspekten beschäftigt und dafür die Schlichtheit der Betrachtung aufgibt. Dabei reicht es doch zunächst schon, sich auf weniger Aspekte zu beschränken. Jenseits des Erwerbseinkommens besteht keine Möglichkeit mehr, die Einkommenssituation dramatisch ins Positive zu verändern: Alte Menschen sind in der Wahrnehmung eher Erblasser als Erbberechtigte. Der Lotteriegewinn zählt zu den Seltenheiten. Andererseits haben alte Menschen aber auch einen erschwerten Zugang zu Krediten, wenn es darum geht, finanzielle Notlagen überbrücken zu können. Insofern wäre die Inanspruchnahme von Sozialleistungen die einzige Möglichkeit, um eine Kompensation zu unzureichendem Einkommen erhalten zu können. Bislang war jedoch das Prinzip der „verschämten Altersarmut“ weit verbreitet: Wegen der generell unterstellten Unterhaltspflicht der Kinder verzichteten alte Menschen darauf, ihre Ansprüche gegenüber den Sozialhilfeträgern geltend zu machen. Es mag dahin gestellt bleiben, ob dies immer freiwillig oder auch Ergebnis familiären Drucks gewesen ist. Die Tatsache, dass die situative Verbesserung in der Grundsicherung - hohe Freibeträge für die Unterhaltspflichtigen - öffentlichkeitswirksam überhaupt nicht diskutiert wurde, macht deutlich, dass keinerlei Aufklärungsarbeit besteht. Je länger das Bewusstsein vorherrscht, dass bei Inanspruchnahme der Sozialhilfe Kinder zur Kasse gebeten werden, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass alte Menschen ihre Ansprüche nicht geltend machen. Abzuwarten bleibt, wie denn nun die in Landeszuständigkeit liegenden Aufklärungen zur Grundsicherung beschaffen sein werden. Unter Umständen empfiehlt es sich, intensiver das Themenfeld der unzureichenden Einkünfte im Alter zu beackern. Relativ betrachtet ist die Versorgungssituation der jetzt Berenteten noch günstiger im Vergleich zu dem, was in der Zukunft zu erwarten ist. Objektiv wahrgenommen hat aber auch die Rentensystematik den Bezug zu Teuerungsraten in den Fortschreibungen schon lange verlassen. Wenn der sozialhilferechtlich relevante Bedarf mit den gleichen unzu- 224 Armut und Gesundheit reichenden Fortschreibungen wie bei der Rentensystematik vollzogen wird, bedeutet dies – keineswegs für eine sehr große, aber für eine konstante Gruppe von Menschen politisch verantwortete Armut. Dies muss skandalisiert werden. Dabei kann zunächst offen bleiben, ob dies im Kontext der Kampagne „Fehlt Ihnen etwas?“ zu geschehen hat, oder ob im Zuge der Neuregelungen, die aus der Grundsicherung resultieren, eine andere Form der Öffentlichkeitsarbeit erforderlich ist. Die Geräuschlosigkeit, mit der politisch die Einführung der Grundsicherung vollzogen wurde, macht deutlich, dass keinerlei politisches Interesse besteht, auf die sich ab 2003 verändernde Situation hinzuweisen. Zumindest für Berlin ist auch festzustellen, dass die Landesregierung – wohl eher auch armutsbedingt – keinerlei Initiativen entwickelt, um die erforderlichen Regelungsansätze zu definieren und die Öffentlichkeit über die zukünftig veränderte Situation aufzuklären. Nicht neben allem anderen, sondern vor allem, weil es definitiv auch einmal an der Zeit ist, muss das überstrapazierte Begriffspaar „Armut“ und „Alter“ auseinander dividiert werden: Der gerontologisch seit langem geführte Fakultätenstreit um Kompetenz – statt der Defizitansätze in der Schwammigkeit zwischen Altenpolitik und –arbeit – hatte, auf den Punkt gebracht, die durchaus notwendige Orientierung auf die Möglichkeiten, die sich im Alter bieten, an Stelle der Überbetonung des immer unmöglicher Werdenden zum Ziel. Insofern lässt sich auch feststellen, dass die – bis zu einem gewissen Teil einkommensunabhängige – Möglichkeit des gesellschaftlichen Engagements in hohem Maß auch Privileg der älteren Generation ist, die außerhalb der beruflich bedingten Zeitzwänge sich für gesellschaftlich wesentliche Anliegen einsetzen kann. Alte Menschen sind in diesem Sinne also nicht nur eine Personengruppe, die von Armut betroffen sein kann und die zum Gegenstand aufklärerischer Bemühungen wird. Alte Menschen können auch handelnde Subjekte im Zusammenhang mit einer derartigen Kampagne werden. Wenn es darum geht, „Präsenz zu zeigen“, Beratungstage durchzuführen, Aufgaben zu übernehmen, kann in einem sehr viel stärkerem Maße als bislang sicherlich auch auf das Potenzial zurückgegriffen werden, das sich im weiteren Sinne des Wortes als bürgerschaftliches Engagement bezeichnen lässt. Denk- und Fragwürdiges zum Thema Grundsicherung Absolut betrachtet kann das Grundsicherungsgesetz als Schritt in die richtige Richtung bewertet werden. Zumindest für einen konkret definierten Personenkreis wird eine Verbesserung der Lebenssituationen dahingehend vorgesehen, dass nicht die regelhafte Antragsbegründung vor den Sozialämtern die Voraussetzung für die Sicherung des Lebensunterhalts ist. Im Hinblick auf die nach wie vor desolate Arbeitsmarktsituation wird es insofern allerdings zu einer Verschärfung des Konfliktpotenzials für den Personenkreis kommen, der dem Grunde nach „arbeitsfähig ist“! Die bisherigen Mechanismen greifen nicht hinreichend, um die Integration in das Arbeitsleben zu gewährleisten. Als Kernproblem im Rahmen des Grundsicherungsansatzes bleibt allerdings das vorgesehene personenbezogene Finanzierungsmodell: Ausgangspunkt der Grundsicherung ist der Regelsatz eines Haushaltsvorstands nach dem zweiten Abschnitt des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG). Dieser erhält einen Zuschlagswert von fünfzehn Prozent. Bedenkt man, dass seit 1996 (!) die Neubestimmung der Regelsätze in der Sozialhilfe zwar ange- Altersarmut und Gesundheit 225 kündigt aber nicht realisiert wird, wird deutlich, welche Effekte mit dieser Grundsicherung verknüpft sind: Die verordnete Verknüpfung der Sozialhilfefortschreibung an die Rentenentwicklung (die ihrerseits ebenfalls nicht den Bezug zur Kaufkraftentwicklung hatte) hat dazu geführt, dass nach Expertenschätzungen die gegenwärtige Struktur der Regelsätze kalkulatorische Unterdeckungen zwischen sechs und zehn Prozent beträgt. Orientiert man sich an den ungünstigsten Prognosen bedeutet dies, dass zur Zeit bezogen auf den realen Bedarf die Grundsicherung nur eine fünfprozentige Zuschlagsvariante zum real gewährten Regelsatz eines Haushaltsvorstands wäre. Die Grundsicherung als Fortschritt, insbesondere für die ältere Generation zu verstehen, die nach Eintreten der Berentung keine Möglichkeiten mehr hat, die Einkommenssituation entscheidend zu verbessern, setzt voraus, dass an Stelle eines angekündigten Gesetzes zur Verlängerung von Übergangsregelungen im BSGH, das auf die Fortschreibung der provisorischen Regelungen noch um weitere drei Jahre abzielt, ein bedarfsorientiertes neues Bemessungssystem in der Sozialhilfe unverzüglich eingesetzt wird. Sollte dies gewährleistet sein, wäre das Grundsicherungsgesetz zu begrüßen. Es würde im wesentlichen auch dazu beitragen, dass die Sozialämter von unnötigen Arbeiten entlastet werden und sich entsprechend mit höherem Einsatz der Beratung von dann weiterhin Sozialhilfebedürftigen widmen könnten. Grundsicherungsgesetz § 1 Zur Sicherung des Lebensunterhaltes im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung können Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, die 1. das 65. Lebensjahr vollendet haben oder 2. das 18. Lebensjahr vollendet haben, unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmartklage voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch sind und bei denen unwahrscheinlich ist, daß die volle Erwerbsminderung behoben werden kann auf Antrag die Leistungen nach diesem Gesetz erhalten (Antragsberechtigte). Grundsicherungsgesetz § 2 (1) Anspruch auf Leistungen der beitragsunabhängigen, bedarfsorientierten Grundsicherung haben Antragsberechtigte, soweit sie ihren Lebensunterhalt nicht aus ihrem Einkommen und Vermögen beschaffen können. Einkommen und Vermögen des nicht getrennt lebenden Ehegatten und des Partners einer eheähnlichen Gemeinschaft, die den Bedarf und die Grenzen des § 3 übersteigen, sind zu berücksichtigen. Unterhaltsansprüche der Antragsberechtigten gegenüber ihren Kindern und Eltern bleiben unberücksichtigt, sofern deren jährliches Gesamteinkommen im Sinne des § 16 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch unter einem Betrag von 100.000 Euro liegt. (2) Es wird vermutet, daß das Einkommen der Unterhaltspflichtigen nach Absatz 1 Satz 3 die dort genannte Grenze nicht überschreitet. Zur Widerlegung der Vermutung nach Satz 1 kann der zuständige Träger der Grundsicherung von dem Antragsberechtigten Angaben verlagen, die Rückschlüsse auf die Einkommensverhältnisse der Unterhaltspflichtigen nach Absatz 1 Satz 3 zulasen. Liegen im Einzelfall hinreichende Anhaltspunkte für ein Überschreiten der in Absatz 1 Satz 3 genannten Einkommensgrenze vor, sind die Kinder oder Eltern der Antragsberechtig- 226 Armut und Gesundheit ten gegenüber dem Träger der Grundsicherung verpflichtet, über ihre Einkommensverhältnisse Auskunft zu geben, soweit die Durchführung dieses Gesetzes es erfordert. Die Pflicht zur Auskunft umfasst die Verpflichtung, auf Verlangen des Trägers der Grundsicherung Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen. § 116 Abs. 3 des Bundessozialhilfegesetzes gilt entsprechend. (3) Antragsberechtigte haben keinen Anspruch auf Leistungen der bedarfsorientierten Grundsicherung, wenn die nach Absatz 2 Satz 1 geltende Vermutung nach Absatz 2 Satz 3 und 4 widerlegt ist. Keinen Anspruch auf Leistungen der bedarfsorientierten Grundsicherung haben auch Antragsberechtigte, die leistungsberechtigt nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes sind oder die in den letzten zehn Jahren ihre Bedürftigkeit vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt haben Grundsicherungsgesetz § 3 (1) Die bedarfsorientierte Grundsicherung umfasst 1. den für den Antragsberechtigten maßgebenden Regelsatz zuzüglich 15 vom Hundert des Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes nach dem Zweiten Abschnitt des Bundessozialhilfegesetzes. 2. die angemessenen tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, bei stationärer Unterbringung sind als Kosten für Unterkunft und Heizung Beträge in Höhe der durchschnittlichen angemessenen tatsächlichen Aufwendungen für die Warmmiete eines Einpersonenhaushaltes im Bereich der nach § 4 zuständigen Behörde zugrunde zu legen. 3. die Übernahme von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen entsprechend § 13 des Bundessozialhilfegesetzes. 4. einen Mehrbedarf von 20 vom Hundert des maßgebenden Regelsatzes nach Nummer 1 bei Besitz eines Ausweises nach § 4 Abs. 5 des Schwerbehindertengesetzes mit dem Merkzeichen G, 5. die Dienstleistungen, die zur Erreichung der Zwecksetzung gemäß § 1 erforderlich sind. (2) Für den Einsatz von Einkommen und Vermögen gelten die §§ 76 bis 88 des Bundessozialhilfegesetzes und die dazu erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend Grundsicherungsgesetz § 4 Zuständig für die Leistung ist der Kreis oder die kreisfreie Stadt (Träger der Grundsicherung), in dessen Bereich der Antragsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat Grundsicherungsgesetz § 5 (1) Der zuständige Rentenversicherungsträger informiert und berät die Personen nach § 1, die rentenberechtigt sind, über die Leistungsvoraussetzungen und über das Verfahren nach diesem Gesetz. Personen, die nicht rentenberechtigt sind, werden auf Anfrage beraten und informiert. Liegt eine Rente unter dem Grundbetrag nach § 81 Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes, ist der Information zusätzlich ein Antragsformular für die Gewährung der Grundsicherung beizufügen. Der Rentenversicherungsträger übersendet einen eingegangenen Antrag mit einer Mitteilung über die Höhe der monatlichen Rente und über das Vorliegen der Voraussetzungen der Antragsberechtigung an den zuständigen Träger der Grundsicherung. Eine Altersarmut und Gesundheit 227 Verpflichtung des Rentenversicherungsträgers nach Satz 1 besteht nicht, wenn eine Inanspruchnahme von Leitungen nach diesem Gesetz wegen der Höhe der gezahlten Rente sowie der im Rentenverfahren zu ermittelnden weiteren Einkommen nicht in Betracht kommt. (2) Besteht bei Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, kein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, prüft der nach § 109a Abs. 2 Satz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch zuständige Rentenversicherungsträger auf Ersuchen und auf Kosten des zuständigen Trägers der Grundsicherung, in dessen Bereich der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, ob die Voraussetzungen des § 1 Nr. 2 vorliegen. Ein Ersuchen nach Satz 1 soll nur erfolgen, wenn es bei dem Antragsteller aufgrund von Tatsachen wahrscheinlich erscheint, daß er die Voraussetzungen des § 1 Nr. 2 erfüllt. Gewährt ein Träger der Sozialhilfe einer Person, die berechtigt im Sinne von § 1 ist oder aus wahrscheinlichen Gründen sein kann, Hilfe zum Lebensunterhalt oder Hilfe in besonderen Lebenslagen in Einrichtungen, so weist er auf die Leistungsvoraussetzungen und auf das Verfahren nach diesem Gesetz hin und fügt ein Antragsformular bei. Grundsicherungsgesetz § 6 Die Leistung wird in der Regel für den Zeitraum vom 1. Juli bis zum 30. Juni des Folgejahres bewilligt. Bei der Erstbewilligung oder bei einer Änderung der Leistung beginnt der Bewilligungszeitraum im Ersten des Monats, in dem der Antrag gestellt worden ist oder die Voraussetzungen für die Änderung eingetreten und mitgeteilt worden sind. Führt eine Änderung nicht zu einer Begünstigung des Berechtigten, so beginnt der neue Bewilligungszeitraum am Ersten des Folgemonats. Grundsicherungsgesetz § 7 Die Träger der Rentenversicherung und die Träger der Grundsicherung sind verpflichtet, zur Umsetzung dieses Gesetzes 1. sich gegenseitig die für die Durchführung der Aufgaben nach diesem Gesetz erforderlichen Angaben mitzuteilen, 2. zur Erreichung der Zielsetzung dieses Gesetzes zusammenzuarbeiten und 3. Antragsberechtigte bei der Antragstellung zu unterstützen Grundsicherungsgesetz § 8 (1) Zur Beurteilung der Auswirkungen dieses Gesetzes und zu seiner Fortentwicklung werden Erhebungen über 1. die Empfänger und 2.die Ausgaben und Einnahmen der bedarfsorientierten Grundsicherung als Bundesstatistik durchgeführt. (2) Erhebungsmerkmale nach Absatz 1 Nr. 1 sind: Geschlecht, Geburtsmonat und –jahr, Wohngemeinde und Gemeindeteil, Staatsangehörigkeit, volle Erwerbsminderung gemäß § 1 Nr. 2, Leistungen in und außerhalb von Einrichtungen, Ursache und Beginn der Leistungsgewährung nach Monat und Jahr, die nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 genannten Bedarfe je Monat, Nettobedarf je Monat, Art des angerechneten Einkommens. Die Erhebung erfolgt jährlich zum 31. Dezember als Bestandserhebung. 228 (3) Armut und Gesundheit Erhebungsmerkmale nach Absatz 1 Nr. 2 sind: Sitz der zuständigen Behörde, Ausgaben für Leistungen und Einnahmen jeweils in und außerhalb von Einrichtungen, Anzahl und Kosten der Gutachten nach § 5 Abs. 2 Satz 2. Die Erhebung erfolgt jährlich für das abgelaufene Kalenderjahr. (4) Hilfsmerkmale sind Name und Anschrift des Auskunftspflichtigen sowie Name und Telekommunikationsnummer der für eventuelle Rückfragen zur Verfügung stehenden Personen. (5) Für die Erhebungen besteht Auskunftspflicht der zuständigen Behörden nach § 4. Die Angaben zum Gemeindeteil und über die für Rückfragen zur Verfügung stehenden Personen sind freiwillig. Die statistischen Ämter der Länder stellen dem statistischen Bundesamt für Zusatzaufbereitung des Bundes jährlich unverzüglich nach Aufbereitung der Bestandserhebung Einzelangaben aus einer Zufallsstichprobe mit einem Auswahlsatz von 25 vom Hundert der Leistungsempfänger zur Verfügung. Die Ergebnisse der Statistik dürfen auf die einzelne Gemeinde bezogen veröffentlicht werden. Altersarmut und Gesundheit 229 Folgen der sozialen Armut – Hilfe durch spezielle Betreuung in Tagesstätten und Heimen Christine Roßberg Monetärer Armut folgt oft soziale Armut. Darunter verstehen wir Isolierung durch Mangel bzw. Verlust der sozialen Kommunikation: • Es fehlt an finanziellen Mitteln, um sich Konzert- und Theaterbesuche oder Reisen leisten zu können. • Der Besuch von Veranstaltungen wird nicht nur aus finanziellen Gründen vermieden, man fürchtet auch Nachfragen. • Scham und der Versuch, die fatale Lage zu vertuschen, führt zu Zurückgezogenheit, Isolierung und Einsamkeit. Es kommt zur sozialen Ausgrenzung. • Mobilitätsverlust durch Mangel an Bewegung wirkt sich negativ auf den Organismus und auf bereits bestehende Krankheiten aus, ebenso durch Minderdurchblutung auf die Leistungen des Gehirns. • Weitere Folgen sozialer Armut können psychosomatische Störungen, Depressionen, suizidales Verhalten und Demenz sein. • Schließlich können Defizite in den zwischenmenschlichen Beziehungen, das Erleben sozialer Ausgrenzung zum Verlust des Lebenssinnes führen. Soziale Armut wird durchaus individuell verarbeitet. Das ist aus der unterschiedlichen Lebensbiografie, dem unterschiedlichen Lebensstil der Betroffenen erklärbar. Geistig aktive, interessierte Menschen finden auch in monetärer und sozialer Armut eher Hilfe für sich im eigenen Umfeld als geistig weniger bewegliche. Strategien für die Bewältigung sozialer Armut müssen auf das Bedürfnis betroffener alter Menschen nach sozialen Kontakten, stabilen zwischenmenschlichen Beziehungen, Harmonie und Sicherheit eingehen. Vor allem aber: Sie müssen rechtzeitig einsetzen, um irreversible Schäden zu verhindern. Der Idealfall wäre, dass ein durch soziale Armut Betroffener Hilfe vor Ort erhält, das heißt, in seiner Wohnung, seinem Lebensumfeld. Das kann geschehen durch aufsuchende Arbeit von Ehrenamtlichen. Denkbar ist auch der Anschluss an eine Selbsthilfegruppe gegen Vereinsamung und damit der Kontakt zu Menschen mit ähnlichen Erfahrungen. Die nächste Stufe der Hilfe kann der Besuch einer Tagespflegestätte sein, zu der man morgens geholt und abends wieder in die eigenen vier Wände gebracht wird. In der Tagespflegestätte wird professionelle Hilfe geleistet und versucht, den betreuten alten Menschen psychisch und körperlich zu stabilisieren, um eine Einweisung in ein Pflegeheim möglichst lange hinauszuzögern oder möglichst ganz zu vermeiden. Erst als letzte Möglichkeit ist die Aufnahme in ein Senioren- und Pflegeheim denkbar, weil eine Rückkehr nach Hause kaum noch möglich ist. Voraussetzung einer teilstationären oder stationären Betreuung ist die finanzielle Absicherung. In dem Entwurf zum Rahmenversorgungsvertrag war in Berlin die soziale Betreuung nicht vorgesehen. Offensichtlich wird noch immer bei den Entscheidungsträgern die Notwendigkeit der sozialen und psychischen Betreuung als mindestens gleichberechtigt neben körperlicher und medizinischer Pflege nicht genügend erkannt. Aus eigenen Erfahrungen möchte ich hier einfügen, dass auch die Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes, d. h. die Ärzte, die 230 Armut und Gesundheit innerhalb eines relativ kurzen Hausbesuchs beurteilen sollen, welche Pflegestufe ein Patient hat, nicht vorbereitet sind, die soziale und psychische Situation des Patienten richtig einzuschätzen. Hier in Berlin wurde nach zweijährigen zähen Bemühungen ein Rahmenvertrag gemäß § 75 Absatz 1 der Sozialgesetzgebung zur teilstationären Pflege ausgehandelt zwischen den Landesverbänden der Pflegekassen und dem Land Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltung Gesundheit und Soziales und den Verbänden DPW, AWO, DRK, Caritas, Diakonisches Werk und der jüdischen Gemeinde zu Berlin sowie den privaten Anbietern. Darin steht unter dem Abschnitt "Soziale Betreuung": "Durch Leistung der sozialen Betreuung soll die Pflegeeinrichtung für die Pflegebedürftigen einen Lebensraum gestalten, der ihnen die Führung eines selbständigen und selbstbestimmten Lebens ermöglicht sowie zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft innerhalb und außerhalb der Einrichtung beiträgt. Hilfebedarf bei der persönlichen Lebensführung und bei der Gestaltung des Alltags nach eigenen Vorstellungen soll durch Leistungen der sozialen Betreuung ausgeglichen werden, soweit dies nicht durch das soziale Umfeld (z. B. Angehörige und Betreuer geschieht). Ziel ist es insbesondere, Vereinsamung, Apathie, Depression und Immobilität zu vermeiden und dadurch einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit vorzubeugen bzw. die bestehende Pflegebedürftigkeit zu mindern. In diesem Sinne dienen die Leistungen im Rahmen der sozialen Betreuung der Orientierung zur Zeit, zum Ort, zur Person, der Gestaltung des persönlichen Alltags und einem Leben in der Gemeinschaft, der Bewältigung von Lebenskrisen und der Begleitung Sterbender sowie der Unterstützung bei der Erledigung persönlicher Angelegenheiten." Diese Grundlage für die Finanzierung der teilstationären Betreuung ist ein Erfolg und seit dem 18.11.1996 in Kraft. Zu den Verbänden, die indirekt, unter dem Dach des DPW, mit am Verhandlungstisch saßen, gehört der Landesverband der Volkssolidarität, dem ich angehöre. Wir haben eine geriatrische Tagespflegeeinrichtung, drei Seniorenheime und sechs Sozialstationen, können also auch die soziale Betreuung für betroffene alte Menschen auf unterschiedlichen Ebenen ausüben. Gegenüber anderen Wohlfahrtsverbänden haben wir einen großen Vorteil. Wir haben 35.011 Mitglieder, von denen 2.718 ehrenamtlich direkt "vor Ort" im Wohngebiet wirken. Sie kennen viele der alten Menschen durch persönliche Kontakte und sind ihnen vertraut. Bei Problemen sind sie die ersten, die aufmerksam werden und in Gesprächen und bei Besuchen Hilfe anbieten können, die nicht viel kostet, aber aus der Einsamkeit zur Gemeinschaft führen kann. Wir verfügen auch über eine Selbsthilfe-Kontaktstelle, die unter dem Motto "Eine Aktion gegen die Einsamkeit" ein Vermittlungsservice und Aktivitätengruppen für "alle ab 65" anbietet. Innerhalb unseres Berliner Verbandes können wir die Betreuungsarbeit vernetzen durch Kontakte der Ehrenamtlichen mit den professionellen Einrichtungen und gute Verbindungen dieser Einrichtungen untereinander. Unsere Tagespflegestätte hat also viele Informationsquellen, die ihr Notfälle und Betreuungsbedürftige melden. Neben den ehrenamtlichen Helfern sind es vor allem: 1.) Die Sozialstationen. Sie betreuen oft ältere Menschen, für die selbst ein dreimaliges Aufsuchen pro Tag nicht ausreicht, um den Kontaktbedarf abzudecken. Die Abrechnung der Pflegeleistungen nach sogenannten Modulen lät keine Zeit für Altersarmut und Gesundheit 231 persönliche Zuwendung und Gespräche zu. Deshalb versuchen die Sozialstationen, weitere Möglichkeiten zu erschließen. So entwickeln wir zur Zeit ein Projekt, in dem ehrenamtliche Helfer die professionellen Mitarbeiter der Sozialstationen unterstützen und zu den von der Pflegedienstleitung ausgewählten Betreuten gehen, mit ihnen sprechen, ihnen vorlesen oder einfach als Kontaktperson für sie da sind. 2.) Neben den Sozialstationen sind es oft die Kinder, die sich Sorgen um ihre Eltern machen, aber auf Grund der familiären Situation (entfernte Wohnung, berufliche Tätigkeit) nicht für ausreichenden Kontakt sorgen können. 3.) In vielen Fällen informieren die behandelnden Ärzte die Mitarbeiter der Tagespflegestätte. Sie, die Ärzte, sind für manche ihrer Patienten der einzige Kontakt zur Außenwelt. 4.) Weitere "Informanten" sind die Mitarbeiter des Sozialamtes, die wegen finanzieller oder anderer Leistungen des Sozialamtes die alten Menschen aufsuchen und dabei beginnende Isolierung und Vereinsamung feststellen. Erhält die Tagespflegestätte einen neuen Klienten, erfolgen zuerst Hausbesuche durch leitende Mitarbeiter, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Oft muss dabei eine Ablehnungshaltung des alten Menschen überwunden werden, die um so stärker ist, je länger die Isolierung bereits besteht. Um den Klienten besser kennen zu lernen, werden alle vorhandenen Quellen genutzt, Nachbarn, Mitarbeiter der Sozialstation, die Kinder, der Hausarzt. Sofern der Betreute nicht selbst mitarbeitet, gilt es herauszufinden, welchen Beruf, welches Steckenpferd er hatte, welche Lebenskrisen es gab. In der Tagespflegestätte werden dann viele Einzelgespräche geführt, in denen nachgespürt wird, welche Probleme bestehen. Die Kommunikation zu den anderen Besuchern der Tagespflege wird sehr vorsichtig in kleinen Gruppen und ganz individuell aufgebaut, um Misserfolgserlebnisse zu vermeiden. Differenzierte Beschäftigungen werden angeboten, ohne Zwang, um das Wohlfühlen in der Gemeinschaft zu fördern. Gemeinsame Spaziergänge, tägliche Gymnastik dienen der körperlichen, Gedächtnistraining der geistigen Mobilisation. Viel Aufmerksamkeit wird der Biografiearbeit gewidmet. Der Betreute wird auf seine berufliche Tätigkeit angesprochen, erhält die Gelegenheit, darüber zu sprechen und die anderen hören interessiert zu. Alte Filme mit seinerzeit bekannten Schauspielern und Schallplatten mit Schlagern aus vergangenen Zeiten wecken Erinnerungen, auch das gemeinsame Singen von Volksliedern. Musik als Therapie unterstützt das Gefühl von Harmonie, der sehr beliebte Tanz mobilisiert selbst zurückhaltende und distanzierte Besucher. Das Blättern in alten Poesiealben, das gemeinsame Anschauen von Familienfotos stärkt die Selbstsicherheit und fördert positive Emotionen. Besonderer Wert wird auch auf die Kleidung und Körperpflege gelegt, und der nahe gelegene Frisiersalon bedient die Klienten zu moderaten Preisen. In der Tagespflegestätte arbeiten neben den fest angestellten Mitarbeitern stets mehrere Praktikanten, die in der Ausbildung zum Altenpfleger oder Sozialarbeiter sind. Am konkreten Fall können sie hier die Meisterung von Krisensituationen lernen. Am wichtigsten ist meines Erachtens die Vorbildwirkung der Mitarbeiter, die mit großer emotioneller Zuwendung und Hingabe an ihren Beruf die Besucher der Tagespflegestätte betreuen. In vielen Fällen sind sie durchaus zum Familienersatz geworden, werden 232 Armut und Gesundheit akzeptiert, respektiert, ja auch geliebt. Eine Tagespflegeeinrichtung kann etwas leisten, was eine Sozialstation nicht bieten kann. Sie hat ein größeres Zeitbudget, das ideal ist, um gefährdete Menschen aus ihrer Einsamkeit herauszuholen und somit der sozialen Armut entgegenzuwirken. Dieses Zeitbudget haben die Mitarbeiter in den Senioren- und Pflegeheimen nicht. Natürlich ist die Unterbringung eines sozial isolierten alten Menschen in ein Heim formal eine Verbesserung seines Zustandes. Er wird körperlich und gesundheitlich versorgt, hat seine regelmäßigen Mahlzeiten und fachliche Betreuung. Saubere Unterbringung und regelmäßige Mahlzeiten reichen für ein Wohlbefinden jedoch nicht aus. Der Personalschlüssel der Heime ist zu eng gefasst und vorwiegend auf die körperliche Versorgung berechnet. Was sich bei der Tagesbetreuungsstätte so positiv auswirkt, fehlt in den Heimen. Nur eine 0,6-Stunden-Kraft bemüht sich darum, ca. 130 Heimbewohner körperlich und geistig zu aktivieren. Im Angebot sind Sitz- und Stuhlgymnastik, Bewegungsübungen, Gedächtnistraining und Beschäftigungstherapie in Form von Basteln, Malen, Seidenstickerei und anderes. Die Heime sind deshalb sehr daran interessiert, zusätzliche Betreuungsmöglichkeiten zu finden in Form von Mobildiensten, die mit den Heimbewohnern spazieren gehen, die Rollstuhlfahrer mit der Außenwelt in Kontakt bringen. Oder ABM-Projekte werden genutzt, die Beschäftigungstherapie in den Heimalltag bringen. Beides ist aber derzeit den Sparmaßnahmen des Berliner Senats zum Opfer gefallen. Hier können innerhalb unseres Verbandes ehrenamtliche Helfer durch Besuchsdienste bei Heimbewohnern, die keine Angehörigen haben, eine kleine Hilfe anbieten, ein Vertrauensverhältnis aufbauen und damit zum Wohlbefinden diese alten Menschen beitragen. Einen weiteren Vorteil bietet unser Mitgliederverband durch die Arbeit derjenigen Mitgliedergruppen, die im Umfeld der Heime wirksam sind. Sie veranstalten Kulturnachmittage im Heim, in die ein Teil der Heimbewohner mit einbezogen wird. Auf diese Weise wird der Veranstaltungsplan, den jedes Heim für seine Bewohner hat, sinnvoll ergänzt. Dennoch ist es in der derzeitigen komplizierten personellen und finanziellen Situation der Heime sehr schwer, ständig daran zu arbeiten, dass keiner der Heimbewohner im Heim vereinsamt. Von besonderer Wichtigkeit ist deshalb der gute Kontakt der verschiedenen sozialen Einrichtungen unseres Verbandes untereinander, um in bestimmten Fällen im Interesse der Betreuten zusammenzuarbeiten. Trotz der angespannten finanziellen Situation der Einrichtungen, in der jeder Besuch eines Patienten durch eine Sozialstation dieser entsprechendes Geld, oder jeder Tag, an dem ein alter Mensch im Heim versorgt wird, dem Heim einen bestimmten Tagespflegesatz bringt, fanden in einigen Fällen besondere Absprachen statt. So versorgen Sozialstationen einige Klienten nicht dreimal am Tag, sondern bereiten sie früh für den Besuch in der Tagespflegestätte vor und empfangen sie abends, wenn sie von dort zurückkommen. In einem anderen Fall wird eine Heimbewohnerin zweimal in der Woche in die Tagespflegeeinrichtung zur Betreuung gefahren. Beide Einrichtungen haben die finanzielle Frage miteinander abgesprochen. Zusammenfassend möchte ich sagen: • Die Folgen sozialer Armut haben schwerwiegende Auswirkungen auf die Lebensqualität älterer Menschen und müssen von der Sozialpolitik die gleiche Wertung erhalten, wie z.B. Folgen von schweren bzw. chronischen Krankheiten. Altersarmut und Gesundheit • • • • 233 Der Einsatz von qualifiziertem Personal muss gesichert und in den Heimen erhöht werden. Es darf zu keiner weiteren Reduzierung von entsprechenden Beratungs-, Betreuungs- und Pflegekapazitäten kommen. Unterstützende soziale Dienste (z.B. Mobilitätsdienst) dürfen nicht wegrationalisiert werden. Die Vernetzung der vorhandenen Potenziale sollte gefordert und gefördert werden, um ihre Effizienz zu erhöhen. Die Tätigkeit der Ehrenamtlichen bei der Betreuung vereinsamter und isolierter alter Menschen muss vor allem durch kompetente Fortbildung und Aufwandsentschädigung für ihre Arbeit unterstützt werden. 235 Kapitel 5 Migration und psychische Gesundheit 236 Armut und Gesundheit Migration und psychische Gesundheit – Zusammenfassung, Ziele und Forderungen Ute Bandelin Das Forum „Migration und psychische Gesundheit“ knüpfte an die Fachtagungen zu den Themen Gesundheit bzw. Gesundheitliche Versorgung von Migrant/innen und Armut und Migration im Rahmen der bundesweiten Kongresse „Armut und Gesundheit“ der letzten Jahre an. Schwerpunkte des Forums waren psychische Krankheiten und psychosoziale Belastungen von Migrant/innen unterschiedlicher Genese sowie spezifische Möglichkeiten der Versorgung und Betreuung. Ziel des Forums war es, pathologische Auswirkungen von Migration, Flucht, Illegalisierung, weiblicher Genitalverstümmelung und anderem auf die Psyche als Problemfelder darzustellen und – entsprechend dem Thema „Gesundheitsziele gegen Armut – Netzwerke für Menschen in schwierigen Lebenslagen“ Strategien zur Verbesserung der psychiatrischen Behandlung und psychosozialen Betreuung zu erarbeiten. Die Beiträge Zu ihrem einführenden Referat „Kulturelle Kompetenz in der psychiatrischen Versorgung von Migrant/innen und Minderheiten: Herausforderung und Chance“ weist Dagmar Schultz auf die seit langem bekannten Probleme in der psychosozialen Betreuung von Migrant/innen hin. Sie benennt insbesondere die ungenügende Berücksichtigung kulturell, schicht- oder geschlechtsbedingt verschiedener Muster der Krankheitswahrnehmung sowie der Möglichkeiten der Deformierung der Persönlichkeitsentwicklung durch Migration und ethnische Diskriminierung, die Behandlung und Rehabilitation behindern und verzögern kann. Eine negative Rolle spielt dabei auch der Mangel an Fachpersonal, das selbst einen Migrationshintergrund hat und die Muttersprache teilt. Die Folge ist, dass in der psychiatrischen und psychologischen Betreuung der Anteil der psychisch kranken Migrant/innen weit unter dem Bevölkerungsanteil liegt, obwohl zu vermuten ist, dass psychische Krankheiten kulturindifferent verbreitet sind. Hemmungen, sich an eine deutsche Betreuungseinrichtung zu wenden, werden durch das Stigma verstärkt, das der Psychiatrie anhaftet. Zur Verbesserung der Situation sind die Steigerung der interkulturellen Kompetenz als Qualitätsmerkmal der Betreuung und die Einrichtung eines Dolmetscherdienstes vordringlich. Schultz weist auf den Arbeitskreis Migration und Gesundheit von Gesundheit Berlin e.V. unter Leitung von Ingrid PapiesWinkler, Plan- und Leitstelle Gesundheit, Berlin Friedrichshain-Kreuzberg, hin, mit dem ein Netzwerk von Institutionen geschaffen wurde, in dem sich die Mitglieder regelmäßig auch über Defizite in der psychosozialen Betreuung von Migrant/innen und Hilfsmöglichkeiten austauschen. Ramazan Salman erläutert in seinem Beitrag „Psychiatrische Versorgung in Deutschland: Herausforderungen und Aufgaben“ die Grundlagen der erfolgreichen Behandlung von Migrant/innen in dem von ihm geleiteten Ethnomedizinischen Zentrum in Hannover. Notwendig ist aus seiner Sicht, die vorhandenen Strukturen – z. B. im Öffentlichen Gesundheitsdienst – zu nutzen und die Betreuung von Migrant/innen nicht als zusätzliche Aufgabe zu oktroyieren, dafür aber die spezifischen Anforderungen durch spezialisierte Fachkräfte abzufangen. Die Kooperation des Ethnomedizinischen Zentrums mit Migration und psychische Gesundheit 237 dem öffentlichen Gesundheitsdienst und der Medizinischen Hochschule Hannover ist Basis der Wirksamkeit. Die Erfahrungen des Zentrums werden in Berlin bei der Realisierung des EU-Dolmetschprojekts in Friedrichshain-Kreuzberg (Träger: Gesundheit Berlin e.V.) intensiv genutzt. Ergänzend berichten Mohamad Kaouk und Jan Basche über „Betreutes Wohnen für Migrant/innen – Anspruch und Realität“, das insbesondere bei psychischen Krankheiten, bei unterschiedlichem kulturellem Hintergrund und verschiedenen sprachlichen Kompetenzen konkreter Ansätze der Problemlösung bedarf. Die Ergebnisse des Betreuten Wohnens arabischsprachiger Hilfebedürftiger bei Via e.V. bedürfen der Evaluierung, um Entscheidungen bezüglich der Unterbringung im „Apartmenthaus“ oder in der Familie fundiert und zielgenau treffen zu können. In ihrem Beitrag „Zur Problematik der kulturfairen psychiatrischen Begutachtung von Migrant/innen – unter besonderer Berücksichtigung osteuropäischer Zuwanderer“ vertieft Olga Brehusowa das Problembewusstsein von kulturellen und psychosozialen Besonderheiten einzelner Migrant/innengruppen, das sich in kulturfairer Begutachtung, Behandlung und Betreuung niederschlagen muss. Sie schlägt die Prüfung von Modellen, z. B. niedrigschwelligen, entstigmatisierenden, fachkompetent arbeitenden Migrationsberatungsstellen, vor. Tief beeindruckend schildern die Betroffenen Remzija Suljic und Salih Halilovic (Südost Europakultur e.V., Berlin) die „Gesundheitlichen und psychosozialen Folgen von Flucht“, hier aus Bosnien – Schlaflosigkeit, Ängste, Sprachlosigkeit ... Eine weitere bezüglich der psychosozialen Betreuung benachteiligte Klientengruppe sind die Menschen, die ohne Aufenthaltsstatus in Berlin leben und daher keinen Zugang zu regulären Gesundheitsleistungen haben. Petra Brzank, Eva Stahl und Jessica Groß verdeutlichen in ihrem Beitrag „Ungeklärter Aufenthalt und psychosoziale Belastung“ die extreme Verunsicherung in dieser Lebenssituation sowie die existenzielle Armut und die soziale Isolation mit ihren negativen Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden und ihrer ausgeprägten psychischen Belastung. Zwar sind die medizinischen Betreuungseinrichtungen nicht zur Weitergabe von Daten an die Ausländerbehörde verpflichtet. Können aber „Illegalisierte“ die Behandlung nicht selbst bezahlen und machen Ansprüche dem Sozialamt gegenüber geltend, erfolgt die Weitergabe mit Drohung der Abschiebung. Aus diesem Grund ist die Integration der Ausländer mit irregulärem Aufenthaltsstatus in die medizinische Regelversorgung zu fordern. Darüber hinaus sind die Lebensbedingungen der Menschen, die in Deutschland ohne oder mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus leben, so zu verbessern, dass die Versorgung sichergestellt wird. Erst dann ist an eine Verbesserung der gesundheitlichen Betreuung und an eine Vernetzung der Einrichtungen zu denken. In seinem Beitrag „Psychotherapeutische ambulante Versorgung von Migrant/innen“ weist Fatih Güc nach, dass es der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Beratungsstelle Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin, als einer öffentlichen Gesundheitseinrichtung gelungen ist, durch die bikulturelle Zusammensetzung des multiprofessionellen Teams migrantenspezifische therapeutische und beraterische Angebote zu entwickeln und dabei zukunftsweisende Anregungen zu geben. Der Autor betont, dass auch nach vierzig 238 Armut und Gesundheit Jahren versuchter Integration türkischer Menschen muttersprachliche und migrantenspezifische Angebote in den öffentlichen Gesundheitsdiensten nötig seien, um Sprachprobleme und die Versorgungslücken in türkischsprachiger Psychotherapie zu kompensieren. Artin Akyüz stellt die „Integrierte psychosoziale Versorgung von Migranten am Beispiel des Interkulturellen Familienzentrums“ in Frankfurt am Main vor und begründet die Notwendigkeit der Institutionalisierung der Bildungs-, Beratungs- und Betreuungsangebote versus zahlreiche spezialisierte und oft nur kurzlebige Projekte insbesondere in Zeiten leerer Kassen. Eine Gruppe von Klientinnen, die besonderer Aufmerksamkeit bedarf, sind die von Genitalverstümmelung betroffenen oder bedrohten Mädchen und Frauen. Steffi Jennrich und Simone Gleißner weisen in ihrem Beitrag „Gesundheitliche Folgen der weiblichen Beschneidung“ auf die sich durch Migration verschärfende Situation hin. Auch in Deutschland geborene Mädchen sind gefährdet – durch Beschneidungen in Deutschland, Europa oder im Heimatland. Neben den physischen Folgen der Genitalverstümmelung leiden die Betroffenen unter den psychosozialen Auswirkungen, die sie häufig nicht in Zusammenhang mit dem Trauma bringen. Nur der Aufbau eines engen Vertrauensverhältnisses, die Berücksichtigung der gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründe sowie die sensible und respektvolle Aufklärung im Dialog mit den Frauen und ihren Familien können dazu beitragen, deren Los zu verbessern. Ziele und Forderungen Kernforderung Gleichbehandlung von Migrant/innen in der psychosozialen, psychiatrischen und psychologischen Betreuung unter Berücksichtigung ihrer migrations-, kulturell, sozial und geschlechtsbedingten Spezifika Gesellschaftliche Forderungen Schaffung von Standards für die Auswertung kultureller und linguistischer Kompetenz in der psychiatrischen und psychologischen Betreuung von Migrant/innen auf den Gebieten Zugang Qualität der Versorgung Qualitätsmanagement und Entwicklung gemeindenaher Strukturen Gezielte Einstellung sog. muttersprachlicher Fachkräfte in ambulanten und stationären Einrichtungen der psychiatrischen, psychologischen und psychosozialen Betreuung entsprechend dem Bevölkerungsanteil der Migrant/innen, um sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten und dem Mangel an Verständnis für den ethnisch-kulturellen Hintergrund des Betroffenen einschließlich der Auswirkungen dieses Hintergrundes auf psychische Befindlichkeiten entgegenzuwirken Systematische Gestaltung der Aus- und Fortbildung Verstärkte Anwerbung von Migrant/innen für die Ausbildung in medizinischen, psychologischen und sozialen Berufen bzw. Einstellung arbeitsloser ausländischer Psychologen und Ärzte Systematische Erweiterung der statistischen Berichterstattung Migration und psychische Gesundheit - - 239 Evaluation von Programmen und Einrichtungen, die mit interkulturellen Teams arbeiten und als Modelle dienen können Nutzung vorhandener Strukturen des Hilfesystems zum Aufbau bedarfsentsprechender Angebote und Prüfung unterschiedlicher Modelle niedrigschwellig, entstigmatisierend und fachkompetent arbeitender Betreuungsstellen (Institutionalisierung) Sicherstellung der Versorgung von Menschen ohne oder mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus, Verbesserung der Lebensbedingungen Integration der Ausländer mit irregulärem Aufenthaltsstatus in die medizinische Regelversorgung, Vernetzung der Angebote Forderungen an die Gesundheitsversorgung Niedrigschwellige multifunktionale Beratungsangebote mit interkulturellen Teams, die Zugangsbarrieren und Stigmatisierung entgegenwirken Einrichtung eines Dolmetscherdienstes mit Weiterbildung in psychosozialer Kompetenz Substanzielle, allgemeinverständliche Informationen über das Hilfesystem, die mehrsprachig an Migrant/innen-Communities gerichtet sind und ausweisen, welche Einrichtungen migrationsspezifische Angebote haben Besetzung des Berliner Krisendienstes mit fremdsprachigen Mitarbeitern und – innen Organigramm und Datenbank aller Berliner Angebote im Internet Leistungsvereinbarungen in der Pflege, die an den Bedürfnissen von Migrant/innen ausgerichtet sind (z. B. Ernährung, Hygiene-Standards, Tabus) Berücksichtigung der Differenzen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung psychischer Krankheiten auf Grund spezifischer Erfahrungen im Herkunftsland als unabdingbare Voraussetzung für erfolgreiche Diagnostik und Therapie in Deutschland Erarbeitung von ambulanten, teilstationären und stationären Pflege- und Betreuungskonzepten für geriatrisch und/oder gerontopsychiatrisch kranke Migrant/innen Evaluierung erster Ansätze Betreuten Wohnens psychisch kranker Migrant/innen auf Grund der Unterschiede im kulturellen Hintergrund und der sprachlichen Kompetenz sowie der Gefahr der Potenzierung der psychischen Störungen Förderung der Selbsthilfe für bestimmte Migrant/innengruppen, z.B. kriegsbedingt traumatisierte Flüchtlinge 240 Armut und Gesundheit Kulturelle Kompetenz in der psychiatrischen Versorgung von Migrant/innen und Minderheiten: Herausforderung und Chance Dagmar Schultz Die zurzeit viel diskutierte „Zuwanderung“ steht im Zeichen von Globalisierungsentwicklungen. Globalisierung ist ein weit verbreiteter Begriff für die Internationalisierung von Kapital, Medien und kulturellen Ausdrucksformen. Diese Zeiten der Globalisierung sind jedoch auch von freiwilliger und unfreiwilliger Migration charakterisiert. Die meisten Gesellschaften, von denen Globalisierungsaktivitäten ausgehen, sind gleichzeitig mit der Herausforderung konfrontiert, Migrant/innen und Flüchtlinge zu integrieren sowie Angehörige ethnischer Minderheiten, die seit Generationen in diesen Ländern gelebt haben, jedoch weiterhin mehr oder weniger intensive Diskriminierung erleben. Deutschland gehört zu den Ländern, und das Schlagwort Integration ist mit der Diskussion um Zuwanderung, bezeichnenderweise definiert als vorübergehende Einwanderung, wieder ins Blickfeld geraten. Damit sollte auch die Frage der Handlungskompetenz in interkulturellen Settings in wachsendem Maße relevant werden. Diese Art von Kompetenz ist in weiten Teilen der freien Wirtschaft seit längerem als eine berufliche Notwendigkeit anerkannt, und die Wirtschaft hat angefangen, integrative Strategien zu entwickeln. Professionelle in Gesundheit, Psychologie und Psychiatrie, wie auch in anderen sozialen Bereichen, müssen ebenfalls kulturelle Kompetenzen als notwendiges professionelles Qualifikationsmerkmal anerkennen und zwar aus mehr als einem Grund: Kulturelle Kompetenz, interkulturelle oder transkulturelle Kompetenz – ich will jetzt hier nicht auf die Feinheiten der Definitionen eingehen – gehört zunächst zu dem grundlegenden Menschenrecht auf gleichwertige Behandlung. Aus systemischer Perspektive bedeutet der Mangel an gleichwertiger Behandlung nicht nur eine Benachteiligung der Betroffenen, sondern auch Defizite in qualifizierter und kosteneffizienter Gesundheitsversorgung. Die freie Wirtschaft bedient sich der kulturellen Kompetenz sicherlich nicht aus altruistischer Motivation. Im sozialen Bereich sollte der menschenrechtliche Aspekt eine Schlüsselrolle einnehmen, aber auch hier kann man argumentieren, dass kulturelle Kompetenz im Zeitalter des Qualitätsmanagements allein auf Grund der Notwendigkeit einer nachhaltigen und finanzgünstigen Versorgung angesagt ist. Dies wird deutlich an folgenden Beispielen, die sowohl den menschlichen wie den finanziellen Aspekt des Mangels an kultureller Kompetenz beleuchten: • Eine türkische Frau beschreibt dem Arzt ihre Depression als chronischen Schmerzzustand, was zu einer Fehldiagnose führt. Der sogenannte Drehtüreffekt tritt ein, das heißt vielfältige Arztbesuche und Arztwechsel auf Grund mangelnder sprachlicher und kultureller Kompetenz der Ärzte/Ärztinnen, und Folgen in Form falscher Diagnosen, falscher Medikamentengabe und Krankheitsgenerierung statt Gesundung. • Ein türkischer Psychologe, der einzige in einer großen städtischen Klinik, trifft auf der psychiatrischen Station auf eine verzweifelte deutsche Sozialarbeiterin, die seit einer Stunde vergeblich versucht hat, einen psychotischen türkischen Patienten dazu zu bewegen, seinen Antrag auf Sozialhilfe zu unterschreiben. Er spricht mit dem Patienten, findet heraus, dass er tief religiös ist und verspricht ihm bei seiner Ehre Migration und psychische Gesundheit • • 241 und Würde, dass er den Antrag bedenkenlos unterschreiben könne. Dieses Gespräch dauerte fünf Minuten. Ein türkischer Psychologe spricht mit einer türkischen Patientin, die ihm berichtet, dies sei das erste Mal in 22 Jahren, dass sie ihre Probleme in ihrer Muttersprache schildern kann. Bisher sollte sie immer über dritte Personen darüber sprechen, und teilweise sollten dies ihre Kinder oder Verwandte sein. In einer psychiatrischen Abteilung wird eine türkische Putzfrau als Dolmetscherin hinzugezogen. Der Arzt fragt sie, wieso sie offensichtlich Teile des vom Patienten Gesagten nicht übersetzt. Sie antwortet: „Ach, der spinnt doch nur. Der sagt, er hört dauernd Stimmen.“ In meinem Beitrag werde ich auf folgende Punkte eingehen: 1. Interkulturelle Kompetenz – was ist das? 2. Einige Argumente, die in der Psychiatrie gegen die Notwendigkeit kultureller Kompetenz, das heißt auch die Einstellung muttersprachlichen Personals, vorgebracht werden und deren Beantwortung 3. Wie sieht die Situation der psychiatrischen Versorgung von Migrant/innen und ethnischen Minderheiten in Berlin aus der Perspektive kultureller Kompetenz aus? 4. Was wurde vor zehn Jahren von Fachleuten an Veränderungen gefordert? 5. Was sind heute die (Minimal-)Forderungen? 6. Wie sind diese durchzusetzen? 1. Interkulturelle Kompetenz – was ist das? Interkulturelle Kompetenz bedeutet in der freien Wirtschaft: wie kann ich mich mit den kulturellen Gewohnheiten meines Geschäftspartners so vertraut machen, dass ich erfolgreich mit ihm/ihr verhandeln kann, und darüber hinaus, welches kulturelle Verständnis ist einer erfolgreichen Internationalisierung von Konsumgütern etc. dienlich? Im sozialen, und hier speziell im psychiatrischen Bereich, kommen andere Gesichtspunkte zum Tragen. Hier kann interkulturelle Kompetenz definiert werden als die Fähigkeit, angemessen und erfolgreich mit Menschen zu kommunizieren und zu handeln, die eine andere Muttersprache als die Landessprache haben und/oder mit einer anderen Kultur aufgewachsen sind und/oder sich in dieser Gesellschaft auf Grund von Diskriminierung anders bewegen als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft als Patient/innen/Klient/innen oder als untergeordnete Kolleg/innen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu mir stehen Eine angemessene und erfolgreiche Kommunikation und Handlungsweise beinhaltet auch eine die/den Andere/n in ihrer/seiner Art zu sein annehmende und respektierende Haltung die Patientin/den Patienten vor dem Hintergrund der Gruppenzugehörigkeit immer als Individuum zu sehen 242 - Armut und Gesundheit Empathie, Wertschätzung der/des Anderen11 und die Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen im Hinblick auf eigene Vorurteile die Grenzen des eigenen Wissens die mögliche Auswirkung der eigenen sozio-kulturellen Identität auf die Interaktion mit der Patientin/dem Patienten (APA 1995) Sicher erfüllt eine Psychiaterin/ein Psychiater, die/der die Muttersprache der Patientin/des Patienten spricht und mit seiner Kultur vertraut ist, die meisten dieser Voraussetzungen. Jedoch benötigt auch sie/er ein Maß an Selbstreflexion und an Bereitschaft, kulturelle und schicht- oder geschlechtsbedingte Unterschiede einzubeziehen. 2. Einige Argumente, die in der Psychiatrie gegen die Notwendigkeit kultureller Kompetenz, das heißt auch die Einstellung muttersprachlichen Personals, vorgebracht werden und deren Beantwortung Ich will beispielhaft drei Argumente anführen: (1) Im Vordergrund steht die Krankheit, die kulturelle Zugehörigkeit ist sekundär. Inzwischen ist vielfältig erwiesen, dass es kulturell verschiedene Muster der Krankheitswahrnehmung und –bewältigung gibt, deren Beachtung den Rehabilitationsprozess fördert. Eine Hierarchisierung von Krankheit und kulturellen Faktoren ist sicher nicht sinnvoll. Zarifoglu und Zeiler (1995, 1997) haben ausführlich dokumentiert, dass Migrationserfahrungen und ethnische Diskriminierung im Aufnahmeland die Persönlichkeitsentwicklung deformieren und zu krankheitswertigen psychischen Verfassungen führen können (Zarifoglu/Zeiler 1995:159). Die Autoren schreiben unter Bezug auf anglo-amerikanische Literatur und eigene Fallbeispiele: „Der kulturell ‚naive‘ Arzt betrachtet ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit als irrelevant und versäumt es, bedeutsame Daten der sozialen Vorgeschichte zu eruieren, die sich auf Ethnizität und Migration des Kranken sowie die Auswirkungen des Lebens im Einwanderungsland beziehen.“ (Zeiler/Zarifoglu 1997:308f.) Ich möchte hier darauf verweisen, dass Diskriminierung als eine mögliche Ursache psychischer Erkrankung ebenfalls bei schwarzen deutschen Patient/innen, bei Roma und Sinti, bei Juden und anderen diskriminierten Minderheiten in Betracht gezogen werden muss. Allerdings erfordert es Professionelle, die sich mit ihren eigenen ethnozentrischen oder auch rassistischen Vorurteilen auseinandergesetzt haben, um mit Patient/innen diskriminierende Erfahrungen therapeutisch zu bearbeiten. Solche Erfahrungen werden, wie Zarifoglu und Zeiler schreiben, „vor dem (deutschen) Arzt gewöhnlich geheim11 Sibel Koray vom Jugendpsychiatrischen Institut der Stadt Essen schreibt (2000:23): „Dabei gilt es zu beachten, daß interkulturelle Kompetenz nicht nur mit Hintergrundwissen über Kultur, Religion und sonstige Besonderheiten der Migrantenfamilien zu tun hat und es auch nicht genügt zusätzlich die Sprache des Anderen zu beherrschen. Ein sehr wesentlicher – kulturunspezifischer – Faktor ist die Haltung, die man dem Anderen gegenüber einnimmt...eine den anderen in seiner Art zu sein annehmende und repektierende Haltung, die weder einer herablassenden, abwertenden Behandlung Raum gibt, noch eine Art Bittstellertum zulässt und das Gegenüber auch nicht als Exot behandelt. Interkulturelle Kompetenz ist nichts anderes als eine graduelle Steigerung sozialer Interaktionsfähigkeit.“ Migration und psychische Gesundheit 243 gehalten – aus Scham, Stolz und Höflichkeit oder aus dem Bedürfnis, die Konformität mit den sozialen Normen des Gastlandes zu betonen.“ (Zarifoglu/Zeiler 1995:159) (2) Muttersprachliche Fachkräfte sind nicht so wichtig, denn nicht alle Migrant/innen wollen ihre Probleme vor Landesleuten darlegen. Sicher trifft es zu, dass manche Patient/innen aus Gründen der Scham oder Ängsten vor Bekanntwerden ihrer Probleme in der Community eher mit Personen sprechen wollen, die nicht Landsleute sind. Auch haben manche mehr Vertrauen in die Fähigkeiten oder Autorität von weißen Deutschen, was auf eine Verinnerlichung von Vorurteilen der Mehrheitsgesellschaft und, bezüglich der Autorität oder Einflussmöglichkeiten, gegebenenfalls auf die Realität zurückzuführen ist. Dennoch kann man davon ausgehen, dass die Mehrzahl der Patient/innen die Möglichkeit begrüßen würden, mit Fachpersonal zu tun zu haben, das selbst einen Migrationshintergrund hat und die Muttersprache teilt. (3) Die geringe Nachfrage spricht gegen den Ausbau interkultureller Teams. Auf dieses Argument werde ich später noch eingehen. Festzustellen ist, dass auch hier die Praxis gegenteilige Ergebnisse gebracht hat. Wo immer muttersprachliches Personal in Beratungs- und therapeutische Teams integriert wurde, ist der Anteil von Migrant/innen am Klientel unmittelbar gestiegen (Gaitanides 1995; Pavkovic 1992; Hinz-Rommel 1998). Wenn man nach Informationen von offizieller Seite geht, scheint das Problem der Kommunikation kaum zu existieren. So wurde 2000 in einer kleinen Anfrage zur psychosozialen Versorgung von Berliner Migrantinnen und Migranten folgende Frage gestellt: „Wie viel muttersprachliches Personal, insbesondere in den Sprachen Türkisch, Kurdisch, Serbokroatisch, Polnisch und Russisch wurde in den SpDs und Kinder und Jugendpsychiatrischen Diensten eingesetzt?“ Die Antwort war, dass die Anzahl der Klientenkontakte, in denen eine Sprachmittlung notwendig war, von 1997 bis 2000 sehr gering war, das heißt deutlich unter 100 Interventionen lag. In diesen Fällen wurden Sprachmittler (auch Angehörige bei vorliegendem Einverständnis) herbeigezogen, wenn die Sprachkenntnisse im jeweiligen Fachdienst nicht vorhanden waren. Die Antwort wirft die Frage auf: Wäre der Anteil von Klientenkontakten größer, wenn die Einrichtungen von vornherein Beratung in mehreren Sprachen anbieten und dies auch entsprechend bekannt machen würden? Fernerhin ist anzumerken, dass der Einsatz von Angehörigen (wie auch von nicht professionellem Personal) als Dolmetscher/innen z.B. in den Niederlanden und in Kalifornien verboten ist. 3. Wie sieht die Situation der psychiatrischen Versorgung von Migrant/innen und ethnischen Minderheiten in Berlin aus der Perspektive kultureller Kompetenz aus? Ich bin gegenwärtig dabei, eine Untersuchung hierzu an Hand von Fragebögen und Interviews durchzuführen. Dabei werden eine Reihe von Kliniken, psychosozialen Kontakt- und Beratungsstellen, Krisendiensten und stationären und ambulanten Einrichtungen erfasst. Ergebnisse zu Bedarf, Inanspruchnahme und inhaltliche Aspekte der Versorgung können bisher nur sehr bruchstückhaft vorgestellt werden. 244 Armut und Gesundheit Datenlage Aus der vorhandenen Datenlage kann man nur punktuell Schlüsse ziehen. Eine Präzisierung und Differenzierung der Gesundheitsberichterstattung ist dringend notwendig. SpD und JpD So liegen für die Sozialpsychiatrischen Dienste und die Kinder und Jugendpsychiatrischen Dienste für die Jahre 1997 und 1998 nur unvollständige Daten über die Inanspruchnahme nichtdeutscher Patient/innen vor (SenArbSozFrau 2001). Bei den SpDs machten 14 von 23 Bezirken Angaben, und der Prozentsatz nichtdeutscher Patient/innen belief sich für die 14 Bezirke 1997 auf 4,98 und 1998 auf 5,28. Allerdings fehlen ausgerechnet die Angaben von Kreuzberg. 1999 machten ebenfalls nur 15 von 23 Bezirken Angaben, und für diese Bezirke lag der Anteil nichtdeutscher Patient/innen nun nur noch bei 3,5 Prozent. Die Gesamtzahl war von 24.879 auf 39.127 gestiegen, die Zahl der nichtdeutschen Patient/innen jedoch fast gleich geblieben, nämlich von 1.313 auf nur 1.358 gestiegen. Inanspruchnahme der Sozialpsychiatrischen Dienste 1997, 1998, 1999 SpDs Insges. 1997 Davon Nichtdt. % 23.700 1.180 4,98 Insges. 1998 Davon Nichtdt. % 24.879 1.313 5,28 Insges. 1999 Davon Nichtdt. % 39.127 1.358 3,47 Acht bis neun Bezirke machten keine Angaben, darunter auch Kreuzberg, was das Ergebnis verzerrt (SenArbSozFrau 2001). Bei den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten machten 1997 15 von 23 Bezirken Angaben, und hier war der Prozentsatz 13,46. 1998 machten 14 von 23 Bezirken Angaben mit dem Ergebnis von 16,23 Prozent nichtdeutscher Patient/innen. Hier liegen die Angaben für das Jahr 2000 bereits vor, und zwar von 20 der 23 Bezirke. Der Anteil der Nichtdeutschen beträgt ca. 14 Prozent, was dem Bevölkerungsanteil entspricht, jedoch nicht der auf Grund des Sozialstruktur der nichtdeutschen Bevölkerung zu erwartenden Inanspruchnahme. Inanspruchnahme der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste 1997, 1998, 2000 1997 Kinder u. Jug. Insges. 