Vom Überdruß leben: Sensibilität und Intellektualität als Ereignis bei Handke, Born und Strauß Author(s): Klaus R. Scherpe and Hans-Ulrich Treichel Source: Monatshefte, Vol. 73, No. 2 (Summer, 1981), pp. 187-206 Published by: University of Wisconsin Press Stable URL: http://www.jstor.org/stable/30157178 . Accessed: 04/08/2011 14:07 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. University of Wisconsin Press is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Monatshefte. http://www.jstor.org leben: VomUberdrulB Sensibilititund Intellektualitat als Ereignisbei Handke,Born und StrauB KLAUSR. SCHERPE HANS-ULRICH TREICHEL Freie UniversitaitBerlin Die vielbesprochene Literatur der neuen Empfindsamkeit der siebzikann sich auf ein besonderes Verhiltnis zu ihren Konsumenten Jahre ger berufen. Sie bringt wortreich zum Ausdruck, was ihre Leser gern ausdrtickenwuirden,wenn sie es konnten: die Erfahrung des Sinnentzugs in einem total veraiuerlichten Leben, die unbestimmte Negation aller veriffentlichten wissenschaftlichen und politischen Meinungen uiber dieses Leben, insbesondere auch das Unbehagen uiber die Erklirungssysteme zu seiner Verlinderung, die Klage fiber die individuelle Isolation und Entfremdung, die steigerungsfiihig ist bis zu den Wonnen des Ungew6hnlichen der Leiderfahrung gegeniiber den weniger bewuBten und sensiblen Zeitgenossen. Literatur und Film der neuen Innerlichkeit geben einem kollektiven NarziBmusNahrung, mit dem die nachachtundsechziger Generation der Intellektuellen und Kulturginger die neue gesellschaftliche Krise der siebziger Jahre fiberwintert. Zu registrieren ist das scheinbar erstaunliche Phinomen, daB symptomatische Romane und Erzihlungen der neuen Literaturbewegung wie Peter Handkes Die Stunde der wahren Empfindung, Nicolas Borns Die erdabgewandteSeite der Geschichte und Botho StrauB'Die Widmungbei ihren Lesern Einverstindnis erzeugen, wo sie doch auf Widerspruch und Verstorung hin angelegt sind. Die Widersprtiche gelten der intellektuellen Sensibilitaitals das Selbstverstindliche. Ihre Erklirbarkeit hat allen Reiz verloren, da sie machtlos blieb. "Ganz schwach wurde ich unter der vorgetaiuschtenMacht solcher Sitze," sagt der Held in Nicolas Borns Roman. Ich selbstwardie Industrie,eine rauchendeund drohnendeFigur,die nichts lassenkonnte, wie es war. Es ist so, dachteich, daBich alles nur noch durch michselbererkliren kann, aul3erhalbgibtes keine Erklirungenmehr. Die neue Subjektivitit versichert sich von vornherein ihrer Ohnmacht. Zur Sprache kommt weniger die gesellschaftliche Wirklichkeit als die SchwierigMonatshefte, Vol. 73, No. 2, 1981 0026-9271/81/0002-0187 $ 0.100/0 c 1981by The Board of Regents of The Universityof WisconsinSystem 187 188 Scherpeund Treichel keit der intellektuellen Verstindigung uiber diese Wirklichkeit. Die Autorenderneuen Sensibilitittragenschweram eigenenAnspruchder Politisierung,mit dem kein biirgerlichesHeldenlebenzu gewinnenwar. Ihre neuenRomanheldensind darumnichtwenigermilitantund radikal.Sie leben von der Radikalisierungder eigenen individuellenWahrnehmungsweise gegeniiberderbanalenWirklichkeit.Aus Angstvor derUbereinstimmung kimpfen sie um ihre wahre Empfindung.Im Boykott gegen die der alltiglichen Lebenserfahrungenund die Wahrnehmungsvorschriften Welterklirungssystemesoil die Selbstvergewisserungfiber die eigene Gefiihlslageeinen Restbestandan konkretemLeben sichern.Vermutlichsind es geradedie unbestimmteNegation einer unertriglichenLebenswirklichkeit und die subjektivdiffuse Assoziation eines anderenLebens, die der neuenInnerlichkeitsliteratur ihreFaszinationbei den Lesernsichern,denen sich"dieLaufbahnzurSchlingekriimmt.''2 Betrachtenwirfreilichdie Texte von