7.772 1998 2000 Davon Nichtdt. % Insges. Davon Nichtdt. % Insges. Davon Nichtdt. % 1.046 13,46 7.653 1.242 16,23 13.387 1.895 14,15 Acht bis neun Bezirke machten keine Angaben, darunter auch Charlottenburg, was das Ergebnis verzerrt (SenArbSozFrau 2001). Als Erklärung für den geringen Prozentsatz insbesondere bei den SpDs gelten die Hemmungen, sich an eine deutsche Behörde zu wenden, Hemmungen, die durch das Stigma verstärkt werden, das der Psychiatrie anhaftet. Migration und psychische Gesundheit 245 In den Tagesstätten sank der Anteil Nichtdeutscher von 3,51 Prozent 1997 auf 2,26 Prozent 1998. Im betreuten Wohnen stieg er von 4,42 Prozent 1997 leicht auf 5,18 Prozent 1998 an. Hier liegen die Angaben von allen Bezirken vor. Allerdings gibt es noch keine aktuelleren Daten. Daten zu Nationalität werden nicht erhoben. Auf Grund der unvollständigen Angaben gibt es auch keine weiteren Daten zu Diagnosen bei nichtdeutschen Frauen und Männern. Dies soll sich mit neuen Erfassungsmethoden 2001 ändern. Generell kann man jedoch sagen, dass der Anteil Nichtdeutscher zu niedrig ist. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die eingebürgerte Bevölkerung gar nicht erfasst wird. Anteil nichtdeutscher Besucher/innen von Tagesstätten 1997, 1998 Tagesstätten Insges. 1997 Davon Nichtdt. % 715 26 3,51 Insges. 1998 Davon Nichtdt. % 995 23 2,26 (SenArbSozFrau 2001) Anteil nichtdeutscher Bewohner/innen von betreuten Wohnformen 1997, 1998* Betreutes Wohnen Insges. 1997 Davon Nichtdt. % 2.291 106 4,42 Insges. 1998 Davon Nichtdt. % 2.675 146 5,18 (SenArbSozFrau 2001) Der Berliner Krisendienst, ein nach Regionen aufgeteilter stadtweiter Notdienst, der rund um die Uhr, insbesondere in den Abend- und Nachtstunden Beratung und Hilfe anbietet, weist eine etwas höhere Inanspruchnahme von Nichtdeutschen auf. Der Krisendienst wurde vor drei Jahren gegründet und hat 42 feste Mitarbeiter/innen, unter denen sich jedoch nur wenige Migrant/innen befinden. Es ist bedauerlich, dass auch bei Gründung einer neuen Institution offensichtlich die Gelegenheit nicht wahrgenommen wurde, ein interkulturelles Team zu schaffen und so dem nachgewiesenen Bedarf an bilingualem und bikulturellem Personal entgegenzukommen. Da der Krisendienst über eine dreijährige wissenschaftliche Begleitung verfügt, wäre hier eine gute Gelegenheit gewesen, die Wirkungen interkultureller Teams auf das Klientel und auf „on the job“Fortbildung zu überprüfen. Kliniken Nach Aussage des Referatsleiters für Psychiatrie, Gesundheit und Planung in der Senatsverwaltung für Gesundheit liegt der Anteil von Personen in psychiatrischen Kliniken ebenfalls unter dem Bevölkerungsanteil von Migrant/innen. Generell gibt es keine definitiven, differenzierten Statistiken in den Krankenhäusern. Wir können somit nur auf Teilstatistiken und Erfahrungswerte von Mitarbeiter/innen zurückgreifen. (Die folgenden Angaben beruhen auf Informationen, die ich von den Kliniken erhalten habe.) 246 Armut und Gesundheit So führt z.B. das Auguste-Viktoria-Krankenhaus (AVK) eine Patient/innenstatistik, in der deutsche oder nichtdeutsche Staatsangehörigkeit erfasst wird, jedoch aus Datenschutzgründen nicht die Nationalität. Im Jahr 2000 verzeichnete das AVK 11,2 Prozent Patient/innen, davon 64 Prozent Frauen, mit einer nichtdeutschen Staatsangehörigkeit. Der Bevölkerungsanteil Nichtdeutscher im Bezirk Schöneberg betrug 22,3 Prozent. Der Anteil war somit niedrig, hatte sich aber seit 1995 verdoppelt. Das Neuköllner Krankenhaus weist in den letzten sechs Jahren eine ziemlich konstante Anzahl von nichtdeutschen Patient/innen nach, nämlich 11 bis 14 Prozent. Der Bevölkerungsanteil in Neukölln beläuft sich auf ca. 22 Prozent. Das St. Hedwig Krankhaus ist für die Bezirke Wedding, Mitte und Tiergarten zuständig (mit 97 Betten und 20 Tagesklinikplätzen in der Müllerstraße für Erwachsenenpsychiatrie) für ca. 162.000 Bewohner. Der Anteil ausländischer Patient/innen wird auf 20 Prozent geschätzt, der Bevölkerungsanteil liegt bei ca. 30 Prozent. Bei einer Stichtagserhebung von Juli, September und Oktober 2000 waren 19,5 Prozent aller Patient/innen Türkinnen. Auf der einen Sektorstation war ein Ausländeranteil von 36,7 Prozent zu verzeichnen, 13,2 Prozent aller Patient/innen waren Türk/innen. Auf der anderen Sektorstation waren 21 Prozent Ausländer und 13 Prozent aller Patient/innen Türken. In der Suchtstation lag der Ausländeranteil bei 5,3 Prozent, 1,8 Prozent Türken, auf der gerontologischen Station 0 und 0 Prozent. In der Tagesklinik war der Anteil ausländischer Patient/innen mit 26 Prozent sehr hoch. Öffentliche Daten über den Anteil von muttersprachlichem Personal in psychiatrischen Diensten, Kliniken und Einrichtungen existieren nicht. In ganz Berlin gibt es nur einen türkischen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an den psychiatrischen Abteilungen der Kliniken, nämlich Dr. Fuat Zarifoglu, Mitbegründer des Ethnomedizinischen Zentrums in Hannover, am AVK. Zu vermerken ist, dass die Kliniken, mit denen ich bisher gesprochen habe, (AVK, Krankenhaus am Urban, St. Hedwigs Krankenhaus) auf mehr kulturelle Kompetenz zurückgreifen können, weil sie Ärztinnen und Ärzte unterschiedlicher kultureller Herkunft und mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen in der Ausbildung haben. In zwei der psychiatrischen Abteilungen arbeitet auch ein afrodeutscher Arzt. Nach Aussage des interviewten Chefarztes der einen Klinik trägt dies zu der vertrauensbildenden Kommunikation mit nichtdeutschen, insbesondere mit afrikanischen Patient/innen bei. Sicher gibt es, zum Teil auf Grund der Ausbildungssituation, Schwierigkeiten, Ärztinnen und Ärzte zu finden, die mehrsprachig sind und sich mit mehr als einer Kultur auskennen. Jedoch scheint es manchmal auch an dem notwendigen Interesse zu mangeln. So sagte mir die Chefärztin für Psychiatrie an einer großen Klinik, es gäbe ja auch die Meinung, dass man in Kürze eine „Türkenstation“ hätte, wenn man einen türkischen Psychiater einstellen würde. Beim Pflegepersonal findet sich eine größere Anzahl von Personen aus unterschiedlichen Kulturen, auf deren Sprachkenntnisse dann auch zurückgegriffen wird, wenn sie von den Ärzt/innen nicht abgedeckt werden können und kein/e Dolmetscher/in vor Ort ist. Niedergelassene Die niedergelassenen muttersprachlichen Psychiater/innen und Psycholog/innen sind extrem überbelastet und müssen sich dagegen verwehren, dass ihnen Patient/innen aus Migration und psychische Gesundheit 247 verschiedensten Bezirken überwiesen werden. Andrerseits gibt es wohl eine Reihe arbeitsloser Psycholog/innen, die Migrant/innen sind. Dolmetscherdienst Berlin verfügt noch immer nicht über einen Dolmetscherdienst, eine Einrichtung, die angesichts des Mangels an muttersprachlichem professionellem Personal umso dringender ist. Offensichtlich sind Politiker/innen und Krankenkassen nicht von dem Zusammenhang von Qualitätsstandards und Kosteneffizienz und der Bedeutung von Sprachkenntnissen für Diagnostik und Behandlung überzeugt. Zurzeit läuft ein Antrag des Interkulturellen Gesundheitsnetzwerks Berlin bei der EU für einen Dolmetscherdienst mit Qualifizierungsprogramm [Der Antrag wurde im Frühjahr 2002 positiv beschieden, die Hg.]. Das dreijährige Modellprojekt ist für Gesundheits- und psychosoziale Beratung geplant und soll vom Sozialamt und vom Arbeitsamt kofinanziert werden. Auch hier stellt sich wieder die Frage der kosteneffizienten Planung: ein solches Projekt erfordert einen extremen Arbeitsaufwand. Die Fortführung nach drei Jahren und damit eine kontinuierliche Gewöhnung an die Arbeit mit Dolmetscher/innen und deren Inanspruchnahme seitens der Nutzerinstitutionen sollte von Seiten des Staates oder der Einrichtungen gewährleistet sein. Als Einrichtung, die betreute Wohnprojekte sowie Beschäftigungstagesstätten und Tagespflegeeinrichtungen anbietet und dabei gezielt bilinguales Personal mit verschiedenen kulturellen Hintergründen einstellt, ist VIA e.V. (Verein für Integrative Angebote) zu nennen sowie der 2002 gegründete Verein Gemeinsam in Berlin-Brandenburg (GIBB e.V.). Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie bleibt der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst in Kreuzberg, ursprünglich als Modellprojekt „zur psychosozialen Versorgung ausländischer (insbesondere türkischer Kinder), Jugendlicher und deren Familien“ gegründet, weiterhin beispielhaft für die Versorgung durch ein interkulturelles Team. Hervorzuheben ist die Tätigkeit des Arbeitskreises Migration und Gesundheit Berlin, die vom Gesundheitsamt Kreuzberg unter der Leitung von Ingrid Papies-Winkler koordiniert wird. Hier ist ein Netzwerk von Personen geschaffen worden, die einen regelmäßigen Austausch über interkulturelle Arbeit in verschiedensten Bereichen führen und aktiv an Tagungen wie dem jährlichen Kongress „Armut und Gesundheit“ teilnehmen. 4. Was wurde vor zehn Jahren von Fachleuten an Veränderungen gefordert? Im Psychiatrie-Bericht des Landes Berlin 1992 wurde die psychosoziale Versorgung der ausländischen Bevölkerung als ein wichtiger Planungsschwerpunkt festgestellt. Vier Arbeitsgruppen von Fachleuten hatten von 1989 bis 1991 die Versorgungs- und Ausbildungslage recherchiert und konkrete Vorschläge für Verbesserungen und Veränderungen gemacht, die in dem Psychiatrie-Bericht in Auszügen übernommen wurden. Liest man die Berichte der Kommissionen heute, so erhält man den Eindruck, dass sie mit wenigen Änderungen wieder veröffentlicht werden könnten. Die Arbeitsgruppe „Psychosoziale Angebote für Ausländer“ stellte fest (ebd.): „Deutsche Fachkräfte sehen sich ausländischen Klienten gegenüber regelmäßig vor typischen Verständigungsbarrieren: • sprachliche Verständigungsschwierigkeiten 248 Armut und Gesundheit • • mangelndes Verständnis für den ethnisch-kulturellen Hintergrund des Betroffenen einschließlich der Auswirkungen dieses Hintergrundes auf psychische Konflikte und Störungen, fehlende Einfühlung in die besonderen existenzbestimmenden Gegebenheiten des Migrantenschicksals.“ Ausgehend von den mangelnden Aussichten für eine systemweite interkulturelle Öffnung der Regeldienste empfahlen sie die Bildung von multikulturellen, multiprofessionellen Teams in den Bezirken mit hohem Ausländeranteil. In den Teams, die bei den SpDs oder bei psychosozialen Einrichtungen der freien Träger angesiedelt sein könnten, sollten Deutsche und Migrant/innen zusammenarbeiten und sowohl Beratung als auch Therapie auf regionaler und gegebenenfalls überregionaler Ebene anbieten als auch Hilfs- und Multiplikatorenfunktionen für andere Einrichtungen wahrnehmen. Auch im Hinblick auf die psychiatrischen Kliniken stellten sie an Hand einer Befragung von Mitarbeiter/innen Probleme fest, die sich aus geringer Verständigungsmöglichkeit und unzureichendem Verständnis für die Problemlagen der Patient/innen ergeben, das heißt vornehmlich medikamentöse Behandlungen ohne weitere therapeutische Interventionen und Fehldiagnosen sowie häufiges Unverständnis der inneren Not ausländischer Patient/innen. Sie sahen die Einstellung ausländischen Fachpersonals in psychiatrischen Aufnahmestationen, Rettungsstellen, Notaufnahmen sowie in psychiatrischen Abteilungen als absolut notwendig an. Dolmetscher/innen halten sie für eine Notlösung. Trotz der Vorgaben des Psychiatrie-Berichts erwähnt das PsychiatrieentwicklungsProgramm für das Land Berlin von 1995 Migrant/innen nicht als eine Gruppe, die in der Versorgungsstruktur besonders berücksichtigt werden sollte. Sie kommen höchstens indirekt zur Geltung, da bei den Platzvorgaben für betreutes Wohnen der Sozialstrukturindex der Bezirke angewendet wurde, das heißt der Schichtstruktur der Migrant/innengemeinden Rechnung getragen wurde. 5. Welche Forderungen stehen heute zur Diskussion? Zusammenfassend will ich einige Maßnahmen festhalten, die von Expert/innen in und außerhalb von Berlin wie auch im Ausland als Qualitätsstandard für die Versorgung von Migrant/innen als notwendig erachtet werden: • die gezielte Einstellung sog. muttersprachlicher Fachkräfte in ambulanten und stationären Einrichtungen (Zeiler/Zarifoglu 1997:327) nach Quoten entsprechend dem Bevölkerungsanteil • niedrigschwellige multifunktionale Beratungsangebote mit interkulturellen Teams, die Zugangsbarrieren und Stigmatisierung entgegenwirken, z.B. nach dem Modell des Frankfurter Internationalen Familienzentrums • einen Dolmetscherdienst mit Weiterbildung in psychosozialer Kompetenz • substantielle, allgemeinverständliche Informationen über das Hilfesystem, die mehrsprachig an Migrant/innen Communities gerichtet sind und ausweisen, welche Einrichtungen migrationsspezifische Angebote haben • ein Organigramm und eine Datenbank aller Angebote in Berlin im Internet • ethnomedizinisch-transkulturelle und migrationsbezogene Inhalte in Aus-, Fortund Weiterbildung von Angehörigen des Gesundheitswesens und der Sozialberufe (Zeiler/Zarifoglu 1997:327) Migration und psychische Gesundheit • • • • 249 verstärkte Anwerbung von Migrant/innen für die Ausbildung in medizinischen, psychologischen und sozialen Berufen systematische Erweiterung der statistischen Berichterstattung Evaluation von Programmen und Einrichtungen, die mit interkulturellen Teams arbeiten und als Modelle dienen können Leistungsvereinbarungen in der Pflege, die an den Bedürfnissen von Migrant/innen ausgerichtet sind (Bs. andere Ernährung, andere Hygienestandards) 6. Wie sind diese Maßnahmen durchzusetzen? Hier möchte ich das Beispiel Kalifornien, USA, geben, das im Zuge der Verankerung von Qualitätsstandards und Qualitätsmanagement möglicherweise auch in Deutschland Anwendung finden könnte. 1997 verpflichtete das Gesundheitsministerium vom Staat Kalifornien alle Gemeinden in Kalifornien dazu, 1998 einen „Cultural Competence Plan“ vorzulegen, der nach detaillierten Vorgaben die Bevölkerungsstruktur, den Zugang zu Dienstleistungen, die ethnische Zusammensetzung und die linguistischen Kompetenzen des Personals, die Angebotsstruktur und die Einbeziehung von Familien- und Gemeindemitgliedern der Klient/innen darstellt und auswertet. Drei Standards sind für die Auswertung kultureller und linguistischer Kompetenz zu beachten: Zugang, Qualität der Versorgung und Qualitätsmanagement. Das Gesundheitsministerium gibt dabei folgende Definition kultureller Identität vor, die sich dem erweiterten Begriff von kulturellen Unterschieden anschließt, der auch mit „diversity“ bezeichnet wird: „Die kulturelle Identität eines Individuums kann u.a. folgende Parameter beinhalten: Ethnizität, ‘Rasse’, Sprache, Alter, Herkunftsland, Akkulturation, Geschlecht, sozioökonomische Klasse, religiöse/spirituelle Glaubensrichtung und sexuelle Orientierung.“ Kulturelle Kompetenz wird definiert als „ein Satz zusammenhängender Verhaltensweisen, Einstellungen und Maßnahmen, die in einem System, einer Einrichtung oder unter Professionellen vereint werden, um sie zu befähigen, wirkungsvoll in transkulturellen Situationen zu arbeiten.“ (Department of Mental Health 1998:2) Welche Möglichkeiten hat nun der Staat bzw. haben die Gemeinden, Institutionen zur Umsetzung des Cultural Competence Plan zu verpflichten? Tina Yee, Leiterin des Büros für Kulturelle Kompetenz und Nutzer/innen-Beziehungen (Cultural Competence and Consumer Relations) des San Francisco Gesundheitsministeriums, beantwortete diese Frage folgendermaßen (2000): „Zunächst einmal hat der Standpunkt, den die Regierungen eingenommen haben, sowie die Formulierung und Veröffentlichung von Cultural Competence-Plänen große Veränderungen hervorgerufen. Die Gemeinden und ihre Einrichtungen sind sich jetzt der Notwendigkeit bewußt, daß sie Personen mit spezifischen Fähigkeiten einstellen müssen. Wenn sie ihre Programme formulieren, sehen sie sich ihre Zielgruppen und die Art und Weise, welche Versorgung sie ihnen anbieten, aus der Perspektive kultureller Kompetenz genau an. Sie wissen, daß ihre Pläne und Berichte bewertet werden, und daß sie ihre Finanzierung, insbesondere neue Finanzanträge, in Gefahr bringen, wenn sie in der Bewertung niedrig liegen. Bei jedem Finanzantrag muß die Einrichtung zu kultureller Kompetenz Stellung nehmen. Wenn zum Beispiel ein Krankenhaus einen Vertrag mit dem Department of Mental Health abschließen will, muß die Verwaltung einen Bericht über kulturelle Kompetenz und die Erfüllung linguistischer Anforderungen vorlegen. 250 Armut und Gesundheit Mangelt es an Personal mit ausreichenden Sprachkenntnissen, müssen sie DolmetscherInnen anbieten, die sie selbst bezahlen müssen.“ Aus diesen Erfahrungen können wir schließen: Nach jahrelangen ergebnislosen Diskussionen über die notwendige interkulturelle Öffnung der Regeldienste sind die Politiker/innen und Institutionen wie die Ärztekammern gefragt, endlich ein systematisches Programm in der Personal-, der Aus- und Fortbildungspolitik vorzugeben. Nur so können die lähmenden Argumente, es gäbe ja keine freien Stellen oder die Nachfrage sei ja nicht so gravierend, ad acta gelegt werden. Nur so kann eine längst überfällige Gleichbehandlung von Migrant/innen im Rahmen einer gemeindenahen Psychiatrie gewährleistet werden. Barbara John, Ausländerbeauftragte für Berlin und ihr Kollege Hartmut Caemmerer, haben kürzlich einen längeren Bericht über eine Untersuchung ihres Büros zur interkulturellen Öffnung der Regeldienste veröffentlicht. Ich möchte mit ihren Worten schließen: „Die interkulturelle Ausrichtung der Regeldienste kann nur gelingen, wenn sie auch auf den Leitungsebenen gewollt, planerisch und organisatorisch systematisch in die Wege geleitet wird […] (es) ist unabdingbar, in integrationspolitischen Schlüsselbereichen, in denen zugleich die interkulturelle Kompetenz eine herausragende Rolle spielt, den Einstellungsstop zu lockern und begrenzte Einstellungskorridore zu öffnen für Fachkräfte, die die Qualifikation für die Arbeit mit Migranten mitbringen. Das gilt etwa für die Bereiche Kindertagesstätten und Jugendförderung und auch in psychosozialen Gesundheitsdiensten.“ (John/Caemmerer 2001:26) Literatur: APA (American Psychiatric Association) [1995]: Considerations for Sociocultural Evaluation. 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In: Zeitschrift für Sozialreform, 43. Jg., H. 4, April 1997, S. 300-335. Zur Lage und zu Herausforderungen in der psychiatrischen Arbeit mit Migranten Ramazan Salman Die Sorge um die Gesundheit von Migranten hat triftige politische und wirtschaftliche Gründe. Die Gesundheit spielt für den Integrationsprozess von Migranten und ihren Familien in die Gesellschaft des Gastlandes eine äußerst wichtige Rolle. Für die Betroffenen bringt Migration mehr oder weniger große innere (psychische) und äußere (soziale) Veränderungsanforderungen mit sich, die sich nachhaltig auf die Gesundheit der Migranten auswirken (Sluzki 2001; Salman 1995; Oestereich 2000, 2001). Im vergangenen Jahrzehnt ist den gesundheitlichen und sozialen Problemen von Migranten und Flüchtlingen immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Der Schutz und die Verbesserung des gesundheitlichen Status von Migranten ist aus sozialer und integrativer Perspektive bedeutsam, denn auf diesbezügliche Ungleichheiten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wurde auch hinsichtlich der Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen in den meisten europäischen Immigrationsstaaten bereits mehrfach hingewiesen (Collatz 1995,1997, 1999). Dies hängt teils mit der Art der Erkrankungen zusammen und teils mit der Akzeptanz gegenüber den verfügbaren Leistungen, sofern sie den Betroffenen überhaupt zugänglich sind. Tatsächlich ist mit Besorgnis festgestellt worden, dass die erwähnten Gruppen nicht immer über die üblichen Wege des Gesundheits- und Wohlfahrtssystems erreicht werden können (Collatz 1997). Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Erwartungshaltungen, die Migranten in einem neuen Land an gesundheitliche Versorgung stellen – so auch an die psychiatrischen Einrichtungen - sich nicht immer mit den Angeboten decken oder diese zu erfüllen, nicht immer möglich oder zumindest erschwert sind. So bringen die Menschen in der Migration bestimmte Verhaltensweisen mit, die sie dann ändern und an die vorhandenen Bedingungen angleichen müssen. Dies ist nicht sehr leicht, denn zugleich besteht ja der Wunsch, den Anforderungen, die sich aus den eigenen kulturellen Wurzeln ergeben, gerecht zu werden. Es sollte immer in Sichtweise sein, dass ein Migrationsprozess für diese Menschen, also das Anpassen an neue gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Standards ein sehr schmerzhafter Prozess ist. Jeder unter ihnen muss erkennen, dass er nicht so bleiben kann wie er ist und muss zugleich Ängste, die eigenen kulturellen Werte zu verlieren, aushalten (Salman 1995). 252 Armut und Gesundheit Für Professionelle im Gesundheitswesen stellt daher die soziale Integration dieser Menschen, die zumeist aus anderen uns „fremd“ erscheinenden Kulturen stammen, eine Herausforderung dar, sich zunehmend konzeptionell, planerisch und ökonomisch mit diesen Erfordernissen auseinander zu setzen (Hegemann/Salman 2001). Migranten als Zielgruppe der Psychiatrie Generell sollte hervorgehoben werden, dass es nicht so sehr häufig die Migranten sind, die sich über das Gesundheitswesen und sein Personal beschweren oder es kritisieren. Viel häufiger sind es die Mitarbeiter unserer Gesundheitsdienste – beispielsweise Psychiaterinnen und Psychiater in der stationären und ambulanten Sozialpsychiatrie - die über Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Patienten aus anderen Kulturen klagen. Zu häufig wird an Defiziten orientiert argumentiert. Deshalb ist es angebracht bei der Planung und Entwicklung von migrationssensiblen Angebotsstrukturen, nicht nur am „Kunden“ orientiert vorzugehen, sondern auch aus der Perspektive beispielsweise der Therapeuten, Sozialarbeiter und Pfleger selbst, Herausforderungen und Erfordernisse zu überprüfen und diese an Lösungen zu beteiligen, denn sie sind diejenigen, die ja die Praxis letztendlich gestalten sollen. Hierbei benötigen sie aber mehr Unterstützung, damit sie die vorhandenen (guten) Angebote qualitätsgerecht und effizient auch für Migranten zugänglich machen können. Sehr häufig beklagen gerade die Mitarbeiter der Psychiatrien, die sich besonders engagieren gute und humane Arbeit besonders auch für Migranten zu leisten, dass ihre Anstrengungen zu wenig anerkannt und unterstützt werden. Ein Faktor ist sicherlich das mangelnde Problembewusstsein in der Politik und bei den Kostenträgern. Verstärkt bilden Kostenaspekte und nicht Qualität, Effizienz und Chancengleichheit, die Ausgangslage von Entscheidungsprozessen. Einigkeit besteht meistens darin, dass alles besser werden soll, dass Migranten in ihrer Gesundheit gefördert und gesichert werden sollen, dass Dolmetscher verstärkt eingesetzt werden müssen damit Regelangebote auch für sie zugänglicher werden können, dass kulturelle Kompetenzen auf Seiten der Fachprofessionen durch Fort- und Weiterbildung aufgebaut werden müssen etc. Zugleich besteht jedoch paradoxerweise auch Einigkeit darüber, dass das alles keine zusätzlichen Kosten, keinen zusätzlichen Zeitaufwand und keine zusätzlichen Verantwortlichkeiten verursachen darf. Das Grundproblem scheint also nicht so sehr darin zu liegen, die Versorgungsbarrieren zu lokalisieren und entsprechende Konzepte zu ihrer Beseitigung zu entwickeln, sondern darin, wer die Verantwortung übernimmt, Vertrauen schafft, komplexe Veränderungen moderiert, Beteiligte Institutionen vernetzt, „Brücken“ zu den Migranten baut und wer für die notwendige finanzielle Grundlage sorgt (Salman 1999). Ein vielversprechender erfolgreicher Ansatz konnte modellhaft in Niedersachsen realisiert werden. Hier finanziert das Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales einen moderierenden, vernetzenden und interkulturellen Gesundheitsdienst: Das Ethno-Medizinische Zentrum in Hannover (Heise/Collatz/Machleidt/Salman 2000). Das Ethno-Medizinische Zentrum bietet den Migranten keine eigenen Gesundheitsdienste an. Es ist eine „Brücke zwischen den Kulturen“ und hilft den Migranten Zugang zu vorhandenen Regelversorgungsangeboten zu finden oder unterstützt die vorhandenen Dienste – beispielsweise durch Fortbildungen, Publikationen, Fallsupervisionen, Dolmetscherbereitstellung oder Vernetzung - Migranten Teilhabe und Chancengleichheit Migration und psychische Gesundheit 253 bei der Nutzung vorhandener Angebote zu ermöglichen. Einzelberatung findet nur in begründeten Ausnahmefällen statt, denn wenn tiefgreifendere Fragen lokalisiert werden, wird aufgefordert, den entsprechenden Fachdienst der Regelversorgung aufzusuchen. So werden Betroffene den vorhandenen Diensten integrativ zugeführt. Die Dienste können dann bei Bedarf im Zentrum einen Dolmetscher anfordern oder eine Fortbildung bestellen. Auch werden mehrsprachige Informationsbroschüren entwickelt und veröffentlicht. Eine weitere wichtige Aufgabe die das Zentrum wahrnimmt, ist die Förderung der Selbsthilfe und die Gewinnung von Ehrenamtlichen unter den Migranten. Aus dieser Arbeit entstand auch der erste transkulturelle Betreuungsverein nach dem Betreuungsrecht (ehemals Vormundschaftsrecht) in Deutschland, das Institut für transkulturelle Betreuung e.V. welches zur Zeit über 220 Schwerstzubetreuende rechtlich betreut. Im Wirkungskreis des Zentrums entstanden auch die ersten transkulturellen ambulanten Pflegedienste nach Pflegegesetz in Deutschland, der Transkulturelle Pflegedienst e.V. und der Interkulturelle Pflegedienst e.V. in Hannover. Interkulturelle Öffnung und Qualitätssicherung Damit integrierende Versorgung innerhalb bestehender Regeldienste erfolgen kann, ist eine interkulturelle Öffnung und Sensibilisierung notwendig. Deshalb stehen Mitarbeiter/innen der Gesundheitsdienste vor der Aufgabe, ihre vorhandenen (guten) Angebote migrationsspezifisch und kulturell abzustimmen bzw. zu erweitern, damit ein bedarfsorientiertes Angebot gesichert werden kann und die vorhandenen (guten) Dienste für den wachsenden Personenkreis der Immigranten effizienter zugänglich werden. Hier ist ein Beitrag des Gesundheitswesens zur Integration von Migranten in unsere Gesellschaft angesprochen. Sollen alle gesellschaftlichen Gruppen, einschließlich derer aus anderen Kulturen, effizient und effektiv in der Psychiatrie integrativ versorgt werden, ist nach Pavkovic (1993, 1994, 2000) und Hinz-Rommel (1994) die Sicherung von Strukturqualität, Konzeptqualität, Mitarbeiterqualität, Prozessqualität und Ergebnisqualität Basis für transkulturelle Handlungskompetenz. Interkulturelle Öffnung kann u.a. durch die Vernetzung und Kooperation mit Migrationsdiensten, die Akzeptanz kultureller Vielfalt als Grundlage für Behandlungserfolg oder durch mehrsprachige Informationsbroschüren fundiert werden und so zur Strukturqualität beitragen. Die Anerkennung von Menschen aus anderen Kulturen als spezifische Zielgruppe, ihre gesonderte Berücksichtigung in Evaluation und Arbeitsberichten, die Dokumentation von Behandlungsverläufen oder systematisches kultursensibles Handeln begründen die Konzeptqualität transkultureller Handlungskompetenz. Mitarbeiterqualität kann u.a. durch Ausbau multiethnischer und multilingualer Arbeitsteams, Fortbildung deutscher Fachkräfte oder Einsatz von Fachdolmetschern gesichert werden. Zur Prozessqualität tragen unter anderem bei: Kultursensibel elaborierte Anamnese und Diagnose, Motivierung der therapeutischen Kooperationsbereitschaft des Klienten durch Vertrauensbildung, kulturelle und fachliche Transparenz der therapeutischen Interventionsmethoden und kontinuierliche interkulturelle Reflexion und Supervision. Zur Sicherung der Ergebnisqualität sind unter anderem die Überprüfung der Wirksamkeit erbrachter Leistungen, Organisation professioneller Nachsorge und Einbindung in Selbsthilfegruppen notwendig. Die Professionen und Entscheidungsträger der Psychiatrie werden nicht umhin kommen, eine transkulturelle Dimension zu entwickeln, um ihren Mitarbeitern eine theoretisches 254 Armut und Gesundheit Rüstzeug und praktische Modelle anbieten zu können, so dass sie die komplexen Aufgaben der migrationsspezifischen Versorgung bewältigen können (Hegemann 1998; Hegemann et al. 2000) Transkulturelle Psychiatrie Der Einbezug migrationsspezifischer und soziokultureller Aspekte in die psychiatrische Versorgung und die Berücksichtigung von Migrant/innen als spezielle Zielgruppe in den unterschiedlichen Handlungsfeldern der Psychiatrie begünstigt und begründet eine „Transkulturelle Psychiatrie“ (Hegemann/Salman 2001). Es wird immer einer Anstrengung zur Veränderung etablierter Strukturen bedürfen, um auf diesem Wege weiter zu kommen (Hegemann 1996; Zimmermann 2000; Hegemann/Salman 2001). Deshalb ist es notwendig, die großen kulturellen, politischen und fachlichen Herausforderungen auf individueller sowie gesellschaftlicher Ebene anzunehmen und Grundlagen für eine integrative Versorgung und für kultursensible Angebote in den Bereichen Beratung, Therapie, Prävention und Selbsthilfe zu schaffen (Pavkovic 1994; Salman et. al 1999; Gardemann et. al 2000). Auf der organisatorischen Ebene gilt es in erster Linie Zugangsbarrieren zu senken und langfristig abzubauen (Collatz 1995; Pavkovic 2000). Der bevorzugt verwendete Begriff „transkulturell“ soll die Wichtigkeit des Dialogs und die Notwendigkeit des voneinander Lernens als Grundlage von Kompetenzbildung und Handlungsperspektiven beschreiben. (Auf die diesbezügliche kontroverse Begriffsdebatte geht besonders Littlewood (2001:20ff.) ein.) Transkulturelle Kompetenz und transkulturelles Handeln beinhaltet die Fähigkeit, Haltungen gegenüber Menschen anderer kultureller Herkunft zu bevorzugen, die kulturell eher von Anteilnahme, Neugier und Interesse geprägt sind. Auf abgrenzende oder distanzierte Haltungen wird eher verzichtet. Voraussetzung der persönlichen oder institutionellen Annäherung an Migranten ist hierbei die Selbstreflexion über eigene Haltungen und soziokulturell geprägte Wertvorstellungen. Umgekehrt sind auch Kenntnisse soziokultureller und migrationsspezifische Hintergründe über Migranten als Basis transkulturellen Handelns wichtig. Transkulturell versiert Handelnde vermeiden negative Bewertungen von Unterschieden, haben Respekt vor anderen Auffassungen, sind sich über den eigenen kulturellen Hintergrund bewusst und beziehen sprachlich oder kulturell versierte Mitarbeiter oder Mittler in ihre Arbeit ein. Zusammenfassend wird hier vorgeschlagen, dass der Einbezug von migrationsspezifischen und soziokulturellen Aspekten, die verstärkte Aufklärung von Migranten über Art, Sinn und Umfang vorhandener Angebote und die Berücksichtigung von Migranten als spezielle Zielgruppe bei Aktivitäten der Beratung, Betreuung und Behandlung, die transkulturelle Psychiatrie begünstigen. Zukünftig sind jedoch nicht mehr so sehr die einzelnen Initiativen gefragt. Wir benötigen nun verstärkt Forschung, Gesamtangebotsplanung und Monitoring. Dies trifft sicherlich in besonderem Maße für den Bereich der Ausbildung und Weiterbildung zu. Literatur: Collatz, J. [1995]: Auf dem Weg in das Jahrhundert der Migration. Auswirkungen der Migrationbewegungen auf den Bedarf an psychosozialer und sozialpsychiatrischer Versorgung. In: Koch, E. et al. (Hrsg.): Psychologie und Pathologie der Migration. Deutsch-türkische Perspektive. Freiburg im Breisgau: Lambertus Verlag. 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Hier sind unzureichende Kenntnisse und Berührungsängste auf beiden Seiten besonders groß, und es liegt in der menschlichen Natur, dass das zu mehr oder weniger offensichtlichen Frustrationen führt. Umso wichtiger wäre es z.B. für die betroffenen Migranten, über eine entsprechend starke Interessenvertretung zu verfügen. Gerade diese besitzen die in Deutschland lebenden Araber im Vergleich zu vielen anderen hier lebenden Migranten jedoch nicht. Das hat seine Ursache vor allem darin, dass es bereits innerhalb der verschiedenen nationalen oder religiösen Gruppen der arabischen Bevölkerung erhebliche politische und kulturelle Differenzen gibt, wodurch eine einheitliche Interessenvertretung nach außen erschwert wird. Für die arabischen Klienten ist es darüber hinaus auf Grund des häufig unsicheren Aufenthaltsstatus schwierig, Zugang in das Hilfesystem zu finden.12 Das führt im Kontext einer meist spannungsreichen Beziehung zum allgemeinen sozialen Umfeld in der Konsequenz zu erhöhter psychischer Instabilität, emotionalem Stress und damit auch zu einer höheren, endogene Krankheitsbilder verstärkenden Vulnerabilität. Kurze ethnopsychiatrische Exkurse verweisen meist auf zwei Punkte: Einerseits nämlich werden psychische Probleme in der arabischen Welt als Krankheitsform nach wie vor weitgehend tabuisiert. In der islamischen Tradition und Kultur wird eine psychische Erkrankung traditionell als die Wirkung einer höheren Macht angesehen. Der Betroffene ist von Gott verlassen und von einem Dämon besessen, was zu einem fatalistischen Umgang mit der Situation führt. Andererseits spielt auch ein starker volkstümlicher Aberglaube als vermeintliche Ursache von Erkrankungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. So wird man in einer Familie, die innerhalb ihrer Gemeinschaft ein über den Durchschnitt hinausgehendes Einkommen hat, bei Auftreten einer psychischen Störung oder Erkrankung eines Familienmitgliedes die Ursache dafür häufig im "bösen Blick" durch den Neid der Nachbarn sehen. Hier soll nun nicht behauptet werden, dass die Deutschen – Weltmeister in so vielen Belangen – Weltmeister auch in Kenntnissen über die Psychiatrie sind. Psychiatrie ist nirgends ein Volkssport. Bekanntermaßen fehlt allerdings der arabischen Kultur weitgehend das kulturelle Phänomen der Aufklärung, wie es im 18. Jahrhundert in Europa seinen Ausgang nahm und eines der bis heute prägenden Ereignisse im westlichen Geistesleben wurde. Wenn wir uns erinnern, wurden im Zuge der Aufklärung 12So erhält ein überproportional hoher Anteil arabischsprachiger Migranten Leistungen nach dem AsylbLG und hat damit deutlich geringere Chancen als z.B. die meisten türkischsprachigen oder erst recht die EU-Migranten, über Leistungen aus dem BSHG am Betreuten Wohnen teilzunehmen. Auf der anderen Seite ist es für einen Großteil der arabischsprachigen Migranten (etwa der libanesischen und irakischen Bürgerkriegsflüchtlinge) auf absehbare Zeit unmöglich, auch nur kurzfristig in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, wodurch unfreiwillig eine besonders enge Bindung an Deutschland entsteht (vgl. Ghadban 2000). 258 Armut und Gesundheit viele als dunkel und geheimnisvoll geltende Vorgänge und Überlieferungen durch ihre Rückführung auf einen natürlichen, wirklichen, vernünftigen Kern rationalisiert. Eine Folge davon war u.a. die Trennung von Körper und Geist, Soma und Psyche, die heute trotz der unveränderten weltweiten Popularität des Irrationalen für die meisten Europäer selbstverständlich ist. Wenn es also etwa in Deutschland um die Therapie psychischer Erkrankungen geht, setzt man in beinahe allen Fällen auf Introspektion, Binnenschau, und nicht auf die Projektion des Problems in die Umgebung. Das aber ist genau, was bei arabischen Klienten zunächst beinahe immer geschieht. Entweder die Umgebung ist das Problem, oder der Kranke ist von einem bösen Geist besessen. Hier wird es auf Grund der unterschiedlichen Krankheitskonzepte für deutsche Psychiater und Psychotherapeuten oft sehr schwer, mit den Klienten in eine kooperative Beziehung zu treten und das Problem der psychiatrischen Erkrankung als unmittelbar eigenes Problem der Klienten deutlich werden zu lassen. Für die arabischen Gesellschaften ist im Gegensatz zur deutschen Gesellschaft typisch, dass sie den psychisch Kranken weitgehend integrieren und ihm gewissermaßen einen "Freibrief" erteilen. Der Kranke wird zwar nicht ignoriert, sondern als Narr toleriert – Achtung und Respekt aber werden ihm verweigert, auch wenn er an allen wichtigen Familienereignissen teilnimmt. Schwierig wird es freilich, wenn eine Familie mit einem psychisch Kranken in eine ihr kulturell fremde Umgebung gerät, wie das in der Migration regelmäßig der Fall ist. In dieser existentiell unsicheren Situation spielen Fragen der Ehre oder allgemein des sozialen Status, die ja ein traditionell wichtiges Identifikationspotenzial darstellen, eine erhebliche größere Rolle, als ihnen in der arabischen Welt ohnehin zukommt. Dort ist man nach wie vor oft genug bereit, wegen verletzter Ehrgefühle das Leben anderer – aber eben auch sein eigenes – aufs Spiel zu setzen, wohingegen hier die Ehre im Zeitalter nach Puschkin und Dumas nur noch in der Literatur stattfindet und realiter zu einem marginalisierten Begriff wurde, der eher für Unterschichten typisch oder Bestandteil der politischen Folklore ist. Fragen wie diese erschweren natürlich professionellen Akteuren in Deutschland, die weitgehend vor dem Hintergrund des aufklärerischen Modells arbeiten, eine erfolgreiche Betreuung von Klienten, die nicht nach diesem Modell leben. Ein weiterer Punkt: Soziale Betreuung erstreckt sich in der arabischen Welt auf verschiedene Hilfeformen religiöser Einrichtungen und privater Sponsoren, aber auch extrem politisch motivierter Organisationen wie etwa der Hamas. Diese hat in den Palästinensergebieten ein gut funktionierendes System der sozialen Unterstützung aufgebaut und damit eigentlich staatliche Aufgaben übernommen, woraus sich zu einem nicht unerheblichen Teil ihr großer Einfluss erklärt. Die dominierenden Formen unterscheiden sich bei allen Differenzen zwischen den verschiedenen Staaten sowie zwischen städtischen und ländlichen Lebensräumen allerdings kaum. Bestimmend sind nach wie vor die Familie und das Krankenhaus. Das ausdifferenzierte komplementäre System zwischen diesen beiden Polen, wie es in Deutschland existiert, ist dort weitgehend unbekannt. (In der Hilfeplanung kann dementsprechend nicht auf Erfahrungen mit dieser Betreuungsform gezählt werden.) Wenn Angehörige mit der Betreuung völlig überfordert sind, kommen psychisch Kranke in die psychiatrische Klinik. Diese heißt auf Arabisch „asfurije“, was nichts anderes als „Vogelhaus“ Migration und psychische Gesundheit 259 bedeutet. – Das ist übrigens ein schönes Beispiel für eine interkulturelle Metaphorik: Auch im Deutschen sagt man ja, dass jemand „einen Vogel hat“.13 Aus den eingangs geschilderten Gründen haben in Deutschland lebende arabischsprachige Migranten oft keine Vorstellung über die Möglichkeiten und konkreten Inhalte einzelner sozialer Angebote. Betreuung findet daher immer noch zu großen Teilen innerhalb der Familie statt. Das ist einerseits zu begrüßen, kennt doch niemand die Kranken so gut wie ihre als Experten häufig unterschätzten Angehörigen. Andererseits führt die z.T. erhebliche Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Angehörigen an die Genesung des kranken Familienmitglieds und dessen tatsächlichem, meist längst chronifiziertem Zustand zu einem tiefen Gefühl der Hilflosigkeit und des Überfordertseins.14 Wesentlicher Teil eines jeden auf die Betreuung psychisch kranker Migranten ausgerichteten Konzepts muss daher sowohl die Information der Familien über die verschiedenen psychiatrischen Störungsbilder und Angebotsformen des Hilfesystems als auch die kontinuierliche Zusammenarbeit mit den Familien der Klienten sein, um hier Hilfestellung geben zu können (zu den allgemeinen Bedarfen der sozialpsychiatrischen Betreuung von Migranten vgl. exemplarisch Zenker 2001:171ff.). Wie könnte das praktisch aussehen? Unter den typischen Voraussetzungen mangelnder Deutschkenntnisse und weitgehender Unvertrautheit mit dem deutschen Hilfesystem auf Seiten der arabischsprachigen Migranten muss es erste Bedingung an den Klienten orientierter Arbeit sein, dass es Mittler aus dem professionellen System in die Migrantenfamilien gibt, die sowohl deren Sprache sprechen als auch kulturelle Kompetenz besitzen. Das ist nämlich keineswegs das gleiche. Viele deutsche Helfer unterstellen wie selbstverständlich, dass arabischsprachige Kollegen auch in jedem Fall kulturell kompetent sind. Manchmal wissen dagegen gut informierte deutsche Professionelle sehr viel mehr über den zu beachtenden kulturellen Hintergrund als junge, vielleicht sogar hier geborene arabischsprachige Kollegen. Zudem beruht das Konzept der kulturellen Kompetenz zumindest in der interkulturellen Perspektive darauf, nicht nur die eigene Kultur, sondern auch die Kultur der beteiligten Akteure und Institutionen zu reflektieren, also die deutschen Kollegen, die deutsche Gesetzgebung und die Tradition des deutschen Hilfesystems mit all seinen Stärken und Unzulänglichkeiten. Weiterhin geht es, was die Medien der Information betrifft, inhaltlich vor allem um vier Punkte: Erstens muss klar sein, was die Angebote evtl. kosten und ob sie mit Nachteilen etwa bezüglich des Aufenthaltsstatus verbunden sind, was ein entscheidender Grund für die Zurückhaltung vieler Migranten ist. Zweitens müssen konkrete Ansprechpartner genannt werden, die dann jenseits des multikulturellen Optimismus vieler Flyer und 13Woher kommt diese Metaphorik? Das Phänomen des Stimmenhörens insbesondere bei Schizophrenen, aber auch die ungezügelte, nicht verständliche Rede in manchen paranoiden Störungsbildern wird in ein unmittelbar einsichtiges Naturphänomen übersetzt: den Vogelgesang, der weitgehend unabhängig von kulturellen Einflüssen aus einer anderen Welt ertönt und rationalen Erklärungsmustern weitgehend verschlossen bleibt. 14Stark repressive soziale Imperative sind nach wie vor unmittelbar mit einem Großteil der sozialpsychiatrischen Störungsbilder wie Suchtmittelabhängigkeit oder autoaggressiven Tendenzen bis zum Suizid verbunden (vgl. Huck 1996:37ff.). 260 Armut und Gesundheit Broschüren auch tatsächlich ansprechbar sind, und zwar nicht nur an zwei Stunden in der Woche. Drittens muss in klaren Worten erklärt werden, worin das Hilfeangebot eigentlich besteht, was dort wirklich geschieht, wie z.B. die Angehörigen eingebunden, aber auch geschützt werden. (Hierfür bedarf es keineswegs eines besonderen kommunikativen Modus. Auch deutsche Klienten sind bekanntermaßen mit der speziellen Sozialarbeiterprosa aus dem psychiatrischen Hilfesystem beinahe immer überfordert.) Und viertens muss berücksichtigt werden, dass viele traditionelle Entscheider in den Familien, also die Alten und Älteren, nicht in jedem Fall lesen können. Wenn auch sie erreicht werden sollen, sind insbesondere nicht-schriftliche Medien sinnvoll, also vor allem Vorträge, aber auch Videos. Was nun soll oder kann eigentlich kommuniziert werden? Welche Angebote kann das Hilfesystem im Bereich des Betreuten Wohnens nach § 39 BSHG tatsächlich machen? Die klassische Form ist noch immer die Wohngemeinschaft mit einem mehr oder weniger forcierten gemeinschaftlichen Zusammenleben und (in den meisten Fällen) gemeinsamer Benutzung von Küche und Bad. Eine weitere Form ist das Appartementwohnen, das heißt ein Betreuungsverbund, in dem viele unter einem Dach leben, aber separate Wohnungen mit eigenem Bad und eigener Küche haben. Im Betreuten Einzelwohnen schließlich hat der Klient eine eigene Wohnung in einem mehr oder weniger normalen gesellschaftlichen Umfeld. Es ist natürlich verführerisch, der Frage nachzugehen, welche dieser drei Möglichkeiten am ehesten für arabischsprachige Migranten geeignet wäre. Jeder wird nachvollziehen können, dass die klassisch gewordene Form der Betreuung einige Konflikte aufwerfen kann, wenn also Migranten mit Deutschen in einer Gemeinschaft leben, bei der Küche und Bad gemeinsam genutzt werden. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was jenseits aller sozialpsychiatrischen Folklore passiert, wenn ein deutscher Klient auf dem Küchenbrett gerade sein Schweineschnitzel geklopft hat und danach der arabische Klient darauf sein Falafel rollen soll. Aus vergleichbaren Situationen könnte man zu dem Schluss kommen, dass das Betreute Einzelwohnen, also eine weitgehende Separierung, die vorteilhafteste Form der psychosozialen Betreuung von Migranten wäre, zumal diese Wohnform generell immer populärer wird, weil sie dem besonderen Schutz- und Ruhebedürfnis vieler psychisch Kranker in besonderer Weise Rechnung trägt. Zwar führen die disparaten Formen der Sozialität innerhalb und außerhalb vieler Migrantenfamilien (z.B. in der Öffentlichkeit) oft genug zu quasi-schizoiden Erlebnissen, doch vermissen die arabischen Klienten in solchen Wohnformen häufig die ihnen vertraute Gemeinschaft, die einen erheblichen psychisch stabilisierenden Faktor darstellt. Am geeignetsten ist daher wohl die Appartementbetreuung. Diese Wohnform muss in Berlin allerdings in den Gebieten, die der Zielgruppe vertraut sind und daher eine gemeindenahe Versorgung überhaupt sinnvoll machen15, erst noch auf- und ausgebaut werden. Hier können sich die Klienten sowohl zurückziehen als auch nach ihrem persönlichem Bedarf am Gemeinschaftsleben teilhaben. Deutsche und Araber leben in dieser Betreuungsform beieinander, aber nicht um 15Die Berücksichtigung der Bindung an solche vertrauten urbanen Räume wird umso wichtiger, je prekärer es für die spezifische Klientengruppe um ihre sonstigen Identifikationspotenziale bestellt ist (vgl. Caglar 2001:341). Migration und psychische Gesundheit 261 jeden Preis miteinander. Kontakte können sich einstellen, wenn sie der persönlichen Befindlichkeit des einzelnen Klienten entsprechen, stehen also als Möglichkeit, Einsamkeit zu vermeiden, zur Verfügung, ohne Zwang zu sein und so Konflikte zu provozieren bzw. zu forcieren. Welcher Anspruch verbindet sich damit für die professionellen Akteure? Nicht umsonst gibt es das Paradigma der klientenzentrierten, nutzerorientierten Betreuung als wesentlichem Bestandteil eines systematischen Qualitätsmanagements. Das lässt sich konkret im Betreuten Wohnen umsetzen, indem man ein Setting herstellt, das die Kompetenzen und Defizite der Klienten berücksichtigt. Hier kann es zunächst zu therapeutischen Ansätzen kommen, die auf den ersten Blick einer integrativen Ausrichtung des Therapieprozesses zu widersprechen scheinen. Sobald nämlich der Tatsache Rechnung getragen wird, dass wir in Deutschland mit einer jahrzehntelangen Geschichte der offenbar sowohl von den Migranten als auch der Mehrheitsgesellschaft weitgehend hingenommenen (wenn auch nicht unbedingt reflektierten) Segregation konfrontiert sind (vgl. Leggewie 2000:85ff.), hat das natürlich auch Auswirkungen auf die realistisch zur Verfügung stehenden Interventionsformen, die gerade in den für die weitere Kooperation zwischen Klient und Betreuern entscheidenden ersten Kontakten zwangsläufig an diesen Segregationserfahrungen anschließen. Umso wichtiger wird dann die Kenntnis kultureller Umgangsformen, vor allem aber kulturdifferenter Wahrnehmungskonzepte von psychischen Erkrankungen, und dafür bedarf es in vielen Fällen neben der Einbeziehung des informellen Hilfesystems der privaten Sozialvernetzungen und ethnospezifischer Eigenorganisationen16 unverändert sowohl kulturell und sprachlich als auch fachlich kompetenter professioneller Mitarbeiter. Hier besteht leider die größte Schwierigkeit. Es ist natürlich kein Problem, engagierte arabischsprachige Kollegen in Berlin zu finden. Häufig sind diese jedoch mit den gleichen Problemen bezüglich der formalen Qualifikationsnachweise oder des Aufenthaltsstatus konfrontiert wie die Klienten, um die sie sich eigentlich kümmern sollen. Gerade im Psychiatriebereich gibt es sehr rigide Forderungen an die Qualifizierung der Mitarbeiter, die sich aus den Leistungsvereinbarungen mit dem Kostenträger ergeben – und das ist auch gut so. Man kann sich leicht vorstellen, welche Dynamik in einem Team entstehen kann, in dem sich deutsche Fachkollegen sowie sprachlich und kulturell kompetente, arbeitsrechtlich jedoch ungesicherte Mitarbeiter gegenüberstehen. Das kann niemand wollen, der Qualitätsmanagement ernst nimmt. Das bedeutet aber in praktischer Konsequenz auch, dass unter den gegebenen Bedingungen kaum arabischsprachige Kollegen im Psychiatriebereich eingestellt werden können. Eine Lösung kann gegenwärtig nur sein, systematisch nichtdeutsche Mitarbeiter zu schulen, um den gesetzlichen Anforderungen zu genügen. Wie das geschehen sollte, wäre schon Thema eines eigenständigen Vortrags. Erkennbar ist jedoch, dass das sehr wahrscheinlich allein über freie Träger gelingen kann. Der öffentliche Gesundheitsdienst mit seinem immensen 16Der Wert solcher Eigenorganisationen ist umso höher, je stärker eine Gruppe segregiert ist und sich in Konkurrenz um die knappen Ressourcen befindet (vgl. Fijalkowski 2001:172). Dafür bedarf es jedoch eines ausreichenden Mobilitäts- und Aktivierungspotenzials, das nach unseren Beobachtungen zumindest für die arabischsprachigen Migranten in den meisten Fällen deutlich überschätzt wird. Zudem wirkt hier eine starke Binnenorientierung eher segregationsfördernd. 262 Armut und Gesundheit Personalüberhang wird solche Aufgaben auch in ferner Zukunft nicht leisten können. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist gleichermaßen erkennbar, dass hier die sogenannte interkulturelle Öffnung der Regeldienste längst an ihre Grenzen gestoßen ist und man sich ernsthaft überlegen muss, wie die erheblichen finanziellen Mittel gegebenenfalls anders eingesetzt werden könnten. Auch das aber ist ein Thema für sich. Wozu es jedenfalls nicht kommen darf, ist eine durchgehende Kulturalisierung aller Komplikationen, die in der Betreuung psychisch kranker Migranten auftreten. Kulturspezifische Aspekte begründen fast nie eine Störung, können sie jedoch häufig verstärken. Angesichts einer erheblichen Streuungsbreite kultureller Ausprägungen in einer Stadt wie Berlin wäre ohnehin jeder professionelle Helfer mit dem Versuch überfordert, für alle Klientengruppen entsprechendes Wissen zu erwerben. Gleichwohl darf die Vermittlung interkultureller Kompetenz nicht, wie das immer häufiger zu beobachten ist, mit einer allgemeinen Kommunikationsberatung verwechselt werden. Ohne wesentliches Wissen zu dominanten Körperkonzepten, Symptompräsentationen und Coping-Mechanismen, wie sie regelmäßig in den größten Migrantengruppen zu beobachten sind, wird kein professioneller Akteur therapeutisch erfolgreich arbeiten können (vgl. Berg 1998:81ff.). Weiterhin darf die Einstellung nichtdeutscher Fachkollegen nicht zu einer Erwartung führen, mit dieser Praxis bestimmte kulturelle Repertoires abzudecken, dass also arabische Klienten ausschließlich von fachkompetenten Muttersprachlern und Deutsche nur von Deutschen betreut werden.17 Die geforderte gegenseitige Vertretbarkeit setzt vielmehr bei allen professionellen Akteuren eine hohe Motivation voraus, experimentell zu intervenieren, sich in die jeweils fremde Kultur hineinzudenken und von den Narrationen des jeweils anderen zu lernen, aber auch die in beinahe allen Fällen vorhandenen Kooperationspotenziale zielgenau zu nutzen. Erst damit beginnt Transkulturalität (vgl. Hegemann 2001:116ff.). Es wird also nicht darum gehen, zum wiederholten Male über besonders expressives Schmerzverhalten, religiös motivierte Tabuisierungen in der Pflege oder die herausfordernde Zuordnung familiärer Rollenbilder auf die Betreuer zu reflektieren. Andernfalls tappt man unversehens in die Ethnifizierungsfalle und stereotypisiert Klienten nach ihrem Aussehen oder Namen, die mit bestimmten Erfahrungen korrelieren, wobei im schlimmsten Fall im Kopf ein Film abläuft, wie man sich in einem solchen Gespräch zu verhalten habe. Das aber entspricht kaum je der inneren Heterogenität der unterstellten Gruppe. Entscheidend wird vielmehr sein, auch in der professionellen Auseinandersetzung, im therapeutischen Fördern und Fordern eine Atmosphäre wechselseitiger Anerkennung und Offenheit herzustellen, die je schon an einem indivi17Im Gegenteil zeigen Erfahrungen aus der sozialpsychiatrischen Praxis, dass manche Klienten Betreuer gleicher ethnischer Herkunft zunächst stark ablehnen. Dafür werden in Folgegesprächen meist zwei Gründe aufgeführt: Zum einen besteht die Befürchtung, der betreffende Betreuer könnte auf verschlungenen Pfaden zur Familie gehören und damit dieser gegenüber „aussagepflichtig“ sein. Zum anderen wird erstaunlich oft nur den deutschen Betreuern eine echte Kompetenz zugestanden. Und es gibt wohl noch einen dritten Grund: Gerade für Schizophrene ist es häufig außerordentlich wichtig, Abstand halten zu können. Wird die therapeutische Beziehung zur Kommunikation zwischen zwei Kulturen, ist die Wahrscheinlichkeit erfahrungsgemäß höher, dass es zu Missverständnissen kommt. Diese Missverständnisse jedoch lassen sich hervorragend in die Abwehrstrategie der Klienten einbauen und würden in der Kommunikation mit einem Betreuer gleicher ethnischer Herkunft nicht zur Verfügung stehen. Migration und psychische Gesundheit 263 dualisierten Verständnis der migratorischen Grunderfahrungen – und das werden zunächst solche der Verunsicherung und des Verschwindens sein (vgl. Grinberg/Grinberg 1990:223ff.) – anknüpfen kann. Vielleicht ergeben sich von hier aus erste vorsichtige Schritte in diese Richtung – „insh’ allah“. Literatur: Berg, G. [1998]: Subjektive Krankheitskonzepte. In: David, M. et al. (Hg.): Migration und Gesundheit: Zustandsbeschreibung und Zukunftsmodelle. Frankfurt/Main. Caglar, A. [2001]: Stigmatisierende Metaphern und die Transnationalisierung sozialer Räume. In: Gesemann, F. (Hg.): Migration und Integration in Berlin. Opladen. Fijalkowski, J. [2001]: Die ambivalente Funktion der Selbstorganisation ethnischer Minderheiten. In: Gesemann, F. (Hg.): Migration und Integration in Berlin. Opladen. Ghadban, R. [2000]: Die Libanon-Flüchtlinge in Berlin. Berlin. Grinberg, L.; Grinberg, R. [1990]: Psychoanalyse der Migration und des Exils. München. Hegemann, T. [2001]: Transkulturelle Kommunikation und Beratung. In: Hegemann, T. et al. (Hg.): Transkulturelle Psychiatrie. Bonn. Huck, W. [1996]: Besonderheiten und Probleme in der Behandlung ausländischer jugendlicher Drogenabhängiger. In: Psychosozial, Nr. 63. Gießen. Leggewie, C. [2000]: Integration und Segregation. In: Bade, K. et al. (Hg.): Migrationsreport 2000. Frankfurt/Main. Zenker, H.-J. [2000]: Betrachtung der psychiatrischen/psychotherapeutischen Versorgung in Bremen. In: Gardemann, J. et al. (Hg.): Migration und Gesundheit: Perspektiven für Gesundheitssysteme und öffentliches Gesundheitswesen. Düsseldorf. 