Handke,Born und StrauBgenauer, so fallen bei aller Gemeinsamkeit der Gefiihleund Reflexionendoch Unterschiedeins Gewicht, die fiir eine gewisseVariationsbreitedes Identifikationsangebots sorgen.Ihnenmu3 die Aufmerksamkeitgelten, um dem Phinomen einer neuen literarischen Wirklichkeitund seinerWirksamkeitauf die Spurzu kommen. Peter HandkesRoman Die Stundeder wahrenEmpfindungschildert zwei Tage aus dem Leben des GregorKeuschnig,Pressereferentder 6sterreichischenBotschaftin Paris,verheiratet,ein Kind.Am Anfangheil3tes: Werhatschoneinmalgetriumt,einMirderzuseinundseingewohntes Leben nur der Form nach weiterzufiihren?. . . In einer solchen Nacht Ende Juli hatteGregorKeuschnigeinen langenTraum,der damitanfing,daBer jemanden getotet hatte.3 Der Traumbildetden AnlaBundden AusgangspunkteinerVerwirrung,die den Helden des Romansdie Normalitit seiner gewohntenExistenzabwerfen und durchdie Phasender Identititsdiffusion,der sinnlichenund geistigen Irritation,hindurchgehenlaiBtdem utopischenAugenblickder "Stunde derwahrenEmpfindung"entgegen.WasfiirGregorKeuschnigderMorderTraum,das ist fiir Robert Schroubek,den Helden in Botho StrauB'ErzihlungDie Widmung,die seine ExistenzerschiitterndeTrennungvon einer Frau.Die Krise,verursachtdurchden VerlustderFreundinHanna,bezeugt auch hier einen Schubverinderter Wahrnehmungenund Empfindungen, bei gleichzeitigemStillstandder gewohntenAktivititen. Schroubekprotokolliert die Erfahrungseiner Trennungund seines Alleinseins. Indem er schreibt,versuchter seinerKrisesprachlichundanalytisch'habhaft'zu werden. Nichtandersgeht es NicolasBornsschriftstellerndemHelden, der sich qualvoll herausarbeitetaus seiner Bindung an die Freundin Maria und gleichzeitigdie Trennungvollzieht von seiner vita activa der politischen Zielstrebigkeit.Der Bruch in den Beziehungen 6ffnet die Schleusen fiir Handke, Born und Strau3 189 einen endlosen Strom der Empfindungen. Erst die Selbstbespiegelung gibt AufschluB uiberdie 'Wahrheit' der Empfindung. Handke, StrauB und Born schildern Bewiltigungsversuche einer unvermeidlichen Verlusterfahrung. Die angestrengte erzahlerische Aufbereitung von Ich-Verlust und Pers6nlichkeitsschwund ist ihre gemeinsame Sache. Unterschiedlich sind die erzahlerischen Strategien der Bewaltigung und ihre sprachliche Materialisierung. Handkes Erzihlmedium, der pflichtgewohnte Botschaftsangestellte, erlebt seine einsamen Streifziuge durch die Innenstadt von Paris als erschreckende Irrfahrten durch eine fremde Welt. Er uibt sich im fremden Blick auf eine in ihrer Entfremdung zufriedene Mitwelt, die ihm nur noch AnlaB ist fur die Steigerung der eigenen Wahrnehmungsfihigkeit. Er bewegt sich als Entdeckungsreisender der eigenen Geffihle, die ihn frei machen sollen von den "geborgten Lebensgefihlen" der normalen Existenz. Das Sprachmuster, das die "wahre Empfindung" erzeugen soil, ist bei genauerem Hinsehen von erschreckender Banalitit. Der Eindruck der unbedingten sinnlichen Prasenz nahrt sich im Grunde von diffusen Verallgemeinerungen. Keuschnigs gesteigerte Sensibilitat nihert sich regelml3Big einer leeren Totalitaitdes "Alles" oder "Nichts." Ein im Prinzip unbestimmtes "Etwas" ist das Resultat seiner zermiirbenden Reflexionen: Es war,als ob er Rachenahmefiiretwas!4 Wie etwasganzInniges,etwasnurfor ihn sah er die breitengelbenStreifenan den Wagenund die blauenFunkenunterden Radern. In diesemAugenblickkames ihmvor, er kinnte sichhinknienundalles, alles sagen.6 Alles standwieder auf dem Spiel, von einer Sekundezur andern.Er muBte endlichanfangen,fibersichnachzudenken.7 Wasbrauchteer also?Nachwas warihm?Nachnichts,antworteteer: MIR IST NACHNICHTS.Und indem er das dachte, fihlte er sich auf einmal im Recht und wolltediesesRecht