264 Armut und Gesundheit Zur Problematik der kulturfairen psychiatrischen Begutachtung von Migranten unter besonderer Berücksichtigung russischsprachiger Zuwanderer Olga Brehusowa In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl osteuropäischer Immigranten in Deutschland deutlich vergrößert. Allein die Anzahl von Spätaussiedlern beträgt etwa drei Millionen. Eine der größten Gruppierungen von Migranten bilden russischsprachige Migranten, deren Status in Deutschland besonders unterschiedlich legalisiert wurde. Dabei handelt es sich um sogenannte Russlanddeutsche, jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, Ehepartner der binationalen Familien. Alle Migranten unterscheiden sich in den Lebenshintergründen und –chancen extrem von einander und weisen dennoch durch ihr Migrantenschicksal entscheidende Gemeinsamkeiten auf, beispielsweise bezogen auf spezifische Gesundheitsrisiken und besondere Probleme der Versorgung. Durch die soziale Polarisierung, das hohe Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiko der Migranten und die Zunahme sozialer Unsicherheit, Gewalt und Diskriminierung muss damit gerechnet werden, dass psychische Leiden bei den Erkrankungen der Migranten eine immer größere Rolle spielen werden. Eine nervenärztliche Versorgung weist besondere Probleme auf. Die Nervenärzte werden selten und meist viel zu spät von Migranten aufgesucht. Dies liegt zum einen am kulturellen Abstand der Migranten zur professionellen Behandlung psychischer Erkrankungen und zum anderen an der Sprachbarriere. (Bekanntlich verfügen ca. fünfzig Prozent der Migranten über unzureichende Deutschkenntnisse). Dadurch werden die Migranten häufig mit besonders schweren somatischen und psychischen Krankheitszuständen direkt in die stationäre Versorgung aufgenommen. Größte Schwierigkeiten bereiten den Fachkräften der Psychiatrie solche Migranten, die durch die Existenz der sogenannten „Migrantensubkultur“ mit „Unter-sich-bleibenwollen“ auch nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland die deutsche Sprache kaum erlernt haben und „in der Emigration nie richtig heimisch wurden“. Ihre Versorgung wird nach Aussagen deutscher Mediziner als anstrengend, lästig und zeitaufwändig geschildert. Versorgungssystem in der ehemaligen Sowjetunion Am Beispiel von Moskau (damals ca. neun bis zehn Millionen Einwohner) werde ich das psychosoziale Versorgungssystem in der ehemaligen Sowjetunion schildern. Die stationäre psychiatrische Versorgung erfolgte in den regionalen psychiatrischen Krankenhäusern (insgesamt fünfzehn), in einem Krankenhaus mit dem Schwerpunkt „Sucht“, in einer Klinik für Neurosen und in einem Wissenschaftlichen Zentrum für die psychische Gesundheit. Ich arbeitete in Moskau im 1. Psychiatrischen Krankenhaus „Kaschtschenko“, das für mehrere Rajons zuständig war, es gab dort mehrere psychiatrische Abteilungen, die sich nach Zuständigkeitsbereichen unterteilten, eine geriatrische Abteilung, eine Suchtabteilung für Alkoholabhängige und eine Suchtabteilung für Drogenabhängige, zwei stationäre forensische Abteilungen, eine Abteilung für Neurosen, eine arbeitstherapeutische Abteilung, eine physiotherapeutische Abteilung, Konsiliarien für Neurologie, Allgemeinmedizin, Dermatologie, Chirurgie und Zahnmedizin, eine Abteilung für Intensiv- Migration und psychische Gesundheit 265 therapie mit der Therapie in einer Barokammer und mit Hämosorbtion (für die Behandlung eines malignen neuroleptischen Syndroms, der Alterspsychosen, Intoxikationen). Das Krankenhaus besaß einen mobilen Dienst für eine schnelle psychiatrische Hilfe für den gesamten Moskauer ambulanten Bereich von 16.00 bis 09.00 Uhr, der 1972 entstand und zu diesem Zeitpunkt ein weltweit einzigartiges Projekt darstellte. Die ambulante psychiatrische Primärversorgung wurde durch den ambulanten Psychiater und den ärztlichen Psychotherapeuten in den staatlichen regionalen Polikliniken (oft nach einer Überweisung durch den regionalen Hausarzt der Poliklinik) bzw. durch den Psycho-Neurologischen-Dispansaire (kurz PND genannt) und Narkologischen Dispansaire durchgeführt. Die PND´s verfügten auch über die tagesstationäre, nachtsstationäre Abteilungen, spezialisierte Sanatorien und Arbeitstherapeutische Abteilungen, wo die arbeits-soziale Rehabilitation stattfand. Der Stellenwert der Psychiatrie unterschied sich in den Augen der Bevölkerung kaum von dem, was wir hier erleben. Psychiater wurden meistens weniger gern aufgesucht, wenn es sich um eine eigene Erkrankung handelte. Auch wenn die psychischen Hintergründe der Erkrankung sehr offensichtlich waren, wurden meistens zuerst die primärversorgenden Hausärzte aufgesucht. Über den stationären Aufenthalt im psychiatrischen Krankenhaus (im Volksmund „gelbes Haus“ genannt, weil die Fassaden früher oft gelb gestrichen wurden) erzählte man nicht unbedingt gern. So wie hier verweigerten die Patienten oft den stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, ließen sich aber in die Nervenklinik problemloser einweisen. Einer der Gründe wird die Registrierung aller psychisch Erkrankten gewesen sein, was z.B. berufliche Folgen haben oder zum Verlust des Führerscheins führen konnte. (So entzog man den Führerschein den an Schizophrenie erkrankten Patienten gänzlich). Beim Umzug des Patienten zog auch seine Dispansaireakte mit. Wenn aber schon eine Erfahrung mit dem psychiatrischen Krankenhaus gemacht worden war, waren die Hemmungen nicht mehr so stark ausgeprägt. Zwischen dem Krankenhaus und den Angehörigen der Patienten bestand ein sehr enger Kontakt, der sich später auf den ambulanten Sektor übertrug. Angehörige nahmen außerdem sehr aktiv an den Selbsthilfegruppen teil. Betreutes Wohnen oder TWG in der Form, wie man es in Deutschland kennt, gab es nicht, möglicherweise durch den chronischen Wohnungsmangel in Moskau erklärbar. Es gab aber ein Vorrecht auf eine Wohnung und Recht auf zusätzliche Quadratmeteranzahl für psychisch Kranke. Die Unterschiede in den Wertorientierungen zwischen russischsprachigen Migrantengruppen und der einheimischen Bevölkerung sind nicht so gravierend, wie mit Migranten aus den traditionsgebundenen Kulturen. Das Gesundheitsverständnis, die Krankheitskonzepte, das Krankheitsverhalten, die Inanspruchnahme von Hilfe innerhalb der medizinischen Versorgungssysteme, wissenschaftlich begründete Therapieformen, aber auch das Verständnis für die Anwendung wesentlicher kulturspezifischer Gesundheitspraktiken, wie z.B. der Traditionellen chinesischen Medizin sind ähnlich. Wobei es nach wie vor bildungsabhängige und kulturelle Unterschiede, aber auch Unterschiede zwischen den Stadt- und Landbewohnern gibt. Der größte Teil der russischsprachigen Migranten stammt aus einem Gesellschafssystem, wo es im Unterschied zur modernen westlichen Industriegesellschaft noch eine starke verwandtschaftliche, generationsübergreifende Bindung (vor allem bei denen, die 266 Armut und Gesundheit aus ländlichen Gebieten kommen), ausgeprägte soziale Verpflichtungen und eine eindeutige Priorität der kollektiven Angelegenheiten gegenüber den individuellen Interessen und Angelegenheiten gibt. Der hohe Grad der Arbeitslosigkeit ist gerade bei Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion sehr tragisch, weil die meisten einen guten bis hohen Ausbildungsgrad besitzen, und das Phänomen „Arbeitslosigkeit“ dort früher nicht bekannt war. In der ehemaligen Sowjetunion waren auch die meisten Frauen berufstätig, und konnten ebenfalls eine gute Ausbildung nachweisen. Diese Menschen haben früher nie vom Staat leben müssen, sondern waren immer aktive Mitglieder der Gesellschaft. Deswegen ist das Gefühl des sozialen Abstieges bei dieser Migrantengruppe besonders stark ausgeprägt. Eine Besonderheit der psychosozialen Situation der Russlanddeutschen ist die Tatsache, dass die meisten immer noch zwischen zwei Heimaten stehen: Zwischen der ersten, die sie verlassen haben, aber mit der sie eine starke kulturelle und sprachliche Bindung haben und einer neuen, in die sie sich integrieren müssen. Einer der Migranten definierte den Begriff „Emigration“ so: „Es ist wie ein Schiff, das einen Heimathafen verlassen hat und den Zielhafen nicht erreicht hat.“ Sozialmedizinische und -psychiatrische Untersuchungen beschreiben immer wieder bestimmte überdurchschnittlich häufige gesundheitliche Störungen bei Migranten wie beispielweise multiple körperliche Funktionsstörungen neurasthenisch-hypochondrischer Prägung, somatisierte depressive Syndrome. Hierzu zählen auch die sogenannten Entwurzelungsreaktion oder die Heimwehkrankheit, psychogene Erscheinungsbilder, psychoseähnliche Zustände und im Zusammenhang mit einer unfreiwilligen Migration einen Symptomkomplex „posttraumatische Belastungsstörung“. Begutachtung Die psychiatrischen Krankheitsbilder gleichen einander in Symptomen, sozialen Folgen, Verlaufsformen und Häufigkeit des Auftretens in allen Kulturen – und zwar trotz der gewaltigen Unterschiede zwischen Ideologien, Technologien und Bräuchen. Von den Gutachtern wird ein hohes Maß an Professionalität und Kommunikationsfähigkeit verlangt. Die interkulturellen Unterschiede zeigen sich in den Wertorientierungen. Die Kenntnis und die Akzeptanz dieser Unterschiede und der daraus resultierenden ethnomedizinischen und transkulturell-psychiatrischen Konsequenzen ist der Schlüssel zum Verständnis der Patienten aus einem anderen Kulturkreis. Spezifische Probleme dabei gibt es auf beiden Seiten: 1) Ethno-kulturelle Barriere Kulturbedingte Unterschiede in den Wertorientierungen zwischen Emigranten verschiedener Ethnien einerseits und einheimischer Bevölkerung andererseits, aber auch zwischen den Immigranten unterschiedlicher ethnischer Gruppen selbst. Diese Unterschiede in den Wertorientierungen beziehen sich natürlich auch auf die Krankheitskonzepte, das Krankheitsverhalten sowie die Inanspruchnahme von Hilfe innerhalb der medizinischen Versorgungssysteme. Transkulturelle Untersuchungen belegen einerseits die Veränderungen des Krankheitserlebens und –verhaltens beim Wechsel aus einem kulturellen System in ein anderes und zeigen andererseits die Schwierigkeiten im Anpassungsprozess an das Medizinsystem der Aufnahmegesellschaft. Migration und psychische Gesundheit 267 2) Sprachbarriere Eine psychiatrische Diagnosestellung und Therapie hat eine ausreichende sprachliche Verständigung zur Voraussetzung. Bereits für die deutschen Patienten ist die Kommunikation in diesem Kontext mitunter schwierig. Dies gilt um so mehr für Migranten, wo neben dem Problem, eine gemeinsame Sprache zu finden, noch die Gefahr kultureller Missverständnisse hinzukommt. Das Problem der sprachlichen Verständigung wird als sehr bedeutsam eingeschätzt. So wurde z.B. eine Korrelation zwischen dem Vorhandensein von Sprachproblemen und der Qualität der dokumentierten Psychopathologie in einer Studie von Haasen et al. (1999) festgestellt. Bei Migranten mit Sprachproblemen hätten sich signifikant häufiger psychotische Symptome oder Wahngedanken gefunden, depressive Symptome dagegen seltener. Psychodiagnostische Instrumente sollen bei Menschen aus anderen Kulturen nicht eingesetzt werden, wenn sie nicht explizit für diese Kultur und die entsprechende soziale Schicht validiert sind. Keinesfalls reicht die bloße Übersetzung aus, dies gilt auch für den „kultur- und sprach-unabhängigen“ Raven-Test. Deshalb ist die Zurückhaltung bei der Diagnose von Persönlichkeitsstörungen notwendig: Diagnosestellung nur dann, wenn zuverlässige, fremdanamnestische Angaben vorliegen. Sonst besteht die Gefahr, dass schizophrene Störungen überdiagnostiziert werden, depressive Entwicklungen nicht erkannt werden und Persönlichkeitsstörungen zu „großzügig“ diagnostiziert oder übersehen werden. Ich kann mich nur dem Appell vom Herrn Ebner in seiner Arbeit „Grundlagen transkultureller Begutachtung“ anschließen. Er betont, dass wir bei der psychiatrischen Begutachtung uns darauf beschränken sollen, zu denjenigen Fragen Stellung zu nehmen, zu denen wir auch kompetent Auskunft geben können. So sollten wir in Bescheidenheit zur Begrenztheit unseres Fachwissens stehen und den Mut haben eine Frage auch mal nicht zu beantworten, einen Auftrag auch einmal abzulehnen. Das bedeutet auch, dass wir uns nicht für Partialinteressen instrumentalisieren lassen (der auftraggebenden Institution, des Exploranden, aber auch gesellschaftlicher Kräfte). Eine interkulturelle Öffnung der Gesundheitsversorgung verlangt umfangreiche strukturelle Maßnahmen in allen Versorgungsinstitutionen, eine Überprüfung der Angebote und Leistungen in Bezug auf Migranten sowie eine Erweiterung des Berufsverständnisses gesundheitlicher Fachkräfte und deren Qualifizierung für migrantenspezifische Bedürfnisse durch Weiterbildung. Es erscheint dringend notwendig den ethnomedizinischen Lehranteilen, die zeitgemäße multi-kulturelle Kompetenzen vermitteln, auch in der Ausbildung von Studenten verschiedener Fachrichtungen (Medizin, Psychologie, Pädagogik) eine größere Bedeutung beizumessen, als das bisher geschehen ist. Eine kultursensible Behandlung benötigt außerdem Bereitschaft und Interesse, sich fremden Kulturen zuzuwenden und auch im Umkehrschluss neue Erfahrungen durch Zuwanderer innerhalb der eigenen, der Aufnahmekultur, zuzulassen und wahrzunehmen. Die Konfrontation mit dem Fremden bedeutet eine Bereicherung für unser Wissen, aber auch eine Auseinandersetzung mit den eigenen soziokulturellen Prägungen, ihren Beschränkungen und Relativitäten. 268 Armut und Gesundheit Ohne sprachliche Verständigung bleibt der Zugriff auf notwendige Informationen zu Bewältigung sozialer, rechtlicher und gesundheitlicher Belange nahezu unmöglich. Gerade der Mangel an spezifischen Angeboten – unzureichende Möglichkeiten muttersprachlicher, bilingualer, migrationsspezifischer und transkultureller Beratung und Therapie – wird von Migranten beklagt. Ein Einsatz von qualifizierten Dolmetschern, aber auch eine gezielte Nutzung des bereits bestehenden „Kapitals“ fremdkultureller Mitarbeiter ist auch bei der Eingliederung in sozialpsychiatrische, psychosomatische, familienmedizinische oder rehabilitative Hilfssystem der Lebensberatung, Familienhilfe, betreutem Wohnen und Heimbetreuung, Arbeit oder beruflicher Ausbildung, medizinischen Beratungs- und Behandlungsprozessen oft notwendig, um die Effektivität der Maßnahmen zu gewährleisten. Die Verstärkung der muttersprachlichen Behandlung und Betreuung im stationären, ambulanten und komplementären Sektor könnte durch einen erleichterten Zugang für ausländischen Mediziner erreicht werden. Der Aufbau von interkulturellen Teams, die Einstellung von Menschen mit Migrationshintergrund wäre außerdem eine kostensparende Alternative zu den Dolmetscherdiensten. In der Berliner Versorgungslandschaft gibt es schon einige Projekte, Einrichtungen der aufsuchenden Sozialarbeit für Migranten und Beratungsstellen, die Beratungen auf den verschiedensten Gebieten anbieten, insbesondere durch praktische Hilfe in der Ausfertigung des notwendigen Schriftverkehrs zu ausländer- und aussiedlerrechtlichen Fragen, zu mehr Rechtssicherheit für russischsprachigen Migranten beitragen, was eine große, auch psychische Hilfe für diese Menschen darstellt. Es werden außerdem einige Projekte aus den Reihen der russischsprachigen Migranten selbst angeboten, z.B. ein russischsprachiges Krisentelefon (was auch die Telefonseelsorge seit einiger Zeit anbietet), Vereine mit verschiedenen kulturellen Angeboten. Ein Krankentransportunternehmen stellte russischsprachiges Fachpersonal an und bietet den Patienten eine muttersprachliche Begleitung an. Dies sind nur einige Beispiele. Ein Kernproblem ist aber eine fehlende umfassende Vernetzung dieser Aktivitäten. In der Zeit der Sparmaßnahmen erscheint die Übernahme des finanziellen Aufwandes für die Erfüllung aller Aufgaben, die zu einer Verbesserung der Migrantenversorgung beitragen können, durch den Öffentlichen Dienst alles beinahe unmöglich. Wäre es nicht eine Aufgabe für die freie Träger, die als einzige Institutionen flexibler mit den Anstellungen umgehen können? Berliner Krisendienst Jetzt möchte ich kurz über die Erfahrung des Berliner Krisendienstes (BKD) mit Migranten berichten. Der Berliner Krisendienst arbeitet im Rahmen der regionalen Pflichtversorgung und leistet in Abstimmung mit den vorhandenen ambulanten und stationären Angeboten einen Beitrag, die Versorgung von Menschen in Krisen und psychiatrischen Notfällen zu verbessern. Damit wurde der angestrebte Aufbau einer flächendeckenden multi-professionellen Rund-um-die-Uhr-Versorgung vollzogen. Die Umfrage unter meinen Kollegen beim BKD ergab eine wachsende, aber immer noch geringe Inanspruchnahme des BKD durch Migranten. Liegt es an mangelnder fremdsprachlicher Werbung? Ist das Konzept psychosozialer Beratung so kulturspezifisch, dass es von einer großen Gruppe von Migranten gar nicht in Anspruch genommen werden kann? Migration und psychische Gesundheit 269 Es bedarf einer genaueren Analyse. Möglicherweise gilt es auch zunächst nur, die Lücken der bisherigen Versorgung aufzuzeigen und bei einem Projektverlängerungsantrag eine stärkere konzeptionelle, personelle und finanzielle Berücksichtigung dieser Zielgruppe einzufordern. (Literatur bei der Autorin) 270 Armut und Gesundheit Erfahrungsberichte aus dem ehemaligen Jugoslawien Salih Huremovic Ich wurde am 18.7.1937 in Janja geboren, wo ich ohne Unterbrechung gelebt und gearbeitet habe, bis ich von den serbischen Behörden im September 1994 vertrieben wurde. Mein Geburtsort Janja hatte über 12.000 Einwohner, davon 98 Prozent Muslime. Die serbischen Machthaber vertrieben zusammen mit den Soldaten alle muslimischen und kroatischen Einwohner Ostbosniens, so dass in meinem Heimatort Janja von 12.000 Einwohnern nur 150 Einwohner muslimischen Glaubens verblieben. Dabei wurden alle religiösen Einrichtungen der Muslime zerstört, und auf einer Länge von 200 Kilometern gab es nicht einen einzigen Muslim oder Kroaten. Gleichzeitig wurde serbische Bevölkerung in unseren Häusern angesiedelt. Man hat uns alles genommen: Häuser, Geschäfte, Autos, Haustechnik. Viele Mitbewohner meines Ortes wurden ermordet, manchen wurde die Kehle durchgeschnitten, Frauen wurden vergewaltigt, und viele von ihnen konnten bis heute nicht gefunden werden. Ich habe beide Kriege erlebt, war auch im 2. Weltkrieg Flüchtling. Der letzte Krieg war jedoch brutaler und grausamer als jener von 1941 bis 1945. Jeder Krieg ist grausam, im Weltkrieg gab es eine große Hungersnot und Armut, eine Zeit lang lebten wir in einem ausgehobenen Unterstand unter der Erde, weil mein Haus bei einem Bombenangriff beschädigt worden war. Die Toten wurden zur Beerdigung in Papier eingewickelt. Der letzte Krieg, der im Frühjahr 1992 in Bijeljina, ganz in der Nähe meines Ortes, begann, übersteigt die menschliche Vorstellungskraft. Nicht einmal Tiere können so etwas tun. Diese Leute haben sich unbeschreibliche Leiden und Erniedrigungen gegenüber den Muslimen und Kroaten ausgedacht. In der Drina schwammen tagelang die Leichen der ermordeten und abgeschlachteten Menschen aus Zvornik, Divi´ci, Bratunac und Srebrenica. Die Leichen waren überall verstreut, manchmal waren zwei an einander gebunden, einige waren ohne Köpfe, Arme oder Beine an Bretter genagelt. Manchen Menschen wurden, während sie noch lebten, als Folter mit dem Messer serbische Symbole eingeritzt. Die serbischen Machthaber haben uns alles genommen, uns in 110 Länder auf der ganzen Welt verstreut, uns das Recht genommen, auf unserem eigenen Boden zu leben. Wir sind jetzt heimatlos, haben nirgends etwas, und unsere Kinder und Enkel haben nie das Glück eines eigenen Hauses, eines Heimatortes und Heimatlandes erfahren. Meine Familie und ich werden dem deutschen Volk und der deutschen Regierung bis ans Lebensende dafür dankbar sein, dass sie uns vor dem sicheren Tod bewahrt haben. Meine Botschaft an die jungen Menschen und Kinder ist, die Freiheit und ihr Land zu behüten, denn Nationalismus ist das größte Übel, das ein Land treffen kann. Die Wirtschaft geht zugrunde, man verliert seine Nächsten, die Eltern, Brüder und Schwestern, seine Freunde, man hat nirgends mehr etwas. Meine Bitte an die Medien, vom Fernsehen bis zur Presse, wäre es, oft auf die Gefahr des Nationalismus hinzuweisen, über die Grauen zu schreiben, die ein Krieg mit sich bringt, und diese auch zu zeigen. Möge Gott uns davor bewahren, dass sich das Furchtbare, das wir erlebt haben, wiederholt. Indem Migration und psychische Gesundheit 271 ich auf öffentlichen Veranstaltungen spreche und mit schriftlichen Beiträgen wie diesem, möchte ich meinen Beitrag dafür leisten, dass solche Dinge nie wieder geschehen. Remzija Suljic Der Krieg ist schon lange vorbei, aber mir ist, als wäre es gestern gewesen. Die schlimmen Bilder aus dem Krieg werden mit jedem Tag in meinem Kopf, meiner Seele und meinem Herzen lebendiger. All das ist erdrückend und muss an die Oberfläche. Ich habe mir schon hundertmal die Frage gestellt, wie lange noch, und wie ich es schaffen kann, dies alles aus mir herauszudrängen, ein sorgloser Bürger in einem fremden Land und einer fremden Stadt zu werden. Doch alles in mir sträubt sich dagegen, ich werde es nie vergessen können. Es ist einfach zu schwer. Seele und Herz leiden, ich fühle mich beengt, bekomme keine Luft, muss nach draußen, muss reden, anderen Menschen sagen, dass ich und mein Volk einmal genauso waren wie sie. Doch nach allem, was uns böse Menschen angetan haben, ist nur ein Schatten davon geblieben, eine leere Hülle, die sich bewegt und mit ihrem Volk, ihrer Stadt und ihrem Land leidet. Es gibt Nächte, in denen ich nicht einmal eine Stunde lang schlafen kann. Dann ist es am schlimmsten. Ich wünsche mir, meine jetzigen Nachbarn, die Deutschen, wären mein Volk, damit ich mit ihnen reden, ihnen mein Seele und mein Herz öffnen könnte. Sie würden mich verstehen, sie haben mit mir gelitten. Oft bedauere ich, dass ich nicht Deutsch spreche, um ihnen von den Leiden meines Volkes und von mir zu erzählen, davon, wie unschuldige Kinder im 20. Jahrhundert von ihren Müttern getrennt und ihrer Jugend beraubt wurden. Das Bild der Trennung von Kindern und Eltern ist das schlimmste und erdrückendste. Es ist seither einige Zeit vergangen, doch als wäre es gestern gewesen, höre ich noch immer die Schmerzensschreie und das Flehen der Opfer, der Mütter und Kinder. Doch die menschlichen Bestien sind unerbittlich, haben kein Herz, keine Seele, säen nur Angst und Leid. Ich wünsche mir, dass uns irgendwann einmal jemand sagt, was passiert ist, wie Menschen, die gestern noch gute Freunde waren, zu Bestien werden und in meiner Stadt, einer Schutzzone, zwischen acht- und zwölftausend Menschen umbringen konnten und dafür noch heute ungestraft in Freiheit leben. Ich habe Angst, dass, wenn wir dem Volk nicht Tag für Tag davon erzählen, welch Leid dieser schreckliche Krieg mit sich gebracht hat, eines Tages das Böse auf der Erdkugel die Übermacht gewinnen könnte. Es ist schwer, davon zu erzählen, aber wir sollen, wir müssen es tun, weil es die unschuldigen Opfer auf der ganzen Welt von uns verlangen. Heute sehe ich Afghanistan - die gleichen Bilder. Unschuldige Kinder leiden, hungern, werden ermordet. Das ist furchtbar. Deshalb sollen und müssen wir sprechen, so schwer es auch fällt, müssen die Menschen vor den Schrecken des Krieges warnen. Und dass ein solch schlimmer Krieg von bösen und grausamen Menschen ausgeht. 272 Armut und Gesundheit Ungeklärter Aufenthalt und psychosoziale Belastung Einführung und Diskussion mit Expert/innen und Betroffenen Petra Brzank, Eva Stahl, Jessica Groß Nach einem kurzen Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen eines ungeklärten Aufenthaltstatus werden die daraus resultierenden Lebenssituationen, die geprägt sind durch eine extreme Verunsicherung, in einem psychosozialen Belastungsmodell dargestellt und interpretiert. Betroffene berichten von ihren Lebensbedingungen und deren Auswirkungen auf ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden. Die Bedingungen psychotherapeutischer Intervention werden an Hand eines Praxisbeispiels verdeutlicht. In der anschließenden Diskussion wurden Forderungen zur Verbesserung einer somatischen als auch psychosozialen Versorgung entwickelt und diskutiert. Ungeklärter Aufenthaltsstatus und gesundheitliche Belastungen Ursachen der Illegalität Zur Verdeutlichung sollen die Ursachen für ein Leben in der Illegalität genannt werden, die so vielschichtig sind wie die Herkunftsländer der Migrant/innen. Illegalisierte können sein: abgelehnte und somit ausreisepflichtige Asylbewerber/innen und Bürgerkriegsflüchtlinge; Migrant/innen, die nach einer Scheidung kein eigenes Aufenthaltsrecht erhalten und nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können oder wollen; Angehörige von in Deutschland lebenden Migrant/innen, die nach der Einreise keinen eigenen Aufenthaltsstatus beantragen, wie z.B. Großeltern oder Verwandte von Arbeitsmigrant/innen; Opfer von Zwangsprostitution und Menschenhandel; Migrant/innen, die trotz abgelaufenem Touristen-, Studenten- oder Vertragsarbeitervisum nicht ausreisen oder wegen der Einreise ohne gültige Papiere oder Visa. Die geplante Aufenthaltsdauer hängt von der Einreisemotivation ab. Einige wollen nur für kurze Zeit arbeiten und dann in ihr Herkunftsland zurückkehren. Anderen ist eine Rückkehr in ihr Heimatland verwehrt, und sie suchen eine neue Lebensperspektive. Niemand jedoch plant ein Leben in der Illegalität. Von einer gesundheitlichen Versorgung sind darüber hinaus Asylbewerber/innen, die sich nicht im zugewiesenen Landkreis aufhalten rechtlich ausgeschlossen. Anderen wird ein Krankenschein vom Sozialamt vorenthalten. Gesundheitsbeeinflussende Faktoren Betrachten wir die Lebensbedingungen von Illegalisierten, so wird deutlich, das sich ihre Armut nicht nur auf die materiellen Ressourcen beschränkt. Ein Leben ohne Aufenthaltstatus wird vielmehr von einer existentiellen Armut bestimmt. Die einzelnen Faktoren, die die Lebensbedingungen und somit auch die Gesundheit beeinflussen, können am Modell von Hildebrand und Trojan (1989) verdeutlicht werden. Migration und psychische Gesundheit 273 S o z ia le p id e m io lo g is c h - ö k o lo g is c h e s M o d e ll g e s u n d h e its b e e in flu s s e n d e r F a k to r e n n a c h H ild e b ra n d u . T ro ja n 1 9 8 9 L e b e n s la g e n M a te rie lle U m w e lt - u n d W o h n b e d in g u n g e n S o z ia le A k tio n s o z ia le N e t z w e r k e s o z ia le U n te r s tü tz u n g M a te rie lle R e s s o u rc e n / Zugangschancen A r b e its b e d in g u n g e n N o rm e n W e rts y s te m e P s ych o s o z ia le P r o b le m e B e la s tu n g e n A k u te S tr e ß s itu a tio n C h ro n is c h e S tr e ß r e a k tio n e n P s y c h is c h e s o m a tis c h e s o z ia le S y m p to m e K ö r p e r k u ltu r K r a n k h e its z u s ta n d G e s c h le c h ts p e z ifis c h e R o lle n z u s c h re ib u n g D is p o s itio n e lle F a k to r e n Als Faktoren, die die Lebenslagen und somit auch die Gesundheit beeinflussen, werden genannt: Die materiellen Umwelt- und Wohnbedingungen, die in der Illegalität bestimmt sind von materieller Armut auf Grund niedriger oder nicht gezahlter Löhne. Eine schlechte Ernährung ist fast immer die Folge. Unsichere Mietverhältnisse, Abhängigkeit von Dritten, erhöhte Mieten und eine enge Wohnsituation in einem meist schlechten baulichen Zustand resultieren aus der Entrechtlichung. Da kein Geld für Sprachkurse aufgebracht werden kann, entstehen Verständigungsschwierigkeit auf Grund mangelnder Sprachkenntnis. Unter dem Begriff materielle Ressourcen/Zugangschancen sind die fehlende soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Behinderung zu nennen. Das heißt, es gibt keine Krankenversicherung und somit keine Gesundheitsversorgung. Und es gibt auch keinen Zugang zu Ausbildungen jeglicher Art wie Schul- oder Berufsausbildung oder etwa für Kinder die Möglichkeit einer Kindergartenbetreuung. Die Arbeitbedingungen sind gekennzeichnet von fehlendem Arbeitsvertrag, Arbeitsschutz, Arbeitszeitregelungen oder die Möglichkeit, sich auf das Arbeitsrecht zu beziehen. Die Löhne sind niedrig und die Auszahlung wird oft verweigert. An Urlaub oder Sondergratifikationen wie ein 13. Monatsgehalt ist gar nicht zu denken. Insbesondere bei Frauen kommt es im Arbeitsverhältnis zu sexuellen Übergriffen oder sie werden zur Prostitution gezwungen. Eigene Normen und Wertsysteme, die von der deutschen Dominanzkultur abweichen, können zu Akulturationstress führen. Zu nennen sind Lebensstile, Kommunikationsformen, Familien- oder Communitystrukturen, die Bedeutung von Kindern und kulturspezifische Krankheitskonzepte. 274 Armut und Gesundheit Unter Körperkultur ist z.B. der oft falsch verstandenen Stellenwert von guter, ordentlicher Kleidung zu verstehen. Abgesehen von einer anderen kulturellen Bedeutung von Kleidung dient sie hier in der Illegalität als Schutz. Geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen finden statt bei der Jobvergabe nach Geschlecht. Frauen arbeiten im Hauhalt oder als Babysitter und Männer auf Baustellen. Allgemein sind die Stereotypen Männer seien Verbrecher und Teil der Organisierten Kriminalität, Frauen hingegen Prostituierte oder ungebildete Hausfrauen zu beobachten. Nicht selten kommt es bei der Hausarbeit zu sexuellen Übergriffen. Als dispositionelle Faktoren gelten der eigene physische Gesundheitszustand, der bestimmt ist entweder durch ein geringeres (healthy migrant effect) oder ein höheres Krankheitsrisiko auf Grund der Situation im Herkunftsland (schlechtere Ernährung oder Gesundheitsversorgung). All diese Faktoren wirken auf die Lebenslage. Lebenslagen und soziale Unterstützung, Netzwerk oder Aktion bedingen sich gegenseitig. Communitystrukturen, politische Gruppen oder deutsche Unterstützer/innen können einerseits unterstützen und andererseits aber auch einen hohen sozialen Druck und Kontrolle bedeuten. Probleme bei der sozialen Interaktion entstehen immer wegen der mangelnden Sprachkompetenz, der Angst vor Denunziation und dem Erleben von rassistischen Vorurteilen bis hin zu Gewalttaten. All diese Faktoren führen zur sozialen Isolation und oft zu physischen oder psychosozialen Beschwerden. Betroffenenberichte Daniel [Name von der Redaktion geändert, d. Hg.] Ich komme aus Äthiopien und bin seit Ende 1990 in Deutschland. Ich möchte hier Stellung nehmen zum Thema ungeklärter Aufenthaltsstatus und seinen Einfluss auf die Gesundheit. Der ungeklärte Aufenthaltstatus ist ein schwerwiegendes Problem für mich und viele andere. Wir nehmen nicht Teil am Leben. Wir leiden still und schweigend und dürfen nichts machen. So wie andere in meinem Alter normalerweise eine berufliche Karriere machen, ist unser Leben ohne Aufenthalt langsam auch zur Karriere geworden. Es ist eine Karriere im Kampf ums Überleben. Wir kennen es nicht anders: kämpfen um zu überleben, um einen Aufenthaltsstatus und anderes zu bekommen. Es gelingt uns selten, meist verschlimmert sich die Situation. Wie bereits erwähnt, können verschiedene Krankheiten und Depressionen die Folgen sein. Manche sehen keinen anderen Ausweg als den Suizid. Viele Freunde habe ich so verloren, und viele sind in die Psychiatrie gekommen. Ich bin abgelehnter Asylbewerber und besitze eine Duldung, deren Verlängerung ich alle drei Monate beantragen muss. Im engeren Sinn ist es kein Aufenthalt, sondern eine Abschiebeaussetzung. Bis jemand abgeschoben wird, erhält er eine Duldung. Natürlich sind wir dankbar für den Schutz und die Hilfe, die wir hier als Asylsuchende erhalten haben, aber es könnte besser sein. Körperlich geht es uns nicht so schlecht, relativ, aber seelisch macht man uns kaputt, total fertig, in dem man uns zur Untätigkeit verdammt. Wir dürfen nichts machen. Es steht wortwörtlich in unserem Ausweis: Wir dürfen nicht arbeiten und nicht studieren. Ein Sprachkurs ist offiziell nicht erlaubt, und das Geld reicht nicht dafür. Wir bekommen zum Leben nur ein bisschen Essen, das wir mit der Infracard einkaufen müssen und achtzig DM Taschengeld. Ein normaler Alltagseinkauf Migration und psychische Gesundheit 275 ist mit dieser Karte nicht möglich, sondern immer verbunden mit Diskriminierung, bösen Blicken, extra Kassen oder festgesetzten Einkaufszeiten in ausgewiesenen Geschäften. Wir leben unter dem für deutsche Bürger normalen Existenzminimum. achtzig DM Taschengeld und sonst gar kein Geld in bar. Damit kann man nichts machen, nicht Kaffee trinken oder so etwas. Eine Fahrkarte bekommen wir auch nicht mit der Begründung „Wo willst Du denn hingehen?“ Unser Leben im Heim ist sehr eingeschränkt. In einem engen Raum leben ca. sechs vollkommen verschiedene Personen zusammen, mit einem anderen Charakter und anderen Gewohnheiten. Wir kennen uns vorher nicht und stammen meistens aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen. Das schafft Probleme. Eine gesundheitliche Versorgung ist gesetzlich zwar vorgeschrieben, aber nicht immer wird ein Krankenschein ausgehändigt. Auf Dauer machen diese Erlebnisse krank. Es ist, als wenn auf einen Stein über längere Zeit Wasser tropft, dann wird dieser Stein - egal wie stark der Stein ist - so langsam von diesem kleinen Tropfen Wasser zerstört. Genauso ist das auch mit unserem Leben. Diese dauernde Problematik macht uns depressiv, perspektivlos, zukunftsängstlich und krank. Es ist wirklich schlimm, und Viele überleben es nicht. Tidjane Im Oktober 1998 bin ich in Bremen angekommen und habe einen Asylantrag gestellt, da in meinem Herkunftsland, Guinea Bissão, Bürgerkrieg herrscht und ich dort nicht mehr bleiben konnte. Nach zwei Tagen in Bremen wurde ich nach Chemnitz geschickt, für zwei Wochen, danach ging die Odyssee weiter über Kolm in Sachsen, Zittau über Pirna bis nach Berlin – es ist so, dass ich in den letzten Jahren an sechs Orten, in Flüchtlingsheimen und anderen Unterkünften gelebt habe und nie mehr als ein Jahr an einem Ort bleiben konnte. Während der ganzen Zeit war mein Aufenthaltsstatus unsicher, zuerst war ich Asylbewerber, dann bekam ich eine Ausreiseaufforderung und hatte dann zeitweise gar keinen Status, jetzt habe ich eine Duldung, da ich in psychotherapeutischer Behandlung im Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin bin. Ziemlich schnell verliert man das Vertrauen in die Menschen hier. Nach den ersten Erfahrungen in der BRD konnte ich mir nicht vorstellen, mit irgendwelchen Deutschen an einem Tisch zu sitzen und mich mit ihnen zu unterhalten. Man denkt, sie sind „schlimme Menschen“, da man nur Kontakt hat mit Deutschen, die kontrollieren, verbieten, zuteilen und bewachen. Im Sommer 1999 habe ich in Zittau zusammen mit anderen Leuten aus dem Heim und „The Voice“ eine Demonstration gegen die unwürdigen Bedingungen (isolierte Lage, marode Sanitäranlagen, abgelaufenes Essen usw.) im Heim organisiert. Das Heim wurde dann geschlossen. Weil ich in der Presse bekannt war, dreimal von Nazis geschlagen worden war und Angst vor weiteren Übergriffen hatte, ging ich in ein anderes Heim. Dort wurde zuallererst mein Pass konfisziert später auch mein Taschengeld. Das Heim ist dreizehn Km entfernt von der nächsten großen Stadt, und der Bus fährt nur zweimal am Tag. Der kostet etwa acht Mark hin und zurück. In dem Wohnheim sind wir so etwa zweihundert, mit Familien. Einige lebten da schon zehn Jahre. In diesem Heim war es verboten, zu kochen und alle mussten das Essen aus der Kantine essen, abends hatte man die Auswahl zwischen einem Liter Mineralwasser und dem Abendbrot. Schon in Zittau hatte ich oft Magenbeschwerden und ich hatte mich krank gemeldet, erst zwei Monate später bekam ich einen Arzttermin, dieser Arzt hat aber nichts gefunden. Erst 276 Armut und Gesundheit nach längerer Zeit von Magenschmerzen hat ein unabhängiger Arzt mit einer Gastroskopie eine Gastritis diagnostiziert, in Pirna musste ich dennoch dreimal am Tag essen, kleine Mahlzeiten waren unmöglich. Danach kam die Zeit, in der ich „illegal“ war. Das ist schlimmer als im Knast zu sein, denn im Knast weiß man, dass man da wieder rauskommt, der andere Zustand allerdings ist unbefristet. Es ist wie ein Leben ohne Kopf, man kann nichts planen und mit nichts rechnen. Man kann sich mit niemandem treffen, keine Ausbildung machen – man weiß nicht mehr, wer man ist. Du existierst nicht mehr, weil du nicht sein darfst. Wenn man Freunde besucht und da einen schönen Abend hatte, ist jedes gute Gefühl verschwunden, sobald man die Polizei sieht. Hier hast du nur Angst. Während der Zeit in der Illegalität habe ich elf Kg abgenommen. Ich konnte zeitweise gar nicht mehr auf die Straße gehen, niemanden sehen, mit niemandem sprechen, nichts essen, nur Wasser aus dem Wasserhahn trinken. Ich konnte auch nicht mehr schlafen und hatte Alpträume. Viele von uns sind auch so gestorben oder haben Selbstmord verübt. Angela Als ich mein Land verlassen habe, hatte ich große Illusionen, wie es sein würde, neue Horizonte zu erfahren, ein Leben voll schlechter Erinnerungen und den großen Schmerz über meine zurückgelassenen Lieben hinter mir zu lassen. Als ich in Berlin ankam, fühlte ich mich wie „Alice im Wunderland“, denn alles war anders, eine andere Kultur und eine ganz fremde Sprache. Den ersten Schreck bekam ich, als ich Arbeit suchte und man mich fragte: Haben Sie Papiere? Welchen Status haben Sie? Sprechen Sie Deutsch? Das waren Fragen, die ich nicht verstand. Tag für Tag wanderte ich von einem Ort zum anderen, schlief manchmal in der U-Bahn und kannte niemanden. Die Situation wurde jeden Tag schlechter und das wenige Geld, das ich hatte, ging zu Ende. Eines Abends saß ich auf dem U-Bahnhof „Pankow“, müde und hungrig und musste mit den Tränen kämpfen. Da sprach mich ein Deutscher an, der genauso wenig Spanisch sprach wie ich Deutsch, aber mit meinem kleinen Taschenlexikon verständigten wir uns etwas. Er nahm mich mit nach Hause und sagte, ich solle die Wohnung putzen, dann würde er mich bezahlen. Als wir eintraten bemerkte ich, dass er die Tür hinter uns zuschloss und den Schlüssel in seine Hosentasche steckte. Ich begann zu arbeiten. Ich arbeitete fünf Stunden lang, denn die Wohnung war ein Desaster. Als ich mit der Arbeit fertig war, redete er auf mich ein, versuchte mich zu umarmen und zu küssen. Ich begriff seine schlechten Absichten und sagte, ich wolle kein Geld, ich wolle nur gehen. Am Ende gelang es mir zu flüchten und ich rannte aus dem Haus und auf die Straße ohne auf ein Taxi zu achten, das mich anfuhr. Ich stürzte zu Boden, der Taxifahrer erschreckte sich sehr und wollte mich in ein Krankenhaus bringen. Ich hatte jedoch Angst und wollte nicht ins Krankenhaus, obwohl ich einen Schock hatte, Schmerzen spürte und kaum atmen konnte. Der Taxifahrer machte mich dann mit einer Frau bekannt, die mir Arbeit in ihrem Restaurant anbot. Ich begann morgens um sechs das Restaurant zu putzen, danach musste ich auf ihre zwei Kinder aufpassen und alles in ihrem Haushalt regeln. Sie bot mir 500 DM im Monat an, aber am Ende bekam ich nur 300 DM. Es hieß immer wieder, nächsten Monat zahle sie den Rest, aber es vergingen einige Monate und am Ende wollte sie mir gar nichts mehr bezahlen. Migration und psychische Gesundheit 277 Mit der Zeit bekam ich Arbeit in verschiedenen privaten Häusern und in einem anderen Restaurant, in dem ich bis spät abends Geschirr abwusch. Eines Abends kam eine Polizeikontrolle als ich gerade im Keller die Gefrierschränke putzte. Ich hatte solche Angst, dass ich mich kurzerhand in einem der Gefrierschränke versteckte. Die Eigentümerin des Restaurants ahnte, wo ich mich versteckt hatte und ließ mich wieder heraus, nachdem die Polizei gegangen war. Ich weiß nicht, ob es wegen der Angst war oder wegen der Kälte, aber eine halbe Stunde lang war ich ganz verstört und konnte nicht sprechen. Seitdem hatte ich Panikattacken, wenn ich irgendwo Polizei sah, sei es auf der Straße, in der U-Bahn oder anderswo. Mit der Zeit bekam ich Beschwerden. Ich hatte Schmerzen in der Brust und konnte schlecht atmen. Die Beschwerden kamen und gingen, aber eines Morgens konnte ich nicht aufstehen, ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen und meinte zu ersticken. Ich hatte die Adresse des Büros im Mehringhof und sammelte meine Kräfte, um dort Hilfe zu suchen. Unterwegs ging es mir sehr schlecht, ich meinte schon, ich müsse auf der Straße sterben, denn der Schmerz wurde immer schlimmer und ich konnte nicht atmen. Dort im Büro kümmerte man sich um mich und sie wollten mich in ein Krankenhaus bringen, aber meine Angst war so groß, ich hatte Panik, man würde mich dort nach Papieren fragen, dass ich mich weigerte ins Krankenhaus zu gehen. Aber eine der Frauen dort, sprach mir Mut zu. Sie sagte, ich solle keine Angst haben, sie würde mit mir gehen und mich nicht alleine lassen. Es schien mir wie ein Wunder, diese beruhigenden Worte zu hören und dann auch noch auf Spanisch! Sie brachte mich in die Ambulanz eines Krankenhauses. Da mein Fall aber etwas kompliziert war, musste ich dort einige Tage stationär bleiben. Da ich keine Krankenversicherung hatte, sprach die Frau vom Büro, die mich begleitete, mit dem behandelnden Stationsarzt, um eine Lösung zu finden. Es war wichtig für mich zu wissen, dass mein Name nicht an die Ausländerbehörde weitergeleitet werden würde. Auch nach der Entlassung musste ich unter medizinischer Kontrolle bleiben, täglich Medikamente nehmen und zum Blutabnehmen wiederkommen. Mit der Zeit ging es mir besser und das Wissen, dass meine Tochter zu mir kommen würde, half mir sehr. Sie hatte ein Visum bekommen, um hier zu studieren. Ich hätte es nie riskiert, meine Tochter hier unter illegalen Bedingungen herzuholen. Denn keine Papiere zu haben, ohne Status zu leben und ohne Arbeitserlaubnis bedeutet unter einem Alpdruck zu leben, das Risiko krank zu werden, versteckt zu leben in einer Welt ohne die Möglichkeit, die Menschenrechte in Anspruch zu nehmen, ausgebeutet zu sein von der Schwarzarbeit. All das bewirkt den großen Stress, den man nicht kontrollieren kann. Wenn man keine Hilfe hat, wird man eine lebendige Tote. Bedingungen psychotherapeutischer Intervention bei ungeklärtem Aufenthalt18 Prämisse jeglicher psychotherapeutischer Intervention ist das Wissen darum, wie sich der fehlende Aufenthaltsstatus auf die gesamte Lebenssituation auswirkt. Das schlimmste Leiden ist die Armut durch die Illegalität. Zweite Voraussetzung ist das Wissen um den alltäglichen Rassismus von Mitbürger/innen und den Rassismus bei Kontrollen durch die Polizei oder in öffentlichen Verkehrsmitteln. Diejenigen Menschen, die nicht 18 Die hier getroffenen Aussagen beziehen sich auf Erfahrungen mit psychotherapeutischen Angeboten und Beratungen im interkulturellen Frauenzentrum S.U.S.I. in Berlin 278 Armut und Gesundheit in das fiktive Muster der „Normaldeutschen“ fallen, werden viel häufiger und schärfer kontrolliert. Ein ganz wichtiger Schutz ist, so „normal deutsch“ wie möglich auszusehen, sich unauffällig, „gut“ zu kleiden. Weitere belastende Faktoren beziehen sich auf die soziale Interaktion und Unterstützung. Vielen der Migrant/innen fehlt es neben sprachlichen Kenntnissen an sozialer Kompetenz, beispielsweise sich in einer Stadt wie Berlin zu orientieren und den Stadtplan zu lesen. Ein anderer Faktor ist der starke Druck von Seiten der Familie, die im Herkunftsland bleibt und auf Geldsendungen wartet. Selten emigriert die ganze Familie, sondern meistens nur eine oder zwei Angehörige. Migrant/innen müssen also nicht nur für sich selber sorgen, sondern auch für die Familie und für die Kinder. Das ruft die Unfähigkeit hervor, von den realen Lebens- und Arbeitsbedingungen hier zu erzählen: Dass es hier nicht das erwartete Paradies ist, sondern oft bedrohend, ungerecht und unwürdig. So kann eine Migrantin nicht erzählen, dass sie hier trotz akademischem Abschluss als Putzfrau arbeitet, und trotzdem dreimal so viel verdient wie im Herkunftsland. Neben den familiären Erwartungen spielen auch diejenigen der Communities eine große Rolle. Das sind primär unterstützende Strukturen, aber gleichzeitig auch unfreiwillige Strukturen, da es häufig allein auf Grund der Sprachprobleme keine anderen Kontaktmöglichkeiten gibt, oder ganz klare Abhängigkeiten, wenn die Migration über die Community ermöglicht wurde. Zudem kann über diese Strukturen starke soziale Kontrolle ausgeübt werden, so können im Herkunftsort beispielsweise Gerüchte über den Lebenswandel gestreut werden. Es gibt auch die Probleme in der Ehe mit Deutschen oder spezifische Unterstützungsangebote, die bestimmte Anpassungserwartungen beinhalten. Bei der interkulturellen Frauenarbeit zeigt sich, dass die Heirat mit einem deutschen Mann oft keine Lösung der Probleme darstellt. Oft handelt es sich um Männer, die am Rande der Gesellschaft leben, die keinen Freundeskreis haben, die eine Suchtproblematik haben oder arbeitslos sind. Die Heirat bietet so auch keine Möglichkeit der Integration. Dazu kommen oft Probleme der häuslichen Gewalt in der Ehe. Auch gutgemeinte Hilfsangebote sind oft an die Übernahme bestimmter Wertvorstellungen gebunden, z.B. wird einer Frau eine Wohnung angeboten, aber nur, wenn diese ihren machistischen Partner verlässt. Vorgehen in der Therapie (Therapeutische Grundhaltung und einige Therapieziele): Grundlegende Haltung bei Arbeit mit Migrant/innen ist die Bereitschaft, sich belehren zu lassen, da die Migrant/innen selbst Spezialist/innen für ihr Herkunftsland sind. Kulturspezifische Kenntnisse, Sprachkenntnisse bzw. muttersprachliche Therapieangebote sind zwar sehr wichtig, aber die Klient/innen müssen vor allem die Möglichkeit haben, Missverständnisse aufzuklären. Nach ein bis zwei Beratungsgesprächen, entscheiden sich die Klientinnen für oder gegen eine Therapie, die dann meist nach ca. zehn Sitzungen beendet ist. Kennzeichnend ist zudem die enge Zusammenarbeit zwischen der Psychotherapeutin und der Sozialarbeiterin bei S.U.S.I. Die Therapiekosten betragen für diejenigen, die es zahlen können, zwanzig DM pro Monat. Psychotherapie wird als stützende Therapie (nicht aufdeckende, aufarbeitende) verstanden. So bietet die Therapie Schuldentlastung und Unterstützung bei der Entwicklung von Autonomie und damit die Möglichkeit, beispielsweise dem Druck der Familie, der Migration und psychische Gesundheit 279 Community, des Arbeitgebers zu widerstehen und eigene Positionen finden zu können und auch schildern zu können, wie die Lebensbedingungen hier sind. Häufigstes Beschwerdebild sind Angstzustände und Phobien. Somatisierungen, das heißt die Entwicklung einer körperlichen Symptomatik ohne klare organische Ursache, wie Rückenschmerzen, Hautprobleme und Magenbeschwerden sind neben Angststörungen häufig. Angst und Misstrauen sind zudem Grundgefühle im Alltag. So gestaltet sich der Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung noch schwerer als sonst. Neben der Überwindung des üblichen Misstrauens muss das Vertrauen aufgebaut werden, dass in der Beratungsstelle niemand z.B. die Ausländerbehörde kontaktiert. Die „Angst mit Realitätsbezug“ verwischt mit dem, was als „paranoid“, „phobisch“ bezeichnet werden würde. Phobien (Ängste vor bestimmten Situationen, Objekten) können auch als Kontrolle der Angst gesehen werden. So entwickelt sich eine Angst vor Hunden, die zur Vermeidung von Hunden durch die Phobie führt, generalisiert führt das dann zur Vermeidung des Verlassen des Hauses – was auch einen realen Schutz vor Kontrollen durch die Polizei darstellt. Selten kommt es zur psychischen Dekompensation. So ist die Fähigkeit, zu überleben, unglaublich groß, und die Menschen ertragen Belastungen, von denen angenommen wird, sie wären nicht auszuhalten. (Eine These lautet, dass die Menschen diejenigen Störungen bekommen, die sie sich „leisten“ können.) Die Kontinuität in der Psychotherapie ist schwer einzuhalten, oft fehlt sogar das Geld für die U-Bahnfahrt bzw. von Arbeitgeber/innen wird bei Fehlen gesicherter Arbeitszeiten äußerste Flexibilität verlangt. Die belastende Beziehung zur Familie spielt eine große Rolle bei der therapeutischen Intervention. Meist ist es kein Zufall, dass ausgerechnet ein bestimmtes Familienmitglied das Land verlässt, so erscheint ein hoher Prozentsatz an Frauen, die familiärer Gewalt ausgesetzt waren (wie einer Vergewaltigung durch den Vater) oder im Herkunftsland zur Prostitution gezwungen wurden. Auch in der Familie wurde Ausbeutung erfahren, viele der Frauen mussten ab dem achten Lebensjahr arbeiten, haben eine sehr belastete, angsterregende Beziehung zu den Eltern. Allerdings ist die familiäre Situation nie ein bewusster Grund, das Land zu verlassen, stellt aber meist aber einen Grund unter anderen für die Migration dar. Orte wie S.U.S.I. oder das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe stellen Ressourcen dar. Als Orte, „wo man mal etwas für sich tun kann“. Beispielsweise wären in ihren Herkunftsländern für viele Frauen eine Therapie oder auch andere medizinische Leistungen unbezahlbar (so ist auch der Schwangerschaftsabbruch hier ohne Gefahr). SUSI liegt eine Liste von Therapeuten und Therapeutinnen vor, die ebenso Leute ohne Status behandeln bzw. muttersprachliche Angebote machen. Eine berlinweite Versorgung mit psychotherapeutisch qualifiziertem Angebot für Migrant/innen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus würde die Situation der wenigen vorhandenen Beratungsstellen erheblich verbessern. Zudem besteht ein Bedarf an Kursen über Verhütungsmöglichkeiten für Frauen und an mehr Angeboten der Psychotherapie für Männer Diskussion Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus sind einer doppelten Belastung oder auch einer doppelte Traumatisierung ausgesetzt: Auf der einen Seite durch die Migrationser- 280 Armut und Gesundheit fahrung, auf der anderen Seite durch die Belastung hier. In Bezug zur Leitfrage des Kongresses „Netzwerke für Menschen in schwierigen Lebenssituationen“ muss festgestellt werden, dass es keine Netzwerke gibt. Es gibt das eine oder andere Inselchen, wie S.U.S.I. oder kleine Hilfsgruppen. Diese sind teilweise vernetzt, bilden aber sicherlich kein tragendes Netzwerk. Und diese Anlaufstellen sind in einer paradoxen Situation. Für ihre Arbeit könnten sie nach § 92 AuslG sogar bestraft werden. Jedoch müssen auch staatliche Stellen, wie Gesundheitsämter oder die Ausländerbeauftragte, die Problematik anerkennen und mangels anderer Hilfsmöglichkeiten auf unabhängige Unterstützergruppen, wie das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe, verweisen. Die BRD hat zwar die UN-Menschenrechtskommission unterschrieben, die die Forderung beinhaltet, dass jedem Menschen, der im Land lebt, die bestmögliche Gesundheitsversorgung zukommen muss, es werden jedoch von staatlicher Seite keine Anstrengungen unternommen, diesen Anspruch umzusetzen. Kann es in der jetzigen Situation ein Ziel sein, ein größeres Angebot an psychotherapeutischer Betreuung zu fordern? Im Einzelfall ist eine gezielte psychotherapeutische Unterstützung sehr hilfreich, die Forderung nach Ausweitung des Angebotes stellt aber keine Lösungsmöglichkeit dar. Wenn die Lebensbedingungen so unsicher und nicht verlässlich sind, erschwert dies eine psychotherapeutische Behandlung enorm. Es muss also darum gehen, die Lebensbedingungen zu verbessern. Die Verankerung transkultureller Ansätze in der Psychotherapie ist wünschenswert. Mit Blick auf die Realität muss jedoch festgehalten werden, dass die Menschen, die hier ohne oder mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus leben, gar keinen durchsetzbaren Anspruch auf gesundheitliche Versorgung haben. Es muss hier also zunächst um die Sicherstellung der Versorgung überhaupt gehen, bevor an Qualitätsverbesserungen gearbeitet werden kann. In Zusammenhang mit dem geplanten Zuwanderungsgesetz ist auf Grund der Abschaffung der Duldung und der Einrichtung von Ausreisezentren eine Verschärfung der Problematik zu befürchten. Die Grünen verbuchen zwar die Anerkennung der nichtstaatlichen Verfolgung als Erfolg, dies betrifft jedoch nur einen kleinen Teil der Flüchtlinge. Etwa fünf Prozent der Menschen, die hier mit Duldung leben, fallen unter „nichtstaatliche“ Verfolgung. Der ganze Rest hat eine Duldung auf Grund tatsächlicher Abschiebehindernisse. Tatsächliche Abschiebehindernisse sind z.B. Krankheit, Behinderung oder das Fehlen von Reisedokumenten. Anstatt eine Duldung werden diese Flüchtlinge zukünftig nur noch eine Bescheinigung über die momentan nicht durchführbare Abschiebung erhalten, die mit noch größerer sozialen Entrechtung einhergehen wird als die bisherige Duldung. Zudem könnten sie durch die Einweisung in sog. Ausreisezentren zur „freiwilligen“ Ausreise oder zum Untertauchen gedrängt werden, wenn ihre Abschiebung nicht durchführbar ist. Das Problem des ungeklärten Aufenthaltsstatus und der Illegalität wird mit Sicherheit zunehmen. (Literatur bei den Autorinnen) Migration und psychische Gesundheit 281 Psychotherapeutische ambulante Versorgung von Migrant/innen Fatih Güç In diesem Beitrag soll es um die Perspektiven der Versorgung von Migrant/innen in Berlin gehen. In diesem Zusammenhang werde ich über die Arbeit der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Beratungsstelle berichten. Mittlerweile haben die Berliner Bezirke Friedrichshain und Kreuzberg fusioniert. Es gibt einen regen Austausch und Kooperation zwischen den Fachkollegen der zusammengeführten Teams. Wenn ich jetzt im Folgenden von den Erfahrungen spreche, so bezieht sich dies auf die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Beratungsstelle Kreuzberg. Ich werde zeigen, dass es einer öffentlichen Gesundheitseinrichtung gelungen ist, durch eine bikulturelle Zusammensetzung eines multiprofessionellen Teams migrantenspezifische therapeutische und beraterische Angebote zu entwickeln und dabei perspektivisch und zukunftsweisende konzeptionelle Anregungen zu geben. Auch nach zwanzig Jahren lässt sich die Arbeit der Beratungsstelle weiterhin unter der Rubrik „Perspektiven“ platzieren. Arbeit der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Beratungsstelle Kreuzberg Zu unserer Geschichte In Berlin gibt es in jedem Bezirk eine Kinder- und Jugendpsychiatrische Beratungsstelle. Es wurde in unserem Dienst im Rahmen der Psychiatrie-Ênquete, zur Reform der Psychiatrie in Deutschland 1982 zusätzlich ein Modellprojekt „zur psychosozialen Versorgung ausländischer (insbesondere türkischer) Kinder, Jugendliche und deren Familien“ als Bundesmodell installiert. Das aus deutschen und türkischen Fachkräften bestehende bikulturelle Team mit bis zu 5 1/2 Stellen hatte die Aufgabe, "der ausländischen Bevölkerung adäquate diagnostische, beraterische und therapeutische Ansätze zu entwickeln" bzw. vorhandene Methoden auf deren Anwendbarkeit für diese Bevölkerungsgruppe hin zu untersuchen, gegebenenfalls sie zu modifizieren". Klientel vor 20 Jahren Unser Klientel zeichnete sich damals durch eine besonders hohe Hemmschwelle aus, die sich u.a. auf das fehlende Vertrauen gegenüber den öffentlichen Einrichtungen generell und auch auf Grund der negativen Erfahrungen in Deutschland zurückführen lässt. Es fehlten damals auch kulturelle Erfahrung über psychologische, psychotherapeutische Beratung. Dagegen wurde uns, den ausländischen Fachkräften ein großer Vertrauensvorschuss entgegengebracht (dies auch von anderen Ausländern). Hierbei spielte sicherlich die Möglichkeit einer muttersprachlichen Kommunikation eine große Rolle. Dies ermöglicht uns Fachkräften, die kulturellen Signale zu empfangen und zu senden, Beziehungswörter (kulturelle Ansprache) zu benutzen, bildhafte Sprache zu nutzen und für bestimmte Konfliktsituationen Sprichwörter einzusetzen. Daneben gab es eine ärztlichmedizinische bzw. somatische Orientierung. Bei psychischen Problemen oder Symptomen, z.B. beim Einnässen, wird zuerst an Einnahme von Tabletten gedacht oder als erstes somatische Gründe vermutet. Im Laufe der Jahre hat sich die Klientel natürlich verändert. Während früher bei einem einnässenden Kind vielleicht eher konkrete Hilfen, wie z.B. Vermittlung eines Kindergartenplatzes, gewünscht waren (vgl. Güç 1980), gibt 282 Armut und Gesundheit es inzwischen Klienten, die direkt nach einer Therapie fragen. Trotz großer Veränderung treffen diese Tendenzen heute noch zu. Vorgehensweise Um dieser Besonderheit des Klientels adäquat zu begegnen, hatten wir z.B. zu Anfang unserer Projektarbeit eine Sprechstunde in einer Kinderarztpraxis eingerichtet, um so den Familien den Einstieg in eine psychotherapeutische Versorgung zu erleichtern. Wir nahmen Kontakt zu Stadtteilläden und Selbsthilfegruppen auf und machten uns dort bekannt. Um vor Ort besser erreichbar zu sein hatten wir später eine kleine Außenstelle in einem anderen Teil von Kreuzberg. Neben unserer regulären Sprechstunde fand bei Bedarf die Kontaktaufnahme zu den Familien in anderen öffentlichen Einrichtungen (Schule, Kita, Jugendamt usw.) statt, wenn sie „den Weg zu unserer Sprechstunde nicht geschafft“ hatten (Beratung vor Ort zur Schwellensenkung). Es war manchmal notwendig, den Erstkontakt zu der Familie im häuslichen Milieu aufzunehmen. Hierbei wurden wir durch die vermittelnden Kollegen anderer Institutionen (Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter usw.) beim Hausbesuch begleitet. Wegen der fehlenden muttersprachlichen Angebote anderer Fachdienste (wie die Schulpsychologische Beratungsstelle, die Erziehungs- und Familienberatungsstelle, der sozialpsychiatrische Dienst und das KitaBerater-Team) arbeiteten wir ressortübergreifend (inzwischen haben Erziehungs- und Familienberatungsstelle und Schulpsychologischer Dienst selbst türkische Fachkräfte). Diese beispielhaften Beschreibungen unseres anderen Umganges macht die sehr zeitaufwendige Dimension unserer Arbeit deutlich. Unsere Angebote Während wir zunächst viele therapeutische Angebote machten und sie auch selber durchführten, um auch selber Erfahrungen zu haben und unseren Auftrag zu erfüllen, machen wir heute selber nur noch Diagnostik und kurzfristige Beratungen, weil wir im Rahmen der Sparmaßnahmen 1994 personell von 5 ½ Stellen auf zwei Stellen reduziert wurden. Nach der Indikationsstellung werden die Familien zu anderen Therapeuten überwiesen, die nach dem Kinder- und Jugendlichenhilfe Gesetz (KJHG) arbeiten. Bei der Vermittlung an die Therapeuten war zur Entwicklung eigener Motivation und zur Beziehungsanbahnung eine zeitintensive Vorfeldarbeit notwendig. Wenn die Vorfeldarbeit nicht sorgfältig geleistet wird, kann es nämlich zu Abbrüchen kommen. Die Überweisung an die deutschen Kollegen erfordert jedoch, dass diese eine gewisse fachliche Haltung/Einstellung/Bereitschaft gegenüber den ausländischen Familien haben bzw. entwickeln. Um dies zu fördern, wurden, z.B. von uns, jahrelang Supervisionsgruppen für die deutschen Therapeuten und auch für Einzelfallhelfer angeboten. Wir leiteten diese Gruppen als deutsch-ausländisches Paar oder einzeln. Manchmal war es unerlässlich, die Helfer in ihrer Arbeit direkt zu unterstützen, wenn es Probleme oder Stagnationen gab oder eine gezielte Intervention notwendig war, indem wir z.B. an familientherapeutischen Sitzungen als Co-Therapeut oder Co-Berater teilnahmen. Insgesamt konnte in Kreuzberg über die Jahre ein psychosoziales Helfersystem deutscher und ausländischer Herkunft für die ausländische Bevölkerungsgruppe aufgebaut werden. Dieser Aufbau beinhaltete die Schritte von Werbung, Einsatz, Anleitung von Helfern, Mitbetreuung der Familien, Supervision (einzeln und in Gruppe), Fortbildung. Das Einsetzen von Einzelfallhelfern ist heute nicht mehr die Aufgabe des KJPD. Migration und psychische Gesundheit 283 Als Multiplikatoren leisteten wir damals in folgenden Bereichen eine integrative Arbeit: Die diensstellen-übergreifende Vernetzung durch Gremienarbeit inner- und außerhalb des Bezirks (z.B. Türkischer Elternverein, Berliner Gesellschaft türkischer Mediziner, Stadtteilläden und Initiativgruppen), konsiliarische Tätigkeit bei anderen öffentlichen Diensten nicht nur in Krankenhäusern (z.B. die Krisenstation des Urban-Krankenhauses und des Krankenhauses Neukölln), sondern auch als Amtshilfe zur Mitarbeit und Institutionsberatung inner- und außerhalb des Bezirks, Öffentlichkeitsarbeit zur Prävention und Aufklärung (z.B. in Form von themenbezogenen Veranstaltungen in den Schulen bei Elternabenden, oder Beteiligung an aufklärerischen Veranstaltungen in den Medien, insbesondere türkisches Fernsehen), bezirkliche und überbezirkliche Fortbildungen, Bekanntmachung unserer Erfahrungen und Erkenntnisse für die Fachöffentlichkeit und aktive Verbreitung unseres Modells in anderen Regionen und durch Besucher vom Bundesgebiet, sogar aus dem Ausland. Jetzige Situation und Ausblick Unser Projekt wurde wegen der erfolgreichen Arbeit auf Empfehlung der Enquetekommission im Jahre 1986 vom Land Berlin als Beschäftigungspositionen (keine Planstellen) übernommen. 1994 fielen 3 1/2 Stellen den Sparmaßnahmen zum Opfer. Von unserem Team mit 5 1/2 Stellen blieben jetzt nur noch eine volle Sozialarbeiterstelle und eine volle Psychologenstelle, die von türkischen Fachkräften besetzt sind. Wir überweisen jetzt mehr an die niedergelassenen Praxen, die durch die jahrelange Kooperation mit uns selbst zu Multiplikatoren geworden sind und die jetzt selbst z.B. auch bikulturelle therapeutische Kindergruppen durchführen. Auch andere Fachkräfte sind weiterhin im Bezirk aktiv. Es ist tröstlich zu sehen, dass der Projektgeist sich in Kreuzberg behaupten konnte und unsere Grundüberlegungen und Teile des Konzeptes von anderen (übrigens auch außerhalb Berlins) übernommen und weitergetragen wurden, so dass sich die psychosoziale Versorgung ausländischer Familien ein stückweit verändert hat. Allerdings ist die Zahl der Familien, deren Probleme nur durch ausländische Fachkräfte aufgefangen und bearbeitet werden können, nach wie vor sehr hoch, obwohl man meinen könnte, dass nach 30 Jahren Gastarbeiterbeschäftigung eine Integration gelungen sein müsste. Die Realität sieht anders aus. Nach wie vor brauchen wir muttersprachliche, migrantenspezifische Angebote in den öffentlichen Gesundheitsdiensten. Abschließend möchte ich auf die aktuelle, ambulante psychotherapeutische Versorgung eingehen und dabei auf die weiterbestehende Versorgungslücke aufmerksam machen: Denn die Zahl von ausländischen Therapeuten ist nach wie vor begrenzt. Zurzeit gibt es in Berlin fünfzehn kassenärztlich zugelassene Therapeut/innen, von denen vier verhaltenstherapeutisch orientiert sind und die anderen psychoanalytisch. Sechs von ihnen haben ihre Ausbildungen abgeschlossen. Sechs Kollegen von diesen fünfzehn haben in unserem Team mitgearbeitet oder arbeiten immer noch, während alle anderen als Psychotherapeuten mit uns zusammengearbeitet haben. Zusätzlich können weitere vier Therapeut/innen Therapien nach dem KJHG durchführen. Einige deutsche Kolleg/innen können Therapien in der türkischen Sprache durchführen. Wir haben in Berlin aber auch in einigen anderen Bundesländern regionale Arbeitskreise türkischsprachiger Psychotherapeuten gegründet und gestalten jedes Jahr Fachtagungen. Es war auch der Berliner Arbeitskreis, der in der Praxis eines Kollegen einen Notruf für die Opfer des Erdbebens in der Türkei einrichtete. Die Notleidenden wurden dann an verschiedene Beratungsstel- 284 Armut und Gesundheit len, unter anderem auch an unsere Kinder- und Jugendpsychiatrische Beratungsstelle überwiesen. Es wird deutlich, dass unser Projekt nicht nur ein Konzept zur adäquaten Versorgung von Migranten entwickeln, sondern auch fachliche Anregungen zum psychosozialen Feld geben konnte und als Vorbild für den Nachwuchs sorgte. Literatur: Güc, Fatih [1980]: Diskriminierung und gestörte Werte-Hierarchie in Neuer Rundbrief, Heft 2/3, Senator für Familie, Jugend und Sport Berlin. Internationales Familienzentrum in Frankfurt am Main Artin Akyüz Das internationale Familienzentrum (IFZ) arbeitet seit 25 Jahren als Sozialdienst in Frankfurt a. M. und richtet seine vielfältigen Beratungs-, Betreuungs- und Bildungsangebote an ausländische und deutsche Familien. Es versucht als Stätte internationaler Begegnung, einen Beitrag zu einem sinnvollen Zusammenleben zu leisten. Vom Projekt zum Psychosozialen Zentrum Vorgeschichte In die Sprechstunde der multikulturell ausgerichteten Erziehungsberatungsstelle des IFZ kamen immer häufiger erwachsene Migranten mit psychischen Problemen, so dass die Kolleginnen und Kollegen vom Arbeitsumfang hoffnungslos überfordert waren. Die starke Inanspruchnahme der Beratung führte dazu, dass das IFZ für eine zusätzliche psychosoziale Erwachsenenberatung bei der Stadt Frankfurt und dem Land Hessen vorstellig wurde. So entstand im November 1985 das Projekt „Ambulante Nachversorgung von türkischen Patienten unter Einbeziehung ihrer Familien“. 1988 wurde dieses, vornehmlich auf türkische Patienten und deren Angehörige ausgerichtete Angebot, auf italienisch sprechende Klienten erweitert. Außerdem wurden wir als „Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle“ für die Stadt Frankfurt anerkannt. In der Folgezeit konnten wir die zuständigen Stellen durch intensive Gespräche von der Notwendigkeit überzeugen, die muttersprachlichen Angebote zu erweitern. Durch die Einrichtung von Betreutem Wohnen für chronisch psychisch kranke Migrant/innen konnten wir dies ab 1995 erreichen. Als letzten Baustein haben wir im Oktober 1996 eine Tagesstätte für erwachsene chronisch psychisch kranke Migrant/innen eingerichtet. Seit März 2000 bietet das Psychosoziale Zentrum im Auftrag der Stadt Frankfurt psychosoziale Versorgung für in der Stadt Frankfurt lebende und im Rahmen des Asylverfahrens hier zugewiesene Flüchtlinge an. Migration und psychische Gesundheit 285 Psychiatrisch-Psychosoziale Versorgung in Frankfurt am Main Internationales Psychosoziales Zentrum für erwachsene Migrant/innen Das Angebot des Internationalen Psychosozialen Zentrums richtet sich an alle im gesamten Stadtgebiet Frankfurt a.M. lebenden Migrant/innen die allgemeine psychische Störungen, psychosoziale Probleme, psychosomatische Beschwerden oder chronische psychische Krankheiten haben. Die Arbeit des Zentrums besteht aus nunmehr vier Bereichen: • Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle • Betreutes Wohnen • Ambulante psychosoziale Versorgung von Asylbewerbern • Internationale Tages- und Begegnungsstätte Alle Bereiche sind organisatorisch unter dem Dach des Psychosozialen Zentrums als Verbundmodell zusammengefasst. Sie stehen in einem engen personellen sowie fachlichen Austausch. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind interkulturell und interdisziplinär. Fast alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter decken neben der deutschen Sprache mindestens eine Migrantensprache (Türkisch, Persisch, Armenisch, Bosnisch, Kroatisch, Serbisch, Italienisch, Griechisch, Arabisch, Spanisch, Polnisch und Russisch) ab. Schon seit 1996 ist das Angebot des Internationalen Familienzentrums in der komplementären außerklinischen, nicht medizinischen psychiatrischen Versorgung der Stadt Frankfurt am Main ein fester Bestandteil. Die Stadt ist sektoral in vier Standardversorgungsgebiete aufgeteilt. Das Psychosoziale Zentrum ist übersektoral für Migrant/innen der gesamten Stadt zuständig. Neben der klinischen Pflichtversorgung von Psychiatriepatienten, ist mit der Stadt Frankfurt und dem Landeswohlfahrtsverband Hessen ein Pflichtversorgungsvertrag für komplementäre Einrichtungen erarbeitet worden und steht kurz vor seiner gegenseitigen Ratifizierung. Auch hier ist das Internationale Familienzentrum mit 286 Armut und Gesundheit seinem psychosozialen Angebot fester Bestandteil. Bislang wurde die Stellung und Finanzierung des Psychosozialen Zentrums als eine Sondermaßnahme Frankfurts eingestuft. Eine fast dreißig-prozentige Population von Migrant/innen in der Stadt erfordern ein spezifisches, auf diese Bevölkerungsgruppierung zugeschnittenes fachlich fundiertes Angebot. Die Beratungsnachfrage stieg kontinuierlich und nahm seit dem Jahr 2000 drastisch zu. Zur Zeit ist von einer alarmierenden psychosozialen Unterversorgung von erwachsenen Migrant/innen zu sprechen. Ab dem Januar 2002 wird es im Psychosozialen Zentrum zu einer weiteren organisatorischen und inhaltlichen Änderung kommen. Im Rahmen der Pflichtversorgung wird das Internationale Familienzentrum seine Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle von nunmehr zwei Fachkolleg/innen auf eine reduzieren müssen. Es soll aber ein spezielles Begegnungsstättenangebot mit einer Fachkolleg/innenstelle eingerichtet werden. Diese neue Situation führt dazu, unser bisheriges Beratungsangebot neu zu überarbeiten. Die Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle ist nicht mehr in der Lage, eine flächendeckende psychosoziale Arbeit für alle Migrantinnen und Migranten der Stadt Frankfurt anzubieten. Wir müssen den Zugang zur Beratung an Hand von Wartelisten und dem Schweregrad der Auffälligkeit koordinieren. Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle Die psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle bietet ambulante sozialarbeiterische und psychologische Betreuung, Begleitung sowie Nachbetreuung nach einer stationären psychiatrischen Behandlung an. Die psychosoziale sozialarbeiterische Beratung befasst sich mit sämtlichen sozialen Belangen der ratsuchenden Klientinnen und Klienten. Beratung in BSHG (Bundessozialhilfegesetz), AFG (Arbeitsförderungsgesetz), in Rentenfragen, in Pflege-, Ausländer-, Schwerbehindertengesetz usw. Die sozialarbeiterische Tätigkeit befasst sich auch mit Problemen, die Klienten am Arbeitsplatz haben. Es werden Gespräche und Verhandlungen mit dem Arbeitgeber sowie Betriebs-/Personalräten geführt. Ist der Klient/die Klientin als schwerbehindert anerkannt, wird die Hauptfürsorgestelle in die Verhandlungen einbezogen. Die Klienten werden bei Behördengängen begleitet, Klinik und Hausbesuche durchgeführt. Für Klienten, die auf Grund ihrer psychischen Erkrankung und seelischen Behinderung noch nicht im Berufsleben standen oder aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen sind, ist die Einleitung einer stabilisierenden Maßnahme ein wichtiger Ansatz der sozialarbeiterischen Tätigkeit. Als niederschwelliges Angebot kann mit der Vermittlung eines Tagesstättenplatzes begonnen werden. Weitere Maßnahmen können erfolgen, wie z.B. die Einleitung einer beruflichen Rehabilitationsmaßnahme, Umschulung oder die direkte Vermittlung eines Arbeitsplatzes. Die psychisch erkrankten/behinderten Menschen werden über die Maßnahmen informiert und bei allen Schritten begleitet und unterstützt. Die psychologische Arbeit versteht sich als persönlichkeitsstabilisierende Beratung. Sie beinhaltet die Auseinandersetzung mit der aktuellen psychischen Situation. Gemeinsam mit dem Klienten und seinem/ihrem Bezugssystem (Familie etc.) wird nach Entwicklungs- und Lösungsmöglichkeiten gesucht. Der Klient hat die Möglichkeit, die „Krankheit“ (psychische Langzeit- bzw. chronische Erkrankungen) als einen Teil der Persönlichkeit zu akzeptieren, vorhandene Ressourcen zu erkennen und sie zur Konfliktbewältigung und Stärkung der Persönlichkeit einzusetzen. Die methodische Vorgehensweise orientiert sich an der systemischen Familientherapie, Rational Emotive Therapy und kognitiver Verhaltenstherapie. Migration und psychische Gesundheit 287 Ein weiterer Aufgabenbereich ist die muttersprachliche psychosoziale Beratung in psychiatrischen Kliniken (bis Februar 2001 hatten wir regelmäßige Sprechstunden in der psychiatrischen Klinik Höchst). Außerdem gibt es Therapiegruppen mit erkrankten Frauen (Gruppengröße sechzehn) in türkischer Sprache, eine Gruppe mit chronisch/psychisch Langzeiterkrankten in deutscher Sprache sowie eine Gruppe mit chronisch/psychisch Langzeiterkrankten in türkischer Sprache. Aktuelle Daten zur PSKB 2000 wurde das Beratungs- und Betreuungsangebot der Psychosozialen Kontakt- und Beratungsstelle von 451 Ratsuchenden wahrgenommen. Davon waren 270 (60 Prozent) weiblich und 181 (40 Prozent) männlich. Geschlecht der Klientin/des Klienten Weiblich 270 60% Männlich 181 40% Gesamt 451 100% Altersgruppen 18 – 29 30 – 39 40 – 49 50 – 59 60 – 69 70 – 100 Gesamt 61 145 117 109 16 3 451 Krankheitsbilder der Klientinnen und Klienten Die Krankheitsbilder werden in absoluten Zahlen aufgeführt. Bei den Krankheitsbildern sind Mehrfachnennungen möglich, so dass in vielen Fällen auch eine Kombination von Krankheitsbildern wie zum Beispiel posttraumatische Belastungsstörungen, depressive Verstimmung und psychosomatische Erkrankung häufig vorkam. Psychosomatische Erkrankungen Soziale Beziehungsstörungen Posttraumatische Belastungsstörungen Depressionen Psychosen Konversionssymptomatik Suchtproblematik Phobien 172 219 92 184 72 28 22 12 288 Armut und Gesundheit Betreutes Wohnen Das Betreute Wohnen ist ein Angebot innerhalb des Internationalen Psychosozialen Zentrums für 36 chronisch psychisch erkrankte/behinderte Migrant/innen im Sinne des § 39 BSHG (Eingliederungshilfe). Mit An- und Abmeldungen waren es insgesamt 41 Klienten. Die Klientinnen und Klienten werden in ihren eigenen Wohnungen betreut. Viele psychisch erkrankte/behinderte Migrant/innen leben vor dem Hintergrund ihres soziokulturellen, religiösen und traditionellen Verständnisses von Familienstrukturen, mit Krankheit und Behinderung im Schutz der Familie in der Fremde. So entsteht ein Bindungsprozess, der auch zur Verschlechterung des psycho-physischen Befindens führen kann. Gerade deshalb bieten wir in solchen Fällen, trotz der Anwesenheit von Ursprungsfamilie oder Ehepartner Betreutes Wohnen in diesem beschriebenem Umfeld an. Das betreute Wohnen bedeutet eine kontinuierliche Betreuung und Begleitung von psychisch erkrankten Migrant/innen. Hilfsangebote im Rahmen des Betreuten Wohnens • professionelle Hilfe bei der Inanspruchnahme sozialer Dienste und Hilfsangebote • Unterstützung beim Aufbau von Lebenszielen und sozialen Beziehungen • Unterstützung bei der Tagesstrukturierung/Freizeitgestaltung und bei der Entwicklung lebenspraktischer Fähigkeiten • Krisenintervention • Angehörigenarbeit etc. • Freizeitgestaltung Projekt: Ambulante psychosoziale Versorgung von Asylbewerbern und Asylbewerberinnen in der Stadt Frankfurt Seit 1. März 2000 bietet das Internationale Psychosoziale Zentrum im Auftrag der Stadt Frankfurt psychosoziale Versorgung für in der Stadt Frankfurt lebende und im Rahmen des Asylverfahrens hier zugewiesene Flüchtlinge an. In enger Kooperation mit dem Sozialdienst des IB können bis zu zehn Klienten und Klientinnen, die im Sinne des § 39 BSHG als psychisch kranke, seelisch behinderte Menschen gelten, eine intensive sozialarbeiterische und psychologische Betreuung und Beratung erfahren. Im Projekt arbeiten derzeit eine Psychologin (50 Prozent) und eine Sozialarbeiterin (100 Prozent). Die Klienten und Klientinnen werden analog dem Konzept im Betreuten Wohnen in der eigenen Wohnung betreut. Einige der Flüchtlinge leben, auf Grund des Aufenthaltsstatus und der Asylgesetzgebung, noch in Wohnheimen und unterliegen einer Residenzpflicht. Gerade sie erleben sehr deutlich, wie die restriktive Gesetzgebung des AsylVG (Asylverfahrensgesetz) und des AsylbLG (Asylbewerberleistungsgesetz) in ihr persönliches Alltagsleben eingreift. Kommt eine psychische Erkrankung hinzu, erleben sie noch deutlicher ein Ausgegrenztsein. Auf Grund der eingeschränkten medizinischen Leistungen, die das AsylbLG bietet, können stabilisierende Elemente kaum angeboten bzw. wahrgenommen werden. Die Stadt Frankfurt hat diese außergewöhnliche Belastungssituation erkannt und im Internationalen Familienzentrum einen Kooperationspartner gefunden, um gemeinsam nach Verbesserungs- und Unterstützungsmöglichkeiten zu suchen. Im Rahmen der aufsuchenden Sozialarbeit und der psychologischen Betreuung kann dem Klientel folgende Unterstützung angeboten werden. Migration und psychische Gesundheit 289 Psychologische Betreuung Die psychologische Betreuung erstreckt sich von der Diagnostik, persönlichkeitsstabilisierenden Beratung der Klient/innen, Begleitung bei der Bewältigung der zum Teil durch Krankheit bedingten Probleme des Alltags bis hin zur Krisenintervention. Zu den Aufgaben gehört Psychodiagnostik als Entscheidungsgrundlage für die weiteren Schritte: z.B. Unterstützung und Regelung der medizinischen Versorgung, Auseinandersetzung mit der aktuellen psychischen Situation, Suche nach Entwicklungs- und Lösungsmöglichkeiten, Arbeit mit den Familienangehörigen. Im Rahmen der engen Zusammenarbeit mit dem Sozialdienst des IB findet auch eine psychologische Beratung der IB Kolleg/innen bezüglich ihrer Klient/innen, die nicht im Projekt aufgenommen sind, statt. Sozialarbeit Die sozialarbeiterische Unterstützung beinhaltet die gesamte psychosoziale Versorgung, soziale, rechtliche und, in Zusammenarbeit mit der Psychologin, die medizinischen Fragen und Belange der Klient/innen. Gemeinsam mit den Flüchtlingen suchen wir nach Entwicklungs- und Lösungsmöglichkeiten der jeweiligen persönlichen Situation. Wichtig ist uns dabei, die Ressourcen der Einzelnen zu erkennen, sie zu unterstützen, aber auch in Krisensituationen Ansprechpartnerin zu sein. Das Projekt umfasst folgende Hilfsangebote: • Krankheitsmanagement • Auseinandersetzung mit der aktuellen psychischen Situation • Professionelle Hilfe in der Kontaktaufnahme zu medizinischen und sozialen Diensten • Kooperation mit z.B. Kliniken, Ärztinnen und Ärzten, gesetzlichen Betreuern und Betreuerinnen, IB Sozialdienst, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten • Unterstützung bei der Tagesstrukturierung und Freizeitgestaltung • Angehörigenarbeit • Orientierungshilfen • Unterstützung beim Aufbau von Lebenszielen, Erlernen der deutschen Sprache • Unterstützung und Begleitung bei Behördenkontakten sowie im Asylverfahren • Freizeitgestaltung • Unterstützung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche • Krisenintervention Die Beratung und Begleitung findet in der Brückensprache Deutsch statt. Bei Bedarf können Dolmetscher/Dolmetscherinnen hinzugezogen werden. Die methodische Vorgehensweise orientiert sich an Elementen aus der psychodynamischen Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie, Psychodrama, klientenzentrierter Gesprächsführung und systemischer Beratung. Tagesstätte • Zielgruppe: Chronisch psychisch kranke und seelisch behinderte Migrant/innen und Deutsche • Einzugsgebiet: Frankfurt a.M. (sektorenübergreifend) 290 • • Armut und Gesundheit Kontaktaufnahme: Über Kliniken und Ärzt/innen, Beratungsstellen, PSKB, Angehörige Klientenzahl und Nationalitäten oder Kulturkreise: 36 Klient/innen aus 15 Ländern Teamzusammensetzung 1 Ergotherapeut 1 Physiotherapeut 1 Sozialpädagogin mit voller Stundenzahl 1 Sozialarbeiterin im Anerkennungsjahr 1 Hauswirtschafterin (dreißig Stunden) 1 Praktikantin der Ergotherapie 1 Praktikantin der Sozialassistenz Teamunterstützung durch 1 Psychologen 1 Deutschlehrerin 1 Verwaltungsangestellte Betreuungsart/methodischer Ansatz a) Einzelfallhilfe und Bezugsklientensystem: Individuelle Hilfeplanerstellung (Erstgespräch, Probewoche, Abschlussgespräch, Aufnahmegespräch, Hilfeplanerstellung, Zielüberprüfung in dreimonatigen Abständen), Beratungsangebote (Einzelgespräche, Alltagsbegleitung, Konfliktintervention, sozial-berufliche Rehabilitation), stärkenorientierter Ansatz (differenziertes Angebot zur individuellen Förderung), Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle und dem Betreuten Wohnen, Teamreflektion und Supervision, b) Gruppenpädagogik und Freizeitpädagogik (vgl. Unterziele und Schwerpunkte in den jeweiligen Angeboten), c) Integrative Stadtteilarbeit (Mittagstisch) Haupt- und Unterziele und Schwerpunkte in den jeweiligen Angeboten 1. Seelische Stabilisierung 1.1 regelmäßige Anwesenheit und Teilnahme an den Angeboten (Motivierungsarbeit, Abholung von Zuhause im Einzelfall, telefonischer Kontakt mit Abwesende, Klinikbesuche) 1.2 Tagesstrukturierung (Tages- und Wochenplanung mit den Klient/innen innerhalb der Montagsgruppe, regelmäßige Gruppenangebote, Aktivitäten des alltäglichen Lebens, hauswirtschaftliche Dienste: Spüldienste, Kochen, Beschäftigungstherapie, Putzen, Einkaufen) 1.3 Aktivierung (Motivierungsarbeit bei den einzelnen Diensten und Gruppenteilnahme, grundsätzlich alle Gruppenangebote) 1.4 Förderung und Stabilisierung alltagspraktischer Kompetenzen (hauswirtschaftliche Dienste: Spüldienste, Kochen, Beschäftigungstherapie, Putzen, Einkaufen) 1.5 Förderung und Stabilisierung des Selbstvertrauens (Gruppenangebote generell) 1.6 Förderung und Stabilisierung sozialer Kompetenzen (Gruppenangebote generell) 1.7 Förderung der Ich-Identität (Malangebot, im Rahmen unterschiedlicher Gruppenangebote) Migration und psychische Gesundheit 291 1.8 Förderung des Krankheitsverständnisses und eines angemessenen Umgangs mit der eigenen Krankheit (Therapiegruppe – im Wechsel in Deutsch und Türkisch) 1.9 Einzelgespräche (Erstgespräch, Abschlussgespräch Probewoche, Aufnahmegespräch, Hilfeplanerstellung, Zielüberprüfung in dreimonatigen Abständen, Hilfeplanung, Konfliktintervention) 2. Physische Stabilisierung (Krankengymnastik, Massage, Gymnastik/Tanz, Gymnastik, Außenaktivität, Hallensport, Aktivitäten des alltäglichen Lebens) 3. Förderung kognitiver Kompetenzen (Ergotherapie, Deutschkurs, Konzentrationstraining, Presseclub, Partyservice) 4. Sozio-kulturelle Integration (Deutschkurs, Presseclub, Außenaktivität, Migrant/innentreff) 5. Förderung und Stabilisierung allgemeiner Arbeitstugenden (Aktivitäten des alltäglichen Lebens, Ergotherapie, Beschäftigungstherapie, Partyservice) Gesundheitliche Folgen der weiblichen Beschneidung Steffi Jennrich, Simone Gleißner „Wenn ich heute daran zurückdenke, erscheint es mir schlechtweg unfassbar, dass mir dies widerfahren ist, und ich habe das Gefühl, als würde ich von jemand anderem sprechen. Es gibt keine Worte, die den Schmerz beschreiben könnten.“ So schildert Waris Dirie (1999:59) die Erinnerung an ihre eigene Beschneidung in dem Buch, das die Geschichte ihres Lebens erzählt. Was ist weibliche Beschneidung bzw. Genitalverstümmelung19? Als weibliche Beschneidung bzw. Genitalverstümmelung werden alle Eingriffe verstanden, welche die teilweise oder vollständige Entfernung der weiblichen Genitalien oder andere Verletzungen auf Grund nicht-therapeutischer Gründe beinhalten. Die WHO unterscheidet vier Typen von weiblicher Genitalverstümmelung: • Typ I: Entfernung der Vorhaut, welche die Klitoris umgibt, oder Entfernung der Vorhaut und der Klitoris • Typ II: Entfernung der Vorhaut, der Klitoris sowie der Labia minora (innere Schamlippen) • Typ III: Infibulation: Entfernung der Klitoris, Labia minora und Labia majora (äußere Schamlippen) und das Zusammennähen der verbleibenden Hautlappen der Labia majora, so dass nur ein sehr kleines Loch für Urin und Menstruationsblut verbleibt. 19 Beide Begriffe sind gebräuchlich. Wir Frauen von DAFI, der Deutsch-Afrikanischen FrauenInitiative e.V., bevorzugen den Begriff der Beschneidung, da sich viele betroffene Frauen persönlich verletzt und als Menschen nicht respektiert fühlen, wenn von Verstümmelung gesprochen wird. 292 • Armut und Gesundheit Typ IV: In dieser Gruppe werden nicht-therapeutische Veränderungen der weiblichen Genitalien wie das Langziehen der Klitoris oder Labia, Piercen oder Einschneiden der Klitoris oder der Labia und andere zusammengefasst. In der Praxis treten Mischformen der ersten drei Typen auf. Diese werden nicht dem vierten Typ zugeordnet. Im Folgenden werden die ersten drei Typen und ihre Folgen näher betrachtet. Heute sind weltweit 150 Millionen Mädchen und Frauen genital beschnitten. Jeden Tag kommen ca. 6.000 Mädchen dazu. Diese Tradition ist in vielen afrikanischen Ländern entlang der Sahara, in einigen Regionen Asiens und im Mittleren Osten verbreitet. Durch internationale Migrations- und Fluchtbewegungen ist es erneut ein Problem in Europa, Australien, Nord- und Südamerika geworden. (Noch im letzten Jahrhundert wurde in Europa und Nordamerika Klitoridectomien zur Behandlung verschiedener, auch nervöser Erkrankungen angewandt. Für Europa sei hier das Beispiel des Londoner Arztes Isaac Baker Brown genannt (Hulverscheidt 1999:229ff.) und für Nordamerika Horatio Robinson Storer (Barker-Benfield 2000:88ff.). Beide lebten im 19. Jahrhundert.) Allein in Deutschland sind nach Schätzungen von Terre des Femmes 21.000 Mädchen und Frauen betroffen. Diese Tradition ist religionsunabhängig und wird von Christen (Katholiken, Protestanten, Kopten), Muslimen, Juden20 und Animisten praktiziert. Es ist nicht bekannt, wann, wo und wie diese Tradition entstanden ist, noch wie sie verbreitet wurde. Das Alter der Mädchen zum Zeitpunkt des Eingriffes variiert sehr. Es ist abhängig von der Ethnie oder dem Wohnort der Mädchen. Einige sind noch Säuglinge, andere Kinder oder Jugendliche. Bei einigen Ethnien wird dieser Eingriff in Vorbereitung auf die Hochzeit, während der Schwangerschaft oder der Geburt des ersten Kindes durchgeführt. Der Eingriff wird meist von älteren Frauen der Gemeinschaft vorgenommen. Dies sind professionelle Beschneiderinnen oder traditionelle Geburtshelferinnen. In den Städten sind es oft auch Barbiere. Ihnen assistieren andere angesehene Frauen und/oder Familienangehörige des Mädchens. Für den Eingriff werden Messer, Rasierklingen, Scheren oder Glasscherben verwendet. Er erfolgt in der Regel ohne Narkose oder lokale Betäubung. Zur Schmerzlinderung werden kaltes Wasser oder eine Kräutertinktur verwendet. Pflanzensäfte, Kräuter, Asche und anderes sollen das Blut stillen und die Wundheilung unterstützen. Mit Bindfaden, Pferdehaaren, Akaziendornen oder anderem wird die Wunde verschlossen. Den infibulierten Mädchen und Frauen werden sofort nach dem Eingriff die Beine zusammengebunden, um den Bereich der Wunde ruhig zu stellen. Bedauerlicherweise finden auch in Europa Beschneidungen statt. Im März 1999 strahlte das ARD-Magazin „Report“ einen Bericht aus, in dem ein Arzt in Berlin eine Beschneidung für 1.200 DM anbot. In Paris wurde im Februar 1999 eine Frau aus Mali zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Ihr wurden 48 Beschneidungen von Mädchen unter zehn Jahren in Frankreich nachgewiesen. Seit 1984 ist dort die Beschneidung von Mädchen aus nicht-therapeutischen Gründen verboten. Den in Europa lebenden Mädchen, die aus Gemeinschaften kommen, in denen die weibliche Beschneidung Tradition ist, droht noch von einer anderen Seite Gefahr. Nicht 20 Nahid Toubia (1995:32) nennt die äthiopischen Juden, die heute in Jerusalem leben, „Falashas“. Migration und psychische Gesundheit 293 wenige der in Deutschland lebenden Eltern haben Angst, ihre Töchter für einen Ferienaufenthalt in ihre Heimatländer zu schicken. Denn immer wieder bringen Angehörige der Familien ohne Wissen und Zustimmung der Eltern die Mädchen zu Beschneiderinnen, in der Überzeugung, das Richtige zu tun. Leider kommt es auch vor, dass dies die Eltern selbst tun. Wie wird diese gefährliche Tradition heute noch begründet? Es gibt eine Reihe von Begründungen, warum weibliche Beschneidung durchgeführt wird. Die WHO unterscheidet vier Gruppen. Hier einige Beispiele: Soziokulturelle Gründe Einige Gemeinschaften glauben, dass ohne die Entfernung der Klitoris, Mädchen keine vollständigen Frauen werden können. Unbeschnittene Mädchen erhalten somit nicht die gleichen Rechte wie beschnittene Mädchen im gleichen Alter. In einigen Gemeinschaften wird dieser Eingriff im Rahmen eines Übergangsritus durchgeführt, der den Übergang eines Mädchens zur Frau markiert. die äußeren Genitalien der Frauen sehr machtvoll sind und das Baby z.B. bei der Geburt durch die Berührung erblinden, körperlich und/oder geistig behindert werden könne. die Jungfräulichkeit der Mädchen gesichert wird, welche für den Brautpreis wichtig ist. nur beschnittene Frauen gute Ehefrauen sein können. Hygienische und ästhetische Gründe Einige Gemeinschaften glauben, dass die äußeren Genitalien hässlich und schmutzig sind. die Genitalien immer weiter wachsen, wenn sie nicht beschnitten werden. durch die Beschneidung der äußeren Genitalien ein Mädchen erst schön ist. Spirituelle und religiöse Gründe Einige Gemeinschaften glauben, dass ein Mädchen durch die Beschneidung spirituell rein wird. Einige muslimische Gemeinschaften glauben, dass der Islam die Beschneidung von Mädchen und Frauen verlangt. Der Koran fordert dies nicht. Einige Muslime berufen sich auf eine bestimmte Sunna (Die Sunna sind Aussprüche und Verhaltensweisen von Mohammed. Die Sammlung dieser Texte wird Hadith genannt. Der Hadith und der Koran sind die wichtigsten Quellen einer muslimischen Gemeinschaft.). Danach soll Mohammed, der Prophet, eine Beschneiderin aufgefordert haben, die Klitoris nur einzuritzen, sie jedoch nicht zu zerstören. Deshalb wird diese Form der weiblichen Beschneidung auch als Sunna bezeichnet und zählt zum vierten Typ der WHOKlassifikation. 294 Armut und Gesundheit Psycho-sexuelle Gründe Einige Gemeinschaften glauben, dass ein unbeschnittenes Mädchen einen überaktiven und unkontrollierbaren Sexualtrieb entwickle und damit eine Bedrohung für alle Männer und die ganze Gemeinschaft bedeutet. eine enge Vagina, wie bei infibulierten Frauen, zu großem Lustempfinden bei Männern führt. die Beschneidung das Problem der Unfruchtbarkeit löse bzw. die Fruchtbarkeit erhöhe. Gesundheitliche Folgen Die Folgen der weiblichen Beschneidung sind physischer, psychischer und sexueller Art. Sie können unmittelbar oder später auftreten, beeinträchtigen das Leben der Mädchen und Frauen oft für lange Zeit oder lebenslang. Auch sterben immer wieder Mädchen und Frauen an den Folgen der Beschneidung. Physische Folgen Kurzzeitige Folgen sind unter anderen extreme Schmerzen, Verletzung des angrenzenden Gewebes der Harnwege, Vagina, des Damm- sowie Rektumbereichs, Blutungen, Schock, akuter Harnverhalt, Infektionen. Wenn es der Familie des Mädchens oder der Frau möglich ist, lassen sie die Beschneidung im Krankenhaus oder Gesundheitszentrum von medizinischem Personal unter sterilen Bedingungen und unter Verwendung von Narkose oder lokaler Betäubung durchführen. Damit werden zwar einige der Risiken vermindert, aber weiterhin werden bei diesem Eingriff gesunde Organe verstümmelt. Langzeitfolgen sind unter anderen ständige Schmerzen und/oder Schwierigkeiten beim Wasserlassen, chronische Infektionen der Harnorgane und Nieren, Steine in den Nieren und der Blase, Bildung von Zysten und Abszessen an der Vulva. Menstruationsblut kann nur schlecht abfließen. Chronische Infektionen können auf die Scheide, die Gebärmutter, die Eileiter und den gesamten Unterleib übergreifen. Eine dauernde Entzündung der Eileiter kann zur Sterilität und damit Kinderlosigkeit führen. An den Narben kann es zu Narbenwülsten kommen, infolge dessen zu einer erheblichen Verengung der Harnröhre oder der Vagina. Folgen sind Harnverhalt, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr und Geburtskomplikationen. Infibulierte Frauen haben regelmäßig Probleme während der Geburt. Das Narbengewebe ist sehr hart und kann sich während der Geburt nicht dehnen. Die Geburt wird verzögert, das Narbengewebe reißt oder muss aufgeschnitten werden. Enormer Blutverlust ist die Folge, welcher zum Schock und Tod der Gebärenden führen kann. Nach der Geburt werden die Frauen in der Regel wieder zugenäht (Reinfibulation). Psychosoziale Folgen Viele Frauen sind nicht in der Lage, über ihre Beschneidung und die persönlichen Folgen zu sprechen. Sie leiden schweigend. Wenn sie doch ihr Schweigen brechen, erfahren wir von ihrem schmerzvollen Leben. Das Erlebnis der weiblichen Beschneidung geht für viele Mädchen und Frauen einher mit Angst, Unterwerfung, Hemmung und Unterdrückung der eigenen Gefühle. Dieses einschneidende Erlebnis wirkt sich auf ihre körperliche und geistige Entwicklung aus. Es ist eine Erinnerung, die sie nie mehr vergessen werden. Einige junge Mädchen erzäh- Migration und psychische Gesundheit 295 len, dass sie sich verraten fühlen. Sie sind verbittert und zornig, da ihre Familien sie eine solche Tortur haben erleben lassen, statt sie zu beschützen. Dies kann zu einer Krise in der Beziehung zwischen dem Mädchen und ihren Eltern führen. Einige Mädchen, wenn sie älter werden, entwickeln das Gefühl, als Frau unvollkommen zu sein. Demütigung, Unterdrückung, Gehorsam und Angst sind für einige Frauen auf Grund der Beschneidung Teil ihres Lebens geworden. Die ständigen physischen und psychischen Leiden der Frauen wirken sich auch auf ihre Ehen aus. Dazu kommt noch, dass einige Frauen während des Geschlechtsverkehrs und/oder der Menstruation Schmerzen haben, welche denen während ihrer Beschneidung gleichkommen. Bei einigen Mädchen und Frauen ist das Erlebnis der Beschneidung und seine Folgen psychologisch mit denen einer Vergewaltigung vergleichbar. Ess- und Schlafstörungen, Stimmungs- und Wahrnehmungsschwankungen, Schlaflosigkeit, Albträume, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust bzw. exzessive Gewichtszunahme, Verlust der Selbstachtung, Depressionen, chronische Angstzustände, Phobien, Panikattacken, Konzentrations- und Lernschwierigkeiten oder andere Symptome von posttraumatischem Stress treten bei einigen Mädchen und Frauen auf. Andererseits werden Mädchen und Frauen, die sich nicht beschneiden lassen, stigmatisiert, von ihrer Gemeinschaft und nicht selten auch von ihren eigenen Familien abgelehnt, finden keinen Ehemann und müssen oft der Prostitution nachgehen, um überleben zu können. Dies führt nicht selten zu psychischen Traumata. Sexuelle Komplikationen Bei vielen betroffenen Frauen treten verschiedene Formen und Grade von sexuellen Funktionsstörungen auf. Sie berichten von schmerzhaftem Geschlechtsverkehr auf Grund von nicht dehnbarem Narbengewebe, enger Vagina, Infektionen und anderem. Bei infibulierten Frauen ist eine vaginale Penetration ohne das Verletzen oder Aufschneiden des Narbengewebes schwierig oft nicht möglich. Schock und psychische Traumata sind nicht selten die Folge. „Aufklärung statt Verurteilung“ Unter diesem Motto arbeitet DAFI, die Deutsch-Afrikanische FrauenInitiative e.V. Viele betroffene Mädchen und Frauen erkennen die oben genannten Komplikationen und Schwierigkeiten nicht als Folgen der weiblichen Beschneidung. Hier ist eine sensible und respektvolle Aufklärung im Dialog mit betroffenen Frauen, welche oft auch Mütter von bedrohten Mädchen sind, und ihren Familien notwendig. Unsere Erfahrungen in Deutschland zeigen, dass betroffene Frauen sehr selten mit Problemen auf Grund ihrer Beschneidung zu uns kommen. Meist sind es Fragen zu Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Asylrecht und anderem. Werden Gespräche über eine längere Zeit geführt, baut sich fast immer das notwendige Vertrauen auf, um über ihre Beschneidung und deren Folgen zu sprechen. Infibulierten Frauen bringt eine fachgerechte Öffnung des Narbengewebes Erleichterung. Einige Komplikationen würden gemildert werden bzw. ganz verschwinden. Aber ehe die Frauen überhaupt darüber nachdenken können, braucht es Zeit. Und ebenso braucht es Zeit, bis sie sich eventuell zu einem solchen Eingriff entschließen. Die Frauen müssen viele Auswirkungen bedenken. Wie wird sich ihr Ehemann verhalten, wenn er von diesem Vorhaben erfährt? Selbst wenn der Ehemann von Beginn an in diesen Entscheidungsprozess mit eingebunden ist, wird er auch weiterhin zu ihr stehen? Wie wer- 296 Armut und Gesundheit den ihre Verwandten und Freunde reagieren? Sie wird diese Veränderung auf Dauer nicht verbergen können. So wird eine geöffnete infibulierte Frau nicht mehr zwanzig Minuten zum Wasserlassen brauchen. Und wie wird sie selbst mit dieser Situation zurechtkommen? Sie hat sich gegen ihre Tradition entschieden, sie verraten. Eine Bitte liegt uns am Herzen. Wenn beschnittene Frauen Sie als Ärztin oder Arzt das erste Mal aufsuchen, kommen sie meist mit akuten Problemen oder chronischen Langzeitfolgen. Eine behutsame und sensible Untersuchung ist sehr wichtig. Niemals bei der ersten Untersuchung und niemals ohne Einverständnis der betroffenen Frau sollten Sie Kolleg/innen oder Student/innen dazubitten, um ihnen die Beschneidung zu zeigen. Uns sind Beispiele bekannt, dass betroffene Frauen dies ungefragt erdulden mussten. Als Folge weigerten sie sich lange Zeit, wieder eine Ärztin oder einen Arzt aufzusuchen. Bei Überweisung an einen Spezialisten empfiehlt sich, möglichst eine Ärztin zu wählen. So ist es verständlich, dass der Kampf gegen die weibliche Beschneidung nur unter Berücksichtigung die gesellschaftlichen Hintergründe erfolgreich sein wird. Vor uns liegt einer langer Weg der respektvollen Aufklärung. Wir müssen mit Frauen und Männern reden, denn nur gemeinsam können wir diese gefährliche Tradition beenden. Literatur: Barker-Benfield, G. J. [2000]: The Horrors of the Half-Known Life: Male Attitudes toward Women and Sexuality in Nineteenth-Century America. New York & London: Routledge. Dirie, W. [1999]: Wüstenblume. Berlin: Ullstein. Hulverscheidt, M. [1999]: Medizingeschichte: Weibliche Genitalverstümmelung im Europa des 19. Jahrhunderts. In: Schnüll, P.; Terre des Femmes (Hrsg.): Weibliche Genitalverstümmelung: Eine fundamentale Menschenrechtsverletzung. Göttingen, S. 229-239. Toubia, N. [1995]: Female Genital Mutilation: A Call for Global Action. New York. Toubia, N.; Izett, S. [1998]: Female Genital Mutilation: An Overview. Genf: WHO. WHO [2001]: Female Genital Mutilation: A Student’s Manual. Genf: WHO. WHO [2001]: Female Genital Mutilation: A Teacher’s Guide. Genf: WHO. 297 Kapitel 6 Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 298 Armut und Gesundheit Ambulante zahnärztliche Versorgung Obdachloser Patienten in der Arztpraxis/Zahnarztpraxis für Obdachlose der MUT Gesellschaft für Gesundheit Kirsten Falk Zusammenfassung des Beitrages: Nach fünf Jahren ärztlicher Tätigkeit in den Arztpraxen für Obdachlose der MUT Gesellschaft für Gesundheit wurde 1999 die Notwendigkeit deutlich, dass neben einer allgemeinärztlichen Grund- und Erstversorgung kranker Obdachloser auch eine zahnärztliche Versorgung angeboten werden muss. Dieses sollte möglichst in enger Zusammenarbeit, sowohl inhaltlich als auch organisatorisch mit einer Arztpraxis realisiert werden. Der Vortrag von Kirsten Falk beschreibt den strukturellen Auf- und Ausbau dieser bundesweit ersten zahnärztlichen Praxis für Obdachlose, schildert Finanzierungsmöglichkeiten und befasst sich mit zahnmedizinischen und sozialtherapeutischen Fragestellungen. Ich bin seit 1995 niedergelassene Zahnärztin in Berlin-Lichtenberg. Ich möchte in diesem Beitrag stellvertretend für meine zahnärztlichen Kollegen und im Namen der MUT Gesellschaft für Gesundheit unsere mitunter bedrückenden Probleme, aber nach zweieinhalb Jahren erfolgreicher Tätigkeit auch unsere positiven Arbeitsergebnisse darlegen. Seit Anfang Juni 1999 bin ich neben meiner Arbeit in der eigenen Praxis ehrenamtlich in der Arzt- und Zahnarztpraxis für Obdachlose in der Weitlingstraße 11 in Berlin Lichtenberg als Zahnärztin tätig. Träger dieser Praxis, wie auch der allgemeinärztlichen Praxis für Obdachlose am Ostbahnhof, in der Dr. Jenny De la Torre tätig ist, ist die MUT Gesellschaft für Gesundheit. Ich war seit Beginn der Planungsphase der Zahnarztpraxis im April/Mai 1999 in die konzeptionellen Vorbereitungen einbezogen und kann daher beschreiben, wie, warum und auf welche Weise diese Praxis funktioniert und welche Probleme wir haben, wie wir es aber dennoch bislang schaffen konnten, die Aufgaben, die wir uns selbst gestellt hatten, zu erfüllen. Grundlage für die Überlegungen zum Einrichten einer zahnärztlichen Praxis für diesen speziellen Patientenkreis waren nicht zuletzt die Erfahrungen der allgemeinärztlichen Obdachlosenpraxis der MUT am Ostbahnhof, die bereits seit 1994 besteht. Die hier über Jahre gemachten Erfahrungen - in unserem Fall also die Erfahrungen hinsichtlich der Zahngesundheit dieser Patienten, hinsichtlich des Umgangs dieser Klientel mit Mundhygiene im Allgemeinen und der Unmöglichkeit, sie selbst im schlimmsten Fall zu einem Gang zum Zahnarzt zu bewegen oder weiterzuvermitteln, haben die MUT 1999 bewogen, eine eigene zahnärztliche Versorgung für Obdachlose Patienten einzurichten. Die Einrichtung der Praxis war also angesichts der Zahngesundheit dieser Patienten eine absolute medizinische Notwendigkeit. Hinzu kommt, dass diese Patienten in der Regel nicht krankenversichert sind, daher ist für sie eine normale Teilnahme an der Regelversorgung nicht mehr möglich. Zudem scheuen diese Menschen den Gang in eine sogenannte normale Praxis, sie gelten ohnehin als nicht „wartezimmerfähig“. Der kausale Zusammenhang von Zahngesundheit und allgemeiner Gesundheit ist unbestritten. Die MUT wählte deshalb für die Einrichtung dieser Praxis Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 299 bewusst die räumliche und auch inhaltlich-strukturelle Kombination in einem Haus von allgemeinärztlicher Praxis und Zahnarztpraxis. Nach Mitteilung der Bundeszahnärztekammer hat die MUT Gesellschaft für Gesundheit in Berlin damit bundesweit und europaweit die erste niederschwellige zahnmedizinische Praxis zur allgemeinen Grund- und Erstversorgung für Obdachlose. Die Betonung liegt vor allem auf der Wichtigkeit und Notwendigkeit dieser Kombination von Arzt- und Zahnarztpraxis. Auf diese Weise, durch dieses Hand-in-Hand-Arbeiten gelingt es uns nachweisbar, die gesundheitliche Versorgung unserer Patienten deutlich zu optimieren. Notfälle können sofort versorgt werden, die Hemmschwelle, den Zahnarzt aufzusuchen - die natürlich erheblich höher liegt als die zum Allgemeinarzt - kann deutlich gesenkt werden. Man befindet sich als Patient Tür an Tür und "im schlimmsten aller Fälle“, also dem Gang zum Zahnarzt, begleitet die Allgemeinärztin oder die Schwester den Patienten in die nebenan gelegenen Räume des Zahnarztes. Vor allem können wir so verhindern, dass der Patient mit der Überweisung in der Hand auf dem Wege zum Zahnarzt vom "Wege abkommt". Ich denke, wir leisten hier einen ganz wichtigen Beitrag sowohl zur Zahngesundheit als auch zur Verbesserung des Allgemeinzustandes und gewiss nicht zuletzt zur Sozialhygiene. Und wir erreichen mit unserer Praxis vor allem jenen Patienten, die sonst nie einen Zahnarzt aufgesucht hätten. Die Gründe hierfür sind uns allen ja bekannt. Wie haben wir es geschafft, diese Praxis einzurichten? Zuerst gab es also die Notwendigkeit, zahnmedizinische Versorgung für diesen Patientenkreis anzubieten. Danach haben wir nach Möglichkeiten, finanziellen Ressourcen, Verbündeten und Förderern zur Realisierung gesucht. Das gestaltete sich zunächst eher schwierig, denn was zunächst eben nicht vorhanden war, das waren die finanziellen Mittel dafür. Die MUT musste sich also nach Spenden umsehen. Notwendig waren für den Umbau einer schon recht maroden ehemaligen Arztpraxis nicht unerhebliche Mittel. Zu den Investitionen für die Einrichtung einer zahnärztlichen Praxis kamen die Kosten für Statik, Wasserzu- und Abflüsse, periphere Gerätschaften bis hin zum Röntgengerät, Instrumenten, Chemikalien, Füllstoffen etc. Wir haben Berliner Zahnärzte um Hilfe gebeten und nicht zuletzt die Zahnärztekammer Berlin. Von hier kam und kommt noch immer neben der kollegialen moralischen Unterstützung sehr viel praktische und auch finanzielle Hilfe. Wir wurden bei unserem Vorhaben von vielen Seiten großzügig unterstützt. Wir bekamen einen gebrauchten Zahnarztstuhl gespendet, Handwerker spendeten einen Teil ihrer Arbeitsleistungen beim Um- und Ausbau der Praxis, und es gab vor allem viele ehrenamtlich Helfer. Wir arbeiten also seit Sommer 1999 in Berlin-Lichtenberg in einer recht gut ausgestatteten Praxis, die durchaus dem Standard einer normalen modernen niedergelassenen Praxis entspricht. Inzwischen haben wir am Ostbahnhof - neben der allgemeinärztlichen Praxis, die von meiner Kollegin Dr. Jenny De la Torre seit Jahren geleitet wird – in einer zweiten zahnärztlichen Sprechstunde mit den Behandlungen begonnen. Alle laufenden Kosten der Praxen, sowohl für deren Einrichtung als auch die Kosten für den laufenden Unterhalt wurden und werden aus Spenden, sowohl Sach- aber auch 300 Armut und Gesundheit Geldspenden, gedeckt. Unsere Praxis konnte schon nach ein paar Wochen eine zweite Zahnärztin zur ehrenamtlichen Mitarbeit gewinnen. Seit Januar 2000 finden täglich Zahnarztsprechstunden statt. Ich arbeite weiterhin ehrenamtlich für die Praxis, meine Kollegin Frau Koisman ist gemeinsam mit einer zahnärztlichen Helferin im Rahmen einer SAM beschäftigt, eine halbe Stelle einer Helferin wird vom Bezirksamt BerlinLichtenberg bezahlt. Weitere zahnärztliche Kolleginnen helfen uns bei Engpässen ehrenamtlich. Arbeitsweise der Praxis und gesundheitliche Situation der Patienten Häufigstes Krankheitsbild bei unseren Patienten generell ist der Alkoholabusus und alle daraus resultierenden Herz-Kreislaufprobleme, schlechter Ernährungszustand, Entzugserscheinungen usw. Aus zahnärztlicher Sicht relevant sind in erster Linie die mangelnde bzw. gänzlich fehlende Mundhygiene, der schlechte Ernährungszustand, Angst vor einem Zahnarztbesuch, die fehlende Motivation zur Zahnerhaltung sowie auf Grund nicht vorhandener Krankenversicherungen - die Angst vor möglichen entstehenden Kosten bei einem Besuch beim „normalen Zahnarzt“. Wir haben es häufig mit so stark zerstörtem Zahnbestand zu tun, dass fast immer Extraktionen als Mittel der Wahl unumgänglich sind. Ebenso oft sind Abszesse zu spalten oder alte Frakturen, die schlecht und unkontrolliert verheilt sind, zu versorgen. Ziel unserer Einrichtung war es von Anfang an, auf lange Sicht einen gewissen Grad der Durchsanierung bei unseren Patienten zu erreichen, der es dann dem Zahnarzt erlaubt, das Augenmerk stärker auf zahnerhaltende Maßnahmen zu richten. Das ist uns in hohem Maße bereits nach zwei Jahren Tätigkeit gelungen. Statistik für 2001 (bis Oktober 2001) Versorgte Patienten: 661 Konsultationen: 2081 Vergleicht man die Patientenzahlen mit dem Vorjahr 2000, so sieht man deutlich einen Anstieg. Statistik für 2000 Versorgte Patienten: 423 Konsultationen: 1414 Diese Zahlen sind deswegen bedeutsam, weil man sich immer wieder vor Augen halten muss, wie schwer einem obdachlosen Patienten der Gang zum Zahnarzt fällt, auch wenn von unserer Seite immer wieder zu betonen ist, dass die Zugangsmöglichkeiten von uns nach wie vor bewusst niedrig gehalten sind und es in den beiden Jahres gelungen ist, ein vertrauensvolles Arzt-Patientenverhältnis aufzubauen. Das ist bei uns notwendiger als vielleicht in mancher normalen Praxis. Derzeit versuchen wir, den bereits vorhandenen Patientenstamm gründlich zu sanieren. Das heißt, die zerstörten Zähne werden gezogen, die noch erhaltenswürdige Zahnsubstanz wird so versorgt, dass sie im Mund verbleiben kann. Seit Dezember 2000 sind wir zudem in der glücklichen Situation, für ausgewählte Patienten eine Versorgung mit einfacher Prothetik zu gewährleisten, da sich ein Dentallabor aus Berlin-Friedrichshain auf Grund unserer Presseaktionen bereit erklärt hat, unentgeltlich entsprechende Laborleistungen zu erbringen. Dadurch können wir bei vielen Patienten, die kaum noch Zähne hatten, die Funktionsfähigkeit des Kauapparates wiederherstellen und damit gleichzeitig Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 301 auch das Selbstbewusstsein dieser Menschen durch die neugewonnene Ästhetik heben. Gerade dieser Punkt sollte nicht unterschätzt werden, da häufig auch ein sogenanntes "heruntergekommenes Aussehen" die immer von unserem Team angestrebte Wiedereingliederung in ein normales Leben verhindert. Voraussetzung ist auch hier immer, dass unsere Hilfen vom Patienten angenommen werden oder noch angenommen werden können. Zahlen zur prothetischen Versorgung 2001 Anzahl der Patienten mit prothetischer Versorgung Davon Teilprothesen Vollprothesen Prothetische Reparaturen: 13 5 3 7 Ich stelle nochmals klar: einfache Prothetik. Das bedeutet für uns nicht- festsitzender Zahnersatz (herausnehmbar), der zum größten Teil aus Kunststoff besteht. Ziel unserer Behandlung ist es also neben einer Grundsanierung möglichst auch die volle Wiederherstellung der Kaufähigkeit zu erreichen und damit gleichzeitig Grunderkrankungen, die auf Fehlernährung bzw. Mangelernährung in Folge schlechter Kaufähigkeit beruhen zu bekämpfen. Außerdem versuchen wir durch Hygieneberatung und Ausgabe entsprechender Mundpflegemittel das Gesundheitsbewusstsein unserer Patienten zu reaktivieren. Wie geht die Behandlung vor sich? Eine kurze Schilderung des strukturellen Ablaufs in unseren Praxen verdeutlicht, was ich meine, wenn von Synergieeffekt die Rede ist. Jeder neue Patient meldet sich generell bei meiner allgemeinärztlichen Kollegin. Da viele Patienten sich trotz Zahnschmerzen oft nicht als zahnärztliche Patienten begreifen, werden diesbezügliche Beschwerden zuallererst der Ärztin bekannt gegeben. Außerdem wird der Patient sozusagen gleich auf "Herz und Nieren " im Sinne des Wortes durchgecheckt und dann an den Zahnarzt überwiesen. Wir bekommen den Patienten mit allgemeinärztlicher Anamnese übergeben. Auch alle für eine eventuelle Therapie angesetzten Medikamente werden mitgeteilt. Im Gegenzug können wir Zahnärztinnen unsere Therapien auf die Behandlung meiner Kollegin abstimmen. So vermeiden wir Resistenzen bzw. Duplizitäten. Im Falle eventueller unvorhergesehener Reaktionen eines Patienten, z.B. auf Lokalanästhetika vermittelt die Anwesenheit der kompetenten Ärztin zusätzlich ein Gefühl der Beruhigung. Denn man darf nicht vergessen, dass etwa achtzig Prozent aller unserer Patienten in mehr oder weniger stark alkoholisiertem Zustand zu uns kommen und somit in ihren Reaktionen nicht immer berechenbar sind. Gerade durch die enge Zusammenarbeit konnten bislang Zwischenfälle vermieden werden. Ist der Patient von uns behandelt worden, erhält er einen neuen Termin, der zu etwa 90% auch wahrgenommen wird. Kann eine Behandlung in unserer Praxis nicht realisiert werden, etwa wenn kieferchirurgische Eingriffe nötig werden, versuchen wir, unsere niedergelassenen Kollegen um Weiterbehandlung zu bitten. In Einzelfällen ist das bereits möglich geworden. Auch hier erfolgt die Behandlung dann anonym - wenn gewollt- und kostenlos. 302 Armut und Gesundheit Mit wem arbeiten wir zusammen? Viele unsere Arbeiten könnten wir nicht so leisten, hätten wir nicht gleichzeitig Sozialberater in unser Team integriert, mit denen wir Hand in Hand arbeiten. Wir Ärzte sorgen mit unseren Mitteln für die Wiederherstellung der Gesundheit - soweit das möglich ist und entlassen die Patienten dann eben nicht wieder in das gleiche Milieu. Denn wir wollen den fatalen Kreislauf von Krankheit, Alkohol und Straße aufbrechen. Unsere Sozialberater in der Praxis stehen den Patienten täglich für Gespräche, Beratungen, Therapievorschläge, zum Besorgen von Schlafplätzen, Unterkünften etc. zur Verfügung. Soweit möglich werden in Einzelberatungen individuelle Therapiepläne entwickelt. Allein im Jahr 2001 konnten wir erreichen, dass drei unserer Patienten reintegriert werden konnten, also von der Straße wegkamen. Das scheinen kleine Schritte zu sein, wenn man aber die Situation der Betroffenen kennt, weiß man, was hinter diesen Zahlen steht. Im Zusammenwirken der drei Sparten allgemeinärztlicher und zahnärztlicher Versorgung sowie sozialpflegerischer Betreuung liegen die wichtigsten Potenzen unserer Arbeit. Probleme und Perspektiven Die Zahl Obdachloser in unserer Stadt nimmt zu, das merken nicht zuletzt wir an der Zunahme der Anzahl unserer Patienten. Der Zustand dieser Menschen verschlimmert sich mit der Dauer des Aufenthalts auf der Straße. Auch das merken wir täglich. Bereits jetzt ist deutlich, dass die Zeit, die wir zur Versorgung der Patienten haben, nicht immer ausreicht und dass auch Behandlungen an nur einem Standort nicht alle Patienten erfassen können. Die Gründe hierfür liegen auch in der nicht vorhandenen Mobilität unserer Patienten. Wir sind ja daher angetreten zu einer aufsuchenden Medizin. Deshalb entschloss sich die MUT im Sommer zum Ausbau einer weiteren, also zweiten zahnärztlichen Praxis, die wir im Dezember 2001 am Berliner Ostbahnhof, einen wichtigen Sozialisationspunkt Obdachloser, eröffnen konnten. Personalstruktur Wir haben am 22.Juni 1999 mit unseren Sprechstunden für Obdachlose begonnen. Zunächst habe ich allein einmal wöchentlich ehrenamtlich Sprechstunde gehalten, das reichte bald nicht mehr aus und wir mussten uns nach einer weiteren zahnärztlichen Kollegin umsehen, die dann gemeinsam mit mir und ebenfalls ehrenamtlich am Stuhl stand. Geld für Personalkosten war nicht vorhanden. Nach vielen Anläufen, Mühen, Fehlschlägen und immer wieder Gesprächen mit den zuständigen Gremien ist es uns zum 1.10.2000 gelungen, für meine Kollegin Hanna Koisman und eine Helferin eine SAM zu etablieren. Von diesem Zeitpunkt an konnten wir regelmäßig täglich Sprechstunden einrichten, das war auch notwendig geworden, denn der Zulauf der Patienten aus den gesamten Stadtgebiet hatte sich erheblich verstärkt. Eine halbe Stelle für eine Helferin wird uns vom Bezirksamt Lichtenberg finanziert. Die Ermächtigung Alle unsere Patienten leben entweder auf der Straße oder unter dem Existenzminimum, die meisten beziehen keine Sozialhilfe, nur etwa fünfzehn bis achtzehn Prozent von ihnen sind versichert. Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 303 Dennoch haben wir uns um eine Ermächtigung zur Teilnahme an der Kassenzahnärztlichen Versorgung (nach § 31) bemüht. Seit 1.8.2000 haben wir von der KZV Berlin für die MUT eine Institutsermächtigung erhalten. Damit können wir Leistungen für noch versicherte Patienten abrechnen. Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit Zur Aufrechterhaltung unserer Arbeit brauchen wir ständig Geld- und Sachspenden. Das versuchen wir durch eine ständige gezielte Öffentlichkeitsarbeit zu erreichen, die unsere Arbeit für diese Menschen immer wieder versucht in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses zu rücken. Nur so kann ein ständiger Spendenfluss gesichert werden, aber auch die Aufmerksamkeit von Entscheidungsträgern. Das bindet Arbeitszeit und –kräfte, ist aber für den Fortbestand unserer Praxen unerlässlich. Damit haben wir zurzeit gute Erfolge! Aber das Beschaffen hört eben nicht auf, denn unser Verbrauch und Verschleiß sind hoch! Anerkennung zu finden, ist uns über die Jahre gelungen, erst kürzlich hat diese Einrichtung der MUT den Ewald-Harndt-Preis der Zahnärztekammer Berlin für ihre Arbeit erhalten. Ich bekenne durchaus, das macht uns auch ein bisschen stolz auf unsere Leistungen. Ich möchte an die Öffentlichkeit und die Verantwortlichen in der Politik appellieren, uns bei unserer Arbeit künftig besser und vor allem langfristig und verlässlicher zu unterstützen. Ich sehe täglich, dass unsere Patienten leiden. Diese Menschen brauchen Hilfe, und sie haben auch einen Anspruch auf unsere Hilfe und auf adäquate gesundheitliche Versorgung. Deswegen sind wir von der MUT angetreten, um etwas zu tun. Ich rufe auch andere Kommunen unseres Landes auf, nach Möglichkeiten zur zahnmedizinischen Versorgung von Menschen ohne festen Wohnsitz zu suchen. Ich danke allen, die schon geholfen haben und bitte Sie herzlich, helfen Sie uns zu helfen. Diese Menschen brauchen uns. 304 Armut und Gesundheit Aspekte gesundheitlicher Versorgung wohnungsloser Personen in kommunalen Wohnheimen Claudia Adam, Gerd Grenner 1. Grundlage staatlichen Handelns Die Unterbringung wohnungsloser Personen in kommunalen Wohnheimen gehört zu den ordnungsrechtlichen Möglichkeiten, Wohnraum bereitzustellen. Im Rahmen der Daseinsvorsorge sind die kommunalen Gebietskörperschaften dazu verpflichtet, die Unversehrtheit der Person zu gewährleisten und in Fällen drohender Wohnungslosigkeit bzw. bei dem Verlust der eigenen Wohnung zur Unterbringung verpflichtet (vgl. Ruder 1999). Zu den ordnungsrechtlichen Möglichkeiten gehört die Wiedereinweisung in die vorherige Wohnung, die Einweisung in leer stehenden Normalwohnraum und die Einweisung in "Obdachlosenunterkünfte" mit kommunalen Belegungsrechten. Als Wohnform kommt hier in der Regel das Wohnheim als Notunterkunft in Betracht.21 "Obdachlosigkeit im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinn liegt vor, wenn der Betroffene - nicht über eine menschenwürdige Unterkunft verfügt, - aufgrund eines freiwilligen, selbstbestimmten Willensentschlusses in Zukunft nicht ohne eine derartige Unterkunft leben will" (Ruder 1999:23). Ferner bedeutet Obdachlosigkeit im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinn unter objektiven Gesichtspunkten "kein Dach über dem Kopf" zu haben und darauf angewiesen zu sein Tag und Nacht auf der Straße, in Parkanlagen, unter Brücken oder sonst im Freien verbringen zu müssen. In subjektiver Hinsicht wird zwischen der sog. freiwilligen und der unfreiwilligen Obdachlosigkeit unterschieden. Nur die unfreiwillige Obdachlosigkeit stellt eine ordnungsrechtliche Gefahrenlage dar und erfordert seitens der Kommunen ein polizei- und ordnungsrechtliches Handeln. "Notwendige Aufwendungen der Ordnungsbehörden zur Abwendung drohender Obdachlosigkeit Sozialhilfebedürftiger sind, soweit vom Untergebrachten Ersatz verlangt wird, im Rahmen der Sozialhilfe zu tragende Unkosten, wenn dem Sozialhilfeträger das Drohen der Obdachlosigkeit bekannt war. Ist der Obdachlose sozialhilfeberechtigt, hat die Gemeinde hinsichtlich der Kosten, für die sie vorläufig eingetreten ist, gegen den Sozialhilfeträger einen Erstattungsanspruch nach § 121 BSHG. (...) die Gemeinde muss die ihr für die Unterbringung entstehenden Kosten unverzüglich anmelden. Soweit keine Sozialhilfeberechtigung vorliegt, muss die Gemeinde für die Kosten selbst aufkommen" (ebd.:44f.). 21Ruhstrat und Busch-Geertsema (1994) kommen zu dem Ergebnis, dass in Städten mit bis zu 300 000 Einwohnern zwei Drittel bis drei Viertel der Einweisungsverfügungen in Obdachlosenunterkünfte erfolgen, während in Städten mit mehr als 300 000 Einwohnern dieser Anteil etwas unter 50 Prozent liegt. Hinsichtlich der Wohnform aller wohnungslosen Personen in den befragten Gemeinden ergab sich jedoch, dass in Kommunen mit weniger als 300.000 Einwohnern jede zweite Person in Schlichtwohnungen wohnten, während in Städten mit über 300.000 Einwohnern rund jede zweite wohnungslose Person in Wohnheimen/Übergangswohnheimen wohnt. Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 305 2. Entwicklungstendenzen seit 1996 in Berlin Während sich die Anzahl der Haushalte in kommunalen Einrichtungen der sozialen Wohnhilfe in Berlin im Zeitraum von 1998 auf 1999, bezogen auf die jeweilige Gesamtzahl der jährlich registrierten wohnungslosen Haushalte, um 5 Prozent verringerte, so blieb die Anzahl von 1999 auf 2000 konstant. Tabelle 1 Haushalte in Einrichtungen der kommunalen Wohnhilfe 1996 1241 16 % 1997 1202 17 % 1998 1034 17 % 1999 714 12 % 2000 670 12 % (SenGesSozVerb; eigene Berechnungen) Die gesundheitliche Versorgung beinhaltet neben der Hilfe in Akutsituationen und der Prophylaxe insbesondere Pflegedienste und eine Stabilisierung der Lebenssituation. Vorhandene Studien über die Wohnsituation in Wohnheimen zeigen immer wieder, dass "die Mehrzahl der Unterbringungseinrichtungen, die ursprünglich als Provisorien und Übergangseinrichtungen gedacht waren, für viele Wohnungslose zu dauerhaften und von den Standards her unzumutbaren, (...) Unterbringungsformen geworden sind“ (Ruhstrat/Busch-Geertsema 1994:Seite?). 3. Ausgewählte empirische Untersuchungsergebnisse Insgesamt konnten wir von acht Wohnheimen durch eigene Erhebungen Daten zu folgenden Aspekten gewinnen: • Belegungsstruktur • Aufenthaltsdauer • Einkommen • Problemlagen • Wohnform vor Einzug in das Wohnheim • Einkommen bei Einzug in das Wohnheim • bauliche Gegebenheiten 3.1. Belegungsstruktur Zwei Wohnheime nehmen ausschließlich alleinstehende Männer auf. Ein Wohnheim wird für Ehepaare mit Kindern und alleinerziehende Frauen bereitgehalten. Ein Wohnheim nimmt alle Personengruppen auf. Zwei Wohnheime sind für Männer, Ehepaare und Lebensgemeinschaften. In zwei Wohnheimen werden ausschließlich Frauen aufgenommen. 3.2. Bewohnergruppen Dauerbewohner Personen mit der Bereitschaft und Fähigkeit innerhalb eines begrenzten Zeitraumes in eine eigene Wohnung zu ziehen • Personen mit psychischen Behinderung oder Erkrankungen • • 306 • • Armut und Gesundheit Personen mit körperlicher Behinderung und Erkrankungen Notaufnahme zur Erhebung des Betreuungsbedarfes 3.3. Altersstruktur und Aufenthaltsdauer In der Fachliteratur wird immer wieder darauf verwiesen, dass sich aufgrund prekärer Lebenslagen die gesundheitliche Situation mit zunehmendem Alter verschärft. Insgesamt liegen aus den acht untersuchten Wohnheimen für 350 Personen Daten zur Aufenthaltsdauer vor und für 345 Personen Daten zum Alter vor. Auffällig ist der hohe Anteil bei den Männern im Alter von fünfzig und mehr Jahren. Auch die Mehrzahl der erfassten Frauen sind in einem Alter zwischen fünfzig und mehr Jahren. Gleichzeitig ist zu vermuten, dass insbesondere ältere Bewohner zu sogenannten "Dauerbewohnern" in den Wohnheimen werden. Tabelle 2 Altersstruktur Männer Frauen Ehepaare Kindern Unter 18 18-30 Jahre 30-40 Jahre 40-50 Jahre 50-60 Jahre Über 60 Gesamt 34 46 4 131 53 268 1 6 3 13 6 7 20 6 mit alleinerziehende Frauen 9 6 10 6 3 22 34 alleinerziehende Männer 1 1 Tabelle 3 Aufenthaltsdauer Aufenthaltsdauer alleinstehende Männer alleinstehende Frauen Ehepaare Kindern bis 3 Monate bis 6 Monate bis 9 Monate bis 18 Monate 19 bis 36 Monate über 36 Monate 4 2 3 1 6 7 2 1 2 2 1 1 48 45 45 41 37 91 (16 %) (15 %) (15 %) (13 %) (12 %) (30 %) (17 %) (9 %) (13 %) ( 4 %) (26 %) (30 %) (22 %) (11 %) (22 %) (22 %) (11 %) (11 %) mit alleinerziehende Frauen 3 (30 %) 1 (10 %) 1 (10 %) 1 (10 %) 2 (20 %) 2 (20 %) 3.4. Wohnform bei Einzug in das Wohnheim und Auszug In unserer Untersuchung konnten drei Einrichtungen Aussagen über die Wohnform vor dem Einzug in das Wohnheim treffen. Von 153 Personen hatten vor Einzug in das Wohnheim 63 Personen eine eigene Wohnung. Der Wohnungsverlust ist hier nach Aussage der Fachverwaltungen oftmals die Folge von Räumungsklagen. Diese Annahme wird ebenfalls gestützt durch die hohe Anzahl der Mietschuldner in unserer Erhebung (s. Tabelle 4). Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 307 Angaben über die Wohnform vor Einzug in das Wohnheim und vorhandene Schwerpunktproblemlagen konnte eine Einrichtung geben. Demnach kamen von 110 männlichen Personen drei Personen aus Einrichtung gemäß § 72 BSHG. Aus dem Krankenhaus bzw. einer Reha-Einrichtung kamen ebenfalls drei Personen, aus der stationären Suchthilfe nochmals drei Personen und aus einer stationären Psychiatrieeinrichtung fünf Personen. Ein Vergleich mit den Angaben zu den Schwerpunktproblematiken zeigt, dass von diesen 110 männlichen Personen elf Personen eine psychische Erkrankung aufwiesen und 17 Personen psychisch auffällig waren. 13 Personen hatten eine körperliche Behinderung. 44 Personen litten an Suchtfolgeerkrankungen. Bei sieben Personen wird eine langfristige Pflege für erforderlich gehalten. 3.5. Wohnformen bei Auszug Aussagen über den Auszug bzw. Verbleib konnten fünf Einrichtungen geben, wobei eine Einrichtung für 177 Personen keine geschlechtsspezifische Differenzierung angeben konnte. Die Differenzierung nach Haushaltsstruktur sieht wie folgt aus: Von 143 alleinstehenden Männern zogen 45 Personen wieder in eine eigene Wohnung ohne Betreuung. Zwei Personen wurden in Einrichtungen gemäß § 72 BSHG vermittelt. Zwölf Personen werden in eine Rehabilitationseinrichtung, bzw. stationäre Sucht- oder Psychiatrieeinrichtung vermittelt. Lediglich zehn Personen gehen erklärtermaßen auf die Straße. Hier muss jedoch der hohe Anteil von 35 Prozent der Personen berücksichtigt werden, von denen der Folgeaufenthalt nicht bekannt ist. Ein etwas anderes Bild ergibt die Auswertung eines einzelnen Wohnheimes mit insgesamt 177 erfassten Auszügen. Hier sind 28 Personen in Einrichtungen gemäß § 72 BSHG vermittelt worden. 39 Personen zogen in eine eigene Wohnung ohne Betreuung. In 96 Fällen ist der Folgeaufenthalt nicht bekannt. Ein besonderes Problem stellt die Versorgung bei Personen mit diagnostizierter psychischer Erkrankung dar. In unserer Erhebung sind von 143 Männern elf Personen als psychisch krank eingeschätzt worden. Insgesamt wurden nur zwei Personen im Jahr 2000 in eine stationäre Psychiatrieeinrichtung vermittelt (Nouvertné 1998:49ff.). Die Vermittlung in betreute Einrichtungen mit der Zielsetzung, die individuelle Lebenssituation zu verändern und den Einzug in eigenen Wohnraum anzustreben, scheitert nach Aussage der Heimleitungen einerseits an dem Umstand, dass mit zunehmender Aufenthaltsdauer eine Überforderung durch die vorhandenen Richtlinien anderer Wohnformen entsteht bzw. kein entsprechender Veränderungswille vorhanden ist. 3.6. Einkommensquellen bei Einzug Ein wesentliches Problem für die Bereitstellung gesundheitlicher Dienstleistungen stellt die Finanzierung dieser Dienste dar. Von 268 erfassten Männern liegen für 222 Personen Daten vor. Davon verfügen 33 Personen (14,9 Prozent) über kein Einkommen. 82 Personen (36,9 Prozent) erhalten Hilfe zum Lebensunterhalt. Immerhin 26,1 Prozent der Männer erhalten Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder Rente. Sieben Personen sind zum Zeitpunkt des Einzugs im ersten Arbeitsmarkt beschäftigt. Interessant ist ein Vergleich mit den Daten über das Einkommen bei Auszug. Insgesamt liegen hier Angaben über 217 Personen vor. Hierbei können zwar nur Angaben über die allgemeine Entwicklung gegeben werden. Auffallend ist die Bedeutung arbeitsmarktpolitischer Programme als Einkommensquelle bei dem Auszug sowie der Bezug von Arbeitslosenhilfe. Leider können hier keine Aussagen 308 Armut und Gesundheit darüber getroffen werden, welche individuellen Veränderungen beim Einkommen zum Auszug geführt haben. Allgemein lässt sich feststellen, dass als Einkommensquelle Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Einkommen in Folge arbeitsmarktpolitischer Programme, Rente und Einkommen auf dem ersten Arbeitsmarkt zunehmen und die Bedeutung von Hilfe zum Lebensunterhalt beim Auszug abnimmt. 4. Hilfestellungen und Zielsetzungen für Bewohnergruppen Konzepte einer gesundheitlichen Versorgung in Wohnheimen müssen sich insbesondere an Schwerpunktproblemlagen orientieren. Für unsere Studie konnten von drei Einrichtungen für insgesamt 403 Personen Daten ausgewertet werden. Daraus ergibt sich folgendes Bild: Tabelle 4 Schwerpunktproblemlagen Alkohol Drogen Suchtfogekrankheiten Hauterkrankungen HerzKreislauferkrankungen körperliche Behinderungen psychisch auffällig psychisch krank Mietschulden arbeitslos über 1 Jahr Wiederverlust der eigenen Wohnung langfristige Pflege erforderlich Männer/ Frauen 264 65 44 137 6 Ehepaare alleinerziehende Frauen 1 alleinerziehende Männer 43 44 99 247 110 33 22 22 3 14 14 1 1 65 In Gesprächen mit Heimleitungen wurde insbesondere auf den schlechten allgemeinen Gesundheitszustand vieler Bewohner hingewiesen. Für Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen wurden in einem Wohnheim Einzelzimmer mit jeweils eigenem Hygieneraum in einer Wohngruppe eingerichtet. Die Pflege und Versorgung erfolgt jedoch nicht durch hausinternes Personal, sondern nur in Abstimmung mit den Fachkräften einer Sozialstation. Ein Hauptproblem stellt die gesundheitliche Versorgung von Dauerbewohnern dar. Hier ist in der Regel eine langfristige Pflege erforderlich. Eine Einrichtung beabsichtigt daher die Schaffung einer Wohngruppe für Pflegebedürftige mit dazugehörigen Behandlungsräumen und die Schaffung einer Planstelle für eine Pflegekraft. Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 309 4.1. Vernetzung mit ambulanten Hilfesystemen Die Vernetzung der Hilfesysteme wird vielfach als Allheilmittel zur Verbesserung der Hilfsangebote für wohnungslose Menschen angesehen. Erfahrungen aus der Praxis sowie die Ergebnisse unserer Untersuchung belegen jedoch, dass die Angebote der allgemeinen Beratungs- und Hilfsdienste wie Suchtberatungsstellen, Sozialstationen, Sozialpsychiatrischer Dienst etc. vielmals nicht oder nur selten in Anspruch genommen werden. So werden in der Mehrzahl der Einrichtungen die Sucht- und Schuldenberatungsstellen eher selten aufgesucht, obwohl Suchtprobleme und Mietschulden in der Häufigkeit im Vordergrund stehen. Hierbei ist zu vermuten, dass mit den bestehenden therapeutischen Angeboten wohnungslose Personen mit ihrer psychosozialen Situation nicht erreicht werden. Die Gründe für die geringe Inanspruchnahme der ambulanten Beratungsdienste ist sicherlich auch darin zu sehen, dass wohnungslose Personen in den therapeutischen Gesprächskreisen kaum Anknüpfungspunkte zu ihren Erfahrungen finden. Tabelle 5 Inanspruchnahme von Beratungsstellen und Diensten: Sucht- Schulden- Mieter- Sozialberatung beratung beratung psychiatrischer Dienst Anzahl Anzahl Anzahl Anzahl häufig 1 2 2 4 selten 6 6 1 3 nicht 1 0 5 1 Abschließend lässt sich festhalten, dass die gesundheitliche Versorgung in besonderem Maße folgende Aspekte berücksichtigen muss: • Suchtproblematik • psychische Erkrankungen • chronische Erkrankungen • Notwendigkeit der langfristigen Pflege • psychosoziale Problemlagen • Angebot bei Mehrfachproblemlagen • Demotivation • Antriebsschwäche • Widerstand gegen therapeutische Maßnahmen • Defizite in der Körperhygiene und der Zimmersauberkeit • hoher Betreuungsbedarf • Pflegebedürftigkeit • Entgegenwirkung von Verwahrlosungstendenzen • Förderung der Kooperationsbereitschaft durch tagesstrukturierende Angebote als Motivationsangebote • Einbindung der Bewohner in die konzeptionelle Ausrichtung des Wohnheimes • Stabilisierung des Selbstwertgefühls durch Eingliederung in "geschützte Arbeitsstrukturen" 310 Armut und Gesundheit 5. Exemplarische Darstellung der baulichen Gegebenheiten Auch bauliche Gegebenheiten können die Gesundheit positiv oder negativ beeinflussen. Als Wohnform für Wohnungslose untersuchten wir kommunale Wohnheime. Wir nahmen uns für die Präsentation zwei Beispiele vor, bei denen wir von einer eher positiven Wirkung des Gebäudes auf das Wohlbefinden ausgehen. Dabei handelt es sich um ein kommunales Wohnheim in Berlin-Kreuzberg in der Schlesischen Straße und ein Wohnheim in Berlin-Reinickendorf, Kopenhagener Straße. Das kommunale Wohnheim in Kreuzberg wurde 1996 saniert und umgebaut. Der Neubauriegel steht auf Stützen, kehrt die Schmalseite zur Straße und schließt mit der Traufhöhe des Nachbargebäudes ab. Dort befinden sich Ein- bis Vier-Bettzimmer, welche durch einen beidseitig verglasten Flur erschlossen werden, der parallel zur Brandwand läuft . Mittig befindet sich eine Sanitäreinheit und das großzügig verglaste Treppenhaus. Die Besonderheit der Zimmer besteht darin, dass die Zwei-Bettzimmer mit Hilfe einer verschiebbaren Trennwand zu Vier-Bettzimmern zusammenschaltbar sind. Im Erdgeschoss ist direkt an den Altbaukörper eine eingeschossige Erweiterung um Küche, Essbereich, Eingangsbereich und Verwaltung angefügt. Innerhalb des Gebäudes gibt es viel Transparenz, die wir für gesundheitsförderlich halten, weil sie es den Menschen ermöglicht, teilzunehmen am gemeinschaftlichen Leben, ohne selbst zu sehr aktiv werden zu müssen. Transparenz wird in diesem Wohnheim tatsächlich auch durch transparente Flächen erreicht: Einblicke in Speisesaal und Küche und Eingangsbereich, Ausblicke zur Straße und in die Freibereiche, verglaste Gemeinschaftsbereiche im umgebauten Altbau, Blicke vom Neubautrakt auf den Altbautrakt (das Gebäude beschaut sich selbst), Durchblicke innerhalb des Gebäudes aufgrund großzügiger Fluraufweitungen. Kommunikationsmöglichkeiten sind ebenso gesundheitsfördernd wie die vorher erwähnte Transparenz. Diesen Ansprüchen hat der Architekt durch die Gestaltung der Aufenthaltsbereiche selbst und die Gestaltung der Verkehrswege Rechnung getragen. Diese bieten gerade im Behindertenbereich des Gebäudes genügend Aufenthaltsflächen vor den Zimmern und lassen "zufällige" Kommunikationsmöglichkeiten entstehen. Auch die Orientierungsmöglichkeiten im Gebäude sind dem Wohlbefinden zuträglich. In der Schlesischen Straße ist dies befriedigend gelöst. Am Standort Schlesische Straße ist die Anbindung an den Wrangelkiez als positiv zu bewerten. Auch bei eventuellem Einzug in eine eigene Wohnung ist man in den Bezirk durch bleibende soziale Kontakte und niederschwellige Angebote eingebunden. Die Kopenhagener Straße ist ein Neubau aus dem Jahr 1986. Die Baukörper sind aufgegliedert in drei miteinander verbundene dreigeschossige Einheiten. Zentraler Ort ist auf jeder Etage die Küche mit verglastem Essbereich. An die Einzel- und Zweibettzimmer ist jeweils direkt eine Sanitäreinheit angegliedert. Das entspricht etwa acht Personen pro Etage, die von einem Sozialarbeiter betreut werden. Das Wohngruppenkonzept der Heimleitung wurde hiermit baulich umgesetzt. Der Sozialarbeiter hat sein Zimmer direkt auf der Etage. Transparenz und gute Orientierungsmöglichkeiten sind hier vorhanden auf Grund des kompakten, klaren Grundrisses. Kommunikationsmöglichkeiten sind zum einen auf Grund der gruppeninternen Essbereiche vorhanden, zum anderen auf Grund der großzügigen Fluraufweitungen, die Lichteinfall über die Essbereiche haben. Im Vergleich zu Kreuzberg jedoch fehlt die Anbindung an die Umgebung im Sinne von Kiez. Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 311 Da im Bezirk Reinickendorf nur noch eine niederschwellige Einrichtung mit einem Tagesangebot für wohnungslose Frauen und Arme vorhanden sind, ist bei Auszug der Klienten eher eine Vereinsamung und der Abbruch sozialer Kontakte zu befürchten. Literatur: Leibfried, S.; Pierson, P. (Hg.) [2000]: Der deutsche Sozialstaat. Bilanzen – Reformen – Perspektiven. Frankfurt a.M./New York. Nouvertné, K.G. [1998]: Wer sind die psychisch kranken Obdachlosen? In: Materialien zur Wohnungslosenhilfe, Heft 37. Bielefeld. Ruder, K.-H. [1999]: Polizei- und ordnungsrechtliche Unterbringung von Obdachlosen Baden-Baden Ruhstrat, E.-U.; Busch-Geertsema, V. [1994]: Wohnungsnotfälle, Sicherung der Wohnungsversorgung für wirtschaftlich oder sozial benachteiligte Haushalte. Bonn Senatsverwaltung Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz (Hg.): Statistischer Bericht über Empfänger und Leistungen im Bereich Soziales. Ref. II A, Quantitative Methoden, Gesundheitsberichterstattung, Epidemiologie, Gesundheits- und Sozialinfrastruktursysteme. Berlin. Motivationsarbeit mit suchtkranken Wohnungslosen Ein Modellprojekt der Tagesstätte „Am Wassertor“ des Diakonischen Werkes Berlin Stadtmitte e. V. Ulrich Liedholz, Albert Nägele „Du darfst aber auch nicht mit ungewohnten, unerhörten Worten auf Leute einhämmern wollen, bei denen dies doch keinen Eindruck hinterläßt, weil sie ganz anders denken. Nein, auf einem Umweg mußt du vorgehen und mußt dich bemühen, alle Dinge, soweit dies an dir liegt, zweckmäßig zu erledigen und das, was du nicht in etwas Gutes verwandeln kannst, doch mindestens so gestalten, wie es am wenigsten schlecht ist.“ Thomas Morus „Utopia“ (1516) Im Jahre 1997 wurden auf Anregung des Bezirksamtes Berlin-Kreuzberg sowohl für die Wohnungslosen-Tagesstätte „Am Wassertor“ (50 Plätze) als auch für die zufällig im gleichen Haus befindliche Beratungsstelle für Alkoholkranke und Medikamentenabhängige neue Konzeptionen entwickelt. Der Gedanke war, die beiden Einrichtungen, die sich in Trägerschaft des Diakonischen Werkes Berlin Stadtmitte e. V. befinden, nicht mehr als getrennte und nebeneinander fungierende Hilfesysteme zu verstehen, sondern diese Einrichtungen inhaltlich und personell miteinander zu vernetzen. Somit wurde die bis dahin existierende paradoxe Situation aufgehoben, dass zwei Hilfesysteme im gleichen Haus trotz gemeinsamen Klientels ohne inhaltliche Verknüpfung neben einander her arbeiteten. 312 Armut und Gesundheit Bis zu diesem Zeitpunkt wurde der Alkoholkonsum in der Tagesstätte von den Sozialarbeitern weitgehend toleriert oder schlicht ignoriert. Das Ziel der Einflussnahme war, wenn überhaupt, eine „sozialverträgliche“ Reduktion der Trinkmenge, jedoch nicht eine ernsthafte Auseinandersetzung oder gar Behandlung der Alkoholkrankheit. Aus Hilflosigkeit wurden einzelne Klienten auf das bestehende Suchthilfesystem verwiesen, das sie jedoch nie für sich wirklich in Anspruch nehmen konnten oder wollten. Die Alkoholabhängigkeit aber stellte den Erfolg der täglichen Arbeit immer wieder in Frage. Obwohl die Wohnungslosenhilfe und die Suchtkrankenhilfe zum Großteil ein identisches Klientel haben, die Untersuchungen der letzten Jahrzehnte sprechen im Durchschnitt von rund 65 %, haben sie sich unterschiedlich entwickelt. Während sich die Wohnungslosenhilfe vor allem mit Armut und Verelendungsprozessen auseinandersetzt und eine äußere Hilfe für die Betroffenen anstrebt, hat es in der Suchtkrankenhilfe eine Individualisierung und Therapeutisierung gegeben, die vor allem auf innere Hilfe setzt. Schaut man sich die Wohnungslosenhilfe heute an, so leugnet diese oftmals den Alkoholismus ihres Klientels und macht sich mitunter die Erklärungsmuster der Betroffen („Das Leben auf der Straße ist ja nur mit 3,8 Promille im Turm auszuhalten.“) zu eigen. Dabei wird häufig übersehen, dass der Alkohol bereits vor dem Eintritt der Wohnungslosigkeit eine erhebliche Rolle im Leben der Betroffenen spielte, womöglich sogar der Hauptgrund für die Wohnungslosigkeit ist. Auf der anderen Seite ist die Suchtkrankenhilfe heutzutage vorwiegend mittelschichtsorientiert. Überspitzt formuliert: Nur wer einen klaren Veränderungswillen möglichst differenziert verbalisieren kann, findet Zugang zum Angebot der therapieorientierten Suchtkrankenhilfe. Für alle anderen ist die Schwelle zu hoch. Das spezialisierte Angebot der Suchtkrankenhilfe ist in aller Regel nicht kompatibel mit den Kompetenzen eines Wohnungslosen. Er fällt schlicht durch den Rost. Aber auch Obdachlose sind alkoholkrank, auch sie haben einen Anspruch auf qualifizierte Hilfe. In unserem Modellprojekt wurde nun ein Sozialarbeiter der Beratungsstelle mit dem Arbeitsschwerpunkt Motivationsarbeit mit suchtkranken Obdachlosen in die Tagesstätte integriert. Er stellt das personelle Bindeglied zwischen den beiden Einrichtungen dar. Wesentlich ist dabei, dass sich der Berater den Besuchern im alltäglichen Betrieb der Tagesstätte bekannt macht. Schwellenängste werden dadurch abgebaut. Die Klienten können dann in der Tagesstätte dort abholt werden, wo sie sich in ihrer psychosomatischen Verelendung und sozialen Desorientierung momentan befinden. Dadurch wird eine Anbindung an die Beratungsstelle erst möglich. Für unsere konkrete Motivationsarbeit mit alkoholkranken Obdachlosen in der Tagesstätte „Am Wassertor“ haben wir die folgenden neun Schritte beschrieben, deren Inhalt wir jeweils mit einigen Stichpunkten andeuten. 1. Kontaktarbeit in der Tagesstätte • Präsens in der Tagesstätte • Zugehen auf Besucher • Kontaktaufnahme • Näheres Kennenlernen 2. Stabilisierung des Ist-Zustandes • Verhinderung einer weiteren Verelendung • Versorgung mit Essen und Kleidung Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser • • • • Hygiene Medizinische Versorgung Sicherung der materiellen Lebensgrundlage Unterbringung 3. Aufbau einer Arbeitsbeziehung zu einzelnen Besuchern • Vermittlung von Akzeptanz • Misstrauen abbauen • Vertrauen aufbauen • Stabilität und Zuverlässigkeit von seiten des Betreuers gewährleisten • Regelmäßige Gespräche • Vertiefung der Beziehung • Hilfestellung bei der Bewältigung konkreter Probleme • Abklärung des Lebenskontextes 4. Sucht zum Thema machen • Aufklärung über Sucht und Suchtentwicklung • Vorstellen des Krankheitsverlaufs nach Jellinek • In welcher Phase der Krankheit befindet sich der Klient? • Was ist der Kontrollverlust? • Sucht und Gesellschaft • Alkohol als Genuss- und Suchtmittel • Sucht als Krankheit • Einsatz von Medien (Videofilme, Broschüren, Bücher etc.) • Hinweise auf Hilfsangebote 5. Konfrontation mit dem Suchtverhalten • Deutliche Hinweise auf eingetretene Folgeschäden des Alkoholkonsums im seelischen, geistigen, körperlichen, sozialen und ökonomischen Bereich • Problematisieren von aggressivem Verhalten • Herausfinden der realen Trinkmenge • Entgegentreten bei Verharmlosung und Verleugnung • Verarbeiten des Erkenntnisschocks 6. Motivationsanalyse • Was will der Klient? • Wie sieht er seine Lebenssituation? • Wie steht er zu seiner Suchterkrankung? • Wie groß ist der Leidensdruck? • Existiert ein Hilfewunsch? • Anamnese der Suchterkrankung • Analyse der Suchtstruktur • Bedeutung des Alkohols im jetzigen Lebenskontext des Klienten • Lebensziele des Klienten • Erwartungen an ein suchtmittelfreies Leben 313 314 Armut und Gesundheit • • Umgang mit Frustrationen Umgang mit seelischem Schmerz 7. Ausloten der Veränderungsbereitschaft • Was will der Klient verändern? • Was will er auf keinen Fall verändern? • Welche realistischen Möglichkeiten der Veränderung gibt es? • Welche Ängste hat der Klient vor Veränderungen? • Angstabbau • Bearbeitung der Abwehrstruktur • Aufbau einer realistischen Sichtweise des Lebens • Ansprechen und Aufdecken von Scheinlösungen • Thematisierung der bisher gescheiterten Lebensversuche • Bewusstmachung des Verelendungsprozesses • Vermittlung von Krankheitseinsicht • Ressourcenanalyse • Erstellung eines Hilfeplans 8. Begleitung der ersten Veränderungsschritte • Anpassung des Hilfeplans an die aktuelle Situation • Ummünzen von Rückschlägen in einen Veränderungsschub • Krisenintervention • Rückfallprophylaxe • Veränderung von Einstellung und Verhalten • Koordination einer Behandlungskette • Kontakte zur Suchtberatungsstelle • Einleitung einer Entgiftungsbehandlung • Kontakte zu Selbsthilfegruppen • Beantragung einer Alkoholentwöhnungsbehandlung • Einbeziehung des sozialen Umfeldes 9. Integration in das Hilfesystem Sucht • Feste Anbindung des Klienten an das etablierte Suchthilfesystem • Auswertung des gemeinsamen Arbeitsprozesses • Klärung der weiteren Perspektiven • Ablösung des Klienten vom Betreuer der Tagesstätte • Loser Nachsorgekontakt, Besuche im neuen Umfeld (etwa 6 Monate) Wir haben die oben beschriebenen Schritte in dem nun folgenden Schaubild dargestellt. Es beschreibt auch den Weg derjenigen Klienten, die nicht das gesamte Motivationsprogramm durchlaufen, sondern dann ausscheren, wenn es wirklich ernst wird, wenn konkrete Veränderungen anstehen. Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 315 Auch zu diesen Klienten besteht weiterhin Kontakt. Wir versuchen dann, suchtbegleitend tätig zu werden und den Klienten und seine persönliche Situation, soweit es uns möglich ist, zu stabilisieren und ein weiteres Abrutschen in die Verelendung zu verhindern. 316 Armut und Gesundheit Im Laufe der Arbeit sind die Mitarbeiter von Tagesstätte und Beratungsstelle zu einem Team zusammen gewachsen. Insbesondere in der Tagesstätte hat sich ein ganz neues Verständnis der Zusammenhänge von Wohnungslosigkeit und Suchtmittelabhängigkeit entwickelt. Die Beratungsstelle wiederum hat sich für die spezielle Problematik suchtkranker Obdachloser geöffnet. Die gemeinsamen Erfahrungen haben zu einer übergreifenden Sichtweise des Problems geführt und die Arbeitsweisen der beiden Einrichtungen neu geprägt und bereichert. Im Zeitraum von Januar 1998 bis Dezember 2000 entwickelte sich zu 61 Personen (davon acht Frauen) eine intensive Arbeitsbeziehung. Das durchschnittliche Alter der Klienten betrug 43 Jahre. Der älteste Klient war 71, der jüngste 27 Jahre alt. Diese Zahlen geben nur so etwas wie die Spitze des Eisberges wieder. Unberücksichtigt geblieben sind die unzähligen Kontaktbemühungen und Motivationsgespräche in der Tagesstätte, die zunächst ohne Auswirkungen geblieben sind, weil die Arbeitsbeziehungen einseitig von den Klienten abgebrochen wurden. 25 Wohnungslose konnten in eine stationäre Entgiftungsbehandlung vermittelt werden, sechzehn in eine Langzeittherapie. Fünfzehn Klienten wurden im Betreuten Einzelwohnen untergebracht, neun in einer Therapeutischen Wohngemeinschaft (Mehrfachnennungen möglich). Die Vermittlungen spiegeln einen zum Teil sehr intensiven und problematischen Arbeitsprozess wider, der durch viele Rückschläge und Beziehungsabbrüche gekennzeichnet war. Oft mussten wir feststellen, dass gerade dann, wenn es nach einer intensiven Betreuungsphase gelungen war, erste wirkliche Fortschritte zu erreichen, wenn sozusagen ein wenig Licht am Ende des Tunnels sichtbar wurde, der Klient wieder rückfällig wurde, die Arbeitsbeziehung zeitweise oder sogar ganz abbrach und wieder verelendete oder in einer anderen Berliner Tagesstätte Unterschlupf suchte. Das war für die beteiligten Mitarbeiter, die sich oft mit viel Engagement um den entsprechenden Klienten gekümmert hatten, nicht immer leicht zu verkraften. Die Süchtigen (miss)brauchen ihr Suchtmittel in der Regel dazu, dass es ihnen schlecht geht, und nicht dazu, wie sie oft vorgeben, dass es ihnen besser oder gut geht. Denn es würde das alte vertraute Gefühlselend, das ihnen als Heimat Sicherheit gibt, in Frage stellen. Das Schlechtgehen, die miserablen, scheinbar unerträglichen Gefühle sind es, die ihr Ich in dieser Welt stabilisieren. Und die Stabilität des eigenen Ichs ist für Menschen das höchste Gut. Diese dem Klienten nicht bewussten Zusammenhänge haben wir als die innere Sisyphusarbeit des Süchtigen bezeichnet. Die Ergebnisse unserer Arbeit machen Mut, nach unkonventionellen Wegen für bisher bekannte, aber nur selten angegangene Probleme zu suchen. Wünschenswert wäre es unseres Erachtens, zukünftig eine engere Kooperation zwischen Suchtberatung und Wohnungslosenhilfe zu installieren. Ein erster Schritt könnte dabei eine suchtspezifische Schulung für Mitarbeiter aus diesem Tätigkeitsbereich sein. Daran anschließend wäre eine regelmäßige Supervision dieser Mitarbeiter durch Suchtfachleute sinnvoll. In einem weiteren Schritt könnte die Etablierung von Suchtberatern in Projekten der Wohnungslosenhilfe angezeigt sein. Wir betrachten die Motivationsarbeit mit alkoholkranken Obdachlosen mittlerweile als einen wichtigen Baustein in der sozialpsychiatrischen Versorgungsstruktur des Bezirkes Friedrichshain-Kreuzberg und auch innerhalb Berlins, wo nach unseren Kenntnissen kein vergleichbares Projekt existiert. Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 317 Zur Praxis niedrigschwelliger Betreuung für chronisch psychisch und suchtkranke Wohnungslose Jan Basche Mein Beitrag ist in drei Abschnitte gegliedert: Erstens werde ich einige Aspekte der besonderen Problematik chronisch psychisch und suchtkranker Wohnungsloser ansprechen – also die Klientenseite beleuchten. Zweitens werde ich versuchen, einen kurzen Überblick über die in Berlin derzeit bestehenden und mit dieser Klientel arbeitenden Strukturen zu geben – also die Helferseite vorstellen. Und drittens (und vordringlich) möchte ich auf einige ausgesuchte Probleme der unmittelbaren Betreuungsarbeit eingehen – also zum spannenden Feld der Interaktion zwischen Klienten und Helfern Stellung nehmen. 1. Sicherlich gibt es unter den vielfältigen Gründen für Wohnungslosigkeit bzw. Wohnungsnotfälle auch gesellschaftliche. Wenn es jetzt zunächst um die Klienten gehen soll, stehen allerdings unmittelbar personale Gründe im Vordergrund, also die Kompetenzen und Defizite der einzelnen Menschen, soziale Bindungen zu halten, Konflikte in rechtlich unbedenklicher Form zu lösen, geistigen oder körperlichen Anforderungen zu genügen – wobei mir durchaus klar ist, dass die jeweiligen Anforderungen weitgehend gesellschaftlich definiert sind. Suchtmittelabhängigkeit, allgemeinpsychiatrische Erkrankungen und Vernachlässigungstendenzen verstärken diese Problematik. Häufig treten hier soziale Deprivation und Benachteiligung durch ungünstige familiäre Ausgangsbedingungen, Defizite in der schulischen und beruflichen Bildung, körperliche Verwahrlosung mit somatischen Folgeschäden und ein hohes Aggressionspotenzial in einer von Gewalt geprägten Umgebung zusammen auf. Dabei erschweren die Vielfalt der Störungsbereiche und die gegenüber dem professionellen Hilfesystem – um es vorsichtig auszudrücken – oft sehr distanzierte Haltung die Bestimmung des individuellen Hilfebedarfs und damit eine sinnvolle Begründung des im § 46 BSHG geforderten Gesamtplans. Zunächst ist es auch gar nicht so leicht, die Gruppe der chronisch psychisch und suchtkranken Wohnungslosen strukturell zu erfassen. Viele Menschen, die seit Jahren in Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe oder der sozialpsychiatrischen Hilfe leben und wie selbstverständlich weiter als Wohnungslose bezeichnet werden, sind es in einer engen Auslegung des Begriffs pragmatisch gar nicht mehr. Bekanntermaßen gibt es bisher noch keine international akzeptierte und operationalisierte Definition von Wohnungslosigkeit in der sozialpsychiatrischen Forschung. Weitgehend akzeptiert ist allerdings, dass Wohnungslosigkeit das untere Ende eines Kontinuums verschiedener Wohnmöglichkeiten darstellt und in der Interpretation an die jeweils vorhandenen materiellen Ressourcen gebunden ist. Allgemein werden drei Gruppen unterschieden: Menschen, die auf der Straße leben; Menschen, die in Unterkünften oder sonstigen Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe leben; Menschen, die vorübergehend z.B. bei Freunden unterkommen – wobei die Gruppe der auf der Straße Lebenden wissenschaftlich am besten erforscht ist. Die folgenden Angaben sind im Heft 43 der verdienstvollen Materialien zur Wohnungslosenhilfe nachzulesen (Materialien 2000). 318 Armut und Gesundheit In mehreren voneinander unabhängigen Studien aus den Neunziger Jahren wurden in Deutschland, Spanien und den USA beinahe identische Werte zur Häufigkeit einer vorausgegangenen psychiatrischen Hospitalisierung bei Wohnungslosen festgestellt, nämlich rund 25 Prozent. Auch die Werte zu den Prävalenzraten psychischer Erkrankungen ähneln sich – zumindest in den validierten Untersuchungen – sehr. Sie liegen unter Einschluss der Suchterkrankungen beinahe überall um rund siebzig Prozent, im manifest psychiatrischen Bereich bei rund zwanzig Prozent, wobei Doppeldiagnosen überwiegen.22 In großstädtischen Ballungsräumen wird der Anteil der Frauen an der Gesamtgruppe auf rund 15-20% geschätzt. Für Berlin geht der sogenannte Obdachlosenrahmenplan von einem Sockel von etwa 10.000 Wohnungslosen aus (vgl. Abgeordnetenhaus 1997). – Soweit die Empirie. Nun hat die beschriebene Klientel z.T. sehr spezifische Bedarfe, aus denen sich selbst in der hochausdifferenzierten Berliner Versorgungslandschaft Hilfedefizite ergeben, die ich gleich vorstellen werde. Zuvor aber noch einige Anmerkungen zum Hilfesystem selbst. 2. Die Helferseite gliedert sich wesentlich in drei große Teilsysteme: die Wohnungsnotfallhilfe, die sozialpsychiatrische Hilfe und die Suchthilfe. In diesem sehr ungleichseitigen Dreieck sind die chronisch psychisch und suchtkranken Wohnungslosen unterwegs, und jedes Teilsystem hat seine eigenen Forderungen, die die Hilfesuchenden bzw. Hilfebedürftigen in ihr Überlebensprogramm einbauen müssen. Dabei ist zu beobachten, dass die zunehmende Funktionalisierung des Systems auch zu offensichtlichen Überforderungen führt und die Betroffenen zurück in Unterkünfte fliehen lässt, in denen ihre Mindestbedürfnisse befriedigt und sie ansonsten in Ruhe gelassen werden. Die Wohnungsnotfallhilfe als in den meisten Fällen erster Berührungspunkt der Klientel zu den professionellen Akteuren zeigt ein weitgespanntes Spektrum von der mobilen Straßensozialarbeit und den Kältestuben bis hin zur teuren Kriseneinrichtung nach § 72 BSHG (Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten). Dabei hat diese Hilfe internen Nachrang, d.h. sie wird im Regelfall erst dann gewährt, wenn keine anderen Hilfen in Frage kommen.23 Das wird in den Fällen zum Problem, wenn Klienten zwar nach Einschätzung des zuständigen Fachdienstes z.B. eine Hilfe nach § 39 BSHG (Eingliederungshilfe) brauchen, dort aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht ankommen. Andererseits wird diese Hilfe ausdrücklich "ohne Rücksicht auf Einkommen und Vermögen" gewährt, was von langwierigen Prüfungen entlastet. Weitere Probleme sind hier die durchaus noch übliche Praxis von Kostenträgern, in ihren Verwaltungsvorschriften die Hilfegewährung auf höchstens 18 Monate zu befristen, obwohl derartige absolute Zeitgrenzen mit dem Gesetz unvereinbar sind, und vor allem die fehlende bezirksübergreifende Steuerung. Trotzdem ist es in diesem Bereich gewissermaßen aus aktiver Selbsthilfe in vielen Fällen zum planerisch nicht vorgesehenen Aufbau sozialpsychiatrischer Kompetenz gekommen. Diese wird zwar weder überprüft noch vergütet, 22Das deckt sich mit einer aktuellen internen Erhebung, die mir freundlicherweise vom Wohnheim Teupitzer Straße zur Verfügung gestellt wurde und bei einem Sample von 112 Bewohnern eine identische Verteilung aufweist. 23Wobei klar ist, daß es fehlerhaft wäre anzunehmen, bereits die rechtliche Möglichkeit eines anderen Anspruchs schließe die Leistungsverpflichtung nach § 72 BSHG aus. Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 319 und ihre stillschweigende Inanspruchnahme führt – schon aufgrund des auch zeitlich erhöhten Anforderungsprofils – in vielen Fällen zur Überforderung der Mitarbeiter, ermöglicht jedoch bereits hier eine wenigstens vorübergehende sozialpsychiatrische Betreuung. Die sozialpsychiatrischen Hilfen selber decken ebenfalls ein weites Spektrum ab, von dem die Betreuung Wohnungsloser nur einen sehr geringen, wenngleich besonders herausfordernden Teil ausmacht. Dabei hat dieses Hilfesystem u.a. aufgrund seines regelmäßig höheren Betreuungsschlüssels den Vorteil, die im § 72 BSHG definierten Aufgaben sozusagen mit nebenher erledigen und differenzierte Angebote in die einzelnen Hilfebedarfsgruppen tragen zu können. So gelingt der Weg aus der sozialpsychiatrischen Hilfe in die Wohnungsnotfallhilfe strukturell leichter als umgekehrt, indem es z.B. kein Problem ist, in den – meist zu recht – heftig kritisierten gewerblichen Unterkünften den Leistungstyp Betreutes Einzelwohnen nach § 39 BSHG anzubieten. Auch hier gibt es gute Ansätze, beide Hilfen einander näher zu bringen, etwa in niedrigschwelligen Einrichtungen der GEBEWO in Pankow, von PROWO in Kreuzberg und von VIA in Neukölln. Problematisch ist allerdings eine Entwicklung, die bisher am prominentesten von Klaus Nouvertné ausgesprochen wurde. Sie besagt im Kern, dass die viel zu vielen wohnungslosen psychisch Kranken paradoxerweise auch eine Folge der liberalen Psychiatriepolitik der letzten Jahre sein könnten, die in einer natürlich unbeabsichtigten Konsequenz letztlich stationäre Patienten "auf die Straße entlassen hat" (so auch der Titel eines 1996 vom Bonner Institut für kommunale Psychiatrie veröffentlichten, leider derzeit vergriffenen Buches, an dem er maßgeblich beteiligt war). Hier wurde, so Nouvertné, weitgehend versäumt, sich ausreichend und rechtzeitig um den Aufbau wirklich den spezifischen Hilfebedarfen angemessener komplementärer Strukturen zu kümmern. Unter dem Eindruck steigenden Kostendrucks im Gesundheits- und Sozialwesen und einer zunehmend undifferenzierten Sparpolitik der öffentlichen Hand ist in absehbarer Zeit leider nicht mit einer Besserung zu rechnen. Ich werde mich nachfolgend weiter auf die Schnittstelle zwischen sozialpsychiatrischer und Wohnungsnotfallhilfe konzentrieren, da mir dort die größten Schwierigkeiten zu bestehen scheinen. Diese scheinen allerdings zum größten Teil hausgemacht. Durch Zufall las ich kürzlich im 33. Heft der bereits erwähnten Materialien zur Wohnungslosenhilfe noch einmal die übrigens sehr engagierte, von unmittelbarer Praxisnähe geprägte Arbeit zweier junger Autoren zum Lebensweltkonzept, wo schon in der ersten konzeptionellen Aussage eine Abgrenzung zum (in Anführungsstriche gesetzten) therapeutischen Ansatz der sozialpsychiatrisch arbeitenden Organisationen vorgenommen wurde. Gleichzeitig waren jedoch alle vorgeschlagenen konkreten Maßnahmen derart nahe an der Sprache des in Berlin gültigen Behandlungs- und Rehabilitationsplans für die Eingliederungshilfe nach § 39 BSHG, dass man fast schon wieder hätte lachen mögen. Mir scheint hier exemplarisch eine Einstellung sichtbar, die nach meiner Einschätzung weite Strecken der Berliner Versorgungslandschaft prägt und die Kooperation der in den verschiedenen Hilfeformen Tätigen erheblich erschwert, nämlich eine teilweise groteske antipsychiatrische Grundhaltung vieler Kollegen der unmittelbaren Wohnungsnotfallhilfe. Mir ist klar, dass Abgrenzungsphänomene normaler Bestandteil jeder Selbstbeschreibung sind, zumal wenn sie in einem derart selbstreflexiven Milieu wie dem klassisch-sozialarbeiterischen stattfinden. Ich habe jedoch vielfach erlebt, dass die eigene 320 Armut und Gesundheit Identitätsverstärkung, sozusagen der funktionelle Gewinn solcher Abgrenzungsmechanismen, um den Preis eines gefährlichen Sprachspiels entsteht. So wird etwa dem sozialpsychiatrischen Hilfesystem immer wieder vorgeworfen, die dort angebotenen (und sinnvollerweise tatsächlich oft auch verpflichtenden) Hilfen würden von den eigenen Klienten (d.h. den unmittelbar von der Wohnungsnotfallhilfe Betreuten) strikt abgelehnt. Dabei müsste allen Beteiligten klar sein, dass das sozialarbeiterische Instrumentarium strukturell beschränkt und daher in allen niedrigschwellig arbeitenden Einrichtungen mehr oder weniger identisch ist24: Mein Eindruck ist, dass hier über 25 Jahre engagierter Arbeit seit der Psychiatrie-Enquête ignoriert werden, dass immer noch das Schreckgespenst einer entmündigenden, gewalttätigen Psychiatrie beschworen wird, die es so ganz überwiegend nicht mehr gibt, ja dass bestehende Vorurteile auf Seiten der Klientel sogar noch verstärkt werden. Immer noch werden viel zu oft sozialpsychiatrische Hilfen von Jenen am wortreichsten stigmatisiert, die sie in ihrem unmittelbaren Arbeitsumfeld doch eigentlich am Nötigsten brauchen. Abgesehen davon hat natürlich jedes Teilsystem seine Partikularinteressen, die es verfolgt, solange es nicht zu Alternativen gezwungen wird. Dieser Zwang kann auch aus der Einsicht entstehen, dass manche Probleme nur über eine – wenigstens vorübergehende – Kooperation zu lösen sind. Und hier bin ich wieder beim vorhin kurz erwähnten Thema der Hilfedefizite. Eine Umfrage des Paritätischen Landesverbandes Berlin vom November 2001, die allerdings keinen Anspruch auf wissenschaftliche Validation erhebt, hat einen interessanten Rücklauf von den angeschriebenen Trägern der sozialpsychiatrischen und Wohnungsnotfallhilfe ergeben. Als unter- oder fehlversorgt wurden insbesondere beschrieben: Klienten ohne Krankheitseinsicht, die z.B. Medikation ablehnen Klienten mit einem sehr hohen Betreuungsbedarf, die aber nicht in Heimen leben können Klienten, die weiter (unbegrenzt) Drogen nehmen wollen Klienten, die anonym bleiben wollen Klienten, die eine kurzfristige intensive Krisenbegleitung brauchen. Forderungen, die sich daraus für die Helferseite ergeben, sind: unmittelbar ein erhöhter Fortbildungsbedarf, der mit den vorhandenen Angeboten kaum abgedeckt wird ggf. flexiblere Zeitkontingente für den Bereich nach § 72 BSHG mehr niedrigschwellige Wohnformen mit hoher Betreuungsdichte Trägerschaften für alternative Wohnformen (z.B. Wagenburgen) gemeinsame (und nicht zwangsläufig additiv finanzierte) Umsetzung von Hilfen nach §§ 39 und 72 BSHG unter einem Dach 24Wer sich etwa die Durchführungsverordnung zum § 72 BSHG genau ansieht, wird diese Parallelen sofort bemerken. Auch der oft zu hörende Vorwurf der zu langen Vorlaufzeiten verliert an Brisanz, wenn man ihm die im Notfall sehr rasch organisierte und darüberhinaus bemerkenswert transparente bezirkliche Steuerung der Belegung im Bereich der Hilfen nach § 39 BSHG gegenüberstellt, die im Vergleich mit der unmittelbaren Zuweisung von der Sozialen Wohnhilfe an die Träger im Bereich des § 72 BSHG deutliche Vorteile hat. Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser - 321 mittelbar die konsequente Umsetzung des § 93 BSHG, also der Paradigmenwechsel von den institutionenzentrierten Kompaktangeboten mit zum Teil vollständiger Mitwirkungspflicht der Bewohner bis hin zur Nutzerorientierung mit echten Wahlmöglichkeiten. Diese Anregungen können nachfolgend nur aufgegriffen, nicht stringent diskutiert werden, sollten aber Gesprächsgrundlage für die weitere fachliche Planung werden. Nach wie vor fehlt ja ein einheitliches Vorgehen in den Bezirken, werden Unterbringungen ohne jede Betreuung finanziert, fehlen gemeinsame Ausführungsbestimmungen und Verwaltungsvorschriften, was dann in der Konsequenz dazu führt, dass besonders engagierte Bezirke zu natürlichen Anlaufstellen und dadurch benachteiligt werden. Nach wie vor fehlt auch eine wissenschaftliche Evaluation der bestehenden Wohnungsnotfallhilfe. 3. Eine wesentliche Erfahrung der Wohnungsnotfallhilfe ist, dass die Bereitstellung von Wohnraum natürlich nur einen von vielen Problembereichen chronisch psychisch und suchtkranker Wohnungsloser beseitigt. Die Frage ist, womit der so gewonnene Raum gefüllt wird. Hier kann beobachtet werden, dass in der Praxis die Interessen der Helfer und der Klienten oft besonders heftig aufeinander prallen. Das verlangt von den Helfern neben persönlichem Engagement eine hohe fachliche Integrität. Überwiegende Wünsche der Klienten sind nämlich, auch das übrigens ein aktuell bestätigtes, aber niemanden ernsthaft überraschendes Ergebnisse der Befragung durch den Paritätischen Landesverband, das Angebot von Ruhe- und Rückzugsräumen, ausreichend Selbstbestimmung (insb. auch beim Drogenkonsum) und Schuldenregulierung. Ansonsten divergieren die Wünsche sehr stark zwischen noch mehr und viel weniger Betreuung. Während die an ihr berufliches Selbstverständnis und nicht zuletzt an Leistungsvereinbarungen mit den Kostenträgern gebundenen Helfer Mindestansprüche der (Re-) Integration in den Vordergrund zu stellen gewohnt sind, ist den weitaus meisten Wohnungslosen die Sorge um den Schlafplatz, das Essen und die persönliche Sicherheit viel wichtiger. Darüber hinaus provozieren stereotype Verhaltensmuster vieler Klienten eine defizitorientierte Methodik der Mitarbeiter. Da die hohe Fluktuationsrate der meisten Bewohner in Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe realistischerweise nicht nur als Erfolgsgeschichte, sondern auch als Bestätigung dieser Perspektive gelesen werden kann, erfordert die Umsetzung eines ressourcen- bzw. kompetenzorientierten Betreuungskonzepts besondere Handlungsstrategien. Erfahrungen der Hilflosigkeit gegenüber sehr schwierigen, oft dissozialen, scheinbar (oder tatsächlich) beratungsresistenten Klienten ohne Krankheitseinsicht, die das Betreuungsangebot ganz offen ignorieren, sind nur im Rahmen eines systematischen Qualitätsmanagements zu lösen, das aber erfahrungsgemäß noch kaum irgendwo stattfindet. Die sehr komplexen Erfahrungen der Wohnungslosigkeit erschweren häufig die Kontaktaufnahme zwischen Helfer und Klient. Das gilt sowohl für jahre- und jahrzehntelang mit ihr Vertraute als auch für Menschen, die zum ersten Mal mit dieser Lebenssituation konfrontiert sind. Hier kommt es meist zu Angst und Unsicherheit und insb. zur Ablehnung von zu hoher Verbindlichkeit. Das wiederum kann zu Handlungsmustern führen, die bewusst oder unbewusst darauf orientieren, Kränkungen wiederholt und Enttäuschungen bestätigt zu sehen. Es gibt nachweisbar ein störungsbedingtes Bedürfnis nach 322 Armut und Gesundheit Gewalterfahrung, das sich als unbewusster Wiederholungszwang interpretieren lässt. Da Gewalt gerade von Menschen in einer psychotischen Phase häufig provoziert wird, um dissoziative Zustände abzuwehren, ist sie im psychosozialen Feld ein ähnlich dominierendes Thema wie in der unmittelbaren Wohnungsnotfallhilfe. Das stellt natürlich an die professionellen Akteure besondere Anforderungen. Unter ungünstigen Bedingungen entsteht so nämlich ein sich selbst verstärkender Kreis von Nähe und Distanz, Einsicht und Abweisung. Besonders schwierig wird die Arbeit, wenn eine selbstbestimmte Verweigerung der Hilfe durch Klienten den professionellen Anspruch des persönlichkeitsspezifischen Ansatzes der Hilfen in Frage zu stellen scheint. Zudem hat die offensichtliche soziale Perspektivlosigkeit vieler langjährig Wohnungsloser häufig unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeit der Helfer vor Ort, die viel zu oft Zeugen eines fortschreitenden mentalen und physischen Abbaus ihrer Klienten werden und auf die sich leicht Resignation und Hoffnungslosigkeit übertragen. Ganz gleich, mit welchen Assessment- und Betreuungskonzepten gearbeitet wird, ist es unabdingbar, bei möglichst allen Schritten den Lebensstil, sozialen Hintergrund und einen möglichen Konflikt zwischen subjektiver und objektiver persönlicher Kompetenzzuschreibung einzubeziehen sowie dafür zu sorgen, dass alle Helfer über klare Richtlinien für die Arbeit mit sog. Alarmzeichen verfügen. Zudem hat sich bei etlichen Langzeitbewohnern in sog. Wohnungsloseneinrichtungen ein fein ausdifferenziertes Beziehungsgefüge gegenseitiger Abhängigkeiten, aber auch gegenseitiger Unterstützungshandlungen herausgebildet, das die Interventionen der Helferseite häufig überflüssig erscheinen lässt. Hier ist ein paralleles, informelles Hilfesystem mit eigenem Problemlösungspozential, eigener Sprache und eigenen Ritualen entstanden, das von den professionellen Akteuren berücksichtigt (und wertgeschätzt) werden sollte. Für die unmittelbare Betreuungsarbeit mit chronisch psychisch und suchtkranken Wohnungslosen ergeben sich daraus folgende konkrete Anforderungen: Es muss sorgfältig abgewogen werden zwischen einem sozialarbeiterischen Ehrgeiz, hinter dem ggf. keine kontinuierlichen personellen und materiellen Ressourcen stehen, und der stabilen, ihre Alltagspraxis stützenden Selbstbeschreibung der Klienten. Es muss konsequenter als bisher Abschied genommen werden von dem auch durch neuere Untersuchungen überzeugend widerlegten, allerdings immer noch weitverbreiteten Vorurteil, Wohnungslose seien ohne regionale Verwurzelung – das Gegenteil ist der Fall, und das unterstützt natürlich den gemeindepsychiatrischen Ansatz. Insbesondere in der Arbeit mit suchtkranken Wohnungslosen, bei denen neben einer Vergröberung des Ausdrucks und der Handlungsführung schließlich auch ein Abbau der Persönlichkeit zu beobachten ist, kommt es neben Aggressions- häufig auch zu Nachahmungshandlungen. Hier geht es für die professionellen Helfer darum, oft primär entlastende Regressionsphänomene nicht zu übernehmen. Es muss immer wieder berücksichtigt werden, dass die materiellen, aber eben auch ideellen Ressourcen vieler Klienten gering sind, dass z.B. etwas wie basales Vertrauen nicht vorausgesetzt werden kann. Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser - 323 Und schließlich muss sehr viel stärker als bisher tatsächlich niedrigschwellig gearbeitet werden. Es reicht nicht, den Begriff bei jeder Gelegenheit im Mund zu führen. "Niedrigschwellig" heißt dabei nach meiner Erfahrung neben der klaren Priorität für die gesundheitssichernden Hilfen vor allem: 1. Die Kooperation der Klienten soll Folge, nicht Voraussetzung der Hilfe sein. 2. Aus dem Hilfeangebot entstehen zu Beginn des Betreuungs- bzw. Beratungsprozesses möglichst wenig unmittelbare Verpflichtungen. 3. Eine nur diskontinuierliche Betreuung und Beratung wird toleriert, wobei für die Klienten Rückzugsräume erhalten bleiben. 4. Interventionen knüpfen an Sinnzusammenhänge an, die den Klienten zugänglich sind und von ihnen möglichst akzeptiert werden. 5. Selbst kleinschrittige Aktivitäten erfahren eine positive Spiegelung. 6. Betreuung und Beratung sind räumlich und zeitlich leicht zugänglich. 7. Betreuung und Beratung erfolgen aufsuchend und lebensweltorientiert. 8. Betreuung und Beratung erfolgen flexibel auf den Handlungsfeldern innerhalb der meist multifaktoriellen Problemlage, die den Klienten aktuell zugänglich sind. 9. Die Problemkontextualisierung erfolgt zurückhaltend, d.h. zunächst über das Einlassen auf die Perspektive der Klienten. 10. Die Hilfe wird nicht unmittelbar als Gegenentwurf präsentiert. Ein Großteil der Arbeit wird also unsichtbare Arbeit sein, die den betreuerischen und beraterischen Anspruch nicht in den Vordergrund stellt. Und es entstehen scheinbare Paradoxa: So wird niedrigschwellige Arbeit oft hochspezialisiert und dauerhaft, hochqualifiziert und betreuungsintensiv erfolgen müssen. Das erfordert gemeinsame Anstrengungen aller Beteiligten am Hilfeprozeß und eine qualifizierte Belebung dessen, was heute allgemein Vernetzung genannt wird. Literatur: Abgeordnetenhaus von Berlin [1997]: Obdachlosenrahmenplan, Drucksache 13/4095. Materialien zur Wohnungslosenhilfe [2000]: Facetten der Wohnungslosigkeit – zur Gesundheit Wohnungsloser. Heft 43. Bielefeld. - 324 Armut und Gesundheit Betreutes Einzelwohnen für chronisch Alkoholkranke im Bezirk TreptowKöpenick Dagmar Krüger Der Träger MUT Gesellschaft für Gesundheit betreibt im Bezirk Treptow bereits seit mehreren Jahren eine Suchtberatungsstelle für Suchtkranke. Es zeichnete sich ab, dass der Personenkreis der nicht-abstinenzbereiten Suchtkranken nicht ausreichend versorgt bzw. nicht erreicht wurde. Das Betreute Einzelwohnen will mit seinem Angebot diese Versorgungslücke schließen. Im Oktober 1998 begann die MUT GmbH in Treptow mit acht Plätzen mit ihrem Angebot des Betreuten Einzelwohnens für Menschen mit chronischer Alkoholabhängigkeit. Das Angebot ist suchtbegleitend und wendet sich auch an chronisch mehrfachgeschädigte Alkoholkranke mit physischen und psychischen Beeinträchtigungen. Die Betroffenen werden grundsätzlich als eigenverantwortliche Menschen akzeptiert. Einzige Bedingung für die Aufnahme in die Betreuung ist – natürlich neben der üblichen Kostenübernahme – eine eigene Wohnung. Das heißt, Wohnungslose und Menschen in stationärer Unterbringung können nicht betreut werden. Erste Aufgabe des neuen Projektes war zunächst intensive Öffentlichkeitsarbeit. Das Projekt wurde bekannt gemacht bei Krankenhäusern, den Suchtberatungsstellen Treptow und Köpenick, bei den Sozialpsychiatrischen Diensten (SpD) des Bezirkes, in Obdachlosenheimen, bei Krankenkassen und in zahlreichen Arztpraxen. Einerseits wurde so der Bedarf an einem niedrigschwelligen Angebot offensichtlich, andererseits wurde die Schwierigkeit deutlich, diesen Personenkreis – der nassen, (noch) abstinenz-uninteressierten Abhängigen zu erreichen. Zumal er meist von starken Rückzugs- und Isolierungstendenzen geprägt ist. Das gesamte Angebot des Suchtkrankenhilfesystems ist ja überwiegend mit der konkreten Forderung nach Abstinenz verbunden. Der angesprochene Personenkreis für das Betreute Einzelwohnen wurde so meist noch von keinem Angebot angesprochen und musste erst mühsam akquiriert werden. Ergänzt wurde und wird die Öffentlichkeitsarbeit durch die regelmäßige Teilnahme und Mitarbeit an regionalen und überregionalen Gremien sowie durch Informationsveranstaltungen. Im Oktober 1998 wurde das Angebot von der MUT mit zunächst acht Betreuungsplätzen und zwei Sozialarbeitern realisiert. Anfang 2000 wurde das Angebot erweitert auf dreizehn Plätze mit nun vier Sozialarbeitern. Das bedeutet also eine intensive Betreuung im Rahmen einer 1:4 Betreuung. Wir betrachten unserer Arbeit als sucht(mittel)begleitende Betreuungsphase, indem wir in erster Linie lebenspraktische Hilfen und Begleitung anbieten. Dabei berücksichtigen wir natürlich auch das Ziel einer sozialen wie auch beruflichen (Re-)Integration. Wie wohl bei allen niedrigschwelligen, suchtmittelakzeptierenden Angeboten steht die Abstinenzforderung jedoch weit hinter der Schaffung einer (wieder) menschenwürdigen Lebensform /-situation und einer zufriedenen, möglichst eigenständigen Lebensführung. Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 325 Rechtliche Grundlage des ambulanten Hilfeangebots sind §§ 39 / 40 BSHG Eingliederungshilfe. Die Kosten der Maßnahme werden nach fachlicher Prüfung durch den SpD vom Sozialamt des Bezirkes getragen. Zu Beginn der Betreuung wird – je nach Voraussetzung auch unter Einbeziehung des Klienten – ein individueller Behandlungs- und Betreuungsplan erstellt, in dem die Fähigkeiten und Defizite des Klienten erfasst und individuelle Ziele der Betreuungsarbeit erarbeitet und definiert werden. Konkret werden dabei die Bereiche der Selbstversorgung, das wohnliche und soziale Umfeld und die Kontaktgestaltung sowie das Arbeitund Freizeitverhalten beleuchtet und hinterfragt. Ergänzt wird diese Ermittlung des individuellen Hilfebedarfs durch persönliche Vorstellungen und Wünsche des Klienten. Außerdem wird die ganz aktuelle Problemlage erfasst und notwendige Schritte formuliert. Ziel und Inhalt der Arbeit ist immer eine zunehmende Eigenständigkeit der Klienten durch die Entwicklung von Kompetenzen und Fertigkeiten, indem sie bei ihrer Bewältigung des Alltages begleitet, angeleitet und unterstützt werden. Krisen und eine weitere Isolation sollen vermieden werden. Das Betreuungsangebot beinhaltet schwerpunktmäßig : • • • • Handlungsorientierte Hilfen bei der Alltagsbewältigung Hilfen zur Sicherung von Ansprüchen Maßnahmen zur psychischen Stabilisierung Unterstützung beim Aufbau bzw. Erhalt sozialer Kontakte Das heißt konkret : Unterstützung und Begleitung bei der Vorbereitung und Durchführung von Behördenangelegenheiten und Unterstützung beim Umgang mit Behörden sowie bei Antragsverfahren Organisation und Begleitung bei der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen Unterstützung bei der Arbeitsuche, Vorbereitung von Bewerbungsgesprächen, Unterstützung bei der Organisation und Vorbereitung der notwendigen Unterlagen. Anleitung, Motivation und ggf. Unterstützung bei der Bewältigung der Haushaltsführung (Wohnung), Anleitung zur Einhaltung und Durchführung der Körperhygiene, Essensversorgung und Einkauf Unterstützung bei finanziellen Angelegenheiten: Einteilung des Geldes, Schuldnerberatung bzw. Vermittlung dorthin, Unterstützung bei Verhandlungen mit Schuldnern (z.B. bei Mietschulden) Strukturierung des Tagesablaufes Gesprächsangebote zur Bewältigung von psychischen Problemen und Reflexionsarbeit. Abstinenzmotivation und Vermittlung von weiterführenden Hilfen Anregung zur Wahrnehmung von Freizeitangeboten und Pflege von sozialen Kontakten Grundlage der Betreuung ist immer der persönlicher Kontakt und das Gespräch – meist im häuslichen Umfeld des Betreuten. 326 Armut und Gesundheit Ergänzt wird die Betreuung durch das regelmäßige Angebot von Gruppenaktivitäten des BEW, wie z.B. monatliche gemeinsame Frühstücke, eine Spielgruppe und verschiedene Freizeitaktivitäten (Ausflüge, Kino, Feste in den Räumen des BEW). Ergänzend hierzu möchte ich erwähnen, dass wir nicht psycho-therapeutisch arbeiten, sondern beratend tätig sind und ggf. an entsprechende Stellen weitervermitteln (z.B. Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, Langzeiteinrichtungen, anderer stationäre Einrichtungen). Außerdem stehen viele unserer Klienten unter einer gerichtlich bestellten Amtsbetreuung, in diesen Fällen kooperieren wir eng mit den entsprechenden Stellen (z.B. Betreuungsstelle Treptow) zusammen. Im letzten Jahr zeigte sich ein deutlich steigender Bedarf und eine zunehmende Nachfrage, so dass wir eine Erhöhung der Platzkapazität, auch ausgeweitet auf den Bezirk Köpenick, anstreben. Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 327 Der Themenblock ‚Wohnungslosigkeit und Gesundheit’ wird seit Beginn der Kongresse „Armut und Gesundheit“ 1995 vor allem von Gerhard Trabert koordiniert. Zum 7. Kongress im Dezember 2001 entschied er sich jedoch kurzfristig für einen Auslandseinsatz in Afghanistan. Wir veröffentlichen hier seinen Bericht, der insbesondere auf die oft unterbeleuchtete internationale Dimension von Armut und Gesundheit verweist. [Anmerkung der Herausgeber] Afghanistan 2001 – Flüchtlingslager Mile 46 Gerhard Trabert Mile 46, ein afghanisches Flüchtlingslager an der iranischen Grenze im Südwesten Afghanistans, liegt mitten in der Wüste. In den letzten fünf Wochen ist die Zahl der Flüchtlinge von ca. 800 auf 5000 angestiegen und täglich nimmt sie um 150 bis 250 zu. Die Zeltstadt, bestehend aus 400 Zelten liegt in einer kargen, lebensfeindlichen Region. Kilometerweit nur Sand und Steine, kein Baum, kein grünes Fleckchen, kein natürlich vorkommendes Wasser. Die nächste Stadt auf afghanischer Seite liegt ca. 90 km entfernt in Richtung Kandahar. Obwohl auf afghanischem Territorium liegend, wird es vom iranischen Halbmond versorgt. Es gibt täglich Nahrung und Wasser und sogar Strom, aber nur 25 Latrinen und eine Waschstelle. Das Areal um die Latrinen ist voll mit Kot und Urinlachen, der beißende Gestank nimmt zu je näher man sich den Latrinen nähert. Die einzelnen Zelte sind mit Decken und einem Petroleum-Heizöfchen ausgestattet. Tagsüber steigen die Temperaturen bis 25 ° C an, während sie in der Nacht bis nahe an den Gefrierpunkt absinken. Ohne Decken und Heizeinheit ist ein Überleben kaum möglich. Die durch das Heizen freigesetzten Kohlenmonoxidgase werden ohne besondere Abzugseinrichtung in das Zeltinnere abgegeben. Die neu ankommenden Flüchtlinge werden plötzlich vom iranischen Halbmond nicht mehr ins Lager hereingelassen, und müssen demzufolge ungeschützt und ohne Versorgung außerhalb des Camps versuchen zu überleben. Die Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ kommen zu unserem kleinen Behandlungszelt und diskutieren mit uns die neue Situation. Sie wollen eventuell die Arbeit vorübergehend einstellen, falls der iranische Halbmond dieses repressive Verhalten beibehält. Wir erklären uns solidarisch und unterstützen das Vorgehen der französischen Ärzte. Wir, das sind eine Krankenschwester und zwei Ärzte der deutschen christlichen Hilfsorganisation „humedica“. Das Konzept von humedica beinhaltet in kurzen Worten formuliert, eine schnelle Akuthilfe in Krisenregionen durch unter anderem Ärzteteams, die sich nach zwei bis drei Wochen Tätigkeit überlappend ablösen sollen. Entscheidend ist die kurzfristige und schnelle Verfügbarkeit von Ärzten, die aufgrund der kurzen Einsatzdauer eher realisierbar ist. Bevor wir endlich im Flüchtlingslager Mile 46 mit unserer medizinischen Tätigkeit beginnen konnten, mussten wir einen bürokratischen Hürdenlauf, eine Odyssee notwendiger „permissions“, durchlaufen. In Teheran angekommen mussten die angemeldeten Medikamente dann doch noch vom Flughafen-Zoll genehmigt werden. Eine Stunde lang ungefähr zwanzig offizielle Stellen kontaktieren, fünfzehn Unterschriften und ca. zehn Stempel einholen (Comedy live). Dann zur Zentra- 328 Armut und Gesundheit le des iranischen Halbmondes, zur iranischen Flüchtlingshilfe, zum UNHCR usw. Danach Weiterflug nach Zahedan an der pakistanischen Grenze, der Hauptstadt der Provinz Baluchistan. Ähnliches Procedere! zweistündige Autofahrt zu der Grenzstadt Zabol. Ähnliches Procedere! Wir haben endlich alle Genehmigungen für den Grenzübertritt und Rückkehr sowie eine Tätigkeitserlaubnis. Mit viel Glück und Verhandlungsgeschick haben wir endlich auch einen Dolmetscher und Taxifahrer gefunden. einstündige Fahrt ins Flüchtlingscamp. Es müssen mehrere iranische Kontrollstationen passiert werden. Die afghanische Grenze besteht aus einem Mudschaheddin-Kontrollposten: Zwei funktionsunfähige Lkws, ein von den Taliban eroberter Panzerspähwagen, eine von der ehemaligen Sowjetunion eroberte Artilleriestellung und Trümmerteile eines abgeschossenen Hubschraubers. Wir fahren ins Lager, das wie eine Fata Morgana plötzlich am Horizont aus dem Nichts auftaucht. Dort angekommen stellen wir uns dem Flüchtlingslagerleiter vom iranischen Halbmond vor und richten unsere Sprechstunde in dem uns zugeteilten Zelt ein. Das Zelt ist ca. vier mal vier Meter groß. Unsere Ankunft hat sich schnell herumgesprochen und schon warten die ersten Patienten vor unserem Zelt. Die folgenden Tage behandeln wir täglich 80 – 100 Menschen. Männer, Frauen, Kinder, Mudschaheddin, Mitarbeiter des iranischen Halbmondes usw. Die Haupterkrankungsgruppen sind parasitäre Erkrankungen, insbesondere Diarrhöen, auf Grund von Wurminfektionen, Infektionen des oberen Respirationstraktes, aber auch Pneumonien und Tuberkulose, dermatologische Erkrankungen (Scabies, Tinea vulgaris, Impetigo, Psoriasis usw.), Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes (Gastritis, Ulcus pepticum), scheinbar psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen, multiple Schmerzen unklarer Genese, Otitis media- Erkrankungen in allen Schweregraden, dentistische Beschwerden, Hypertonie, teilweise aber auch klassische Erkrankungen der Tropen, wie z.B. Malaria, kutane Leishmaniose, Trachom. Nach Anamnese durch unseren Dolmetscher in Fasi oder Baluchi und körperlicher Untersuchung teilen wir die notwendige medikamentöse Therapie direkt aus. Patienten mit ernsten nicht ambulant behandelbaren Erkrankungen werden in ein iranisches Hospital eingewiesen, was nicht immer einfach ist. Patienten mit chronischen oder kontrollbedürftigen Krankheiten bekommen ein internationales Krankenblatt ausgehändigt und werden wieder einbestellt. Notwendige diagnostische Maßnahmen werden über den im Lager befindlichen iranischen Arzt initiiert. Das Lager besitzt drei medizinische ärztliche Anlaufstellen. Ärzte ohne Grenzen mit dem Schwerpunkt Frauen und Kinder, ein iranischer Kollege und wir. Es wird sehr schnell deutlich, das eine ständige Kommunikation und Kooperation mit notwendiger Arbeitsteilung dringend erforderlich ist. MSF (Medecins sans frontieres) bereitet eine Impfaktion und Ernährungsstatusuntersuchung- und substitution vor, während wir unsere Sprechstunde weiterführen und in dieser Zeit ausdehnen. Da unsere Patientenzahlen ständig zunehmen und auch Patienten, die primär von unserem iranischen Kollegen behandelt werden, zu uns kommen, wollen wir von den Patienten wissen, warum sie zu uns kommen. Die Antwort lautet durchgehend, wir würden sie untersuchen, das würde der iranische Arzt nicht tun. Ob dies der Realität entspricht wissen wir nicht. Die Patientenbegegnungen sind zum Teil recht skurril, aber auch erschütternd tragisch. Da ist der Chef der örtlichen Mudschaheddin der mit einem bekannten Hypertonus zu uns kommt und über Potenzprobleme klagt. Da er von anderen Ärzten einen ß-Blocker ausgehändigt bekommen hatte, setzen wir diesen ab und geben ihm stattdessen einen Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser 329 ACE-Hemmer. Entweder wir gewinnen jetzt vollends die Sympathie der Mudschaheddin oder ....... Es ist auffallend, dass die zunehmend in unsere Sprechstunde kommenden Mudschaheddin über Beschwerden klagen, die eindeutig in Richtung Gastritis bzw. Ulcus pepticum deuten, und oft auch einen Hypertonus aufweisen. Krieg ist Stress ! Aber da ist auch der Flüchtling, der uns Röntgenbilder seiner Frau zeigt, auf der eindeutig eine Oberschenkelfraktur zu sehen ist. Da er unsere Nachfragen hinsichtlich der eingeleiteten Therapie nicht adäquat beantworten kann, gehen wir mit ihm in sein Zelt und finden seine Frau unbehandelt im 7 Monat schwanger auf dem Boden liegend. Wir führen sofort eine Schmerztherapie, soweit dies möglich ist, durch und veranlassen den sofortigen Transport in ein iranisches Krankenhaus. Welcher Arzt hat diese Frau untersucht, geröntgt und dann unbehandelt wieder zurück ins Lager geschickt ? Am Abend erfahren wir auf einem Treffen der NGO´s beim UNHCR , das der Streit um die Kostenübernahme der Behandlung des öfteren zu solchen Situationen führen würde. Glücklicherweise konnte mit den anwesenden Vertretern des iranischen Halbmondes sofort geklärt werden, dass es für solche Fälle eine seit Wochen schon existierende Abmachung mit dem UNHCR gibt, die die Kostenübernahme regelt. Da ist die faszinierende ethnische Vielfalt der Patienten, aber auch die augenscheinlichen krassen Unterschiede, was den Gesundheits- und Ernährungszustand der Menschen angeht. Viele Kinder befinden sich in einem außerordentlich schlechten Zustand. Besonders betroffen macht uns der apathisch und depressive Ausdruck der Mädchen und jungen Frauen. Sie wirken verloren, hilflos ohne Hoffnung und Zukunft. Die Vergangenheit, die fundamentalistische Auslegung des Islam den Frauen gegenüber hat hier deutliche Wunden und Narben hinterlassen, die durch keine medikamentöse Therapie heilbar sind. Man kann nur erahnen, was sie erleiden und erdulden mussten und vielleicht immer noch müssen. Wir dürfen auch Frauen untersuchen im Beisein der Ehemänner. Zwar muss der Auskultationsbefund durch die dünne Kleidung erhoben werden, aber immerhin dürfen wir zumindest ansatzweise so etwas wie eine körperliche Untersuchung durchführen. Viele Frauen klagen über „hole body pain“, Ganzkörperschmerzen, die sicherlich auch in vielen Fällen auf eine psychosomatische Genese hindeuten. An unserem letzten Tag fegt ein mittelschwerer Sandsturm über das Flüchtlingslager. Sofort befindet sich überall in unserem Behandlungszelt Sand. Medikamentendosen, Otoskop und Stethoskop sind mit einem feinen Sandschleier bedeckt, wir spüren an unserem Körper überall den Sand, und die Patienten harren vor unserem Zelt unter schwierigsten Bedingungen aus, bis sie endlich an der Reihe sind. Wir erfahren von unseren französischen Kollegen von MSF, dass in der vergangenen Nacht zwei Kinder im Lager verstorben sind und ein Kind außerhalb des Camps erfroren sei. Sie wollen gleich mit der Flüchtlingslagerleitung und dem iranischen Halbmond nochmals dringend notwendige Verbesserungen erörtern und massiv einfordern. Wir werden in dieser Zeit unsere Kollegen vertreten. Was bleibt, ist die Frage, war das, was wir hier tun, sinnvoll und nützlich ? • Die konkrete medizinische Versorgung dient in erster Linie der Existenzsicherung für einen gewissen Zeitraum in der Hoffnung, dass sich die grundlegenden Lebensumstände ändern werden. Vor Ort hat diese Form der ärztlichen Versorgung natür- 330 • • • Armut und Gesundheit lich nur Sinn, wenn parallel hierzu präventiv gearbeitet wird. Die Versorgung mit Wasser und ausreichender sinnvoller Nahrung muss gewährleistet sein. Es müssen die hygienischen Verhältnisse verbessert werden. Es müssen ausreichend viele Latrinen und Waschmöglichkeiten vorhanden sein und die Menschen müssen hinsichtlich hygienischer Standards geschult werden. Es muss dementsprechend ein Gesamtkonzept notwendiger Maßnahmen erstellt und in Absprache mit den einzelnen vor Ort tätigen NGO´s umgesetzt werden. Kommunikation und Kooperation ist notwendig, Konkurrenz hat hier keinen Platz. Der Symbolcharakter humanitärer Hilfe vor Ort, die persönlichen zwischenmenschlichen Begegnungen sind ebenfalls bedeutsam. Die Erfahrung, dass Menschen von sehr weit her gekommen sind, um ihnen, den all zu oft zu schnell vergessenen Opfern von Krieg und Terrorismus, zu begegnen und vielleicht ein wenig in dieser fast unerträglichen Lebenssituation zu helfen, hat für sich allein genommen schon einen Stellenwert. Dass Christen nicht nur mit Gewalt assoziiert werden, sondern auch Muslime in ihrer Not versuchen zu begleiten und zu helfen ist mehr als ein symbolhaftes Zeichen. Dies wurde uns in vielen Gesprächen mit islamischen Mitmenschen immer wieder bestätigt. Das Sensibilisieren der Menschen in Europa und Nordamerika für die Lebenssituation der Menschen in Afghanistan ist immer wieder aufs Neue sinnvoll und notwendig. Zum Schluss bleibt die Frage oder sollte man es schon als eine Feststellung bezeichnen: Ob man mit Stethoskop (medizinischer Versorgung) und Kreidetafel (Bildung) nicht mehr gegen die Wurzeln des Terrorismus ausrichten kann, als mit Gewehrkugeln und Bomben ?! 331 Kapitel 7 Arbeitslosigkeit und Gesundheit 332 Armut und Gesundheit Arbeitslosigkeit und GesundheZusammenfassung Carlchristian von Braunmühl Im Mittelpunkt des Forums „Arbeitslosigkeit und Gesundheit“ stand die Frage nach innovativen Strategien des Zusammenwirkens von Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik. Erstmals kamen auf diesem Forum, das zum dritten Mal auf dem Kongress „Armut und Gesundheit“ durchgeführt wurde, neben Gesundheits- bzw. Sozialwissenschaftlern sowie Krankenkassenvertretern auch Vertreter aus dem Bereich von Arbeitsmarkpolitik und Gewerkschaften ausführlich zu Wort. Dadurch erhielt die lebhafte Diskussion neue Akzente und Perspektiven. Im einleitenden Beitrag präsentiert Harvey Brenner von der Technischen Universität Berlin Ergebnisse einer in den Bezirken von Berlin durchgeführten Studie über den Einfluss von Arbeitslosigkeit auf Gesundheit und Mortalität der Berliner Bevölkerung. Auch in dieser Studie wurde ein starker Einfluss von Arbeitslosigkeit auf Gesundheit und Lebenserwartung gemessen. Unter der Überschrift „Wie krank macht der zweite Arbeitsmarkt?“ berichten Simone Kreher und Beate Blättner von der Fachhochschule Neubrandenburg über ein noch laufendes Forschungsprojekt, in dem eine Firma des zweiten Arbeitsmarkts im Sinne des Setting-Ansatzes des Leitlinienpapiers der Krankenkassen zum § 20 Abs. 1 SGB V als „Setting Arbeitslosigkeit“ untersucht wird. In dieser - in Kooperation mit der AOK Mecklenburg-Vorpommern durchgeführten - Studie, die sich methodisch am Vorbild der Marienthal-Studie von Marie Jahoda aus den dreißiger Jahren orientiert, werden Ursachen und Bedingungen des auffallend hohen Krankenstandes in ABM-Firmen analysiert und praktische Vorschläge für Interventionen zur Gesundheitsförderung entwickelt. Als wesentliche Ursachen des hohen Krankenstandes zeichnen sich (a) der hohe Anteil an schwerer körperlicher Arbeit und (b) ein offenkundiger Mangel an gesundheitsförderlicher Sinnhaftigkeit der Arbeit ab. Annäherungen an eine arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung beschreiben Peter Kuhnert und Michael Kastner von der Universität Dortmund in ihrem interessanten Beitrag „Neue Wege in Beschäftigung - Gesundheitsförderung bei Arbeitslosigkeit“. Peter Kuhnert und Michael Kastner zeigen auf, dass Arbeitsmarkt- und Gesundheitsförderung in Deutschland bisher nicht über geeignete Interventionsinstrumente verfügen, um Arbeitslose und instabil Beschäftigte vor selbstschädigendem Verhalten und chronischen Erkrankungen zu bewahren und für die Anforderung des ersten Arbeitsmarktes zu qualifizieren. Die bisherige weitgehende Trennung von Arbeits- und Gesundheitsförderung ist dementsprechend wenig effizient. Diese Trennung sollte zu Gunsten eines Zusammenwirkens von Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik überwunden werden. Ansätze hierzu sind durchaus erkennbar. Wichtig ist, dass die zu entwickelnden arbeitsmarktintegrativen Gesundheitshilfen in ein lokales Netzwerkmanagement eingebunden werden, das möglichst viele Akteure aus den kommunalen Sektoren Arbeitsmarkt, Kultur und Soziales einbezieht. Auf Beispiele aus dem In- und Ausland gehen die Autoren in ihrem Beitrag ebenfalls ein. An dieser Stelle sollte die Diskussion sicherlich auch auf den Kongressen „Armut und Gesundheit“ zukünftig weitergeführt werden. Arbeitslosigkeit und Gesundheit 333 Ebenso notwendig und spannend dürfte auch die Weiterführung der von Rainer Knerler referierten Diskussion über die zu erwartende Zusammenführung von SozialhilfeArbeits-Verwaltung und Arbeitslosenhilfe-Verwaltung werden. Eine solche Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einer einheitlichen Grundsicherung könnte - je nachdem, wie diese Grundsicherung schließlich ausgestaltet und ausgestattet ist - die mit Arbeitslosigkeit heute verbundene Stigmatisierung vermindern und damit auch eine positive Auswirkung auf die gesundheitliche Situation von Arbeitslosen haben. Noch weitreichender ist die von Rainer Knerler aufgewiesene Perspektive einer Erweiterung des unserer Gesellschaft immer noch zu Grunde liegenden Arbeitsbegriffs durch eine Relativierung des Wertes von Erwerbsarbeit und eine entsprechende Aufwertung anderer Arbeitsformen wie z. B. Kindererziehung, Bildungs-, Kultur- und Bürgerarbeit. Schritte in dieser Richtung könnten die Bedingungen der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wesentlich verändern und erheblich dazu beitragen, sozialbedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen zu vermindern. Folgende Anregungen wurden auch mit Betroffenen zusammen getragen: (1) Eher kurzfristig umsetzbare Vorschläge und Forderungen • Praktische Unterstützung der Arbeitslosen bei Bewerbungen. • Qualifizierungsmaßnahmen inhaltlich und qualitativ verbessern und nur für die Bereiche qualifizieren, die zukunftsträchtig sind. • Teilnehmer an solchen Maßnahmen anschließend befragen, was sie persönlich als wichtig empfanden. • Direkt am/im Arbeitsamt niedrigschwellige Gesundheitsberatung vorhalten • Mobbing-Beratung für Arbeitnehmer, die auf Grund des Mobbings von Arbeitslosigkeit bedroht sind. • ABM an den regionalen Bedarf anpassen und Kommunen über die Felder der ABM entscheiden lassen. • ABM-Stellen öffentlich ausschreiben und Interessenten sich selbst bewerben lassen. (2) Eher längerfristige Perspektiven • Den klassischen Arbeitsmarkt entsprechend der Vorgehensweise in Holland erweitern, Anregungen aus anderen Ländern verstärkt aufnehmen. • Ehrenamtliche Aufgaben fördern, Arbeit nicht nur als „profitable“ Arbeit definieren, sondern von einem erweiterten Begriff von „Tätigkeit“ ausgehen und Arbeitsämter dementsprechend zu „Tätigkeitsämtern“ umgestalten. • Ersten und zweiten Arbeitsmarkt zusammenführen, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einer Grundsicherung zusammenfassen und damit der Stigmatisierung entgegenwirken. 334 Armut und Gesundheit Unemployment and Public Health Armut und Gesundheit Harvey Brenner Summary Findings are now being released on a study to assess the impact of unemployment and employment rates on mortality patterns in the European Union countries and the United States. In consideration of the historically high and sustained levels of unemployment in the European Union, the initial and primary purpose of the study was to put a “human face” on the statistical data that typically are used to measure the unemployment rate. In this study the interpretation focuses on social well-being, and specifically physical and mental health and life expectation. Despite the fact that there are well known risks to health and well-being, arising from the work setting – including ergonomic factors, chemical toxins, dangerous equipment and environmental pollution – increased employment rates in the direction of a “full employment” economy are fundamental sources of decreased mortality in European Union countries and the United States. Similarly, increased rates of unemployment are related to heightened mortality rates and thus decreased life expectancy in these countries. At the same time, national wealth per capita, as measured by gross domestic product per capita adjusted for inflation, is a simultaneous source of improvement in the health and longevity of the populations in these countries. The essential importance of improving trends in national income to a nations health exists despite the tendency of some items of consumption to exert great harm on a nation’s health. Specific sources of consumption are scientifically well-known to cause major problems in cardiovascular diseases and malignancies and include high levels of consumption of tobacco, alcohol and animal fats. A major policy implication of these findings is that even in relatively wealthy industrialized countries, by international standards, continued improvement in the national standard of living is intrinsic to the continued expansion of life expectancy and the reduction in mortality rates of major chronic diseases especially cardiovascular illness. Mainstream economic research has demonstrated that productivity growth (increase in output per worker), related to improved competitiveness, is a precondition for an enhanced standard of living. A key element in this study, however, is that to the extent that increased productivity and competitiveness are achieved through employment reduction or increased unemployment, the benefits to health of the improved standard of living will be substantially diminished. It is thought that the factors underlying the importance of the material standard of living, even in relatively wealthy countries, include: (1.) investments in improved working conditions, (2.) purchases of items that will increase the comfort, mobility and functioning of elderly, frail and disabled populations, (3.) improved nutrition, (4.) major investments in scientific development and public education, (5.) increase of sophistication of, and population access to, health care technology and (6.) increased financial security and reduction of poverty through social welfare/security systems. It is clear from the Arbeitslosigkeit und Gesundheit 335 findings of this study, however, that despite long term advances in the material standard of living, increased unemployment, or loss of employment -- especially forced movement out of the labor force by discouraged workers -- is a major source of damage to a population’s health. By inference and by statistical verification, it is also the case that the population experience of increased employment levels, and especially the long term upward trends of female labor force participation, are important in the trends of improved life-expectation. In the case of European Union unemployment, there is agreement by economists that in addition to “cyclic” unemployment that is related to national and international recessions – e.g., the one intensified by the September 11 attack on the U.S. – structural and technological factors are prominent. Structural unemployment can occur as a result of a decline of industries (e.g., manufacturing) which previously provided jobs. Unemployment due to technological progress applies to particular types of workers whose skill is made redundant because of changes in methods of production. This is especially a problem if the new jobs created are either lower-grade operative jobs, or require skills that workers do not posses. As a result of these types of unemployment, some workers will not be able to reenter the labor force and over the long term will permanently lose income and social status for themselves and their families. Even when workers are able to reenter the labor force, workers changing employers lose seniority which may affect their pay, vacations and redundancy rights, and may lose in turn their pension rights and the weight given to their experience and possibly their formal qualifications. All these conditions are important in the decline of the economic and social status of families and are of great potential importance in their health and life expectation. This study confirms the most widespread observation in the field of medical population statistics (i.e., epidemiology) that the principal established factor in the prediction of illness and mortality differentials is socioeconomic status: the lower the economic and social status of an individual or family, the greater the likelihood of illness, disability and death. The meaning of Employment Why should employment have such a fundamental importance in the health and survival of populations? In one obvious sense it refers to a state in which one is neither unemployed nor out of the labour force. The status of being unemployed or out of the labour force are very large risks to health and life expectation as represented in numerous epidemiological studies. Being out of the situation of employment makes one vulnerable to low income and substantial decline in social and economic position in a long term and even permanent way. Employment, however, represents not only the status of being employed, but the industry, occupation and position at which one is employed. Thus, employment indicates the social status level, probable educational level and relative income range of the worker. Therefore, occupational position is indicative of the economic significance of the person to society. It is this significance that often provides the linkage – i.e., the means of social integration – of the person to work, colleagues, friends, family and society in general. Much of the identity of the individual worker, as a personality, is therefore wrapped up in that person`s work role. It is then not difficult to see that for many people, the maintenance of their working position is fundamental to self esteem, public esteem and to the capacity to obtain the resources necessary to adapt to the natural and human environ- 336 Armut und Gesundheit ments and to the achievement of what is thought to be important in life. These achievements might include career successes, a community role, a successful emotional relationship and the raising of children. It is clear that the long term loss of economic position, via loss of employment, represents a fundamental and multifactorial source of social and biological harm. The hypothesis of the importance of employment to socioeconomic status, and thus to health, is consistent with the most widespread and strongest research finding in all of epidemiology: the higher the social and economic status of the person, the lower the probability of illness and mortality, for all ages and both sexes. This study was conducted at the Institute of Health Sciences and Public Health at the Berlin University of Technology. It was directed by Prof. Dr. M.H. Brenner who is at this Institute and visiting professor of international health at the Yale University School of Medicine. The Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health, Department of Health Policy and Management was a principal research partner in this study. [Die Studie kann in der Vollversion bezogen werden unter http://www.eu.int/comm/employment_social/news/2002/may/unempl_de.html Anmerkung der Herausgeber] Neue Wege in Beschäftigung - Gesundheitsförderung bei Arbeitslosigkeit25 Peter Kuhnert, Michael Kastner 1. Bedrohliche Gesundheitszustände verlangen Gesundheitsförderung von Zielgruppen Die Verhärtung der Arbeitslosigkeit in den Ländern der EU (fast jeder zweite Erwerbslose ist langzeitarbeitslos) resultiert inzwischen weniger aus der geringen Qualifikation als vielmehr aus dem hohen Alter vieler Arbeitsloser und gesundheitlichen Einschränkungen (Hardes 1999:207; Karr 1999:6). Die langfristigen Ausgrenzungsfolgen für Gesellschaft wie Betroffene werden aber noch weitgehend unterschätzt. Gründe für explodierende Kosten im Gesundheitswesen (200 Milliarden DM im Jahr) liegen z.B. im Ansteigen psychosomatischer Erkrankungen, die im erheblichen Umfang auf Arbeitslosigkeit und instabile Beschäftigung zurückzuführen sind (Glaser 2000:37). Die gesamtwirtschaftlichen Kosten der Unterbeschäftigung werden sogar auf gut 500 Milliarden DM geschätzt (IAB-Kurzbericht Nr. 17 1998:1ff.). Eine neuere Literaturdurchsicht der WHO (Ferrie et al. 1999:70ff.) weist deutlich schlechtere Gesundheitszustände, selbstschädigende Verhaltensformen und mangelnde Gesundheitsfürsorge bei Arbeitslosen im Vergleich zu Beschäftigten nach, was unter 25 Dies ist die gekürzte Fassung eines Beitrages in: Röhrle, Bernd (Hrsg.) [2002]: Prävention und Gesundheitsförderung. Band II. Tübingen: DGVT-Verlag (im Erscheinen). Arbeitslosigkeit und Gesundheit 337 anderem dazu führt, dass diese doppelt so häufig in Krankenhäuser eingewiesen werden (GEK 1999:54; Müller/Hebel 2000:223ff.). In fast allen EU-Ländern und den USA bestehen nach einer Studie für die Europäische Kommission signifikante Zusammenhänge zwischen ansteigender Arbeitslosigkeit und den allgemeinen Mortalitätsraten, der Herz-Kreislauf-Mortalität und der Selbstmordrate (Brenner 2000:6). Der Anteil von Arbeitslosen mit gesundheitlichen Einschränkungen hat auch in Deutschland deutlich zugenommen – 1985 lag er im Westen bei 19,2 Prozent und hatte 1992 bereits 28,7 Prozent erreicht (Statistisches Bundesamt 1998:116). Nach Metaanalysen von Murphy und Athanasou (1999) sowie Paul und Moser (2000) findet sich bei Arbeitslosen im Vergleich zu Beschäftigten eine konsistent schlechtere psychische Gesundheit, die nach Bewertung der Effektstärken auf ein „enormes Ausmaß menschlichen Leidens“ schließen lässt. Entsprechend sind männliche Arbeitslose achtmal häufiger von psychiatrischen Erkrankungen betroffen als Erwerbstätige (bei Frauen sind die Unterschiede etwas geringer) (GEK 1999:82ff.). Nach Literaturdurchsichten (Kuhnert 1999a; Kuhnert/Kastner 2001a) und einer Metaanalyse (Paul/Moser 2000) zeigen dabei Langzeitarbeitslose (> 1 Jahr arbeitslos) im Vergleich zu Kurzeitarbeitslosen (< als 1 Jahr arbeitslos) signifikant mehr psychische Störungen. In der DFLA-Studie (DFLA = Dortmunder Fragebogen zum Leben in der Arbeitslosigkeit) konnten z.B. 53,1 Prozent der Langzeitarbeitslosen „nie oder nur manchmal“ Stress und Ärger vermeiden und 56,7 Prozent mit dem Eintritt in die Arbeitslosigkeit „schlechter bzw. viel schlechter“ entspannen (Kuhnert 1999a: 296). Die hohen Qualifizierungserwartungen des ersten Arbeitsmarktes und ständige Präsentation von Beschäftigungsfähigkeit erzeugen dabei eine stressinduzierende „Bereitstellungssituation“ (Kuhnert/Dudda/Kastner 2000:403). Gibt es jedoch über einen längeren Zeitraum keine oder nur wenig Möglichkeiten der Stressabfuhr in Form von entsprechender beruflicher oder anderer sinnstiftender Tätigkeit, wird die Bereitstellung des Körpers chronifiziert, was zumeist mit negativen Emotionen26 verbunden ist, die nach verschiedenen Studien wiederum das Immunsystem schwächen (Bauch 2000:167). Umkehrprozesse dieser Entwicklung sowie eine berufliche Wiedereingliederung können nach einer Expertise nur auf der Basis von autonomen Handlungs- und Selbstbehauptungsstrategien bei den Betroffenen entstehen, für die gesundheitsorientierte intensive Beratungsmaßnahmen notwendig sind (Siegrist/Joksimovic 2001:38). Gesundheitsförderliche Präventionsmaßnahmen müssen auch berücksichtigen, dass Langzeitarbeitslose in verschiedenen Selbstkonzeptskalen (Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit, Selbstabwertung, generelle Kompetenzerwartung) deutlich schlechter abschnitten als Beschäftigte und auch Kurzzeitarbeitslose (Wacker/Kolobkowa 2000:76). Nach der Metaanalyse von Paul und Moser (2000) und weiterer Studien (siehe unten) lassen sich über verschiedene „Moderatoren“ (Alter, Geschlecht, sozialer Status etc.) Personengruppen ermitteln, die besonders schwerwiegend von dem Ereignis Arbeitslosigkeit betroffen sind und entsprechend auch einen höheren Interventionsbedarf aufweisen: 26 Der Eintritt von Arbeitslosigkeit führt nach Studien (Caplan/Vinokur/Price 1997; Dauer 1999) auch zu deutlichen „Einbrüchen des Sozialverhaltens“ (vermehrt gewalttätiges Verhalten; Missbrauch von Kindern etc). 338 Armut und Gesundheit Suchtgefährdete Arbeitslose mit hohem Alkohol- Zigaretten-, Medikamentenkonsum, Bewegungsmangel und ungesunder Ernährung (Henkel 1998; Kuhnert 1999a,b; Kuhnert/Kastner 2001). In der DFLA-Studie z. B. waren 75,8 Prozent Raucher, 44,3 Prozent tranken regelmäßig und in höheren Mengen Alkohol, 18,8 Prozent konsumierten Drogen (Kuhnert 1999a: 337ff.). Arbeitslose Jugendliche, die im Vergleich mit beschäftigten Gleichaltrigen einen schlechteren Gesundheitszustand und mehr psychische Probleme aufwiesen und zukünftig zu den Kranken des mittleren Alters gehören werden (Paul/Moser 2000; Starrin et al. 2000; Kuhnert 1999a; Kieselbach 2000a). Arbeitslose Männer, die im Vergleich zu Frauen eine deutlich schlechtere seelische Gesundheit (besonders vermehrte Depressionssymptome) aufwiesen (Paul/Moser 2000) und medizinische Vorsorgeleistungen (Arztbesuche etc.) kaum in Anspruch nahmen (Bründel/Hurrelmann 1999: 127). Demoralisierte und freizeitinaktive Arbeitslose (ohne bedeutsame Hobbys, soziale Aktivitäten etc.) mit negativer beruflicher Zukunftserwartung, die gegenüber solchen mit optimistischer Perspektive zu den signifikant schlechteren Bewältigern gehörten (Kieselbach/Scharf/Klink 1997; Kuhnert 1999a,b). Sozial isolierte Langzeitarbeitslose, die das „zerrissene“ soziale Netz nicht allein wieder aufbauen konnten (Price et al. 1998:200; Kuhnert 1999a:70ff.; Laubach/Mundt/Brähler 1999:75ff.). In der DFLA-Studie erhielten z.B. 50,3 Prozent kaum noch persönliche Hilfe und 14,1 Prozent waren bereits völlig isoliert (Kuhnert 1999: 355ff.). verarmte bzw. verschuldete Arbeitslose, da Armut kombiniert mit Arbeitslosigkeit das Auftreten psychischer Störungen, physischer Erkrankungen sowie sozialer Probleme begünstigte und ihre Dauer verlängerte (Stück/Dauer/Hennig 1999; Kuhnert 1999a,b). Die Armutsquote in Arbeitslosenhaushalten ist gegenwärtig mehr als dreimal so hoch wie in der Gesamtbevölkerung (Hanesch 2000). Obgleich auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit auf die wachsende Bedeutung von Gesundheitsaspekten für Selektionsprozesse am Arbeitsmarkt (Kress 2000:334) verweist, findet dennoch in Deutschland bisher praktisch keine Debatte über spezifische gesundheitliche Interventionen für Arbeitslose statt, die diese Entwicklung stoppen bzw. umkehren könnten (Kieselbach 1999; Kuhnert/Dudda/Kastner 2000). Über den engeren Status der Erwerbslosigkeit hinaus muss sich eine präventive „arbeitsmarktintegrative“ Gesundheitsförderung verstärkt auch auf die schädigenden Wirkungen von Globalisierungsfolgen wie zunehmend instabiler Beschäftigung und Arbeitsplatzunsicherheit richten. 2. Neuer Interventionsbedarf bei Instabil-Beschäftigten bzw. Arbeitsplatzunsicherheit In aktuellen Studien wird ein grundlegender Trend abnehmender Normalarbeitsverhältnisse und zunehmender „unsicherer“ bzw. instabiler Erwerbsformen diagnostiziert (Gerntke 2000; Schreyer 2000). Als „unsicher“ bzw. instabil gelten Beschäftigungsverhältnisse, wenn sie nicht auf Dauer angelegt sind, oftmals kein langfristig existenzsicherndes Einkommen gewährleisten, Arbeitslosigkeit und Gesundheit 339 und sozialrechtlich wenig abgesichert sind. Inzwischen arbeitet jeder zehnte Beschäftigte (deutscher Staatsangehörigkeit) aus den alten und rund jeder sechste aus den neuen Bundesländern in „unsicherer“ Beschäftigung, wobei explizit vierzig Prozent davon direkt von Arbeitslosigkeit bedroht sind, da sie damit rechnen, dass ihr Vertrag nicht verlängert wird (Schreyer 2000). Infratest schätzt eine relativ geringe Übernahmequote (35 bis 50 Prozent) von befristet Beschäftigten in Dauerarbeitsverhältnisse (Rudolph 2000:13). Kurzfristige Überlegungen der Betriebskostenersparnis überdecken dabei die langfristige Folgen, wie höherer Erkrankungen durch Arbeitsplatzunsicherheit und übersehen auch, dass Beschäftigungssicherheit weiterhin als wichtigster Motivationsfaktor für Mitarbeiter gilt (Ayan/Kastner 2001:126). Richard Sennet (2001:13) prognostiziert, dass eine rastlose Ökonomie mit ihren flexiblen Arbeitsformen hochgradigen Stress produziert, der das Familienleben zerrüttet, ein Miteinanderauskommen durch Abgrenzung erzeugt und die Einbindung in Gemeinschaftsorte (z.B. Stadt) auflöst. In den USA hat sich allein in den letzten zehn Jahren die Anzahl der Beschäftigten, die Angst vor einem Arbeitsplatzverlust haben, verdoppelt (McGuire 1999). Begleiterscheinungen instabiler Beschäftigung wie unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung, „Armutslöhne“, verzeichnen seit langem eine deutliche Zunahme (Dooley et al. 1996:461; Schmidt 1999:23). Nach dem neuen Armutsbericht besteht auch in Deutschland das Problem der Armut trotz Erwerbstätigkeit in erheblichen Umfang (Hanesch 2000:371). Forschungsübersichten (Dooley/Fielding/Levi 1996:45; Kuhnert 1999a:112ff.; Bammann/Helmert 2000:160) zeigen, dass instabile Beschäftigungsformen, die sich mit Arbeitsplatzunsicherheit und Angst vor Arbeitslosigkeit sowie niedrigem Einkommen, hohen Arbeitsbelastungen und geringem beruflichen Status verknüpfen das Entlassungsund Erkrankungsrisiko vergrößern, vermehrt Stress verursachen und ein selbstschädigendes Gesundheitsverhalten (z.B. Alkoholkonsum) begünstigen. Vergleichsstudien bestätigen, dass im Vergleich zu vollzeitig Erwerbstätigen ohne Arbeitslosigkeitsphasen, Beschäftigte mit zurückliegender Arbeitslosigkeit bzw. in Sorge um ihren Arbeitsplatz signifikant unzufriedener mit der familiären und finanziellen Situation sowie den sozialen Beziehungen und dem Leben insgesamt sind (Bammann/Helmert 2000:176), ein etwa dreifach erhöhtes Risiko besitzen in den nächsten drei Jahren zu versterben (GEK 1999:92), mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Herzinfarkt erleiden (Geyer 1999:129), eine deutliche Zunahme beim BMI (Body Mass Index), der Schlafdauer von neun und mehr Stunden sowie eine stärkere Ischämie und erhöhte Cholesterinwerte haben (Ferrie et al. 1998:1030ff.), keine bessere psychische Gesundheit aufweisen als aktuell Arbeitslose (Fryer/Winefield 1998), unter anderem einen signifikant schlechteren Gesundheitszustand (besonders bei Männern mit hohen Bildungsstatus), höheren Suchtmittelkonsum, höheren Blutdruck, ungünstige Cortisolwerte, Schlaftstörungen und psychischen Disstress aufweisen (Ferrie et al. 1999:64ff.), 340 Armut und Gesundheit AOK-Mitglieder in Beschäftigungsgesellschaften wesentlich mehr Krankheitsfälle als andere Beschäftigte verursachen und auch große Motivationsprobleme bei der Arbeit haben (Pauli 2000:9). In einer Forschungsübersicht zeigt Siegrist (1998:229ff.), dass instabile Beschäftigung, wenn sie mit hoher intrinsischer Verausgabung einher geht, das relative Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich erhöht. Bedrohliche Downsizing-Strategien, Instabilität, hoher Zeitdruck, wachsende Eigenverantwortlichkeit und „Veränderungsstress“ in verschlankten Unternehmen dürften bei vielen Arbeitnehmern zu einer weiteren Zunahme von Stress-Symptomen führen (Reick/Kastner 2001:21). Der empirische Nachweis, dass die Antizipation der Arbeitslosigkeit ebenso bedeutsam wie das Krisenereignis selbst ist und keine Unterschiede im Gesundheitszustand Arbeitsloser und Berufstätiger in Sorge um den Arbeitsplatz festzustellen sind, fand bisher nicht nur in der Literatur zu Arbeitslosigkeit und Gesundheit ungenügend Berücksichtigung (Friedel 2000:62), sondern wird in arbeitsmarkt- wie gesundheitspolitischen Interventionen fast gänzlich ignoriert. In der amerikanischen Präventionsforschung wurde bereits nachgewiesen, dass verhaltensorientierte Interventionsprogramme für Arbeitslose ein weites Anwendungsfeld besitzen und auch für Personen in instabiler Beschäftigung von großem Nutzen sein können (Vinokur et al. 1991:218). Die meisten Interventionen mit Arbeitslosen betrachten jedoch die Beschäftigungsaufnahme als Ende des Problems, obwohl Arbeitslosigkeitserfahrungen langfristig nachwirken (Fryer 1999). In mehreren Studien wurde gezeigt, dass die erhöhten Angstund Depressionswerte bei von Arbeitslosigkeit bedrohten Beschäftigten mit sinkender Arbeitsplatzunsicherheit auch wieder abnahmen (Ferrie et al. 1999:83). Angesichts der zunehmenden Befristungstendenz bei Einstellungen muss jedoch eine realistische arbeitsmarktorientierte Interventionsstrategie auf ein „Instabilitätsmanagement“ in kurz- und mittelfristig nicht zu verändernden unsicheren Beschäftigungslagen ausgerichtet sein. Der in den folgenden Kapiteln vorgestellte differenzierte Interventionsansatz ist durch den Einsatz von Methoden, die den Gewinn von Selbstsicherheit oder Neuorientierungen fördern, für die Umsetzung dieser Zielvorgabe besonders geeignet. Die psychische und physische Gesundheit wie auch Beschäftigungsfähigkeit kann aber „nachhaltig“ nur erhalten werden, wenn damit neue Beschäftigungsformen (redesign of jobs) geschaffen werden, die selbst gesundheitsfördernd sind, indem sie altersgerecht, anspruchsvoll, sinnstiftend und gesellschaftlich nützlich für Menschen, Regionen und Betriebe sind (Fryer 1999; Kühl 1999). Denkbar sind z.B. Netzwerkinterventionen, die Begleitangebote für Instabil-Beschäftigte gemeinsam mit kooperierenden Betrieben entwickeln und die hier vorgestellten individuumsbezogenen Maßnahmen ergänzen. 3. Die Krise der aktuellen Arbeitsmarktförderung – Irrwege und Auswege Die folgende Überblicksanalyse der aktuellen deutschen Arbeitsmarktförderung beansprucht nicht, das sehr umfangreiche und sich ständig erweiternde Spektrum der Interventionen darzustellen (siehe hierzu http://www.iab.de) und dient nur dazu, die Grenzen bisheriger Maßnahmen und ihre Modifikation- bzw. Ergänzungschancen durch Gesundheitsförderung aufzuzeigen. Arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen können bisher trotz erheblichem Aufwand von Mitteln - im Jahr 1999 wurden rund 44,5 Milliarden DM für rund 1,5 Millionen Teilnehmer ausgegeben (Siegrist/Joksimovic 2001:32) - besonders Arbeitslosigkeit und Gesundheit 341 Langzeitarbeitslose nicht in stabile und gesundheitsförderliche Beschäftigungsverhältnisse vermitteln (Kuhnert 1999a: 143ff.). Nach Kieselbach, Scharf und Klink (1997:319) variieren die kurzfristigen Übergangsraten in den ersten Arbeitsmarkt zwischen zwölf und vierzig Prozent der Teilnehmer. Bei jugendlichen Teilnehmern werden „dauerhafte“ Übergangsraten von zwanzig Prozent vermutet (Walther 2000:36), wobei in mehreren evaluierten Maßnahmen die Verbleibsquoten schon nach sechs bzw. neun Monaten Erwerbstätigkeit deutlich absanken. Der große Innovationsbedarf der bestehenden Interventionsinstrumente zeigt sich auch in aktuellen Evaluationsstudien: Besonders Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) erbringen in der Regel keine signifikanten Verbesserungen der individuellen wie regionalen nachhaltigen Beschäftigung und selbst betriebsnahe Weiterbildungen sind nur im Bereich der „kurzen Langzeitarbeitslosigkeit“ effektiv (Schmid et al. 1999: 555f.; Kress 2000:299). AFG-finanzierte Weiterbildungsmaßnahmen lassen gleichfalls keine generell besseren Wiederbeschäftigungschancen der Teilnehmer gegenüber arbeitslosen NichtTeilnehmern (Wingens/Sackmann/Grotheer 2000:74f.) und langfristige Verkürzung der Arbeitslosigkeitsdauer erwarten (Hujer/Wellner 2000:405ff.). Nach einer IAB-Durchsicht von Fitzenberger und Speckesser (2000:357ff.) neuerer Evaluationsstudien der aktiven Arbeitsmarktpolitik (AAMP) in der Bundesrepublik wird, trotz bestehender statistischer Unsicherheit (geringer Datenumfang, Poolung heterogener Maßnahmen, fehlende Hintergrundinformationen über Teilnehmer und Nichteilnehmer etc.), nur von geringen signifikanten positiven Beschäftigungseffekten ausgegangen. In der DFLA-Studie hatten z.B. bereits 42,1 Prozent der befragten Langzeitarbeitslosen an einer Fortbildungs- bzw. Umschulungsmaßnahme teilgenommen, mehr als ein Viertel (26,9 Prozent) davon wies schon eine „negative Fortbildungskarriere“ auf und war trotz mehrmaliger Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen in der Langzeitarbeitslosigkeit verblieben (Kuhnert 1999a:408, 2001). Bilanzierungen der wenigen vorliegenden Studien, die nicht nur nach den Vermittlungsquoten in den Arbeitsmarkt fragen, sondern auch die psycho-soziale Stabilisierung und gesundheitliche Verfassung von Teilnehmern einbeziehen (Kieselbach/Scharf/Klink 1997:321; Kuhnert 1999a:143ff.) machen deutlich, dass die bisherigen Arbeitsmarktinstrumente nur einen temporären Schutz gegen Schädigungen durch Arbeitslosigkeit bieten und die Qualität der neuen Beschäftigung (stabil oder instabil) entscheidend für die Gesundheitssituation der Betroffenen ist. Die gegenwärtigen europäischen Unterstützungssysteme für Arbeitslose (Kieselbach 2000b:421) zum betrieblichen Wiedereinstieg, sind trotz einiger Fortschritte (Knuth 2000:155), immer noch sehr statisch und wenig transitionsorientiert ausgerichtet. Sie entsprechen kaum den Vorstellungen eines „sozialen Konvois“ durch die gesamte Arbeitslosigkeitsphase, der zur Entwicklung und Stärkung personaler und sozialer Ressourcen des Einzelnen beiträgt. Entsprechend wird in der Arbeitsmarktforschung inzwischen die These vertreten, dass bei einem wachsenden Teil der Langzeitarbeitslosen die bereits vorhandenen „Defizite an körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit im Rahmen der bisherigen Arbeitsförderungsmaßnahmen nicht auszugleichen sind" (Knuth 2000:171; Kieselbach 1999:21). Notwendig ist deshalb die Integration von psychosozialer Beratung und Begleitung als elementare Bestandteile von Qualifikationen und Reintegrationsmaßnahmen. 342 Armut und Gesundheit Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente sind nach wie vor fast ausschließlich auf die fachliche Qualifizierungsebene ausgerichtet (siehe Forschungsübersicht bei Kuhnert 1999a:141ff.). Dies ist um so erstaunlicher, da viele Studien zeigen, dass die Bewältigung von Arbeitslosigkeit maßgeblich von Art, Umfang und Nutzung der persönlichen und sozialen Ressourcen und dem Gesundheitsverhalten abhängig ist (Price/Friedland/Vinokur 1998:303, Dietrich 2001:22). Generell sind jedoch außerhalb der Erwerbsarbeit noch nicht ausreichend Interventionskonzepte entwickelt, die an Leistungs- und Verhaltenseigenschaften des Menschen ansetzen und der Stressvermeidung folgen (Plath 2000:13). Das derzeit in der Arbeitsmarktforschung favorisierte Konzept des „Forderns und Förderns“ will keine Schuldzuschreibung an Arbeitslose betreiben, sondern Verantwortlichkeit für die Veränderung ihrer Situation erhöhen (Knuth 2000:170f.) und zum Ausbalancieren des Verhältnisses von Flexibilisierung und Absicherung beitragen (Klammer 2000). Dennoch wird durch den erhöhten Druck zur Aufnahme einer Beschäftigung (Werner 2001:19), der nach Erfahrungen aus der Arbeitsvermittlung nur für eine extreme Minderheit „arbeitsunwilliger“ Leistungsbezieher sinnvoll ist (Dribbusch 2001), eher zur weiteren Stresserzeugung und gesundheitlichen Beeinträchtigung bei der großen Mehrheit von Arbeitslosen beigetragen. Durch die aktuellen „Faulenzerdebatten“ droht die schon bestehende Stigmatisierung und Ausgrenzung erwerbsloser Menschen weiter anzuwachsen. Attributionen auf Personen fallen leicht, vernachlässigen aber die Erkenntnis, dass menschliches Verhalten in dynamischen Wechselwirkungen aus Person, Situation und Organisation entsteht (Kastner 1998b). Wenn organisationale Regelungen (z.B. des BSHG) beinhalten, dass einem arbeitslosen Familienvater 2.900 DM Sozialhilfe ohne Erwerbsarbeit zustehen, kann man ihm nicht vorwerfen eine unangenehme Beschäftigung (z.B. Aushilfskellner) mit einem Brutto-Einkommen von 3.000 DM abzulehnen (Hammerstein/Reierman 2001:23). Den Flexibilitätsforderungen eines sich ständig wandelnden Arbeitsmarktes, der zunehmend nach einem strikt team- und ergebnisorientierten „the winner-takes-all-Leitbild“ geformt ist (Sennet 1998; 2001:12f.), fühlen sich zudem immer mehr Arbeitslose mit oftmals geschwächten persönlichen und sozialen Ressourcen kaum noch gewachsen. Berücksichtigt werden muss auch die Arbeitsmarktlage z.B. in strukturschwachen Regionen wie dem Ruhrgebiet, denn europäische Erfahrungen zeigen, das spektakuläre Erfolge mit Fördern und Fordern-Ansätzen nur dann erzielt wurden, wenn die beruflichen Wahlmöglichkeiten besonders vielfältig waren (G.I.B.-Info 1 1999:14). Entsprechend erscheinen Umbrüche in einem eher starren Beschäftigungssystem nur schwer lebbar und mit großen individuellen Risiken behaftet. Besonders bei Langzeitarbeitslosen, deren Selbstwertgefühl durch die Dauer der Ausgrenzung aus der Erwerbsarbeit beschädigt ist, werden Mobilitäts- und Flexibilitätsforderungen eher als Anpassungszumutung, denn als Möglichkeit der Selbstgestaltung erlebt (Epping/Klein/Reutter 2001:19). Mit den vorgestellten Präventionsansätzen sollen erwerbslose demoralisierte Menschen mit geringen Bewältigungskompetenzen und schlechter gesundheitlicher Verfassung überhaupt erst befähigt werden, ein anspruchsvolleres berufliches Anforderungsprofil zu erfüllen. Damit auch „nachhaltige“ Beschäftigungseffekte bei bereits stark ausgegrenzten Arbeitslosen erzielt werden können, müssen auch die diagnostischen Instrumente der Arbeitsmarktförderung verbessert werden. In Deutschland besteht aber nach Auffassung Arbeitslosigkeit und Gesundheit 343 von Knuth (2000:170) eine große Scheu, bei der Kennzeichnung von Arbeitsmarktproblemen über die deskriptiv-statistischen Merkmale von Personen hinauszugehen und ihre wirklichen Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu benennen, während z.B. in den Niederlanden Arbeitslose seit Januar 1999 mit einem Fragebogen („Kansmeter“) in vier Problemstufen eingeteilt werden, für die unterschiedliche Förderangebote gemacht werden (Rudolph u. Seiffert 2000: 4f.). Inzwischen sind Instrumente wie „Profiling“ (individuelle Risikoprognose), die in den USA bereits seit 1993 eingesetzt werden, ein aktueller Schwerpunktbereich des IAB bei der Bundesanstalt für Arbeit (Schmid et al. 1999:559). Inwieweit „Profiling“ zu einem brauchbaren Präventionsinstrument zur Verhinderung von Langzeitarbeitslosigkeit und Erhaltung von Gesundheit werden kann, ist allerdings in der derzeitigen Modellphase noch völlig offen, zumal in Großbritannien die schlechten Prognoseergebnisse des „Profiling“ zum Verzicht auf dieses Instrument geführt haben (Rudolph/Seiffert 2000:9). Eine frühe Diagnose bei Langzeitarbeitslosen kann jedoch die rechtzeitige Behandlung sowohl somatischer Erkrankungsformen als auch psychischer Beeinträchtigungen (Depressionen etc.) einleiten (Matoba/Ishitake 1999). Vieles spricht dafür, dass die aufgezeigten Interventionsprobleme schon auf der Ebene der praktizierten Kategorisierungsansätze der Diagnostik liegen. In der gegenwärtigen Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik wird das erhöhte Gesundheits- und Verbleibsrisiko bei einzelnen Arbeitslosengruppen fast ausschließlich nach soziodemographischen und epidemiologisch begründeten Kriterien vorgenommen (Rosenbrock 1998:17). Die Einteilung von „Problemgruppen des Arbeitsmarktes“ nach Formalkriterien erweist sich jedoch nach Studien des IAB27 als problematisch, denn allein die Gruppe „Nichtformal-Qualifizierter (NFQ)“ ist weit heterogener als angenommen (Reinberg/Walwei 2000:22). Entgegen der Annahme pauschaler Benachteiligung von Migranten auf dem Arbeitsmarkt (Bundesrepublik Deutschland – Gemeinschaftsinitiative EQUAL 2000:24ff.), münden z.B. junge Ausländer unter 25 Jahren mit niedrigerer Wahrscheinlichkeit in Arbeitslosigkeit ein, als die deutschen Teilnehmer eines Förderungsprogramms (Dietrich 2001:19). In der DFLA-Studie hatten viele soziodemographische Variablen (Alter, Dauer der Arbeitslosigkeit, Bildungsniveau etc.) keinen oder nur sehr schwach signifikanten Einfluss auf vorhandene Ressourcen und Kompetenzen zur Überwindung der Arbeitslosigkeit sowie auf das Gesundheitsverhalten (Kuhnert 1999a:398ff.). Dagegen waren personale Variablen bzw. Moderatoren wie der Umgang mit den knappen finanziellen Ressourcen (Schulden) oder die Alltags- bzw. Freizeitgestaltung bedeutsamer (Kuhnert 1999a:482). Entsprechend der zunehmenden Bedeutung der Dispositionsprävention in der umweltpsychologischen Gesundheitsförderung, die für bestimmte Bevölkerungsgruppen ein höheres Schutzniveau (z.B. Grenzwerte) einfordert (Meyer/Sauter 2000:16), müssen differente Vulnerabilitäts- bzw. Stressbewältigungsniveaus unter Arbeitslosen und Instabil-Beschäftigten weitaus mehr als bisher berücksichtigt werden. Nach der Metaanalyse von Paul und Moser (2000) verschlechtert Arbeitslosigkeit die psychische Gesundheit (Verursachungshypothese) und umgekehrt erhöhen vorhandene Störungssymptome die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden bzw. zu bleiben (Selektionshypothese). 27 Bisher beschäftigt sich das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit aber mit keinen genuin psychologischen Forschungsfragen oder finanziert diese in Kooperationen mit anderen Forschungseinrichtungen (Blaschke 2000). 344 Armut und Gesundheit Diagnostische Verfahren, die diese Erkenntnisse aufgreifen wurden bereits mit langzeitarbeitslosen Männern und Frauen (N = 226) erprobt: Der „Dortmunder Fragebogen zum Leben in der Arbeitslosigkeit (DFLA)“ richtete sich auf das Bewältigungs- und Gesundheitsverhalten von Arbeitslosen und erwies sich als hinreichend reliabel und valides Messinstrument (Kuhnert 1999a: 244ff.). Der SOC-Fragebogen („Fragebogen zur Lebensorientierung“) von Antonovsky (1997), allein bis 1993 in 113 Untersuchungen eingesetzt, zeichnete sich auch für die Gruppe der Dortmunder Langzeitarbeitslosen (N = 69) als geeignetes Diagnoseinstrument aus (Kuhnert 1999a:43ff., 456ff.). Ein Verfahren aus der psychoneuroimmunologischen Stressdiagnostik durch die Bestimmung von Immunglobulin A im Speichel (IgA-Test), das zur Absicherung unterschiedlicher Stresslevel I, II oder III dient und Hinweise auf chronischen Stress bei Langzeitarbeitslosen erbrachte (Kuhnert 1999a: 453ff.). Obgleich die Forschung in diesem Bereich sicherlich noch weiterentwickelt werden muss, kann mit neuen psychologischen Diagnoseinstrumenten ein zielgruppenorientierter spezifischer Interventionsbedarf bestimmt werden, der eine präventive und salutogene Gesundheitsförderung in der Arbeitslosigkeit erleichtert. 