auchverteidigen,gegen jeden.8 Keuschnigs dem Eindruck nach bewegte and bewegende Sensibilitat ist ganz einfach schematisiert in einer Choreographie der Empfindungsanlasse; die raumlichen Koordinaten sind schwach angedeutet durch die formalen RegelmiBigkeiten eines "woanders," "nebenbei" oder "iiberall." Das zeitliche Bezugssystem der Erzihlung kommt iuberdie inhaltsleere Feststellung eines "einmal," "plktzlich," "wieder einmal" und "allmilhlich" nicht hinaus. Die Steigerung der Empfindungsintensitit setzt sprachlich nicht mehr in Bewegung als den Superlativ: "Etwas ganz Inniges." Dieser sprachliche Befund in Handkes Erzihlwerk ist geeignet, den Anspruch von Autor und Leser auf Unmittelbarkeit und Spontaneitit grtindlichzu desavouieren. 190 Scherpeund Treichel Handkes Sprache in diesem Roman ist nicht sinnlich konkret; vielmehr ist sie geprigt von leeren, da unbegreiflichen Abstraktionen: Ein Schauderiiberliefihn und erzeugteein aufniemandengerichtetesMachtgefiihl.9 Er gingaufdie Toilette undpilBteunfrohin das Lochhinunter.10 Er strafftesichkurzvor Neugier." Ein Schauder von Macht, ein unbestimmtes Unfrohsein, eine plotzliche Neugier: Allerweltsgefuihle werden auf den Begriff gebracht und mit momentanen Gefiihlswerten des Helden verbunden. Die positiven Gegenbegriffe sind "Harmonie" und "Geborgenheit": "es iiberrieselte ihn vor Geborgenheit."'2 Die direkte Kombination von sinnlichem Eindruck und allgemeinen Determinanten kann "wahre Empfindungen" kaum reproduzieren. Vielmehr iiberspielt sie einen Mangel an Realititserfahrung, der auch nicht dadurch aufgehoben wird, daB Handke seinem Romanhelden unbegrenzte Fihigkeiten zuschreibt, die Dinge der AuBenwelt mit neuen, tief empfundenen Bedeutungswerten zu besetzen. Die Manier, die Dinge der AuBenwelt mit fremdem Blick zu streifen und sie mit dem eigenen, besonderen Gefiihl aufzuladen, wird von Nicolas Born noch weiter getrieben: Die Gegenstaindein MariasWohnungnahmen immer bedriuckendereBeWelt wurdein ihnen deutungan. Die ganzeSubstanzeiner unsympathischen wirksam. .. eine unertraglicheSymbolgewaltticktein diesen Zimmern.13 Anders jedoch als Handkes Held, dem die fertigen Bilder seiner Empfindungswelt sofort anhaften, ist Borns Roman-Ich erfiillt von der Anstrengung, die Unbestimmtheit seiner Empfindungen sprachlich in den Griff zu bekommen: Jetzt muBteich nur noch Widerstindefinden, alles genau beobachten, harteste Forderungenan mich stellen, bevor dieses Gefiuhlsich wieder in Beliebigkeitund Grenzenlosigkeitverlor.14 Bei aller Opposition gegen das Wuchern der Welterklirungssysteme im Roman gibt sich Born nicht zufrieden mit einer preziosen Eindruckskunst. Reflexionen und nicht einfach Empfindungen konstituieren die Erzaihlung. Damit kommt das durchgreifende Prinzip der psychologischen Zergliederung zur Geltung, zum Beispiel im minutiosen AufriB der zerriltteten Zweierbeziehung. Die empfindungs- und wortreiche Abwehr der AuBenwelt wird jeweils AnlaB zu Reflexionen, die fiber den Seelenzustand des Helden hinausreichen. Diese allerdings sind oft von erschreckender Kurzschliissigkeit: etwa wenn vom gesichtslosen Zustand der Welt wie selbstverstindlich auf ihre Geschichtslosigkeit geschlossen wird. Auf der Ebene der Reflexionen iubtsich Borns Roman-Ich in Sprachkritik als Me- Handke, Born und Strauf3 191 dium des Protests gegen die Wirklichkeit. Ausformuliert wird eine Art Korpersprache als Korrektiv zur banal-rationalen Kommunikation: Insgeheimschaimteich mich auch, daBes iiberhauptso etwas wie metaphysische Problemegab. Irgendwieempfandich sie als unaufrichtig, weil man sie niemandeman seinem Verhalten,seiner Kleidungund seinen Bewegungen ansehenkonnte.'" Die Protestgeste erschopft sich auch hier in einem "irgendwie." K6rperlichkeit ist nicht mehr als der Fluchtpunkt der standardisierten Erfahrungen, auch der politischen: Ein frohlicherAufstandging durchmeinenK6rper,und im KopfwarenVorstellungenvon Gewalttaten. So lag der Korperzu Hause und auf Veranstaltungenherumundspielteim Liegenalles Handelndurch,bis sicheine Befriedigung einstellte, die immer nur daran erinnerte, daB sie keine Befriedigungwar.16 Dieses Unbefriedigtsein soil als die eigentlich produktive Haltung des Helden gelten. Produktiv ist er jedoch nur in der wortreichen Mitteilung seines NarziBmus. Der in ihrer leeren Zustindlichkeit licherlichen AuBenwelt opponiert die einfallsreiche Selbstbezichtigung des Helden, wenn er wortreich dariber reflektiert, daB seine eigene Kraft nicht einmal zum Scheitern ausreiche. Das immerfort erzeugte Korpergefiihl taugt als zuverlissiges Mittel zur Denunziation einer schlechthin unertriglichen gesellschaftlichen Umwelt. Der Freund Lasski gewinnt daraus-und nicht aus seiner politischen Uberzeugungsarbeit-seine Attraktivitit: Lasskisteuertemichdurchdas BerlinerGedrange;er konntemit einer einzigen Bemerkungdie ganze farbenbewegteMischpoke durchschuitteln,die ganzeStadt, fiir die sich die meistenanderenmiihelosund endlos begeisterten, in Staubzerfallenlassen.Er konntemirdie erstenFreundinnenabtreiben mit einem winzigen wortlichenEingriff: LaB dich nicht von der in ihren Schleimziehen! So kam ich immerwieder frei, konnte immerwieder erste Schrittemachenim neuen Leben.17 Das "neue Leben" miBlingt, da die Beriihrungsangst bleibt, die letztlich AnlaI3 ist fir das besondere Korpergefiuhl. Born versteht seine Schreibweise, der er uibersein Romanmedium freien Lauf liint, als Kritik am kritischen Realismus, der die Welt nur sieht, um sie zu verbessern. Die berechtigte Kritik am abstrakten literarischen Realititsprogramm gegeniiber der erfahrbaren Realitit erzeugt in der eigenen Schreibweise jedoch nicht wesentlich mehr als Angst und Hysterie gegentiber der Aufforderung, "sich einzureihen," Solidaritit zu iiben mit einer gemeinsamen Sache. Diese Angst gewinnt Plausibilitit in Borns Roman, nicht aber die Gesellschaft und die Gesellschaftskritik, auf die sie sich bezieht. Auch in Botho StrauB' Erzihlung Die Widmung demonstriert die individuelle Leidensgeschichte der ganzen Lebenswelt die tieferen Be- 192 Scherpe und Treichel deutungen, die ihr mangeln. Die einmal in Gang gesetzten Wahrnehmungen, Erinnerungen und Einbildungen treiben den Helden zielstrebig zur Selbstaufklirung. Unterwegs bliihen die Gewaltphantasien, zu denen der leidenschaftlich isolierte Tagebuchschreiber seine Aggressionen biindelt. Deutlicher formuliert als bei Handke und Born ist der UberdruB am Leiden, nicht nur in der Form der Intensivierung der Leiderfahrung, sondern auch in der des Begreifens, von der aus die eigene Leidensgeschichte iibersichtlich wird. Die Grundstruktur der Erzihlung, deutlich pointiert durch psychoanalytische Einsichten in die innere Struktur der Leidensgeschichte, falt die Erinnerungen, Assoziationen und Visionen so zusammen, daB Motivketten, Bilderreihen und Symbole einen Bedeutungszusammenhang bilden, der zum Regulator wird fiir den seine schmerzhaften Empfindungen auskostenden Helden. Straul vermeidet den uiberschwenglichen ErzahlfluB, indem er seinen schreibenden Helden Richard Schroubek Tagebuchnotizen sammeln lii3t, die sich nicht selten zum Aphorismus fiber den geschilderten Gemiitszustand runden. Wenn Schroubek schreibt, so verschafft er sich nicht nur einen neuen Reichtum der Empfindungen, sondern vergewissert sich kommentierend seiner unhaltbaren Gefuihlslage: Unter SchroubeksbohrenderErwartungwurde die fensterloseHolztiir ein Gegenstandvon