4. Erhöhung der Akzeptanz von Gesundheitsförderung bei Arbeitslosen In Forschungsübersichten wird der großen Nutzen von Gesundheitsförderungsaktivitäten für erwerbslose Menschen aufgezeigt, wobei sich sportliche Aktivitäten als besonders effektiv erwiesen (Kuhnert; 1999a: 129ff.; Kuhnert/Kastner 2001), die nach Studien jedoch von Arbeitslosen im Vergleich zu Beschäftigten nur selten praktiziert werden (Statistisches Bundesamt 1998:119). Selbst gesundheitlich schwer beeinträchtigte Arbeitslose können von „proaktiv“ ausgerichteten Gesundheitsförderungsprogrammen profitieren, wie z.B. 229 norwegische Langzeitarbeitslose mit doppelt so hohen somatischen Erkrankungen und dreimal so hohen Depressionswerten wie in der Normalbevölkerung, von denen 60 Prozent ihren Lebensstil änderten, 34 Prozent aufhörten zu rauchen und 14 Prozent sich mehr bewegten (Yitterdal 1998: 38f.). Die gesundheitsförderliche Aktivierung marginalisierter oder schlecht erreichbarer Gruppen wie z.B. Arbeitsloser und die Schaffung entsprechender Versorgungsstrukturen stehen in Deutschland jedoch noch weitgehend aus (Zurhorst 2000:228). Nach dem Abschlussbericht „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ können aber präventiv ausgerichtete Interventionen nur nachhaltig wirken, wenn sie neben strukturellen Maßnahmen auch verhaltensbezogene und psychosoziale Aspekte angemessen berücksichtigen (Siegrist/Joksimovic 2001:36). Präventive bzw. gesundheitsförderliche Ziele sollten auch möglichst positiv formuliert werden, d.h. einen positiven Anreiz bieten, da nach Ergebnissen der Präventionsforschung Abschreckungskampagnen bisher nur geringen Erfolg hatten (Röhrle 1999b:59). Eine positive Ausrichtung von Gesundheitsförderung ist aber nur möglich, wenn die individuellen Entwicklungspotentiale für Wohlbefinden bekannt sind. Hier klaffen allerdings die größten Forschungslücken, denn nur zwei Prozent einer neueren Bibliographie zur Gesundheitsförderung sind auf Wohlbefinden ausgerichtet (Röhrle 1999b:61). Eine arbeitsmarktintegrative Gesundheitspflege muss auch als gleichwertige Bildungsressource zur formalen Qualifizierung (Fortbildung-, Umschulung etc.) begriffen werden (Bundesministerium für Gesundheit 2000:28f.), die langfristig Lebensqualität und Arbeitslosigkeit und Gesundheit 345 nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit erhält bzw. wieder herstellt (Kastner 1998a). Die Lebensqualität28 gewinnt auch bei der Ergebnismessung im Gesundheitswesen immer stärker an Bedeutung (Hoffmann u. Schöffski 2000:260). Wichtig ist aber auch mehr Lebenssinn in der Arbeitslosigkeit zu entwickeln, denn Sinnleere fördert bei Arbeitslosen das Auftreten von Depressivität, Aggressivität/Vandalismus, Alkoholismus, Drogenkonsum und Suizid (Kuhnert 1999a:118ff.; Röhrle 1999b:66). In der DFLA-Studie wurde z.B. bei 41 Prozent der befragten Langzeitarbeitslosen ein durch die Arbeitslosigkeit ausgelöster starker Verlust von Lebensinn festgestellt. Für die Interventionsentwicklung mit Langzeitarbeitslosen wurden bereits theoretische („Das Sinnprinzip als Bewältigungsressource“) als auch praktisch methodische Überlegungen angestellt (Kuhnert 1999a:38f., 194ff.). In der beruflichen Weiterbildung wird inzwischen für ältere Langzeitarbeitslose (über fünfzig Jahre), neben den weiterhin notwendigen berufsqualifizierenden Anteilen, eine verstärkte Vorbereitung auf ein Leben „neben der Erwerbsarbeit“ gefordert (Epping/Klein/Reutter 2001:30f.). Insgesamt deutet vieles darauf hin, dass die bisherige weitgehende Trennung von Arbeits- und Gesundheitsförderung wenig effizient ist. In einer Untersuchung mit 2000 arbeitslosen Arbeitern wurde z.B. nachgewiesen, dass isolierte individuelle Interventionsangebote auf weitaus geringere Akzeptanz stießen als „gemischte“ Ansätze wie die Arbeitsplatzsuche unterstützende Workshops, die Programme der Gesundheitsvorsorge einschlossen (Dooley/Fielding/Levi 1996:460). Im Kontext der konkreten Planung spezifischer gesundheitsförderlicher Präventionsangebote für Arbeitslose und Instabil-Beschäftigte ist auch zu beachten, dass viele medizinsoziologische Untersuchungen eine schichtenspezifische Variation der Symptomsensibilität und Symptomeinschätzung nachgewiesen haben (Bauch 2000:183ff.). Angehörige sozialer Unterschichten besitzen ein eher „instrumentelles Körperverständnis“, und viele Symptome entsprechen demnach einem „natürlichen“ organisch-biologischen Verschleiß und gelten auch eher als Zeichen geleisteter Arbeit. Das Bundesministerium für Gesundheit stellt entsprechend fest, dass gerade sozial benachteiligte Menschen (wie z.B. Langzeitarbeitslose) die gegenwärtigen Präventionsangebote schlechter annehmen als andere Gesellschaftsschichten (Riedel 2000:39). In der DFLA-Studie gab nur ein Drittel der befragten Dortmunder Langzeitarbeitslosen an, gesundheitspräventiv zu handeln und 41,5 Prozent glaubten kaum daran, ihr gesundheitsschädigendes Verhalten noch ändern zu können (Kuhnert 1999a:354f.). Eine längerfristige Gesundheitsplanung hat für viele Langzeitarbeitslose ohne berufliche oder gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten kaum Relevanz, und die kurzfristige Bedürfnisbefriedigung dominiert deutlich das Alltagsgeschehen. Bedingt ist dies auch durch die in einer Forschungsübersicht von Kuhnert (1999a:86ff.) nachgewiesene starke Auflösung der Zeit- und Alltagsstruktur von vielen Langzeitarbeitslosen (in der DFLAStudie waren dies 43 Prozent), die sich in genereller Planungsunsicherheit und Verlust von Zukunfts- bis Tagesplanung äußert. Deshalb reicht es nicht aus, Arbeitslose z.B. nur auf die bestehenden Gesundheitsangebote hinzuweisen, sondern es gilt, ein spezifisches 28 Dabei wird der Einfluss den Leistungen der Medizin auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität haben, bestenfalls mit zehn Prozent beziffert, während die genetische Ausstattung, Umweltbedingungen und der individuelle Lebensstil (z.B. Ernährungsgewohnheiten, Tabakkonsum, Bewegung) weitaus bedeutender sind (Hoffmann/Schöffski 2000: 250f.). 346 Armut und Gesundheit aktivierendes Gesundheitsförderungsprogramm für Arbeitslose bzw. InstabilBeschäftigte zu entwickeln. Im Selbstmanagementkonzept steht der Motivationsaufbau im Mittelpunkt, da auch nach führenden Theorien zur Stabilisierung gesundheitsrelevanten Verhaltens der Motivationsfaktor entscheidend für Änderungsprozesse ist (Siegrist/Joksimovic 2001:19). Eine höhere Akzeptanz der Gesundheitsförderung kann auch durch die enge Kooperation mit Gesundheitshäusern erreicht werden, zumal wenn sie in ein Gesamtkonzept der Stadterneuerung eingebunden sind (G.I.B. 2000:24) und auf professionelle Marketingund Kommunikationsstrategien zurückgreifen (Richter 2000:167). Verschiedene medizinsoziologische und gesundheitspsychologische Untersuchungen zeigen, dass der größte Teil gesundheitlicher Probleme nicht im medizinischen Expertensystem, sondern im Alltagshandeln bearbeitet wird (Sting 2000; Bauch 2000; Nestmann 2000). In einer Studie wurde z.B. festgestellt, dass von drei überstandenen Krankheiten zwei dem Arzt überhaupt nicht zur Kenntnis gelangen (Bauch 2000:183). Es macht für hoch belastete Arbeitslose jedoch wenig Sinn, eine langzeitorientierte Gesundheitsperspektive aufzubauen, wenn sie mit Problemen der situativen Alltagsbewältigung befasst sind (Bauch 2000:187). Daher geht es auch darum, Orientierungskapazitäten, die auf die aktuelle Bewältigung des Alltags gerichtet sind und von ihm absorbiert werden, schrittweise für andere Ziele (Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit) „frei zu bekommen“: 1. als erster Schritt die Alltagsbewältigung optimieren und Kapazitäten freisetzen, 2. als zweiter Schritt diese Kapazitäten für Gesundheits- und Beschäftigungsziele nutzen, 3. und als dritter Schritt eine Balance zwischen diesen beiden Zielebenen herstellen, die dauerhaft ist. Hilfreich für die Entwicklung von mehr „Alltagsintegrationsfähigkeit“ bzw. eines „Alltagsbewältigungsprogramms“ für Interventionen in der Arbeitslosigkeit sind die Projekte von LISU („Lernen im sozialen Umfeld“), die versuchen unter anderem auch in Phasen längerer Erwerbslosigkeit lebensbiographisch erworbene Qualifikationen und Kompetenzen zu erhalten und auch bisher „ungelebte“, d.h. beruflich bisher nicht nachgefragte Kompetenzen zu aktivieren sowie neue Koppelungen von Ehrenamt und ABM zu ermöglichen (Epping/Klein/Reutter 2001:39f.). Mit dem „Modell des sozialen Vergleichprozesses“ können auch soziale Unterschichten gesundheitsaktiver werden. Wenn eine für eine Person relevante Bezugsgruppe (z.B. ein Verein dessen Fan man ist, verehrte Sportler, Prominente, die einem nahe stehen etc.) ein gesundheitsförderliches Verhalten positiv beurteilt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass aus der sozialen Verstärkung und aus dem erwarteten positiven Vergleichsprozess Energien geschöpft werden, die der Stabilisierung neuer (gesundheitskonformer) Gewohnheiten zum Erfolg verhelfen (Siegrist 1995:167f.). Mit einer arbeitsmarktintegrativen Ausrichtung hat Kuhnert (1999a:237) im Rahmen eines spezifischen Impressionsmanagements für Langzeitarbeitslose ein ähnliches Modell der „eigenen Aufwertung über Kontakte“ (Mummendey 1995:145) auf Alltagssituationen der Betroffenen bezogen. Die Gesundheitsziele müssen mit der Lebenswelt von arbeitslosen Menschen kompatibel sein und die von den Spitzenverbänden der Krankenkassen (2000:6f.) geforderte Zielgruppennähe bzw. –attraktivität besitzen. Im Vordergrund sollen Ziele stehen, die Arbeitslosigkeit und Gesundheit 347 einen unmittelbaren Zusatznutzen haben (Fitness, Spaß an der Bewegung, Abbau von Aggressionen und Frust, Erfolgserlebnisse etc.) und den längerfristigen Gesundheitszugewinn, den sie objektiv bewirken, gar nicht zum Handlungsmotiv werden lassen müssen (Bauch 2000:188). Eine Gesundheitsförderung mit hoher Akzeptanz für Arbeitslose darf nicht als weitere Belastung verstanden werden. Für die Zielgruppe der Langzeitarbeitslosen wurden hierzu bereits konzeptuelle Überlegungen angestellt, die unter anderem ein Bewegungsprogramm, Outdoor-Trainings und kulturelle Aktivitäten als Sinn- und Gesundheitsressource einschließen (Kuhnert 1999a:132ff.). Sie sollen in einem geplanten Projekt weiterentwickelt und umgesetzt werden, da sie sowohl den „Innovationsanspruch“ des § 10 SGB III (Freie Förderung) erfüllen als auch dem Settingansatz der gesundheitlichen Primärprävention im § 20 SGB V entsprechen. Wichtiger noch als einzelne Methoden zur Lösung des „Akzeptanzproblems“ ist eine generell salutogen ausgerichtete Gesundheitsförderung. 5. Chancen salutogener Gesundheits- und Präventionsstrategien für Arbeitslose Ein salutogenetisches Präventions- und Interventionsverständnis bietet generell bessere Möglichkeiten die Handlungskompetenzen des Einzelnen zu erweitern, da es stärker an Potentialen statt an Risiken und Defiziten orientiert ist (das Ziel ist ein „hin zu“ und nicht in ein „weg von“). Die Annäherung an ein positives Ziel ist motivierender, als Abstand vom Negativen zu gewinnen (Veith 1998:47), zumal ein beträchtlicher Teil von Langzeitarbeitslosen eine so hohe Belastungsdichte aufweist, dass eine problemorientierte Intervention kaum möglich erscheint (Kuhnert 1999a:109). Salutogene Gesundheitsförderung setzt an den Lebensweisen und Lebensbedingungen der Menschen an. Ihr geht es darum, biologische, seelische und soziale Widerstandskräfte und Schutzfaktoren zu mobilisieren und Lebensbedingungen herzustellen, die ein optimales Maß an körperlicher Be- und Entlastung erlauben (Antonovsky 1997; Gerber/von Stützner 1999; Zurhorst 2000; Kuhnert 1999a 2001). Salutogene Gesundheitsziele richten sich unter anderem darauf, ein hohes Maß an Selbstachtung herzustellen und Anteile der eigenen Steuerung der Lebensgestaltung zu erhöhen, die Motivation für gesundheitliche Aktivitäten zu fördern, Beziehungsfähigkeit als Bedingung für den Aufbau vertrauensvoller und für sich und andere förderlicher sozialer Unterstützungsnetze herzustellen, die Fähigkeit, sich Unterstützung von anderen Menschen zu holen, sich sozial zugehörig und verortet zu fühlen, auch (nicht selbstschädigende) Genussfähigkeit und eine positive Einstellung zum Leben zu erlangen. Antonovsky (1997) betont, dass gesundheitsfördernde und präventive Maßnahmen nur dann erfolgreich sein können, wenn sie darauf abzielen, ein breites Spektrum individueller, sozialer und kultureller Faktoren zu verändern (Bengel/Strittmatter/Willmann 1999:70), Angesichts der aufgezeigten dramatischen gesundheitlichen Lage vieler langzeit- und mehrfacharbeitsloser Menschen (siehe oben) ist es deshalb auch notwendig, eine salutogene Gesundheitsförderung generell in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen für Erwerbslose zu integrieren. Salutogene Gesundheitsförderung, die in diesem Sinne auf eine Vulnerabilitätssenkung durch Ressourcenstärkung zielt, kann als integraler 348 Armut und Gesundheit Bestandteil moderner Konzepte der Primärprävention verstanden werden (Rosenbrock 2000:48). Eine salutogen ausgerichtete Gesundheitsförderung für Arbeitslose konnte bisher in der Praxis aber kaum umgesetzt werden, da offensichtlich eine Praxisforschung fehlt, die Präventionsaspekte stärker in die konzeptionelle Gestaltung wie auch Umsetzung von Gesundheitsprojekten einzubringen vermag (Gerber/von Stützner 1999:60f.). Hervorzuheben ist dabei, dass es derzeit im deutschen Gesundheitssystem weder eine gezielte Strategie zur Tabakprävention (Helmert/Maschewsky-Schneider 1998) noch Alkoholprävention (Henkel 1998) und insgesamt psychotroper Substanzen für sozial Benachteiligte (besonders Arbeitslose) und solche, die es werden können (Instabil Beschäftigte) gibt (Kuhnert/Dudda/Kastner 2000:408). Dagegen liegt für den betrieblichen Arbeitsund Gesundheitsschutz ein ganzes Bündel von Präventionsstrategien und Handlungshilfen für eine psychosoziale Prävention am Arbeitsplatz vor (Kastner et al. 2001:455ff.). Das Problem fehlender Präventionsstrategien für sozial Benachteiligte ist aber nur lösbar, wenn anstoßende bzw. begleitende Forschung gefördert wird, die das bestehende Theorie-Praxis-Gefälle minimiert. 6. Beispiele wirksamer verhaltensorientierter arbeitsmarktintegrativer Interventionen In einer Literaturdurchsicht und anhand eigener klinischer Fallanalysen kommen Fäh (2000:150ff.) und Ross (2000:169f.) zu dem Ergebnis, dass mit verhaltensorientierten Interventionen gegenüber vorherrschenden pathogenetischen Behandlungsansätzen eine stärkere Abnahme des mittleren Belastungsgrades bei stressbedingten Erkrankungen erreicht wird. Verschiedene verhaltensorientierte Verfahren wurden bereits auf ihre arbeitsmarktintegrative wie gesundheitsförderliche Effektivität (für Arbeitslose) hin analysiert (Kuhnert 1999a:224ff.). Die sorgfältig evaluierte Studie des von Proudfood und Mitarbeitern (1997) in London durchgeführten kognitiv-behavioralen-Gruppentrainings (CBT) mit nicht-psychiatrischen Langzeitarbeitslosen zeigt, dass gegenüber einer Kontrollgruppe mit dem Programm „Soziale Unterstützung“, ein verhaltensorientierter Interventionsansatz mit arbeitsmarktbezogenen Trainingselementen deutlich überlegen ist (Kuhnert 1999a:231). Während vor dem nur sieben Wochen (wöchentlich drei Stunden) andauerten Intensivtraining in einem Gesundheitstest noch 59 Prozent der Probanden der CBT-Gruppe einen „psychiatrischen Auffälligkeitswert“ erzielten, waren es nach dem Training nur noch 21 Prozent (Proudfood et al. 1997:96). Im Vergleich zur Kontrollgruppe fanden dreimal so viele CBT-Teilnehmer wieder eine unbefristete Vollzeitstelle und konnten sich auch psychosozial mehr stabilisieren (Proudfoot et al. 1997:97ff.). In einem amerikanischen erfolgreichen Interventionsprojekt (Michigan JOBSProgramm) wurden kurzfristig erreichbare Ziele (Demoralisierung, Barrieren und Rückschläge „anerkennen“ und überwinden) mit langfristigen Zielsetzungen (Erwerb einer Beschäftigung, die ökonomische, soziale und psychische Erträge verbessert) verbunden. Damit fanden etwa zwanzig Prozent der teilnehmenden schwerstvermittelbaren Arbeitslosen schneller eine neue und zudem anspruchsvollere Stelle, als diejenigen Arbeitslosen ohne Teilnahme (Caplan/Vinokur/Price 1997:343; Goleman 2000:310f.). Das von Robert Caplan und Richard Price und dem „Michigan Prevention Research Center“ (MPRC) konzipierte JOBS-Programm, welches sich seit über fünfzehn Jahren in der Arbeitslosigkeit und Gesundheit 349 Praxis bewährt hat (Price et al. 1998:201), funktioniert bildungs- und schichtenübergreifend und hilft insbesondere Arbeitssuchenden mit den ungünstigsten Aussichten auf eine Wiederanstellung (z.B. schwere depressive Verstimmungen). Mit fünf jeweils vierstündigen Sitzungen arbeiten zwei Ausbilder beider Geschlechter mit Gruppen von fünfzehn bis zwanzig Teilnehmern (Caplan/Vinokur/Price 1997). Sie werden geschult in Techniken wie mentales Probehandeln und Dramatisierungen sowie dem Training von Schlüsselkompetenzen im Rollenspiel. Mit solchen Übungen testen die Teilnehmer auch ihr neu erworbenes Wissen (Price/Vinokur 1995:200). Nach Erkenntnissen aus dem Gruppen-Coaching sollte ein Gruppenleiter keinesfalls mit mehr als fünfzehn Personen arbeiten (Rauen 2001:56). Eine besonders wichtige Schlüsselkompetenz in JOBS ist, wie auch im Selbstmanagement-Ansatz, Optimismus (Kanfer/Reinecker/Schmelzer 1996; Kuhnert 1999a,b; Kuhnert/Kastner 2001), den Arbeitssuchende als „Impfung“ gegen Resignation bei Misserfolgen in Anbetracht von Ungewissheiten und Rückschlägen besonders benötigen (Price 1992). Die Trainer des JOBS-Programm werden in der Regel aus den Reihen der Arbeitslosen rekrutiert. Es sind zumeist Berater, Lehrer und andere Berufsangehörige, die über ein hohes Maß an sozialen und emotionalen Kompetenzen, wie Flexibilität, Empathie, Selbstsicherheit und positives Denken verfügen (Price/Vinokur 1995). Nach der Auswahl durchlaufen die Trainer/innen selbst erst ein siebenwöchiges Training, bevor sie mit den Sitzungen beginnen können (ebd.). Das JOBS-Programm fördert besonders Kompetenzen, die für Eintritt und Bestehen auf dem heutigen komplexen Arbeitsmarkt unverzichtbar sind (Goleman 2000:312): Die Fähigkeit, sich in eine andere Perspektive hineinzuversetzen, um Stellensuchenden zu helfen, wie ein Arbeitgeber zu denken, Selbstbewusstsein; der feste Glaube an den eigenen Erfolg, der für das Ergreifen der Initiative so wichtig ist, die Pflege von Beziehungen, weil die meisten Stellen über persönliche Kontakte gefunden werden, Entscheidungen hinsichtlich der Karriereplanung treffen – das erste Stellenangebot ist nicht unbedingt das geeignetste. Die Teilnehmer lernen auch ihre spezifischen Probleme bei der Arbeitsuche zu antizipieren und durch das Feedback der Gruppe und Trainer Handlungsalternativen dafür zu finden, die es ihnen letztlich ermöglichen, eine vollständige Arbeitsuchstrategie zu entwickeln (Price/Vinokur 1995:200ff.). In zwei evaluierten Feldexperimenten wurde nachgewiesen, dass Teilnehmer von JOBS gegenüber Kontrollgruppen sowohl deutlich schneller eine Stelle fanden und qualifiziertere Positionen einnahmen als auch eine bessere psychische Befindlichkeit (unter anderem weniger Depressionen) aufwiesen (Price/Friedland/Vinokur 1998:312). Die evaluierten Langzeiteffekte des Programms zeigen, dass es ein kosten-effektives Gemeindeprogramm ist, von dem gleichermaßen teilnehmende Arbeitslose wie auch die Gesellschaft profitieren können (Vinokur et al. 1995:137). Insgesamt zeigt eine Übersichtstabelle der Effekte des JOBS-Programms des MPRC von 1989 bis 1997, dass es nicht nur die Beschäftigungsfähigkeit der Teilnehmer und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessert, sondern auch deutlich ihre soziale Situation und gesundheitliches Befinden positiv beeinflusst (Price et al. 1998:203). 350 Armut und Gesundheit Beachtet werden muss aber, dass auf Grund weitaus höherer Flexibilität des amerikanischen Arbeitsmarktes, eine „deutsche Kopie” von JOBS wenig sinnvoll erscheint, zumal sich „Programmkopien” wie beim Casemanagementansatz oder Profiling als problematisch erweisen. Die deutsche Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik erweckt bisher auch eher den Eindruck, dass sich arbeitslose Menschen mehr den Präventionsund Interventionsprogrammen anpassen müssen als umgekehrt. 7. Nutzen von Stressbewältigung, Bewegung, Empowerment und Netzwerkintervention Die Effektivität einer Selbstmanagement-Beratung kann durch den Einsatz weiterer Methoden (Stressbewältigung, Empowerment, Bewegungsprogramme etc.) optimiert werden (Kuhnert 1999a:224ff.). Angesichts der im Vergleich zu Beschäftigten bei Arbeitslosen deutlich höheren gesundheitlichen Beeinträchtigung durch Stress, bedarf es spezifischer alltagstauglicher Methoden zur aktiven Stressbewältigung und Entspannung für die Betroffenen. Dabei sollten Methoden der kurzfristigen Stressbewältigung (Spannungsabbau, Perspektivenwechsel) und des langfristigen Stressmanagements (Einstellungen/Lebensweise) zur Anwendung kommen (Spitzenverbände der Krankenkassen 2000). In einer Forschungsdurchsicht hat Kuhnert (1999a:229ff.) überprüft, inwieweit Stressbewältigungstrainings (SMT) aus dem betrieblichen Kontext, auch für die Zielgruppe der Langzeitarbeitslosen geeignet sind. Demnach sind besonders SMT effektiv, die ein Verfahren, wie z.B. in der Untersuchung von Proudfood et al. (1997), in den Vordergrund stellen und emotions- und problembezogene Verfahren kombinieren (Kuhnert 1999a:229). Entscheidend ist auch, wie die einzelne Verfahren miteinander verbunden werden. Einen ergänzenden Nutzen zum SMT hat für Langzeitarbeitslose das Assertiveness (Selbstsicherheits-) Training Programm (ATP) (Kuhnert 1999a:231ff.). Demnach kann das ATP-Gruppentraining empirisch nachweisbar genau jene angstbedingten Verhaltensdefizite (Fehlschlag- und Kritikangst, Kontakt- und Bindungsangst, Unfähigkeit Forderungen stellen zu können) ausgleichen, die nach der DFLA-Studie bei Langzeitarbeitslosen am stärksten ausgeprägt waren und arbeitsmarktintegratives Verhalten (Bewerbungen, stellenvermittelnde Kontakte etc.) verhinderten. Zudem konnten in einer Studie 75 Prozent der ehemaligen ATP-Teilnehmer nachhaltig ihre Beschäftigungsfähigkeit und Arbeitsplatzsicherheit erhöhen, indem sie unter anderem weniger Fehlschlagangst, mehr Arbeitszufriedenheit und deutlich weniger Fehlzeiten aufwiesen (Ullrich/Ullrich de Muynk 1996:252). Die bei Arbeitslosen im Vergleich zu Beschäftigten deutlich geringeren sportlichen Aktivitäten (siehe oben) erfordern zielgruppenspezifische Sportprogramme. (1999a:133135) In zahlreichen Untersuchungen konnten sportliche Aktivitäten deutlich das physische, psychische und soziale Wohlbefinden von Arbeitslosen verbessern. Ein unter anderem in Anlehnung an Brehm, Pahmeier und Tiemann (1997) entwickeltes spezifisches Bewegungsprogramm für Arbeitslose eignet sich besonders für Personen mit geringer Motivation zu sportlichen Aktivitäten und kann zudem deutlich die zentralen Risikofaktoren von Herz-Kreislauferkrankungen (Hypertonie, erhöhter Blutfettspiegel, Übergewicht, Bewegungsmangel und Stress) reduzieren helfen (Kuhnert 1999a:135ff., 2001). Dabei kann auch auf die Erfahrung ähnlicher Projekte mit sozial Benachteiligten (z.B. „Sport mit Aussiedlern“) zurückgegriffen werden (Siegrist/Joksimovic 2001:33). Arbeitslosigkeit und Gesundheit 351 Die Empowermentmethode (Faltermaier 1999) zielt bei Betroffenen darauf ab, ein Bewusstsein für sich selbst in ihrer gesellschaftlichen Situation zu schaffen und ihre Verantwortung in Bezug auf die zukünftige Lösung zu fördern, herauszufordern und (im Sinne notwendiger Ressourcen) zu ermöglichen: „You are not responsible for being down, but you are responsible for getting up“ (Stark 1996:74). Sie ist deshalb besonders für die demoralisierten und isolierten Arbeitslosen als „Ermutigungs- und Aktivierungsstrategie“ geeignet. Das Projekt „Acting up“ in Liverpool für Jugendliche, die auf dem regulären Arbeitsmarkt ohne Perspektive sind, verfolgt z.B. eine Empowermentstrategie. Damit entwickeln die Teilnehmer durch darstellende Künste ihre Stärken weiter, erhalten dafür öffentliche Bestätigung und erreichen auch eine hohe Vermittlungsquote in Richtung qualifizierter Beschäftigungen (Walther 2000:100ff.). Mit einer Empowermentstrategie fördern die italienischen Projekte Giovane Impresa und Incubatore Impresedonna erfolgreich die Existenzgründungen und selbstständige Arbeit junger arbeitsloser Frauen und Männer (Walther 2000:238). In einem Schweizer Kanton mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit wird ein Empowerment-Ansatz nicht nur auf beschäftigungs-, sondern auch gesundheitsfördernde Bewältigungskompetenzen bezogen. Im Sinne einer Verhältnisprävention werden begleitend die verschiedenen lokalen Akteure (Gesundheitsdienste, Arbeitsvermittlung, Sozialarbeit etc.) in die Gesundheitsförderung von Erwerbslosen eingebunden (Villaret/Gianinazzi 1999:26f.). Im Gesundheitssektor wurde in Hunderten von Untersuchungen die salutogene Wirkung von sozialer Unterstützung nachgewiesen und in einer Forschungsübersicht hat Kuhnert (1999a: 70ff.) deutlich gemacht, dass Arbeitslose durch intakte soziale und persönliche Netzwerke ihre Wiederbeschäftigungschancen verbessern können. Menschen, die starke Unterstützung erfahren, sind gesünder, weniger belastet und anfällig für Erkrankungen (Trojan et al. 1999:95; Nestmann 2000:137). Die gegenwärtigen Vernetzungsaktivitäten im Arbeitslosenbereich sind jedoch derzeit für den Aufbau gesundheitsförderlicher Aktivitäten in keiner Weise ausreichend. In Deutschland besteht zwar allgemein eine hohe Bereitschaft von Menschen, sich in gesundheitlichen oder psychosozialen Problemlagen Selbsthilfegruppen anzuschließen (derzeit existieren ca. 70.000 Gruppen mit 2,7 Millionen Menschen) (Burmeister 2000:73; Thiel 2000:80). Da Selbsthilfeeinrichtungen (insbesondere Arbeitsloseninitiativen) jedoch kaum von Arbeitslosen frequentiert werden und bisher in Deutschland auch keine selbstorganisierte Arbeitslosenbewegung mit nennenswerter politischer Stoßkraft existiert (Epping/Klein/Reutter 2001:46), verfehlt die bisherige „Strategie der Angebotsbereitstellung“ ihr Ziel. Die Selbstorganisationsbereitschaft wird vor allem durch die zumeist defensiven Bewältigungsstrategien von Arbeitslosen und ihren antisolidarischen (besonders in sozialen Randlagen) Einstellungen erschwert (Kuhnert 1999a:96ff.). Ein positiver Ansatzpunkt ist, dass sich in der DFLA-Studie 62,1 Prozent der Langzeitarbeitslosen seit ihrer Erwerbslosigkeit einen stärkeren Zusammenschluss mit anderen wünschten (Kuhnert 1999:361). Mit dem Assertiveness Training Programm (ATP), das erstaunlich starke Langzeiteffekte auf die Konsistenz und Funktionsfähigkeit von Selbsthilfegruppen ausübte (Kuhnert 1999a:233), können aber auch Selbstorganisationsbarrieren von Arbeitslosen überwunden werden (siehe oben). Besonders für die Zielgruppe der isolierten Arbeitslosen und Instabil-Beschäftigten, die längere Zeit nicht eine angemessene arbeitsbedingte Gratifikationsebene erreichen können, müssen in geeigneten sozialen 352 Armut und Gesundheit Netzwerksystemen Strukturen geschaffen werden, die es ihnen erlauben, qualifikatorische Standards und gesundheitliches Wohlbefinden zu erhalten und zu entwickeln (Griffiths/Ziglio 1999:247). Bei stark isolierten Arbeitslosen ist ein intensives Netzwerkmanagement bzw. eine angeleitete Netzwerkgestaltung unverzichtbar. Dazu müssen möglichst viele örtliche Akteure der Arbeitslosen– und Gemeinwesenarbeit miteinbezogen werden, damit erarbeitete „Netzwerkgestaltungskompetenzen“ nicht ins Leere laufen. Orientierung bieten hier Vernetzungsvorschläge gegen eine wachsende „Atomisierung“ (Verselbstständigung) und Überforderung des Einzelnen in der Arbeitswelt (Kastner 2001:31ff.), mit denen ein Gesundheits- und Sicherheitsnetzwerk (GESINET) aufgebaut werden soll. Gelungen scheint auch die Vernetzungsarbeit des Sozialbüros Köln, das ein differenziertes Netz regionaler Einrichtungen, Jobbörsen, Stadtteilkonferenzen für Arbeitslose entwickelte oder das Stadteilprojekt Gelsenkirchen-Bismarck/Schalke-Nord, bei dem Synergieeffekte unterschiedlicher Teilprojekte für die Gesundheitsförderung von Arbeitslosen genutzt wurden (MASQT 2000a: 264f.; G.I.B. 2000: 2ff.). Der Aufbau eines arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsnetzwerkes für Arbeitslose ist eine wichtige Zukunftsaufgabe, denn im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention stecken Vernetzungs- und Kooperationsvorhaben von verschiedenen Trägern und Strukturen noch in den Anfängen (Troschke/Kälble 1999:82). 8. Realisierung einer arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung Eine auf nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit ausgerichtete arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung von Arbeitslosen und Instabil-Beschäftigten kann nur durch eine enge Verzahnung der unterschiedlichen arbeits- und gesundheitspolitischen Förderbereiche erreicht werden. Hier sollten auch Kofinanzierungsmodelle erprobt werden, die Fördermittel so einsetzen, dass Synergieeffekte auf der Personenebene entstehen (Brinkmann 1998:7). Die inhaltlich kompatiblen sich dazu vorrangig anbietenden Regelförderungsinstrumente sind: § 10 SGB III (Freie Förderung), der als „Innovationstopf“ (mit einem beachtlichen Haushaltsvolumen) mehr als früher für die individuelle Förderung von Problemgruppen des Arbeitsmarktes (§ 7 Abs.3) genutzt werden soll (Bangel/Brinkmann/Deeke 2000:314). Gefördert werden sollen auch „über die üblichen Möglichkeiten hinausgehende Ansätze sozialpädagogischer Betreuung“ (z.B. „Coaching“), was auch eine arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung einschließt (Brinkmann/Schmitt 1999:57). § 20 SGB V im Sinne der Neufassung zur gesundheitlichen Primärprävention soll unter anderem die sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen vermindern und Leistungen auf die entsprechenden Zielgruppen ausrichten (Spitzenverbände der Krankenkassen 2000:2; Riedel 2000:35). § 8 Abs. 2 BSHG erlaubt „Beratungen in sonstigen sozialen Angelegenheiten“ (Familie, Schulden, Krankheit etc.) und mit § 17 BSHG soll eine präventive (auch externe und selbstgewählte) Beratung zur Befähigung des Einzelnen gestärkt werden, die zur Überwindung der Sozialhilfebedürftigkeit beiträgt (MASQT 2000a:236f.). Die Spitzenverbände der Krankenkassen (2000:2) sehen als besonderen Ansatzpunkt für eine gesundheitsförderliche Politik im Sinne der Neufassung des § 20 SGB V unter Arbeitslosigkeit und Gesundheit 353 anderem die psychosomatischen Belastungen durch Arbeitslosigkeit. Um sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen zu vermindern, sind daher Leistungen zur primären Prävention auf die entsprechenden Zielgruppen auszurichten und spezifische und niedrigschwellige Zugangswege (Settings) zu beachten (Riedel 2000:35), wobei gesundheitsfördernde Settings bisher weder zahlreich noch seit längerem in Aktion sind (Conrad 2000:92). Nur eine konsequente auf sozial Benachteiligte ausgerichtete Zielgruppenorientierung der Gesundheitsförderung nach § 20 kann verhindern, dass Kritiker bestätigt werden, die auch aus den neuen Umsetzungsvorstellungen der Krankenkassen primär ein Wiederaufleben der bekannten mittelschichtsorientierten Kursprogramme herauslesen (Altgeld 2000:258; Weber/Braun 2000:310). Die bestehenden Angebote sind aber nach wie vor von ihren Inhalten und ihrer Form zu sehr auf die Mittelschicht zugeschnitten (Siegrist u. Joksimovic 2001: 20). Zudem sollte beachtet werden, dass derzeit nicht nur die Gesundheitsförderungs-Rhetorik weiterentwickelter ist als die Realität von Gesundheitsförderung (Trojan et al. 1999:76f.), sondern die dringende Notwendigkeit einer Gesundheitsförderung zur Verbesserung von Beschäftigungschancen und Lebensqualität von Arbeitslosen und Instabil-Beschäftigten von der Sozial- und Gesundheitspolitik explizit thematisch kaum aufgegriffen wird. Die Europäischen Kommission deklarierte zwar den Erhalt und die Förderung von „employability“ (individuelle Beschäftigungsfähigkeit) schon 1997 als „Säule der Europäischen Beschäftigungsstrategie“ (Kress 2000:303), in der auch Übergangsphasen (z.B. Arbeitslosigkeit) so aktiv zu gestalten sind, dass Fertigkeiten und Erfahrungen für die Arbeitsplatzsuche auf Dauer erhalten bleiben (Walther 2000:266). Dennoch findet bis jetzt Gesundheitsförderung noch keine explizite programmatische Berücksichtigung in aktuellen EU-Förderprogrammen wie z.B. der „Gemeinschaftsinitiative EQUAL“.29 Auf der Grundlage von Entwicklungspartnerschaften können nach diesem Programm jedoch Synergien zwischen Partnern der Gesundheits- und Arbeitsmarktförderung genutzt werden, um auch die gesundheitsbedingte Verfestigung von Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern (Bundesrepublik Deutschland – Gemeinschaftsinitiative EQUAL 2000:119). Nach einer Expertise erkennt auch die Europäische Kommission, dass Beschäftigungsfähigkeit wesentlich von einem angemessenem Status physischer und psychischer Gesundheit abhängt und zur Ergänzung der bestehenden fachlichen Qualifizierungsmaßnahmen neue gesundheitspräventive Maßnahmen und Gesundheitsdienste für Arbeitslose entwickelt werden müssen (Brenner 2000:7ff.). Für die Millionen arbeitsloser Menschen mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen in der EU bleibt nur zu hoffen, dass bald auch eine programmatische Umsetzung dieser Erkenntnisse erfolgt. Diesbezüglich lassen sich etliche Erfahrungen aus der Kombination von Systemverträglicher Organisationsentwicklung (SOE), Personalentwicklung (PE) und Personalpflege (PP) auf die Organisation von Gesundheit und Leistungsfähigkeit in der Arbeitslosigkeit übertragen (Kastner 1994, 1998b). Im vorliegenden Kontext geht es darum, den gesunden Organismus in gesunden Organisationen zwischen denen die Transitionen im „sozi- 29 EQUAL ist eine Initiative der Europäischen Kommission zur transnationale Zusammenarbeit bei der Förderung neuer Methoden zur Bekämpfung von Diskriminierungen und Ungleichheiten jeglicher Art im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt. 354 Armut und Gesundheit alen Konvoi“ (Kieselbach 2000b) gestaltet werden müssen, zu ermöglichen und zu einem erweiterten Verständnis von Beschäftigungsfähigkeit beizutragen. Die aktuelle Arbeitsmarkt- und Berufsforschung erkennt zwar, dass eine Bewältigung des Strukturwandels (Globalisierung, technische Revolution) und der strukturellen Langzeitarbeitslosigkeit nur möglich ist, wenn neben ökonomischen Reformen verstärkt auch der Auf- und Ausbau von Humankapital30 mit dem Ziel einer lebenslangen Beschäftigungsfähigkeit und präventiven Ausrichtung betrieben wird (Walwei 2001). Die gegenwärtige Arbeitsmarktpolitik scheint diesen Erkenntnissen (zumeist in Modellprojekten) aber nur sehr zögernd zu folgen und im „Bann“ kurzfristiger Vermittlungserfolge und monatlicher Arbeitslosigkeitsstatistiken zu verharren. Obgleich Vollbeschäftigung eine „Vergangenheitsfiktion“ ist, die für die nächsten dreißig Jahre in keiner Projektion vorkommt (Knuth 2000), wird leider auch in der Public-Health-Forschung eine „Vollbeschäftigungspolitik als gegenwärtig wichtigstes Instrument der Gesundheitsförderung“ von arbeitslosen Menschen erachtet (Rosenbrock 1998:17). Unrealistische Zielsetzungen schaden den Betroffenen aber ebenso wie vorgebliche Zielerreichung („Hauptsache Arbeit“), die sich für immer mehr Instabil-Beschäftigte als „schmerzhafte Zielillusion“ darstellt, indem ständige Arbeitsplatzunsicherheit zu den gleichen Ausgrenzungsfolgen (Armut, chronische Erkrankungen, etc.) wie Erwerbslosigkeit selbst führt. Wenn Flexibilisierung der Arbeitswelt zu Formen sozialer Abstiegsangst führt, die in den USA von immer mehr Arbeitern und Angestellten als „täglicher Überlebenskampf in Unternehmen“ empfunden werden (Linkon 2000), ist auch generelle Zielskepsis angebracht. Die zukünftige Rolle, die Gesundheitsförderung zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung von „nachhaltiger Beschäftigungsfähigkeit“ einnehmen kann, hängt aber nicht nur von der Reformbereitschaft der Arbeits- und Gesundheitspolitik ab, sondern von der Änderungsbereitschaft der Arbeitsgesellschaft insgesamt (Kuhnert 1998). Die Verteilung des Gutes „sichere und stabile Erwerbsarbeit“ darf nicht dauerhaft so organisiert sein, dass die sozialen Folgen seiner Verknappung nur den Opfern (Arbeitslosen, InstabilBeschäftigten) aufgebürdet werden (Moser/Paul 2000). Bevor man indes „Verteilungsgerechtigkeitsdiskussionen“ aufgreift, wäre es schon hilfreich, wenn sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen mehr „Integrationsverantwortung“ und konkrete Hilfsbereitschaft für Arbeitslose und Menschen in Sorge um ihren Arbeitsplatz entwickeln würde. Literatur (enthält auch Titel aus der Langfassung): Altgeld, T. [2000]: Gesundheitsförderung und Prävention. In: GesundheitsAkademie e.V. (Hrsg.): Salutive. Beiträge zur Gesundheitsförderung und zum Gesundheitstag 2000 (S. 257-263). Frankfurt a. M.: Mabuse-Verlag. Antonovsky, A. [1997]: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: Dgvt-Verlag. 30 Die Verschwendung von Humanressourcen durch Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzunsicherheit kann auch fatale ökonomische Folgen haben, denn der in vielen Sektoren ab 2010 erwartete hohe Arbeitskräftemangel, kann nicht allein durch Zuwanderung kompensiert werden (Epping/Klein/Reutter 2001). 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Regelmäßig fordern vor diesem Hintergrund Politiker strengere Sanktionen in der Erwartung, Arbeitslose wären dann eher bereit, sich um Arbeit zu bemühen oder Arbeitsangebote der Vermittlungsbehörden anzunehmen. Andererseits wird in der öffentlichen Diskussion von der Politik gefordert, ein Leitbild für Arbeitsplätze, nicht aber ein Leitbild gegen Arbeitslose zu erzeugen. Dabei gilt nach wie vor das Ziel der Vollbeschäftigung. (Erwerbs-)Arbeit für alle Arbeitslosen bleibt das sozialpolitische Ziel der Arbeitsgesellschaft; umgesetzt in einem System, das in der Tat diejenigen belohnt, die arbeiten gehen (wollen). Umgekehrt muss für diejenigen, die nicht leistungsbereit sind, eine „letzte" Sicherung greifen, die grundsätzlich unkomfortabler ausgestattet ist, als sich das System für die tätige oder grundgesicherte Bevölkerung ausgestaltet. Zweiklassensystem der Hilfe für arbeitslose Bürger Wenn Arbeitslosigkeit die Hauptursache für staatliche Alimentation ist, dann kann die Alimentation nicht unabhängig von der Frage einer Arbeitsmarktanbindung betrachtet werden. Das heißt auch, dass die Hilfen zur Arbeit durch das Sozialhilfeamt besser mit der ansonsten zuständigen Stelle für den Arbeitsmarkt - nämlich dem Arbeitsamt und dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) - koordiniert werden könnten. Für den freien Arbeitsmarkt wird schnell deutlich, dass ein Unternehmer lieber jemanden beschäftigt, der sich auf dem freien Arbeitsmarkt durchsetzen kann (erster Arbeitsmarkt), als jemanden vom Arbeitsamt zu nehmen (z.B. ABM-Kräfte im zweiten Arbeitsmarkt), oder gar jemanden, der vom Sozialhilfeamt kommt (vgl. den Begriff des dritten Arbeitsmarktes bei gemeinnützigen Arbeiten für Sozialhilfeempfänger). Die Brücke zum freien Arbeitsmarkt der rund eine Million arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger ist entfernter als die Brücke aus der Arbeitslosenhilfe zum freien Arbeitsmarkt. Das bedeutet zugleich ein zu überwindendes Zweiklassensystem der Arbeitslosen, will man Sozialhilfeempfängern den Weg ins Berufsleben ermöglichen. Diese Trennung in Arbeitsuchende beim Sozialamt und beim Arbeitsamt beinhaltet zudem eine Wertigkeit und Stigmatisierung (zweiter versus dritter Arbeitsmarkt), die sich für arbeitslose Sozialhilfeempfänger negativ auswirkt. Es widerspricht der Zielsetzung Vollbeschäftigung, Arbeitslosigkeit und Gesundheit 365 dass Sozialhilfeempfänger, die arbeiten können und wollen, im Vergleich zu Arbeitslosen, die arbeiten können und wollen, eine Stufe weiter von der „Arbeit" entfernt sind verwaltungsstrukturell wie in der gesellschaftlich-sozialen Bewertung. Es erscheint daher zweckmäßig, diesen Personen den Zugang zu Angeboten im Bereich des AFG zu eröffnen. Zahlreiche derartige Modell-Maßnahmen der Verzahnung von „Hilfen zur Arbeit" mit dem AFG sind daher von dem Arbeitsministerium angestoßen worden (vgl. Riester). Auch wenn sich die Hilfen zur Arbeit eher aus kommunalen Budgets finanzieren und die Arbeitslosenhilfe durch den Bund, ist diese Kooperation sinnvoll. Neben der inhaltlichen Kooperation bzw. Zusammenführung ist auch die räumliche und organisatorische Zusammenführung von Sozialhilfe-Arbeits-Verwaltung und Arbeitslosenhilfe-Verwaltung im nächsten Schritt zu erwarten. Eine Schnittstelle für Arbeitsmaßnahmen für Sozialhilfeempfänger könnte aber nicht nur eine vollständige Überweisung der „arbeitsfähigen" Sozialhilfeempfänger-Klienten an ein (zu schaffendes) Sozialhilfebüro im Arbeitsamt bedeuten (räumliche Nähe), sondern alternativ auch eine strukturelle Spaltung bzw. Organisationsentwicklung der Verwaltungsinstitution Sozialhilfeamt in einen Bereich, der sich der Klientel der Nicht-Arbeitsfähigen widmet und einem „Sozialhilfeamt im Arbeitsamt", das sich der Klientel der arbeitsfähigen (und -willigen) Sozialhilfeempfänger zuwendet und versucht, sie durch Maßnahmen kooperierend mit dem AFG wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren (inhaltliche Nähe). Dieses setzt natürlich eine grundlegende Verwaltungsreform und Gesetzesschaffung voraus, nach dem Prinzip: Alle arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger gehören in den Verwaltungsbereich des Arbeitsamtes! Die Sozialhilfeverwaltung wird der Zuständigkeit für Arbeitsfähige beraubt. Eine Sozialhilfereform kann sich also nicht nur an der Struktur der Bezieher orientieren, sondern sie sollte auch eine Reform der Verwaltungsstrukturen, Gesetzesgrundlagen und vor allen Dingen, Kompetenzbereiche beinhalten - mit dem Ziel, arbeitsfähige Menschen in einem Amt zu betreuen und ins Berufsleben oder in eine Beschäftigung im Sinne einer Tätigkeitsgesellschaft zu integrieren, sofern sie arbeiten können und dies wünschen. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in der Grundsicherung zusammenfassen? Doch nicht nur die Sozialhilfe ist ein Mindestsicherungssystem, auch die Arbeitslosenhilfe gehört (bedarfsgeprüft und steuerfinanziert) dazu, selbst wenn diese sich nicht nach festgelegten Sozialhilfe-Eckregelsätzen, sondern an dem ausfallenden Arbeitseinkommen zu rund 55 Prozent orientiert. Schon heute müssen mehr als drei Viertel der Arbeitslosenhilfebezieher ergänzende Sozialhilfe beantragen: Warum also nicht beide Systeme in einem Neuen zusammenfassen? Damit wäre auch das derzeitige Zweiklassenarbeitslosensystem überwunden. Ebenso wird hier also eine neue Systematik in der Mindestsicherung gegen Armut sowie eine Zusammenfassung arbeitsfähiger Arbeitsuchender diskutiert. Es geht dabei um das zentrale Anliegen, allen Arbeitsfähigen den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt über das AFG zu ermöglichen. Aber auch bei der vielfach geführten Diskussion um die Grundsicherung, nach der eine Grundsicherung (von rund 800 DM plus Wohngeld die Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe ersetzen soll, bleibt zentral, dass eine Vermittlung der Grundsicherungsempfänger zum Arbeitsmarkt besonders berücksichtigt werden muss. 366 Armut und Gesundheit Während es für die Arbeitsmarktanbindung schädlich ist, dass Sozialhilfeempfänger als dritte Stufe oder Gruppe (nach freien Bewerbern und Bewerbern vom Arbeitsamt) wesentlich entfernter vom freien Arbeitsmarkt gesehen werden als Arbeitslosenhilfeempfänger, ist es für einen Spornungsanreiz oder eine unterschwellig bestehende, symbolische Leistungsorientierung in der Gesellschaft hingegen nicht sinnvoll, wenn die Arbeitslosenhilfe in der Grundsicherung mit der Sozialhilfe gleichgesetzt werden würde. Denn für viele Menschen ist eine unterschiedliche gesellschaftliche Wertung von Sozialhilfe (BSHG) und Arbeitslosenhilfe (ALHI) ein Anreiz, aktiv zu werden, um nicht in die Abhängigkeit von Sozialhilfe zu geraten. Wenn ALHI und BSHG in einem „GRUSI"-Topf sind, wird Armut auch in der Wahrnehmung normalisiert: Die mentale Haltung wäre, dass sich alle oder keiner der Alimentierten stigmatisiert und als in der sozialen Hängematte etikettiert fühlen würden: „Rund fünf Millionen Grundsicherungsempfänger" haben eine andere sozialpsychologische Wirkung in der Zeitungsschlagzeile als „2,5 Millionen Sozialhilfeempfänger" (und 2,5 Millionen Arbeitslosenhilfeempfänger). Die Grundsicherung ist hingegen aus dieser gesellschaftlichen Bewertung heraus jedenfalls dann nicht sinnvoll, wenn die Arbeitslosenhilfe in eine „Sozialhilfe" überführt wird und der Begriff „Sozialhilfeamt" auf dem Türschild nur durch das Wort „Grundsicherungsamt" ersetzt wird und die gleichen Beamten in den gleichen Räumen auf dieselbe Weise lediglich mehr Fälle verwalten. Genau wie hohe Arbeitslosigkeit das subjektive Arbeitslosigkeitserleben normalisieren kann, würde die Zusammenfassung von Arbeitslosenhilfeempfängern und Sozialhilfeempfängern in der Grundsicherung einen Anstieg der Fälle bedeuten und einen sozialpsychologischen Klimawechsel in der Selbsthilfeaktivität bzw. dem gesamtgesellschaftlichen „Hoffnungserleben" oder „Armutserleben" herbeiführen. Die Grundsicherung als solides Konzept eines sozialpolitischen Neuanfangs darf daher nicht zum Etikettenschwindel für eine Art Sozialhilfe werden, die im politischen Konsensverfahren auf ein ähnliches Niveau wie die bestehende Sozialhilfe abzusinken droht. Denn dann würde eine Beschäftigungsaufnahme sehr vieler Menschen aus dem letzten Netz des Sozialstaates heraus ebenso schwer fallen wie den Sozialhilfeempfängern bei Arbeitgebern mit diesem Etikett derzeit. Grundsätzlich sollte sich jeder, der Sicherung gegen Armut erhalten will, vorher arbeitslos melden müssen. Personen, die auf Grund der Bestimmungen des Arbeitsförderungsrechts im bestehenden System nicht verfügbar sind, sollten sich als arbeitssuchend melden müssen. In einer Gemeinschaft ist es sinnvoll, dass die Gemeinschaft das Engagement des Einzelnen für die Gemeinschaft fördert. Auch für den existenziellen Bedarf eines Menschen ist zu erwarten, dass ein Mindestgesicherter sich im Rahmen seiner Möglichkeiten an der Schaffung seines Bedarfs beteiligt, indem er entweder mithilft, für sich selbst zu sorgen (oder dieses als Transferleistung im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten leistet, dadurch dass er für andere sorgt, er sich produktiv verhält). Wenn jeder in einer Gemeinschaft sagen kann, „ich lege die Hände in den Schoß und nun füttert mich mal", dann besteht ein grundlegendes Defizit in der Gemeinwohlorientierung der auf Erwerbsarbeit aufbauenden Gesellschaft - auch wenn bei einem Realitätstest sich nicht alle erwerbsarbeits-passiv verhalten würden. Arbeitslosigkeit und Gesundheit 367 Alimentierte sollten an gesellschaftlicher Wertschöpfung teilhaben können: Armutssicherung könnte somit auch grundlegend mit dem Gedanken der Vermittlung in z.B. Engagement oder Bürgerarbeit, kurzum: gesellschaftliche Teilhabe, verknüpft werden. Die reine Alimentation als „Abschreibung" der Menschen ohne Integrationsperspektive in gesellschaftliche Teilhabe sollte nach dem Solidaritätspostulat der Sozialpolitik daher nicht das gemeinschaftliche Ziel sein. Und es kann auch nicht Ziel eines Alimentierungssystems sein. Zu einer Sicherung gegen Arbeitslosigkeit bzw. zu einer Alimentation gehören auch immer die Möglichkeiten zur Teilhabe an Arbeitsformen und damit die Teilhabe an Eigenverantwortung, Mündigkeit und gesellschaftlicher Partizipation. Vier Arbeitsformen und vier Zeitformen für eine moderne Gesellschaft Bezahlte und unbezahlte Arbeiten sind in der Gesellschaft ungleich verteilt. Armut erfolgt meistens auf Grund fehlender Erwerbseinkommen und nicht vorhandener Erwerbsarbeitsplätze. Während die profitable Arbeit immer knapper wird, bleiben viele Arbeiten im sozialen, bürgernahen, kulturellen und ökologischen Bereich jedoch liegen. Der zugrunde liegende Arbeitsbegriff könnte somit auch hinterfragt oder in neuen Bedeutungsdimensionen definiert werden. Bei der Vermittlung in Arbeit ginge es dann nicht nur um die Vermittlung in Erwerbsarbeit, sondern auch um die Tätigkeiten in Fortbildung, in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, um gesellschaftliche Teilhabe, wie z.B. durch Kindererziehung oder Kulturpflege, aber auch um bürgernahes Engagement für das Gemeinwohl (Bürgerarbeit in Arbeitszeit). Politische Rahmenbedingungen könnten dabei geschaffen werden, dass niemand auf strukturelle Schranken trifft, die den Beteiligungswillen bremsen und die jemanden um die Möglichkeiten der Teilhabe durch • Erwerbsarbeit, • Beschäftigungsarbeit, • Bildungsarbeit, • Bürgerarbeit - auch im Rahmen einer Sicherung gegen Armut - bringen. Somit lassen sich auch vier Zeitformen ausmachen: • Freizeit, • freiwillige Sozialzeit (Ehrenämter, kulturelle, ökologische Arbeit etc.), • freiwillige Bildungszeit (z.B. Weiterbildung) sowie • Arbeitszeit, die sich in oben genannte vier Arbeitsfelder unterteilen lässt: Die Erwerbsarbeit wird auf dem freien Markt geregelt; für Beschäftigungsarbeit, Bildungsarbeit (vgl. dagegen freiwillige Bildungszeit) und Bürgerarbeit (vgl. dagegen Ehrenamt in Freizeit) sind entsprechende Rahmenbedingungen - in Kooperation mit der freien, kommunalen und öffentlichen Wirtschaft denkbar. Eine moderne Sozial- und Gesellschaftspolitik verweist also sowohl auf vier Zeitformen als auch auf vier Arbeitsformen, die es in der sozialen Sicherung zu berücksichtigen gilt - somit auch bei der Sicherung gegen Armut. Grundsicherung, soziale (Mindest-)Sicherung oder fortführende Sicherung gegen Armut könnten somit beispielsweise auch durch eine (für das Gemeinwesen produktive) öffentlich geförderte Beschäftigung erfolgen durch die Anerkennung (und damit auch Vermittlung in diese) bislang unbezahlte Beschäftigung. 368 Armut und Gesundheit Die Erwerbsgesellschaft könnte daher mit einem neuen System auch in eine Tätigkeitsgesellschaft überführt werden, die durch Rahmenbedingungen zur Leistungsorientierung geführt wird. Wenn es sinnvoll ist, Arbeit zu finanzieren und nicht Arbeitslosigkeit was hindert dann daran, jedem Arbeitslosenhilfeempfänger eine für den Arbeitsmarkt an den Zusätzlichkeitskriterien ausgerichtete ABM, Fortbildung oder eine auf Bürgerarbeit vorbereitende Schulung zu gewähren? Warum gibt es keine Engagementbeschaffungsmaßnahme (EBM) (Beschaffungsmaßnahme für Bürgerarbeit), die den gleichen Stellenwert hat wie eine Erwerbsarbeitsbeschaffungsmaßnahme im zweiten Arbeitsmarkt (ABM)? Oder eine Tätigkeitsbeschaffungsmaßnahme (TBM)? Die Erkenntnisse aus der Kritik an mangelnder Effizienz und Effektivität von ABM sind dabei aufzugreifen und konstruktiv zu integrieren. Auch wenn ABM eine brüchige Brücke zum ersten Arbeitsmarkt darstellen, ganz wird man darauf wohl nicht verzichten können. Zudem: Dieser Zusammenhang betrifft ABM in Bezug zur Erwerbsgesellschaft. Wenn Bürgerarbeit und Fortbildungsarbeit nicht nur in der Freizeit, sondern auch in der Arbeitszeit für (dann ehemals) Arbeitslose ermöglicht werden, entwickelt sich die Tätigkeitsgesellschaft. ABM/TBM/ FBM/Bürgerarbeit haben in der Tätigkeitsgesellschaft gegenüber ABM in Bezug zur Erwerbsarbeitsgesellschaft eine andere Zielsetzung: Statt Arbeitslose in Untätigkeit zu zwingen, sollen sie sich produktiv beteiligen können. Die darunter sinnvollen Tätigkeiten könnten als unbezahlte Arbeit leistungsdifferenziert und bereitschaftsdifferenziert Berücksichtigung für die Höhe der Gewährung einer Sicherung gegen Armut Eingang finden. Nichts anderes tut die Arbeitslosenhilfe für die Erwerbstätigkeit. Warum sollte es also nicht auch eine • „Engagementlosenhilfe", • „Fortbildungslosenhilfe" oder • „Tätigkeitslosenhilfe" für die weiteren Dimensionen von Arbeit als Instrument der Sicherung gegen fortführende Armut geben, das umgekehrt wie die Erwerbsarbeitsvermittlung auch eine Vermittlung in oben genannte weitere Felder einer Arbeitszeit vorsieht - solange die Erwerbsarbeit nicht möglich wird? Ob wir uns auf die Tatsache einstellen müssen, dass wir erstens nicht genügend und zweitens nicht nur Arbeitsplätze mit hoher Wertschöpfung haben werden, hängt ganz von der gesellschaftlichen Bewertung der Arbeit ab, ob wir „Arbeiten" an sich als Wert betrachten und ob auch (bislang) unbezahlte Arbeit in Arbeitszeit einen Wert haben soll. Zu Ende gedacht bedeutet dies auch eine Umbenennung des „Arbeitsamtes" in „Tätigkeitsamt": Wir melden uns „tätigkeitslos" oder „tätigkeitssuchend" und bekommen (Erwerbs-)Tätigkeitslosengeld differenziert danach, welchen Tätigkeiten wir früher (auch in der Alimentation) nachgegangen sind. Bisherige Konzepte der Grundsicherung setzen strukturell bedingt zu einseitig auf eine Schiene, die für viele Menschen in passiver Alimentation gleicher Finanzhöhe endet: Wir können nicht alle erwerbstätigkeitslosen Menschen in eine passive Alimentierung drängen, wenn es stimmt, dass ein Fünftel der Bevölkerung genügt, um die Wirtschaft durch qualifizierte Arbeit - in Schwung zu halten, während achtzig Prozent der Menschen durch fehlende Erwerbsarbeit verarmen, wie es Hans-Peter Martin und Harald Schuhmann in ihrem Buch die „Globalisierungsfalle" diagnostizieren. Arbeitslosigkeit und Gesundheit Literatur: Jetter, Frank Martin, H.-P.; Schuhmann, H. [1997]: Globalisierungsfalle. Hamburg: Rowohlt. 369 Autor/innenverezeichnis 371 Autor/innenverzeichnis Teil I Adam Claudia Kontakt: Inst. für Gesundheitswissenschaften, Straße des 17. Juni 150, 10623 Berlin E-Mail: [email protected] Akyüz, Artin Geboren 1951. Dipl. Sozialarbeiter in der psychosozialen Kontakt- und Beratungsstelle im Internationalen Familienzentrum e.V. Frankfurt (IFZ) Kontakt: Internationales Familienzentrum, Ostendstr. 70-74, 60314 Frankfurt a.M. Bandelin, Ute Geboren 1943, Dr., Diplom-Medizinpädagogin Arbeitsschwerpunkt: Gesundheitsberichterstattung Kontakt: Plan- und Leitstelle Gesundheit im Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Urbanstr. 24, 10967 Berlin, Tel.: (030) 74765-383, Fax: (030) 25883315 E-Mail: [email protected] Basche, Jan Dr. Kontakt: Gemeinsam in Berlin-Brandenburg (GiBB) e.V., Lützowstr. 23, 10785 Berlin E-Mail: [email protected] Berg, Elke Geboren 1942, Diplom-Sozialpädagogin Ehe- und Familienberaterin seit 1970 im Öffentlichen Gesundheitsdienst tätig seit 1996 Leiterin der Plan- und Leitstelle im Bereich Gesundheit des Bezirksamtes TempelhofSchöneberg Kontakt: Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg von Berlin, Abteilung Gesundheit, Stadtentwicklung und Quartiersmanagement, Plan- und Leitstelle (Bereich Gesundheit), Rathausstr. 27, 10820 Berlin E-Mail: [email protected] Böhmann, Johann Dr. Kontakt: c/o Städtische Kliniken Delmenhorst, Kinderklinik, Wildeshauser Str. 92, 27753 Delmenhorst Email: [email protected] Böhme, Christa Geboren 1960, Dipl.-Ing. Landschaftsplanung. Seit 1991 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), Arbeitsschwerpunkte: Landschaftsplanung, Naturschutz, Integrierte Stadtteilentwicklung. 