allerempfindlichster Bedeutung,der absoluteAusgang,dessen Offnunger entgegensahmit der Zielscharfeund unterwiirfigenHingabe eines Attentliters.18 Indem der Held schreibend seinen Empfindungszustand uibertreibt,gewinnt er Distanz zu ihm. Er sieht sich selbst als "Empfindungsforscher"; die eigenen Hantierungen erscheinen ihm gelegentlich in der Form einer Stummfilmgroteske. Statt die Aul3enwelt in ihrer laicherlichenBanalitit zu strafen wie Nicolas Born, richtet Straul ein H6chstmaB an erzahlerischer Aufmerksamkeit darauf, den auf sich selbst zurtickgeworfenen Empfindungskiinstler als komische Figur erscheinen zu lassen. Die sprachliche AjuBerungist durchdacht als Sprachkritik: VermehrteNeigungzum Gerundiv,dem Verpbnten:'die nicht zu ziehende Summe,''das nicht zu offnende Hemd,' 'das nicht zu schreibendeWerk'titiges Nichtwerdenals Eigenschafteines Dings.1" Die komisch-distanzierenden Spracheffekte verdecken dabei nicht die Ernsthaftigkeit der Leidensgeschichte. Mit ihnen vermeidet StrauBdas Larmoyante der Selbstdarstellung von Sensibilitit, das die Romane von Handke und Born beherrscht, gewinnt statt dessen die harten Konturen einer Lebensgeschichte, die am Ende sogar deren Tragik glaubhaft machen. Schroubek schreibt fiir jemanden: seine Aufzeichnungen widmet er der Freundin, die ihn verlassen hat, in der Hoffnung, daB das Protokoll der Trennung die Trennung aufheben werde. Seine Schreibereien erweisen sich als sinnlos erst in dem Moment, wo die Freundin davon keine Notiz nimmt. Handke, Born und Strauf3 193 Am Ende beginnt Schroubek neu mit den Worten: "Ich bin noch nicht ganz am Ziel... Das Thema der Identititskrise istdas Thema der buirgerlichenRomantradition schlechthin. Wenn die Autoren der neuen Sensibilitit uiber die Geschichtslosigkeit der erfahrbaren Wirklichkeit klagen, so haben sie doch eine Ahnung von der Geschichtlichkeit ihrer erzihlerischen Kunstformen, in die sie die Sinnlosigkeit aller gesellschaftlichen Erfahrungen bannen. Die Okonomie der Geffihle, die sie gegen eine feindliche und mfichtige Umwelt ins Werk setzen, ist unverwechselbar die der desillusionierten buirgerlichen Intellektuellen der siebziger Jahre. Die Kunstform jedoch, in der das geschieht, ist bekannt seit dem Entstehen der buirgerlichenGesellschaft und der in ihr virulenten Konfliktsituation des biurgerlichen Individuums. In den alten und neuen Leiden des jungen Werther konnen wir den Kristallisationspunkt jener Desillusionierung beobachten, dem die Autoren der neuen Innerlichkeit noch einmal Ausdruck geben. Schon in Werthers Leidensgeschichte ist die Unbedingtheit des GefiuhlsAusdruck eines Emanzipationsanspruches des ganzen Menschen, der nicht nur an der feudalen St~indegesellschaft,sondern auch bereits am pragmatischen Niitzlichkeitsanspruch der sich formierenden buirgerlichen Gesellschaft zuschanden wird. Die Problemgeschichte des biurgerlichenIndividuums im Roman wird seit dem 18. Jahrhundert immer wieder und immer deutlicher angelegt als "Krankheit zum Tode." Nicht umsonst zitieren die neuen Desillusionisten-allerdings mehr oder weniger wahllos-Novalis, Turgenjew, Gontscharowoder auch Henry James.2'Die fragmentarischen,ihr Telos vom sinnvoll sich bildenden Leben revidierenden Kfinstlererzihlungen von Hofmannsthal und Rilke oder Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig lielen sich in bunter Reihe hinzuzitieren. Da die entfremdete Wirklichkeit der buirgerlichenGesellschaft eine wahrhaft 'nattirliche' Lebenserfahrung ausschlieBt, wird die Kunstform des Romans zum Fluchtpunkt der "wahren Empfindung." Kiinstlerfiguren sind es immer noch, die im Roman stellvertretend leiden an den Krankheiten der Gesellschaft. Auch die Angestelltenphysiognomie von Handkes Gregor Keuschnig kann die in dieser Figur wirksame kiinstlerische Erlebnisweise kaum verbergen. Die schreibenden Helden von Born und StrauBfordern, indem sie schreiben, die eigene Desillusionierung fiber die Wirklichkeit. Aus ihr schopfen sie neue Kraft. Die Erfahrungen des Ich-Verlustes und der Ich-Bedrohung, die ausgreifende individuelle Krisenerfahrung sind in der Romantradition und im Roman der Gegenwart die Erfahrungen des Verlustes praktischer Handlungsmoglichkeit. Fiir Handkes Die Stunde der wahren Empfindung ist dies die unbedingte Voraussetzung. Gregor Keuschnigs Bewegungen vermeiden jede Strebsamkeit. Er flieht vor dem sinnlosen Handeln. Keuschnigs Ich-Verlust ist gleichbedeutend mit dem Verlust einer ohnehin beschidigten, vom soziologischen 'Niemandsland' des Angestelltendaseins 194 Scherpe und Treichel geprigten Identitit. Verloren ist jegliche soziale und persinliche Orientierung im privaten und 6ffentlichen Sozialgefiuge: Ich fiihle michhier nichtmehram Platz, kannmir aberfiberhauptnichtvorstellen,irgendwoandersamPlatzzu sein;kannmirnichtvorstellen,so weiterzulebenwie bis jetzt, aber auch nicht, wie jemand anderergelebt hat oder lebt.22 Die Krisis, die Negation einer verbrauchten Identitat, installiert keine neue, nicht einmal den Wunsch danach oder das Bild davon. Keuschnigs Krise erscheint als eine Serie von unendlichen Spiegelungen: Ab heute fuihreich also ein Doppelleben, dachte er. Nein, gar kein Leben: weder das gewohntenoch ein neues; denn das gewohntewerde ich nur vortauschen,und das neue wirdsich erschopfenmiissenim Vortaiuschendes gewohnten.23 Diese Art der unbestimmten Verwirrung, der schlechten Unendlichkeit der verstorten Selbstwahrnehmung unterscheidet sich von Botho StraulS'Inszenierung der Verstirung des Robert Schroubek. Dieser weil3, im Gegensatz zu Keuschnig, was er will: "Ich will sie wiederhaben!'"24 Die Krisenerfahrung wird zum AnlaB verstirkter und verinderter Selbst- und Weltwahrnehmung. Der Zusammenhang von Krise und Sensibilisierung wird durchaus unterschiedlich entfaltet. Bei Botho StrauB ist der Held nicht nur Opfer, nicht nur Spielball der auf ihn einstfirzenden Erfahrungen. Er sichert sich gleichsam seinen Leidenszustand, indem er sich von ihm distanziert. Reflexion und Erfahrung treten in ein Wechselverhiltnis. StrauB' literarische Bebilderung des individuellen Leidens wird daher auch zu einem Diskurs uiberdas Leiden: Jeder,der einerTrennungoder Zerstorungausgesetztist, erfahrtdies als das Negativeund als das Besondere,wihrend ihm das Zusammenbleibenals das Positiveund das Allgemeine erscheint.In Wahrheitliegen die Verhaltnisse jedochumgekehrt,unddasNegative,dasScheitern,die Trennung,der Irrtum machendas Allgemeineaus, wofuirallein schon Zahlenund Tatsachensprechen. So ermitteltschlieBlichdie aul3ersteSubjektivitatdes Scheiternsden einzigverlaiBlichen Erfahrungswertfiir das Wort 'normal,'das ja im iubrigen ziemlichunnahbarist.25 Der Tagebuch-Autor in der Erzihlung ist nicht nur leidendes Subjekt, er ist gleichzeitig der Inspizient seiner Trauer. Gerade seine Reflektiertheit der Leidenserfahrungen, die Distanziertheit, verleiht der Erzihlung einen hoheren Grad an 'Authentizitit.' Auch StrauBzitiert Novalis. Die Sprache des Romantikers verweist auf den Zwiespalt von empfindendem und reflektierendem Individuum: Ich sa3 einige Zeit auf ihrem Grabe-sie liuteten Feierabend-Ich gieng nachherzuriick-schrieb oben einige Reflexionenauf-Es gieng zu Tisch- Handke, Born und Straufl3 195 nachTischwardich wiedersehrbewegt-ich weinteheftigaufdem Platze;ich sprachmitder Ma Chere.Abendsmit dem Hauptmannfiberdies undjenes.26 Die Objektivierung dieser Betrachtung im Text von Botho StrauB