372 Armut und Gesundheit Publikationen: Deutsches Institut für Urbanistik (Hrsg.), Impulskongress Quartiermanagement. Dokumentation der Veranstaltung am 26. und 27. Oktober 2000 in Leipzig, Berlin, Januar 2001(Arbeitspapiere zum Programm Soziale Stadt, Bd. 5). Heidede Becker, Christa Böhme, Ulrike Meyer, Integriertes Handlungskonzept. Steuerungs- und Koordinierungsinstrument für die soziale Stadtteilentwicklung, in: Soziale Stadt info 6, Oktober 2001, S. 2-6. Christa Böhme, Thomas Franke, Leipzig - Leipziger Osten, in: Deutsches Institut für Urbanistik (Hrsg.), Die Soziale Stadt. Eine erste Bilanz des Bund-Länder-Programms "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - die soziale Stadt", Berlin Mai 2002, S. 196-209. Kontakt: Deutsches Institut für Urbanistik, Straße des 17. Juni 112, 10623 Berlin E-Mail: [email protected], Website: www.difu.de; www.sozialestadt.de Böhnke, Petra Diplom-Soziologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Abteilung: Sozialstruktur und Sozialberichterstattung Publikationen: Böhnke, Petra (2002): Armut und soziale Ausgrenzung im europäischen Kontext. Politische Ziele, Konzepte und vergleichende empirische Analysen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 2930/2002, S. 29-38 Böhnke, Petra (2001): Nothing left to lose? Poverty and Social Exclusion in Comparison. Empirical Evidence on Germany. WZB discussion paper, FS III 01-402. Kontakt: Wissenschaftszentrum Berlin, Abteilung Sozialstruktur und Sozialberichterstattung, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin E-Mail: [email protected], Website: www.wz-berlin.de/sb/ Boklage, Hanna Geboren 1948. Ausbildung zur Diätassistentin, zur Diätküchenleiterin und zur Ernährungsberaterin DGE, am Fortbildungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. in Düsseldorf seit 1977 Ernährungsberaterin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V., Sektion Niedersachsen in Oldenburg Arbeitsschwerpunkte: Diät- und Ernährungsberatung im Gesundheitsamt der Stadt Oldenburg „Netzwerk Prävention für junge Familien“ Organisation und Förderung der Zusammenarbeit im Ernährungsbereich tätiger Institutionen Unterstützung der Gesundheitsförderung in Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen Organisation und Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen und Fachtagungen Ernährungsberatung im sozialen Brennpunkten Kontakt: Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V., Sektion Niedersachsen Beratungsstelle Oldenburg, Hugo-Zieger-Straße 37, 26133 Oldenburg E-Mail: [email protected] Brämsmann, Christa-Maria Projektentwicklerin und Projektleitung Geschäftsführerin im Mütterzentrum Osterholz - Tenever e.V. Publikationen: Beratungsprojekt zur beruflichen Orientierung für Frauen in Osterholz – Tenever Ausgabe: 1995 Herausgeberin: Mütterzentrum Osterholz- Tenever im Rahmen einer Projektstudie Kontakt: Mütterzentrum Osterholz - Tenever e.V., Neuwieder Str. 17, 28325 Bremen E-Mail: [email protected], Website: www.tenever.de Autor/innenverezeichnis 373 Braunmühl, Carlchristian von Geboren 1944, Dipl.-Psych, Dr. Studium der Philosophie und Psychologie; Berufliche Tätigkeit am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg mit Schwerpunkt Sozialpsychologie und in der medizinischen Rehabilitation. Referatsleiter im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg. Publikationen: Braunmühl, Carlchristian von: Arbeitslosigkeit und Gesundheit. In: Sozialer Fortschritt, Heft 5, S. 123 ff., 1999. Kontakt: Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg, Berliner Str. 90, 14467 Potsdam E-Mail: [email protected] Brehusowa, Olga Geboren 1957, Dipl.-Medizinerin. Medizinstudium mit der Fachausbildung in der Psychiatrie in Moskau, anschließend in Berlin; Psychiaterin in Moskau (allg. und Forensische Psychiatrie), im Wilhelm-Griesinger Krankenhaus, Berlin; seit 1996 im Krisendienst anfangs Helmer e.V., seit 1999 im Berliner Krisendienst Kontakt: Eichhorster Str. 2, 12689 Berlin E-Mail: [email protected] Brenner, Harvey Prof. Dr. Kontakt: Institut für Gesundheitswissenschaften der Technischen Universität Berlin Sekr. TEL 111, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin E-Mail: [email protected] Bruns, Hilke Geboren 1960, Dipl.-Sozialpädagogin/-arbeiterin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fachhochschule Nordostniedersachsen, Zentrum für Angewandte Gesundheitswissenschaften, Lüneburg ; Arbeitsgebiet: Soziale Benachteiligung und Gesundheit Publikationen: H. Bruns: „PreisWerte-Ernährung“-Gesundheitsförderung mit BewohnerInnen eines Sozialen Brennpunktes. In Suppenküchen im Schlaraffenland, Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V., Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. u.a. (Hrsg.), Hannover 2000 (Eigenverlag) Kontakt: Zentrum für Angewandte Gesundheitswissenschaften, Wilschenbrucher Weg 84a, 21335 Lüneburg E-Mail: [email protected] Brzank, Petra Geboren 1960, Dipl.-Soziologin, Public-Health-Studentin. Schwerpunkt Migration und Frauengesundheit; Mitbegründerin des Büros für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin Kontakt: Büro für medizinische Flüchtlingshilfe, Gneisenaustr. 2 a, 10961 Berlin E-Mail: [email protected], Website: www.ffm-berlin.de/deutsch/medibuero/ 374 Armut und Gesundheit Deligöz, Ekin Geboren 1971, MdB, Diplomverwaltungswissenschaftlerin. Mitglied des Deutschen Bundestag, Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen, Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung, im Innenausschuss und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Mitglied der Kinderkommission. Kontakt: Deutscher Bundestag, Platz der Republik 1, 11011 Berlin E-Mail: [email protected] Dickersbach, Manfred seit 1991 im Landesinstitut für den öffentlichen Gesundheitsdienst NRW (lögd) für den Bereich der kommunalen Gesundheitsförderung zuständig. Kontakt: Landesinstitut für den öffentlichen Gesundheitsdienst (lögd), Westerfeldstr. 35-37, 33611 Bielefeld E-Mail: [email protected] Düffel, Silvia von Geboren 1950, Dipl.-Psychologin. Beratungsstelle für AIDS und Gesundheitsförderung im Gesundheitsamt Oldenburg Kontakt: Gesundheitsamt Oldenburg, Rummelweg 18, 261220 Oldenburg E-Mail: [email protected] Eichstädt-Bohlig, Franziska, MdB Geboren 1941, Diplom-Ingenieurin, Stadtplanerin, Architektin. Seit 1969 als Architektin & Stadtplanerin praktisch und wissenschaftlich tätig. Von 1983 bis 1994 - mit Unterbrechung 1988-90 - als Geschäftsführerin des Sanierungsträgers "STATTBAU" in Berlin-Kreuzberg und nach der Wende in Berlin-Friedrichshain, Nauen und Oranienburg tätig. 1989/90 Baustadträtin in Berlin-Kreuzberg (parteilos, von der Alternativen Liste, AL, nominiert); in dieser Zeit Mitglied im Aufsichtsrat S.T.E.R.N. GmbH und der BUGA Berlin GmbH Seit 1993 Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen, Landesverband Berlin Seit Herbst 1994 Bundestagsabgeordnete, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Mitglied im Fraktionsvorstand, Obfrau im Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen, Mitglied im Haushaltsausschuss sowie stellvertretendes Mitglied im Finanzausschuss und Mitglied der Baukommission des Bundestages (für den Hauptstadt-Umzug) Mitglied in der ÖTV, Mitglied im Mieterverein, Mitglied im Verein zur Förderung des Genossenschaftswesens, Mitglied bei Eurosolar Kontakt: Deutscher Bundestag B90/Die Grünen-Fraktion, Platz der Republik 1, 11011 Berlin E-Mail: [email protected] Ellsäßer, Gabriele Fachärztin für Öffentliches Gesundheitswesen / Umweltmedizin Seit 1993 Leitung des Landesgesundheitsamtes; Vorsitzende der Arbeitsgruppe „Epidemiologie, Evaluation und Gesundheitsberichterstattung“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Kindersicherheit; Vorsitzende der Arbeitsgruppe „Prävention von Kinderunfällen“ der Landesärztekammer Brandenburg; Wissenschaftliche Leitung des Forum „Unfallprävention“ des Deutschen Grünen Kreuzes Publikationen: Ellsäßer G, Berfenstam R. International comparisons of child injuries and prevention programs:recommendations for an improved prevention program in Germany. Inj Prev 2000;6:41-45. Ellsäßer G, Böhmann J. Implementation and results of injury monitoring in a German city. European Consumer Safety Association, Programme and abstracts 3rd European Convention on Consumer Safety, Vienna 2001. Autor/innenverezeichnis 375 Ellsäßer G. Daten für Taten. Fakten zur Prävention von Kinderunfällen. Forum Unfallprävention im Deutschen Grünen Kreuz. Marburg 1998. Ellsäßer G., Böhm A, Kuhn J, Lüdecke K, Rojas G. Soziale Ungleichheit und Gesundheit bei Kindern. Ergebnisse und Konsequenzen aus den Brandenburger Einschulungsuntersuchungen. Kinderärztliche Praxis 2002; 4: 248-257 Kontakt: Landesgesundheitsamt im LASV des Landes Brandenburg, Wünsdorfer Platz 3, 15838 Wünsdorf, Tel.: 033702/7 11 06, Fax: 033702/7 11 99 E-Mail: [email protected] Falk, Kirsten Geboren 1967. Seit 1995 niedergelassene Zahnärztin in Berlin-Lichtenberg; seit 1999 ehrenamtliche Tätigkeit in der Zahnarztpraxis für Obdachlose der MUT g Gesellschaft für Gesundheit, leitende Zahnärztin in der Obdachlosenpraxis (ehrenamtlich) Kontakt: MUT, Rudolfstr. 11, 10245 Berlin Fischer, Birgit Geboren 1953, Gesundheitsministerin NRW. 1972 Abitur. 1972/77 Studium der Erziehungswissenschaften in Münster; Abschluss Dipl.Pädagogin. 1977/80 Pädagogische Leiterin im Evangelischen Bildungswerk. 1980/86 Fachbereichsleiterin der Volkshochschule. 1986/90 Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Bochum. Seit 1990 MdL Nordrhein-Westfalen. 1991/98 Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Landtagsfraktion. Seit 1973 Mitglied der ÖTV. Seit 1981 Mitglied der SPD. Verschiedene Funktionen und Parteiämter auf Unterbezirks- und Bezirksebene. Seit 1997 Stv. Mitglied im WDR-Rundfunkrat. Seit 9.6.1998 Ministerin für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes NordrheinWestfalen. Kontakt: Ministerium f. Frauen, Jugend und Gesundheit d. Landes NRW, Fürstenwall 25, 40219 Düsseldorf E-Mail: [email protected] Fock, Petra Geboren 1957, Dipl. Sozialarbeiterin/-pädagogin Seit 1990 in der Altenarbeit tätig. Leiterin der Koordinierungsstelle für ambulante Rehabilitation älterer Menschen CharlottenburgWilmersdorf Unionhilfswerk gGmbH Sozialeinrichtungen Kontakt: Koordinierungsstelle für ambulante Rehabilitation älterer Menschen CharlottenburgWilmersdorf, Bundesallee 158, 10715 Berlin E-Mail: [email protected] Frohnert, Inge Geboren 1924, Senatsrätin a.D. Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses von 1981-1991, u.a. Vizepräsidentin; Vizepräsidentin des Bundes der älteren Generation Europas EURAG und Vorsitzende der deutschen EURAGSektion; Vorsitzende des Arbeitskreises Berliner Senioren Kontakt: EURAG Sektion Deutschland, Brandenburgische Str. 80, 10713 Berlin E-Mail: [email protected] 376 Armut und Gesundheit Geene, Raimund Geboren 1963, Dr. MPH. Geschäftsführer von Gesundheit Berlin e. V., Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut und am Institut für psychosoziale Prävention und Gesundheitsforschung der Freien Universität Berlin. Publikationen: Geene, Raimund/Luber, Eva (Hg.), Gesundheitsziele, Planung in der Gesundheitspolitik, Frankfurt/Main 2000; Geene, Raimund, AIDS-Politik, Ein Krankheitsbild zwischen Medizin, Politik und Gesundheitsförderung, Frankfurt/Main 2000. Geene, Raimund/Gold, Carola/Hans, Christian, Armut macht Krank, Berlin Oktober 2001 Kontakt: Gesundheit Berlin e.V., Straßburger Str. 56, 10405 Berlin E-Mail: [email protected] Gleißner, Simone Geboren 1971. Referendarin für Geschichte und Latein Gründungsmitglied v. DAFI e.V., Vorstandsmitglied von DAFI e.V. seit Gründung im Januar 2000 Kontakt: DAFI e.V: Deutsch-Afrikanische FrauenInitiative, Prinzenallee 81, 13357 Berlin, Tel: 030 – 2940259 E-Mail: [email protected], Web: http://www.dafi-berlin.org; Gold, Carola Geboren 1960. Mitarbeiterin der Landesarbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung Gesundheit Berlin e. V. Publikationen: Gold, Carola/Geene, Raimund/Stötzner, Karin (Hg.), Patienten, Versicherte, Verbraucher - Möglichkeiten und Grenzen einer angemessenen Vertretung von Patienteninteressen, Berlin 2000 Geene, Raimund/Gold, Carola (Hg.), Gesundheit für Alle! Wie können arme Menschen von kurativer und präventiver Gesundheitsversorgung erreicht werden?, Berlin 2000. Kontakt: Gesundheit Berlin e.V., Straßburger Str. 56, 10405 Berlin E-Mail: [email protected] Göllnitz, Sigrid Geboren 1950, Dr. Ärztin. Vier Jahre Stadtverordnete und Vorsitzende Ges.-Ausschuss Stadt Halle Ärztin mit Schwerpunkt Gesundheitsförderung – AOK Sachsen-Anhalt. Wiss. Mitarbeiterin – Institut für Sozialmedizin Martin- Luther-Universität Halle Kinderärztin – ambulante u. stationäre Tätigkeit. Publikationen: Göllnitz, S.: Zum Gesundheitszustand von Krippenkindern – eine Analyse der Fehlmorbidität. Wiss. Z. Universität Halle, 1991. Göllnitz, S. u.a.: Kenntnisse, Meinungen und Erfahrungen 12-18 jähriger SchülerInnen zum Thema Drogen und Sucht, Vortrag Tagung Projekt „Mobile Drogenprävention“, Halle 1993 Göllnitz, S.: Bewertung der Wirksamkeit präventiver Kurse, DOK 1997. Kontakt: AOK Sachsen-Anhalt, HV, Robert-Franz-Ring 14/15, 06108 Halle E-Mail: [email protected] Grenner, Gerd Geboren 1958, Diplom Politologe. 1992-1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunalpolitik und Regionalentwicklung u.a. Konzeptionierung und Leitung von Seminaren, seit 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gesundheitswissenschaften der TU-Berlin im Forschungsprojekt “Alternative Autor/innenverezeichnis 377 Wohnformen für obdachlose Menschen“. Mit der Studie sollen Klientelstrukturen und mögliche Implementationsbedingungen integrierter Wohnkonzepte abgeleitet werden. Kontakt: Inst. für Gesundheitswissenschaften, Straße des 17. Juni 150, 10623 Berlin E-Mail: [email protected] Groß, Jessica Geboren 1966, Dr., Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe. Mitarbeit im Büro für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin; Mitbegründerin des Büros für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin; AK Medizin des Flüchtlingsrats Berlin Publikationen: Gesundheitliche Versorgung in Flüchtlingen – Anhörung zum Asylbewerberleistungsgesetz in: Flüchtlingsrat – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen 2/2000 Heft 67, S. 43-45 Zur gesundheitlichen Versorgung von minderjähriger Flüchtlinge in : Flüchtlingsrat – Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen 3/00 Heft 68, S. 12-18 Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen: Gesetzliche Ausgrenzung und praktische Unterstützung in : Niedersächsiches Ärzteblatt 6/99 S. 4-5 Kontakt: Reichenberger Str. 72, 10999 Berlin E-Mail: [email protected] Großmann, Achim Geboren 1947, Parlamentarischer Staatssekretär Diplom-Psychologe; 1972 – 1987 Arbeit an der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche in Alsdorf; 1979 – 1987 Leiter dieser Beratungsstelle Arbeit im REGIO-Rat und EUREGIO-Rat Maas-Rhein (D-NL-B); seit 1987 Mitglied des Bundestages; 1987 – 1998 Mitglied des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau; 1991 – 1998 wohnungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion; 1991 – 1998 Mitglied des Fraktionsvorstandes seit 27.10.1998 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Kontakt: Bundesministerium f. Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Invalidenstr. 44, 10115 Berlin E-Mail: [email protected] Güc, Fatih Geboren 1950, Dipl.-Psychologe Psychoanalytiker, analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Familientherapeut. Tätigkeiten: Erziehungs- und Familienberatungsstelle / Sozialpsychiatrischer Dienst / Kinder- und Jugendpsychiatrische Beratungsstelle / Freie Praxis Veröffentlichungen zum Thema Migration: Publikationen: Güç, F. (1991): „Ein familientherapeutisches Konzept in der Arbeit mit Immigrantenfamilien“ in Familiendynamik, interdisziplinäre Zeitschrift für systemorientierte Praxis und Forschung, 16. Jahrgang, Heft 1, Januar 1991. Güç, F. (2000): „Auf der Suche nach Heimat. Ein Konzept in der analytischen Psychotherapie mit Migranten aus der Türkei“. Zeitschrift für Analytische Psychologie und Ihre Grenzgebiete, 31. Jahrgang, Heft 2, Juli 2000 Güç, F. (2000): Bikulturelle und multiprofessionelle Arbeit des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes Berlin in Kreuzberg. In Heise, T. (Hrsg): Transkulturelle Beratung, Psychotherapie und Psychiatrie in Deutschland, VWB-Verlag für Wissenschaft und Bildung. Kontakt: Fatih Güç, Bülowstraße 90, 10783 Berlin E-Mail: [email protected] 378 Armut und Gesundheit Haberkorn, Margit Geboren 1947, Dipl. Bibilothekarin/Information/Dokumentation. Seit 1993 in der Projektarbeit des dfb LVB e.V. tätig, seit 1994 Leiterin des sozialen Projektes „Frauentreff Treptow“ des dfb LVB e.V. (Frauenstrukturstelle ARP gefördert vom Senat für Arbeit und Frauen) Kontakt: Frauentreff Treptow, Demokratischer Frauenbund /LV Berlin, Bodelschwinghstr. 19, 12437 Berlin E-Mail: [email protected] Henße, Sigrid Geboren 1951, Dr. Biologiestudium an der Cleveland State University, USA (1969.1973), wissenschaftliche Mitarbeit in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. R. Kohn, Institute of Pathology, Case Western University, USA (1974.1977), Grundlagenforschung in der Arbeitsgruppe von Prof. B. Wittig, Institut für Biochemie und Molekularbiologie der Freien Universität Berlin (1978-1986), Medizinstudium an der FU Berlin (1980-1989), Anästhesie (1989.1991), HNO/Allergologie (1991-1993), seit 1994 in der Forschungsgruppe Geriatrie von Prof. Steinhagen-Thiessen am Evangelischen Geriatriezenturm, Medizinische Fakultät der Humboldt Universität Berlin, Campus Virchow Klinik tätig. Publikationen: Henße, S., M. Ruhnau-Wüllenweber, M., Steinhagen-Thiessen, E., (2000): Counseling Services and Prevention. The Gerontologist 40 (Special Issue 1): 258. Henße, S., Schmitt, E.M., Gerecke, H., Wissman, P. (2001): Case/Care Management in Berlin - A Comprehensive System of Coordinating Centers for Community-based Rehabilitation in a Major City. 5th International Care/Case Management Conference of the American Society of Aging. Vancouver, Canada June 28th .July 1st, 2001. Henße, S., Ruhnau-Wuellenweber, M., Steinhagen-Thiessen, E.(2001) Counseling and Coordinating Services at the Protestant Geriatric Center in Berlin - A Case of Care Management. 17th Congress of IAG - Global Aging. Vancouver, Canada, July 1st- July 6th, 2001. Kontakt: Zentrum für Gesundheits- und Ernährungsberatung, Wilhelm-Busch-Str. 23, 15732 Eichwalde E-Mail: [email protected] Herbst, Ute Geboren 1940, Krankenschwester. Weiterbildung für Aufgaben der Leitung des Pflegedienstes und der Unterrichtstätigkeit an Schulen für Pflegeberufe 1967-1981 Unterrichtsschwester, Schulleiterin an der Krankenpflegeschule der Medizinischen Einrichtungen der heutigen Heinrich Heine Universität Düsseldorf; 1982-2000 Leiterin der WernerSchule vom DRK in Göttingen; Bildungszentrum des Verbandes der Schwesternschaften vom DRK für Pflege- und Sozialberufe seit 1994 Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schwesternverbände und Pflegeorganisationen e.V.; ADS 1998/99 Vorsitzende des Deutschen Pflegerates, DPR seit 2001 stellvertretende Präsidentin des Deutschen Pflegerates, DPR Publikationen: Autorin des Artikels „Pflegeberufe“ in Lexikon der Bioethik, Korff, Beck, Mikat, Hrsg., Gütersloh 2000; Gütersloher Verlagshaus diverse berufspolitische Stellungnahmen und Artikel in Fachzeitschriften (Die Rotkreuzschwester, Süddeutscher Verlag, München; Pflegezeitschrift, Kohlhammer Verlag, Stuttgart; Heilberufe, Verlag Urban und Vogel, Berlin; Die Schwester, der Pfleger, Verlag Bilbiomed, Melsungen) Autor/innenverezeichnis 379 Kontakt: Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schwesternverbände und Pflegeorganisationen e.V., ADS, Reinhäuser Landstraße 26, 37083 Göttingen E-Mail: [email protected], Website: www.ADS-Pflege.de Höhne, Herbert Dipl.-Rehabilitationspädagoge. Sozialplaner (Soz. Plan 2) im Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf von Berlin, Abteilung Soziales, Wirtschaft und Beschäftigung Kontakt: Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf von Berlin, 12591 Berlin, Tel: 030/ 902 936 004, Fax: 030/ 902 936 005 Huremovic, Salih Süd-Ost-Europa Kultur e.V. Kontakt: Süd-Ost-Europa Kultur e.V., Großbeerenstr. 88, 10963 Berlin Jennrich, Steffi Ethnologin Seit 2000 aktiv bei der Deutsch-Afrikanischen-Fraueninitiative DAFI, Vorstandsmitglied Kontakt: [email protected] Jeuck, Gabriele Geboren 1959, Dipl. Sozialarbeiterin Gestalt- und Suchttherapeutin. Seit 1994 tätig bei "Schwindel-Frei", Beratungs- und Behandlungsstelle, Frauen-MedikamenteAlkohol, Berlin Eigene Psychotherapiepraxis für Kinder, Jugendliche und Erwachsene Publikationen: "Sexueller Mißbrauch und Sucht", Donna Verlag Kontakt: Schwindel-Frei, Reinhardtstr. 5, 12103 Berlin E-Mail: [email protected] Junge-Reyer, Ingeborg Geboren 1946, Dipl. Kameralistin. Staatssekretärin der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung; Dozententätigkeit für den Bereich Recht und Organisation in sozialen Einrichtungen; Kontakt: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Württembergische Str. 6, 10707 Berlin Kaouk, Mohamad Dr. Kontakt: VIA e.V., Kadiner Str. 17, 10243 Berlin Kastner, Michael Geboren 1946, Dipl.-Psych., Dr. phil., Dr. med. 1983-1990 Professur für Organisationspsychologie an der Universität BW München, seit 1990 Lehrstuhl für Grundlagen und Theorien der Organisationspsychologie an der Universität Dortmund. Seit 1987 wissenschaftlicher Leiter des Institutes für Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin (IAPAM) in Herdecke. Schwerpunkte seiner Forschungs-.Beratungs-und Trainingstätigkeit: Psychologische Diagnostik (z.B. Befragung, Assessment-Center), Stressbewältigung, Selbstmanagement, Organisationsentwicklung, Personalentwicklung, Personalpflege, Führung, Motivation, Kommunikation, Teamentwicklung, Beanspruchung und Gesundheit; zahlreiche Publikationen in diesen Bereichen. Kontakt: IAPAM, Oberer Ahlenbergweg 15a, D-58313 Herdecke; website: www.iapam.de 380 Armut und Gesundheit Knerler, Rainer Geboren 1962. Gelernter Beton- und Stahlbetonbauer; Mit 22 Jahren Ausbildung zum Gewerkschaftssekretär; Schwerpunkt Sozialpolitik insbesondere im Krankenversicherungswesen, Geschäftsführer der IG BAU in Essen (Vorsitzender des Vorstandes der AOK Essen); seit 1996 Geschäftsführer der IG BAU in Berlin (Mitglied im Verwaltungsrat der AOK Berlin); Tarifpolitiker für das Bauhauptgewerbe in Berlin und zuständig für die Tarifbereiche Ost- und West-Berlin; Schwerpunkt Integration von ausländischen Beschäftigten auf deutschen Baustellen in das deutsche Rechts- und Tarifsystem Kontakt: Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), Bezirksverband Berlin, Keithstraße 1+3, 10787 Berlin E-Mail: [email protected] Krock, Maya Geboren 1946, Diplom Sozialpädagogin. Von 1979 bis 1996 Sozial- und Kulturarbeit in Berlin-Kreuzberg, ab 1998 Mitarbeiterin im Feministischen Frauengesundheitszentrum Berlin (FFGZ) mit dem Arbeitsschwerpunkt „Ältere Frauen“ – Depressive Verstimmungen; Schlafstörungen; Psychopharmaka. Kontakt: Feministisches Frauen Gesundheits Zentrum, Bamberger Str. 51, 10777 Berlin E-Mail: [email protected], Website: www.ffgz.de Kuhnert, Peter Geboren 1955, Dr. Studium der Sozialwissenschaften (Ruhr-Universität Bochum), Erziehungswissenschaften und Organisationspsychologie (Universität Dortmund), 1985–1995: Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich qualitativer Jugend- und Sozialisationsforschung, Kulturforschung, Bildungs- und Beratungsarbeit (Jugendamt, Schulen, Therapieausbildung), 1995–2000: wissenschaftlicher Angestellter an der Universität Dortmund im Fachbereich 14 (Psychologie) und Promotion. 2001: Initiator/Koordinator der Entwicklungspartnerschaft „Netzwerk Arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung“ (NAG) in der GI EQUAL. Forschungsschwerpunkte: Arbeitslosen- und Bewältigungsforschung, Gesundheitspsychologie, instabile Beschäftigung, Stressbewältigung, Selbstmanagement, Beratung, salutogene Gesundheitsförderung, ab 2002 wissenchaftlicher Angestellter der Universität Dortmund/FB 14. Publikationen: Kuhnert, P., Dudda, F. & Kastner (2000). Selbstmanagement-Beratung für Arbeitslose. Ein Präventions- und Interventionskonzept zur Bewältigung von Arbeitslosigkeit. In Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis, 32 Jg. (3), 401-413, 2000. Kuhnert, P. & Kastner, M. (2001). Zusammenhänge zwischen sozialen und psychischen Faktoren bei der Bewältigung von Langzeitarbeitslosigkeit, In M. Kastner & Vogt, J. (Hrsg.), Strukturwandel in der Arbeitswelt und individuelle Bewältigung (S. 243-266). Lengerich: Pabst-Verlag. Kuhnert, P. & Kastner, M. (2002). Neue Wege in Beschäftigung – Gesundheitsförderung bei Arbeitslosigkeit. In Röhrle, B. (Hrsg,). Prävention und Gesundheitsförderung (Band 2) (S. 373-406). DGVT-Verlag. Kontakt: Universität Dortmund FB 14 (Organisationspsychologie), Emil-Figge-Str. 50, 44227 Dortmund Tel: 0231/ 755-4114, Fax: 0231/7556501 E-Mail: [email protected] Kühn-Mengel, Helga MdB Geboren 1947, Diplompsychologin. 1967 Abitur am Erzbischöflichen Gymnasium Brühl. Studium der Psychologie an der Universität zu Köln. Autor/innenverezeichnis 381 Ab 1972 als Diplompsychologin tätig bei der Forschungsgemeinschaft „Das körperbehinderte Kind“ e. V., Köln und dann beim Zentrum für Frühförderung und Frühbehandlung e. V., Köln. Seit 1992 Mitglied des Vorstands des AWO-Bezirks Mittelrhein; Vorsitzende des AWOKreisverbandes Erftkreis, Aufsichtsratsmitglied der Betriebsgesellschaft Seniorenzentren der AWO Erftkreis; Mitglied des Verwaltungsbeirats Lebenshilfe Wohnstätten e. V., Erftstadt; Vorsitzende der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie; Vizepräsidentin der Bundesvereinigung für Gesundheit. Stellvertretendes Mitglied des Rundfunkrates des WDR, Köln. Mitglied in folgenden Organisationen: Kinderschutzbund, Lebenshilfe, Forschungsgemeinschaft „Das körperbehinderte Kind“, Pro Familia, Köln, Museumsgesellschaft Brühl, Kunstverein Brühl, Deutsches Glockenmuseum auf Burg Greifenstein. Seit 1972 Mitglied der SPD, seit 1980 Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Brühl, Mitglied des Bezirksvorstandes der Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Gesundheitswesen. Seit 1996 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit 2001 Behindertenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion Ordentliches Mitglied in folgenden Bundestagsgremien: Ausschuss für die Angelegenheiten der EU Gesundheitsausschuss Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" Berichterstatterin im Gesundheitsausschuss für die Themenbereiche:Frauengesundheit, Prävention, Patientenschutz und Patientenrechte, Selbsthilfe, Qualitätssicherung, Verbraucherschutz Kontakt: Deutscher Bundestag SPD-Fraktion, Platz der Republik 1, 11011 Berlin E-Mail: [email protected] Lachenmayer, Rainer Geboren 1950. Referent für Altenhilfe, Soziales/Pflegeversicherung beim Paritätischen Wohlfahrtsverband, LV Berlin e.V., Geschäftsführer des Haus des älteren Bürgers gGmbH, Werbellinstraße 42, 12053 Kontakt: Paritätischer Wohlfahrtsverband, LV Berlin e.V., Brandenburgische Straße 80, 10713 Berlin E-Mail: [email protected] Lampert, Thomas Geboren 1970, Dipl. Soz. 1996 Diplom in Soziologie an der Freien Universität Berlin; 1996-1999 Dissertationsstipendiat am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, dort tätig in der Soziologischen Forschungseinheit der Berliner Altersstudie; 1999-2002 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gesundheitswissenschaften der Technischen Universität Berlin in der Abteilung Gesundheitssoziologie; seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Robert Koch-Institut in der Abteilung Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit und Gesundheit, Alter(n) und Gesundheit, Empirische Methoden der Gesundheitswissenschaften. Ausgewählte Publikationen: Lampert, T. [2000]: Sozioökonomische Ungleichheit und Gesundheit im höheren Lebensalter. Alters- und geschlechtsspezifische Differenzen. In: Backes, G. M.; Clemens, W. (Hrsg.), Lebenslagen im Alter. Gesellschaftliche Bedingungen und Grenzen (S. 159-185). Opladen: Leske + Budrich. Lampert, T. [2001]: Gesundheitliche Ungleichheit bei älteren Menschen. Public Health Forum, Vol. 9, Heft 33, S. 13-14. Lampert, T.; Maas, I. [2002]: Sozial selektives Überleben ins und im Alter. In: Backes, G. M.; Clemens, W. (Hrsg.), Die Zukunft des Alter(n)s. Opladen: Leske + Budrich. Kontakt: Robert Koch-Institut, Abteilung Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Seestr. 10, 13353 Berlin, E-Mail: [email protected], Tel: 030/4547-3304, Fax: 030/4547-3513. 382 Armut und Gesundheit Lehmkühler, Stephanie geb. 1964, Dr. oec. troph. freiberuflich tätig in den Bereichen Gesundheitsförderung, Ernährungsverhalten, Verbraucherbildung; Lehr- und Moderationstätigkeiten; Dissertation zum Thema „Ernährungs- und Einkaufsverhalten in Armut“; Mitglied der Professur Ernährungsberatung und Verbraucherverhalten am Institut für Ernährungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität in Gießen; Dozentin für Methodik und Didaktik der Diät- und Ernährungsberatung Publikationen: Lehmkühler, S. (2001). Die Gießener Ernährungsstudie über das Ernährungsverhalten von Armutshaushalten (GESA) – Armutsprävention zur Stärkung von Ernährungskompetenzen. In: Geene, R., Gold, C., Hans, C. (Hrsg.): Armut macht krank! Teil II. Materialien zur Gesundheitsförderung, Band 6. b_books Berlin. 105 Lehmkühler, S., Leonhäuser, I.-U. (2001). Gießener Ernährungsstudie über das Ernährungsverhalten von Armutshaushalten. In: Public Health Forum 9. Heft 31. 26 - 28 Leonhäuser, I.-U., Lehmkühler, S. (2001). Ernährungsprobleme von Privathaushalten mit vermindertem Einkommen (Sozialhilfebezieher) – sozialökonomische und ernährungswissenschaftliche Aspekte. In: Lexikon der Ernährung. Springer. Heidelberg, Berlin. 404 - 409 Lehmkühler, S. (2000). Was bedeutet es, sich mit wenig Geld zu ernähren? – Ergebnisse einer Untersuchung in einem Gießener sozialen Brennpunkt. In: Dokumentation Suppenküche im Schlaraffenland. Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e. V. et al. (Hrsg.) Hannover. 29 - 36 Lehmkühler, S. (2000). Armut und Ernährung. Bedeutung von Hauswirtschaft und Beratung. In: fundus. Fachmagazin für die Hauswirtschaft. Heft 4, 7. Jg. 14 - 15 Lehmkühler, S., Leonhäuser, I.-U. (1999). Das Ernährungsverhalten von ausgewählten Familien mit vermindertem Einkommen in Gießen – Eine qualitative Studie. In: Hauswirtschaft und Wissenschaft. 47. Jg. Heft 2, 2. Quartal. 86 - 92 Kontakt: Institut für Ernährungswissenschaft, Professur Ernährungsberatung und Verbraucherverhalten, Senckenbergstraße 3, 35390 Gießen, E-Mail: [email protected] Leykamm, Barbara Seit 1991, Dipl. Haushaltsökonomin im Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg für den Bereich Gesundheitsförderung im öffentlichen Gesundheitsdienst Baden-Württemberg zuständig. Kontakt: Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg (LGA), Hoppenlaustr.7, 70174 Stuttgart, E-Mail: [email protected] Liedholz, Ulrich Geboren 1960, Dipl.-Sozialarbeiter/Dipl.-Sozialpädagoge. Leiter der Kreuzberger Beratungsstelle für Alkoholkranke und Medikamentenabhängige des Diakonischen Werkes Berlin Stadtmitte e. V. Publikationen: Ulrich Liedholz: Niedrigschwellige Beratungsstellenarbeit für Alkoholkranke und Medikamentenabhängige in Berlin-Kreuzberg. In: M. Schmidt-Ohlemann u. a. „Ambulante wohnortnahe Rehabilitation“ Interdisziplinäre Schriften zur Rehabilitation (Band 7), Universitätsverlag Ulm 1998, S. 295-299 Ulrich Liedholz: Gruppenarbeit mit suchtkranken Wohnungslosen. In: Partner-Magazin, Jg. 33 (1999), H. 4, S. 146-149 Ulrich Liedholz (mit Siegfried Gosdschan und Albert Nägele): Motivationsarbeit mit suchtkranken Wohnungslosen. In: Wohnungslos, Jg. 43 (2001), H. 2, S. 68-70 Kontakt: Kreuzberger Beratungsstelle für Alkoholkranke und Medikamentenabhängige, Segitzdamm 46, 10969 Berlin E-Mail: [email protected], Website: www.dw-stadtmitte.de Autor/innenverezeichnis 383 Luber, Eva Geboren 1947, Prof. Dr., Kinderärztin, Master of Science. Professorin für Sozialmedizin an der Hochschule Magdeburg-Stendal; seit 1996 Sprecherin des Arbeitskreises „Kind und Familie“ von Gesundheit Berlin e.V., Sprecherin des Arbeitskreises "Kindergesundheit" der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP). Publikationen: Franke, Martin / Geene, Raimund / Luber, Eva (Hg.): Armut und Gesundheit. Berlin 1999. Geene, Raimund / Luber, Eva (Hg.): Gesundheitsziele, Planung in der Gesundheitspolitik. Frankfurt/Main 2000. Hartmann, Thomas und Luber, Eva (Hrsg.): Kinder-Umwelt-Gesundheit in den neuen Bundesländern, Mabuse Verlag. Frankfurt/Main 2000. Luber, Eva: Sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Welche Handlungsstrategien gibt es? in: Kinderärztliche Praxis, 4/2002, S. 276-280. Kontakt: Hochschule Magdeburg-Stendal, Breitscheidstr. 2, 39114 Magdeburg, E-Mail: [email protected] Ludescher, Gerd Geboren 1958, Dr. Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Gesundheitswissenschaftler. Seit 01.01.1999 Aufbau und Leitung des Gesundheitszentrums und der International Medical Services an der Schlosspark-Klinik; seit 01.04.2002 auch ärztlicher Leiter des Gesundheitszentrums und der International Medical Services an der Park-Klinik Weissensee. Publikationen: Ludescher, G., and all. (1993). Black Male College Students and Hypertension: A qualitative Investigation. Health Education Research, Volume 8, Number 2,: 271 – 282. Ludescher, G., and all. (1995). AIDS-Related Knowledge, Attitudes, and Behaviors in Adolescents – Public Schools versus SDA Academies. The Journal of Adventist Education, February/March :39-42. Ludescher, G. (1995). Vom Krankenhaus zum Gesundheitshaus. Das Gesundheitswesen, 57, 8/9. Ludescher, G. (1996). Bedarfsanalyse mit Pflegedienstmitarbeitern zur Thematik der betrieblichen Gesundheitsförderung im Krankenhaus. Das Gesundheitswesen, 57, 8/9. Ludescher, G. (1997). Vom Krankenhaus zum Gesundheitshaus. Pflegewissenschaft und Medizin – Synergie und Kooperation in Wissenschaft und Praxis. Themata Leucoreana, I: 105-122. Ludescher, G. (1998). The Gourmet Workshop’ a Cooperation Model between two ‚White Collar’ Professions’. 6th International Conference on Health Promoting Hospitals – Abstracts. Ludescher, G. (1998). Naturheilverfahren bei einer Patientin mit chronischer Bronchitis und asthmoider Reaktion. Forschende Komplementärmedizin, 5, 2,: 87-90. Ludescher, G. (1998). Essen am Familientisch. UGB-Forum, Fachzeitschrift für Gesundheitsförderung. 317-319. Ludescher, G. and all (2000). Koexistenz von Morbus Fabry, Sacroiliitis und membranoproliferativer Glomerulonephritis. Zeitschrift für Rheumatologie, 59, Supplement 3, 66. Kontakt: Schlosspark Klinik Gesundheitszentrum, Heubnerweg 2, 14059 Berlin, E-Mail: [email protected] Mascher, Ulrike MdB Geboren 1938. Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg, Berlin und München. Seit 1961 Arbeit als freiberufliche Regieassistentin bei Film- und Fernsehproduktionen. Seit 1974 Mitarbeit beim Aufbau eines Studios für Schulungs- und Informationsmedien bei der Allianz Versicherungs AG. 1974 Wahl in den Betriebsrat, 1980 Wahl zur Betriebsratsvorsitzenden; mit der Wahl in den Bundestag Rücktritt als Betriebsrätin. Mitglied der Gewerkschaft Ver.di, der Arbeiterwohlfahrt, des Münchner Mietervereins, der Deutsch-Polnischen-Gesellschaft, der Weiße-Rose-Stiftung sowie verschiedener 384 Armut und Gesundheit Frauenprojekte in München. Mitglied der SPD seit 1963; seit 1993 Mitglied im Präsidium der SPD Bayerns.1984 bis 1990 ehrenamtliche Stadträtin der Landeshauptstadt München. Mitglied des Bundestages seit 1990; 1994-1998 Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung. 1998-2002 Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Kontakt: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Wilhelmstr. 49, 11017 Berlin E-Mail: [email protected] Maschewsky-Schneider, Ulrike Geboren 1947, Prof. Dr. Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Gesundheitswissenschaften Sprecherin des Berliner Zentrums Public Health Sprecherin des postgraduierten Studiengangs Gesundheitswissenschaften/ Public Health Stellvertretende Vorsitzende von Gesundheit Berlin e.V.- Landesarbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung 1984-1996 Leiterin der Abteilung Epidemiologie am Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin, seit 1996 Professorin an der Technischen Universität Berlin Forschungsschwerpunkte: Sozialwissenschaftliche Konzepte und Methoden der Gesundheitswissenschaften Evaluierungsforschung in Gesundheitsförderung und Prävention Frauengesundheitsforschung Publikationen: Maschewsky-Schneider, U. (1997): Frauen sind anders krank - Zur gesundheitlichen Lage der Frauen in Deutschland. Weinheim: Juventa Forschungsverbund DHP (Hrsg.) (1998): Die Deutsche Herz-Kreislauf-Präventionsstudie. Design und Ergebnisse. Bern: Hans Huber Bammann, K., Babitsch, B., Jahn, I., Maschewsky-Schneider, U. (1999): Weibliche Lebensverläufe und Gesundheit - Ergebnisse einer Untersuchung nationaler Surveydaten 50- 69jähriger Frauen aus Ost- und Westdeutschland. Soz Präventivmed 1999, 44: 65-77 Kontakt: Technische Universität Berlin, Institut für Gesundheitswissenschaften/Berliner Zentrum Public Health, Ernst-Reuter-Platz 7, TEL 11-2, 10587 Berlin E-Mail: [email protected] May, Angelika Geboren 1959, Dipl. Sozialarbeiterin. Arbeitsgebiet: Gegen Gewalt gegen Frauen, insbesondere gesundheitliche Versorgung von Frauen mit Misshandlungserfahrungen. Kontakt: Frauenzimmer e.V., Ebersstr. 32, 10827 Berlin E-Mail: [email protected] Merbitz, Annemarie Geboren 1946, Gesellschaftswissenschaftlerin, Fachkraft für soziale Arbeit. Leiterin des Frauenkommunikationszentrums des Humanistischen Regionalverbandes in Halle Kontakt: Humanistischer Regionalverband Halle/Saalkreis, Gustav-Bachmann-Str.33, 06130 Halle E-Mail: [email protected] Müller-Heck, Elisabeth Geboren 1948. Referentin für Gesundheitsförderung in der Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport; Lehrerin; Diätassistentin Autor/innenverezeichnis 385 Publikationen: E. Müller-Heck „Sich wohlfühlen in der Schule“, Pädagogisches Forum, Heft 2, Juli 1995S. 88-93 Schneider Verlag Hohengehren E. Müller-Heck „Gesundheitsfördernde Schule“ in Schullandschaften in Deutschland, Bd. 1 Berlin, Hrsg Ernst und Lost Schneider Verlag Hohengehren , 1997 E. Müller-Heck „Bedeutung von Ruhe- und Stille-Übungen im Unterricht“ in „Lärm und Gesundheit“ Materialien für die Grundschule, Hrsg. Bundeszentrale für gesundh. Aufklärung, Köln, 2000 Kontakt: Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport, Beuthstr. 6-8, 10117 Berlin E-Mail: [email protected] Nägele, Albert Geboren 1947, Werkzeugmacher, Studienrat, Sozialpädagoge. Mitarbeiter der Tagesstätte für Wohnungslose „Am Wassertor“ des Diakonischen Werkes Berlin Stadtmitte e. V. Publikationen: Albert Nägele (mit Siegfried Gosdschan und Ulrich Liedholz): Motivationsarbeit mit suchtkranken Wohnungslosen. In: Wohnungslos, Jg. 43 (2001), H. 2, S. 68-70 Albert Nägele (mit Siegfried Gosdschan und Ulrich Liedholz): Suchtkranke Wohnungslose motivieren. In: Partner-Magazin, Jg. 34 (2001), H. 3, S. 32-36 Kontakt: Tagesstätte für Wohnungslose „Am Wassertor“, Segitzdamm 46, 10969 Berlin E-Mail: [email protected], Website: www.dw-stadtmitte.de Pawlovski, Carola Kontakt: Jahresringe e.V. Berlin, Boxhagener Str. 18, 10245 Berlin E-Mail: [email protected] Poreski, Thomas Geboren 1963, Diplom-Sozialarbeiter, Diplom-Pädagoge Bis 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter von Ekin Deligöz MdB, Bündnis 90 / Die Grünen. Seit 2002 Geschäftsführer der Ev. Obdachlosenhilfe e.V. Stuttgart. Kontakt: Ev. Obdachlosenhilfe e.V. Stuttgart, Stafflenbergstr. 76, 70184 Stuttgart, Tel. 0711-2159725 E-Mail: [email protected] Pott, Elisabeth Geboren 1949, Dr. Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung; Lehrauftrag für Sozialmedizin, Medizinische Hochschule Hannover Medizinstudium in Bonn und Kiel; Chirurgische Weiterbildung; Arzt für öffentliches Gesundheitswesen 1978 Referentin im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung; 1981 Referatsleiterin im Niedersächsischen Sozialministerium (Gesundheitsvorsorge); 1985 Abordnung zum Bundesgesundheitsamt Seit 1985 Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Kontakt: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung; Ostmerheimer Straße 220; 51109 Köln 386 Armut und Gesundheit Püschl, Monika Geboren 1961, Pädagogin M.A. Seit 2001 Referentin für Planung und Koordination in der Fachabteilung Drogen und Sucht der Behörde für Umwelt und Gesundheit in Hamburg. Von 1993 bis 2001 Leiterin des Büros für Suchtprävention der Hamburgischen Landesstelle gegen die Suchtgefahren e.V. Von 1998 bis 1993 Referentin für Suchtprävention in der Senatsverwaltung für Jugend und Familie in Berlin Kontakt: Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales Hamburg, Tesdorpstr. 8, 20148 Hamburg E-Mail: [email protected] Riegger, Stephan Geboren 1948. Studienrat im Hochschuldienst an der FU Berlin; Lehrangebote im Bereich der Grundschulpädagogik (Bewegte Schule –Gesunde Schule); Leiter: AG Berlinbewegt; Vorstandsmitglied im Verein Gesunde Stadt e.V. Arbeitsschwerpunkt: Planung und Qualifizierung von gesunden Räumen zum Aufwachsen für Kinder und Jugendliche in der Stadt Publikationen: RIEGGER, ST.: Räume mit Bewegung füllen. Regenpause. In: Sportpädagogik 6 (1998) RIEGGER, St.: Bewegtes Grün - Gesundes Grün. Kinder- und jugendfreundliche Stadtentwicklungsplanung. In: Stadt und Grün 49 (2000), 11, 777-781 RIEGGER, St.: Umgestaltung eines Schulhofes für behinderte und nichtbehinderte Kinder. In: Landessportbund Hessen (Hrsg.): Zukunftsorientierte Sportstättenplanung Bd. 9, Schulhof in Bewegung: Orientieren-Planen-Gestalten. Aachen 2001, 50 ff Kontakt: Freie Universität Berlin, Inst.f.Sportwiss.- FB Erziehungswissenschaften, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin E-Mail: [email protected], Website: www.Berlinbewegt.de Roßberg, Christine Geboren 1934, Dr., Fachärztin für Allgemeinmedizin. Bis 1991 tätig als Ärztin im Ambulanten Gesundheitswesen Berlin-Lichtenberg, von 1978 an Leiterin der Geriatrischen Beratungsstelle des Bezirks und beratende Ärztin für Geriatrie beim Stadtbezirksarzt; seit 1998 Vorsitzende des Landesverbands der Volkssolidarität Kontakt: Volkssolidarität Landesverband Berlin e.V., Am Köllnischen Park 6-7, 10179 Berlin Ruddat, Dorothee Geboren 1940, Diplom-Sozialpädagogin. 1975 – 1979 Bereichsleitung in Anstalt für Geistigbehinderte 1979 –1980 Konzeptionierung von Mitarbeiterfortbidlungen 1980 – 1986 Gruppentherapeutische Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern ab 1986 Gemeinwesenarbeit im Rahmen des Nachbarschafts- und Familienzentrum Kiezoase Schöneberg. Besonderer Schwerpunkt: Aufbau eines Familiennetzwerkes seit 1999 Aufbau eines weiteren Familiennetzwerkes im Sozialen Brennpunkt „Schöneberger Norden“ mit überwiegend Familien ausländischer Herkunft. Kontakt: Kiezoase, Karl-Schrader-Str. 7/8, 10781 Berlin Sadowski, Ursula Geobren 1926. Ehrenamtliche Mitarbeit im Frauenwohnprojekt „Offensives Altern“ Kontakt: Offensives Altern e.V., Ortolanweg 88, 12359 Berlin Autor/innenverezeichnis 387 Salman, Ramazan Geboren 1960 in Istanbul, Dipl. Sozialwissenschaftler; Medizinsoziologe Lebt seit seiner Einwanderung 1966 als Kind von Arbeitsmigranten in Hannover. Er ist Geschäftsführer des Ethno-Medizinischen Zentrums Hannover, 1. Vorsitzender des Instituts für transkulturelle Betreuung e.V. in Hannover, Mitbegründer zahlreicher Bundes- und internationaler Gesellschaften sowie Mitglied des klinischen Ethikkomitees der Medizinischen Hochschule Hannover. Salman ist Träger des Wrigley-Prophylaxe-Preises. Zusammen mit Collatz, Hegemann und Machleidt gibt er die wissenschaftlichen Fachbuchreihe „Forum Migration Gesundheit Integration“ heraus. Publikationen: Salman, Tuna & Lessing (Hrsg.) (1999) “Handbuch interkulturelle Suchthilfe“ Schneller, Salman & Goepel (Hrsg.) (2001) „Handbuch Oralprophylaxe und Mundgesundheit bei Migranten“ Hegemann & Salman (Hrsg.) (2001) „Transkulturelle Psychiatrie – Konzepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen“ Kontakt: Ethno-Medizinsches Zentrum e.V. / Ethno-Medical-Centre-Germany, Königstr. 6, D30175 Hannover, Tel.: (0049)0511/1684-1020; -1022 Fax: (0049)0511/457215 E-Mail: [email protected] / [email protected] Schmidt, Ulla Geboren 1949, Bundesgesundheitsministerin. Ulla Schmidt ist Mitglied der SPD seit 1983. Sie ist ferner Mitglied der IG Bergbau, Chemie und Energie, der Arbeiterwohlfahrt, des Kinderschutzbundes und des Arbeiter-Samariter-Bundes. Studium der Psychologie (RWTH in Aachen) sowie Studium an der Pädagogischen Hochschule in Aachen für das Lehramt für Grund- und Hauptschule; Lehrerin an der Schule für Lernbehinderte in Stolberg, in dieser Zeit (1980 bis 1984) Studium und Hochschulabschluss an der Fernuniversität Hagen für das Lehramt zur Rehabilitation lernbehinderter und erziehungsschwieriger Schülerinnen und Schüler 1985 bis 1990: Lehrerin an der Schule für Erziehungshilfe im Kreis Aachen, Bereich Integration gleichzeitig 1980 bis 1990: Mitglied im örtlichen Personalrat, im Bezirkspersonalrat und im Hauptpersonalrat für Lehrerinnen und Lehrer an Sonderschulen beim Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen. Seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages Bis zu ihrer Ernennung zur Bundesgesundheitsministerin vielfältige Arbeit in verschiedenen Gremien, z.B. Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes der SPD-Bundestagsfraktion, Vorsitzende der Querschnittsgruppe für die Gleichstellung von Frau und Mann der SPD-Bundestagsfraktion, Stellvertretendes Mitglied im Ausschuss Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung, Stellvertretendes und später Ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuss, Sprecherin der Projektgruppe "Familienpolitik im 21. Jahrhundert", Sprecherin der ad hoc Arbeitsgruppe "Sexuelle Gewalt gegen Kinder", Vertreterin der SPD im ZDF-Fernsehrat ; Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion für die Bereiche Arbeit und Soziales, Frauen, Familie und Senioren seit 18. Januar 2001: Bundesgesundheitsministerin Kontakt: Bundesministerium für Gesundheit, Mohrenstr. 62, 10117 Berlin Schneider, Lida Dr. bis 2002 Oberärztin an der Strahlenklinik Offenbach; jetzt Geschäftsführerin des Vereins „Hilfe für Kinder krebskranker Eltern e.V. Kontakt: Hilfe für Kinder krebskranker Eltern e.V., Güntherstr. 4A, 60528 Frankfurt am Main, Tel/Fax: 069/ 677 24 504 388 Armut und Gesundheit Schubert-Lehnhardt, Viola Geboren 1955, PD Dr., Medizinethikerin. Von 1979 - 1992 Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg; danach tätig als Projektbearbeiterin für diverse Auftraggeber; derzeit Projektleiterin beim Kultur- und Bildungsverein Elbe/Saale e.V. in Halle; Mitglied der Akademie für Ethik in der Medizin in Göttingen, Member of Advisory Bord INFIRE International Network of Feminist interested in Reproductive Health and Ethics in Washington, Mitglied der Enquete-Kommission des Thüringer Landtages „Zur Wahrung der Würde menschlichen Lebens in Grenzsituationen“. Publikationen: Die Gesundheit- ein Produkt. Der Patient - ein Kunde?; Berlin, trafo verlag, 2000 Frauen brauchen eine andere Medizin!; Berlin, trafo verlag, 2001 Pflegealltag in der Krise. Pflege zwischen Profession, Liebe und Überdruß; Berlin, trafo verlag, 2000 Kontakt: Bildungsverein Elbe-Saale, Blumenstr. 16, 06108 Halle, E-Mail: [email protected] Schultz, Dagmar Prof. Dr. Von 1963 - 1972 Studium und Arbeit in den USA. 1974-86 Dozentin am John-F.-Kennedy Institut für Nordamerikastudien an der FU Berlin Seit 1991 Hochschullehrerin an der ASFH. 1989 Habilitation am Soziologischen Institut der Universität der FU. Mitgründerin des Feministischen Frauengesundheitszentrum Berlin und des Orlanda Frauenverlags. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Bereiche Interkulturelle Sozialarbeit, politische und kulturelle Kompetenz in der psychosozialen und psychiatrischen Versorgung von MigrantInnen und Minderheiten und Gesundheitsversorgung von Frauen und Minderheiten. Kontakt: Alice-Salomon-FH, Alice-Salomon-Platz 5, 12627 Berlin, Telefon (030) 992 45-409, Telefax (030) 992 45-245, Privat: (030) 2167167 E-Mail: [email protected] Schwartz, Doris Geboren 1947, Obermedizinalrätin. Seit 1991 stellvertretende Fachbereichsleitung im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst des Bezirksamtes Tempelhof-Schöneberg Kontakt: Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg Abteilung Gesundheit, Stadtentwicklung und Quartiersmanagement, Rathausstr. 27, 10820 Berlin Schweitzer, Hanne Freie Journalistin Bereitet z.Zt. Dissertation zum Thema Altersdiskriminierung vor. Publikationen: Schweitzer, H. 1996 Seniorenführer Köln, Köln, Bachem Verlag Schweitzer, H, 1997 Düsseldorf ab 50, Köln, Bachem Verlag zwischen 1996 und heute diverse Veröffentlichungen in: Pro Alter, Zeitschrift des Kuratoriums Deutsche Altershilfe. Sicher und bequem zu Hause wohnen, 2000, NRW-Ministerium für Familie und Gesundheit. Kontakt: Journalistenbüro, Hölderlinstr. 1, 50968 Köln E-Mail: [email protected] Sliep, Inge MTA mit der späteren Qualifizierung zur Fach-MTA Hämatologie Gewerkschaftliche Orientierung während der Berufstätigkeit in der ÖTV. Autor/innenverezeichnis 389 Fusionsgeübte Mitarbeiterin im städt. Rudolf-Virchow-Krankenhaus, Leiterin des Labores in der Kinderklinik Reinickendorferstr. Fusioniert mit den FU-Kliniken in Westend, fusioniert mit der Charite. Bis zum Ende des Jahres 2000 Frauenbeauftragte der Medizinischen Fakultät der HU, mit den Standorten in Wedding, Mitte und in Buch. Kontakt: Fuggerstr. 9-11, 10777 Berlin E-Mail: [email protected] Sonntag, Ute Dipl. Psychologin. Seit 15 Jahren Erfahrungen in Netzwerkarbeit im Bereich Frauen und Gesundheit auf lokaler, regionaler und bundesweiter Ebene. Derzeit Referentin für Gesundheitsförderung in der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V., Projektleitung des EU-Projektes „European Women’s Health Network“; Sachverständige in der Enquete-Kommission „Zukunft einer frauengerechten Gesundheitsversorgung in NRW“ des Landtages NRW; vorher: wiss. Mitarbeiterin an der Universität Oldenburg; wiss. Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Gesundheitshandeln von Frauen“; Beratungstätigkeit in einer Beratungsstelle für Krebsbetroffene. Publikationen: Klesse, Rosemarie; Sonntag, Ute; Brinkmann, Marita; Maschewsky-Schneider, Ulrike (1992): Gesundheitshandeln von Frauen, Campus: Frankfurt/M., New York. Helbrecht-Jordan, Ingrid; Sonntag, Ute (1997): „Investitionen in die Gesundheit von Frauen“ Der Beitrag des Netzwerkes ‘Frauen /Mädchen und Gesundheit Niedersachsen’ zu einer geschlechtsbewussten Gesundheitsförderung, in: Zeitschrift für Frauenforschung, Kleine Verlag, Jg. 15, 3, S. 2834. Sonntag, Ute (1998): Gesundheitsförderung mit Frauen und Mädchen, in: Knoche, Monika, Hungeling, Germanus (Hrsg.): Soziale und ökologische Gesundheitspolitik. Standorte und Grundlagen einer grünen Gesundheitspolitik, Mabuse Verlag, Frankfurt a.M., S.139-152. Sonntag, Ute (2000): Frauengesundheitsforschung - Entwicklungslinien und Perspektiven, in: Frauen in der einen Welt, Zeitschrift für interkulturelle Frauenalltagsforschung, Jg. 11, Heft 1, Schwerpunkt Frauen und Gesundheit, S. 75-85. Kontakt: Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V., Fenskeweg 2, 30165 Hannover E-Mail: [email protected]; [email protected] Website: www.gesundheit-nds.de Stahl, Eva Aktiv im Büro für medizinische Flüchtlingshilfe. Kontakt: Wrangelstr. 54, 10997 Berlin E-Mail: [email protected] Steinwerth, Regine Landeshauptstadt Magdeburg, Amt f. Gleichstellungsfragen Kontakt: Landeshauptstadt Magdeburg, Amt f. Gleichstellungsfragen, Alter MarktHaus 3, 39090 Magdeburg E-Mail: [email protected] Stemmler, Renate Dipl.-Sozialarbeiterin (FH) Sozialarbeiterin in der Klinik für Gerontopsychiatrie, seit 10 J. im psychiatrischen Krankenhaus tätig. Kontakt: Vivantes, Griesinger Krankenhaus, Myslowitzer Str. 45, 12621 Berlin 390 Armut und Gesundheit Suljic, Remzija Süd-Ost-Europa Kultur e.V. Kontakt: Süd-Ost-Europa Kultur e.V., Großbeerenstr. 88, 10963 Berlin Tammen-Parr, Gabriele Geboren 1953, Sozialpädagogin, Ehe- Familien- u. Lebensberaterin Abteilung Sozialwesen: Bezirksamt Neukölln:, Beratungsstelle Treffpunkt u. Beratung: Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Kinderetage: Bezirksamt Reinickendorf, Treffpunkt Cafe Durchfahrt: Diakoniestation Südstern, Familienzentrum: Passionsgemeinde Gegründet und tätig für: Pflege in Not, Krisentelefon, Beratungs- u. Beschwerdestelle Publikationen: Hirsch, Rolf D.; Erkens, Fred [1999]: Wege aus der Gewalt. Bonner Schriftenreihe "Gewalt im Alter", Band 5 Kontakt: Pflege in Not, Zossener Str. 24, 10961 Berlin, Telefon (030) 69 59 88 98, Telefax (030) 694 69 94 E-Mail: [email protected] Tautz, Ilana Geboren 1972, Soziologin M.A. Krankenschwester und Soziologin M.A. Fach- und Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Pflege, Prävention und Gesundheitsförderung. Tätigkeiten, Institutionen: Konzeption und Umsetzung innovativer Projekte in o.g. Bereichen, AIDS- und Drogenprävention bei MigrantInnen betriebliche Gesundheitsförderung. Lehrtätigkeit in "Interkulturellen Kommunikation und Mitarbeiterführung" Institutionen: Ethno-Medizinisches Zentrum, Erwachsenenbildung, Stadtverwaltung (Personalamt, Schulverwaltungsamt, Gesundheitsamt) Kontakt: Swinemünder Str. 2, 10435 Berlin E-Mail: [email protected]. Trabert, Gerhard Geboren 1956, Prof. Dr., Diplom Sozialpädagoge und Arzt. Professor für Medizin und Sozialmedizin an der Georg-Simon-Ohm Fachhochschule in Nürnberg und Vorsitzender des Vereins “Armut und Gesundheit in Deutschland e.V.; Leiter und Mitarbeiter des medizinischen Versorgungsmodells Wohnungsloser in Mainz, Sprecherrat der bundesweiten AG “Medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen“, der Nationalen Armutskonferenz, Mitarbeiter in der AG “Armut und Gesundheit“ des Bundesministeriums für Gesundheit. Arbeitsschwerpunkte: Medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen; Migranten und in Armut lebender Kinder; psychosoziale Betreuung von Tumorpatienten, Themenbereich: Kinder krebskranker Eltern. Publikationen: Trabert, Gerhard, Soziale Dimension von Krankheit vernachlässigt, in: Deutsches Ärzteblatt, 96. Jahrgang/Heft 12, A. 756-760, 1999; Trabert, Gerhard, Armut und Gesundheit/Krankheit in Deutschland, in: Sozialmagazin. Die Zeitschrift für Soziale Arbeit, Heft 11, 25. Jahrgang, November 2000. Armut und Krebs - Höheres Krebsrisiko bei sozial benachteiligten Menschen. Einblick. Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums, Heidelberg, 1 / 2002, S.6 - 9. Kontakt: G-S-O Fachhochschule Nürnberg, Fachbereich Sozialwesen, Bahnhofstr. 87, 90402 Nürnberg, E-Mail: [email protected] Autor/innenverezeichnis 391 Trommer, Heinz Geboren 1930, Dr., Dipl.-Psychologe. 25 Jahre Hochschullehrer für Psychologie an der Universität Rostock, Ehrenvorsitzender der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung Mecklenburg-Vorpommern, Sprecher des Arbeitskreises “Gesundheit und Altern” von Gesundheit Berlin e. V., Beiratsmitglied des Landesvorstandes des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes M-V Publikationen: Trommer, H., Aktiv leben – gesund alt werden, Beiträge der Psychogerontologie. - Dokumentation der Fachtagung des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Rostock. – Rostock 2000; Trommer, H., Gesundheitliche Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit – Fachtagung der Thüringer Landesvereinigung für Gesundheitsförderung. – Weimar 2000. Trommer, H., „Altersarmut und höheres Gesundheitsrisiko“. In: „Armut macht krank“. Materialien zur Gesundheitsförderung, Band 5, Teil 3, Gesundheit Berlin e. V., 2001 Kontakt: Stühlinger Str. 1, 10318 Berlin Unger, Dorothee Geb. 1954, Diplom-Psychologin Seit 1999 Mitbegründerin und Mitarbeiterin von "Pflege in Not" - Beratungs- und Beschwerdestelle für Konflikt und Gewalt in der Pflege älterer Menschen Kontakt: Tel.: 030- 69 59 88 98 E-Mail: [email protected] Wowereit, Klaus Geboren 1953, Regierender Bürgermeister von Berlin Abitur 1973, Studium FU Berlin, 1979 1. jur. Staatsprüfung, 1981 2. jur. Staatsprüfung, 1981/84 Regierungsrat z.A. beim Senator für Inneres, 1984/95 Bezirksstadtrat Tempelhof, Mitgl. der SPD, Mitgl. des Landesvorstandes, Kreis- und Landesparteitagsdelegierter, 1979/84 Bezirksverordneter, 1981/84 Fraktionsvors. der SPD BVV Tempelhof, Mitgl. AWO, Tempelhofer Kunst- und Kulturverein (TKK), Partnerschaftsverein Tempelhof, Haus-, Wohnungs- und Grundstückseigentümerverein BerlinLichtenrade e.V., Förderverein Bruno-H.-Bürgel Schule e.V., Europäische Akademie, 1995/99 Stellv. Fraktionsvors. der SPD-Fraktion, seit Dezember 1999 Vorsitzender der SPD-Fraktion, ab 16. Juni 2001 Regierender Bürgermeister von Berlin Kontakt: Der Regierende Bürgermeister von Berlin – Senatskanzlei, Berliner Rathaus, Rathausstraße 15, 10173 Berlin, Tel.: 030-9026-0, Fax: 030-9026-2013 E-Mail: [email protected] Zoike, Erika Geboren 1951 Referatsleiterin für Gesundheitsforschung beim BKK BV Mehrere Forschungsprojekte zu arbeitsbedingten Erkrankungen, Konferenzen und Beiträge zur Gesundheitsberichte