erzeugt Betroffenheit. Sie macht vielleicht auch deshalb betroffen, weil in ihr der Verlust einer einstmals 'authentischen' Empfindsamkeit und Subjektivitit zum Ausdruck kommt. "Ich war zwar kalt, aber doch weinte ich.'27 Der Satz des Novalis macht fremd und distanziert, was der neue Empfindungsheld empfindet. Reflexivitit und Distanziertheit bilden Momente der Auflehnung und des Widerstands gegen das Leidensschicksal. An diesem Widerstand fehlt es Handkes Helden ebenso wie an dem Willen zur Auflehnung. StrauB' empfindsame Geschichte wird belebt durch die Assoziation anderer, dem sensiblen Protagonisten fremder Geschichten. In der Gegenuiberstellunggewinnt Schroubek Einsichten in seinen eigenen Zustand. Er entwickelt geradezu eine Sucht, sich zu vergleichen, zum Beispiel mit seiner Putzfrau: Sie:von Geburtan stetigvon sichabgekommen.Ich:durchErziehung,Lehre, Berufin einemLesefluBbehuitetgeblieben;durchdie Bicher micherholtvon den argstenWiinschen,ohne sie jedochbefriedigtzu haben.Sie: Sorgefuirdie Geschwister,Haushalt, Arbeit, Kind-immer fiir andere im Dienst. Ich: keine Geschwister;Luxus und Doktrin des Alleinseins. Sie: grundlegendes Aufklarungsversaumnis Ich:Aufklarungsuiberangebot... Der Erzihler entwirft ein unsentimentales Bild des eigenen Selbst; er beschreibt simpel und analytisch die Differenz zwischen einer Arbeiterin und einem biurgerlichenIntellektuellen. Ungeachtet aller Differenzen ist es aber eine Gemeinsamkeit, die ihn zum Vergleich erst herausgefordert hatnimlich der Verlust der korperlich-sinnlichen Erfahrung: Sie: Verlustder erotischenBefahigungund des Interessesan fremdenMenschen fiberhaupt-weil es sie unerschopflichnach dem verlangt,was sie bereitshat, sonstverliertsie die Kraft,es zu erhalten. Ich:ZerstorungdieserBefihigung durchUberdruck,eine Art Implosiondes Verlangensin ein Vakuum,bestehendaus Vermissen,Schreiben,Leere des Auges, Stille, Ausgangslosigkeit.2'" Der Vergleich mindet ein in die Klage fiber die eigene Andersartigkeit, ohne daB Schroubeks Empfindungsreichtum als das bedeutendere Moment ausgezeichnet wird. Auch Born konfrontiert den Ich-Erzahler seines Romans, der den gleichen sozialen Typ reprisentiert wie der leiderfahrene Held der Widmung, mit einem Arbeiter. Beide teilen das Zimmer eines Krankenhauses: Im Laufder Unterhaltungenzihlte er mirimmerwiederdie GroBbaustellen auf, an denen er als Kranfuihrer gearbeitethatte. Er ging in seinemblau und 196 Scherpe und Treichel rot gestreiftenFrotteebademantelim Zimmerauf und ab, glatt und penibel dafrisiertundrasiert.Auf demNachttischlag ein Heft mitKreuzwortratseln, raufein PlastiketuimitFiller undDrehbleistift.In derSchubladelag sein Portemonnaiemit der umgeschnalltenArmbanduhr.30 Born laiBtseinem proletarischen Gegeniber keine Chance. Die Genauigkeit der Beschreibung fallt lautlos zusammen mit einer subtilen Weise der Denunziation. Zum Vorschein kommt die literarisch vielfach bewahrte Arroganz des sensibilisierten Intellektuellen gegentiber dem unempfindlichen 'SpieBer.' Ein Gefihl der Solidaritat in der Distanzierung oder kritischen Selbstwahrnehmung, wie es sich bei StrauB ergab, entsteht nicht: Ich horte ihm immerinteressierterzu. Wenn mich auch diese Akkuratesse, mit der er alles Lebenin prinzipielleEngkammernsperrte,anekelte, so ging trotzdem,wahrender sprach, etwas von seiner Lebenssicherheitauf mich tiber,undich dachte,solangeer hierist, kannnichtsUnerwartetesgeschehen, kein SchreckenauBerdem Schreckender Ordnung,aberder konntemichim Augenblick kaum erfassen. Ich dachte, dieser Mann kann mir als Zimmergenosseso lieb sein wie irgendeiner.Ich konntemirnichtvorstellen,daB er je in einen krisenhaftenoder auchnurirritierendenGedankengeriet.1 Bleibt nicht mehr als die gemischte Empfindung der VerdrieBlichkeit, so wird die pers6nliche Not nicht eben glaubwuirdig. Der Hautgout einer exklusiven Lebenskrise breitet sich aus. Hierin liegt wohl die (absichtsvolle?) Schwiche des Bornschen Romans. Die Absage an die Politik und an das Engagement ist das konsequente Resultat dieser Haltung. Einer, der auszieht, um gegen die "Schrecken der Ordnung" zu leben, darf sich weder auf einen Widerstand, der bestimmte ordnende Prinzipien braucht, noch auf eine Vorstellung von der Geschichte als einem erkennbaren Zusammenhang einlassen: Ichhattekeine Antwortenauf bestimmteFragender Geschichte,konnte alle Antworten,je selbstgewisserund gerechtersie klangen,nurnoch verachten. Die AntwortenwarenSachejungerVikareundorganisierterSozialarbeiter.32 Die Bestimmtheit dieser Abwehr verwehrt es dem Autor, seine Positionen des Zweifels und des Fragens glaubhaft zu machen und ins Produktive zu wenden. Auf dem Hintergrund dieser Haltung erscheint das Dogma des Nonkonformismus. Der Zweifel des Ich-Erzihlers, seine weltanschauliche Bediirfnislosigkeit, wird selbst zur weltanschaulichen Geste. Der antiprogrammatische Gestus weist sich aus als elitires, nonkonformistisches Programm. Eine textvergleichende, ideologiekritische Untersuchung k6nnte die Nahe Borns zum Existentialismus, zu Sartres La Naussde etwa, nachweisen. Mit dem gleichen faszinierenden Ekel, mit dem der Erzihler den kranken Bauarbeiter beschreibt, zeichnet er auch das Bild einer Industriestadt: Handke, Born und Strauf3 197 Die ganze Stadtglomm nur schwachdurchNebel und Dammerung,und es kammirvor, als geschihe hier auchnichtsmehr. Ein paarKorperbewegten sichin derDunkelheitwie nichtswuirdiges, an zufilligen RandernundKanten entlangkrabbelndesUngeziefer . . . Hinter den Scheiben eines Schnellrestaurants,dessenEingangvon einerJalousieverschlossenwar,konntemanin der schwachen NachtbeleuchtungHocker und hohe Egtische erkennen. Ebenso waren die Schaufensterpuppennur schwachbeleuchtetzu ihrer Sicherheit:wie wirkliche,wirklichgewordene Gespensterhielten sie inne in ihremLeben, in einer PhaseihrerBewegung,ihresGehens, ihrerunheimlich verbindlichenAbwesenheit. Gleichzeitigerschienensie aber wirklicherund faBbarerzu sein als ihre Kopien, die sich an den Fassadenentlangdrfickten undsichund allen auchdie Verlassenheitverschwiegen...33 Peter Handke hat in einer kongenialen Rezension von Borns Roman diese "Beschreibung einer Stadt im Ruhrgebiet die groBartige, beschw6rende Abfeier ihrer Menschen"34genannt. DaB sich in ihr, wie in Borns Roman fiberhaupt, "die Wiederherstellung der Sorge, des Mitgeffihls, der Gemeinsamkeit in der Entfernung,"35wie Handke meint, ausdrticke, muB jedoch entschieden bezweifelt werden. Die Irritation Gregor Keuschnigs scheint weniger zielgerecht, sein Ekel und seine Epiphanien weniger genau auf ganz bestimmte Erscheinungsformen unserer Gegenwart ausgerichtet zu sein als die des IchErzihlers in Borns Roman. Seine Affekte bleiben beliebig, ebenso beliebig wie die Objekte, an denen sie sich entzuinden: Auf einmalgehorteer nichtmehrdazu.36 Weilalles so unguiltiggewordenwar, konnteer sich auchnichtsmehrvorstellen.37 In diesemAugenblickkames ihmvor, er konntesichhinknienund alles, alles sagen.38 Zu allem,was ihm begegnete, wollte er sagen:Trittmirnichtmehrunterdie Augen!39 MIRISTNACH NICHTS.40 Der Gestus, mit dem Keuschnig der Welt gegenuibertritt, ist absolut. Dem nietzscheanischen "Alles ist falsch!" gesellt sich ein ebensolches "Alles ist richtig!" hinzu. Die plotzlichen Empfindungen treiben ins Uferlose. Der Verzicht des Autors auf Reflexion und auf psychologische Begriindungen, die Abwehr einer Darstellung der Subjektivitit als einer Form der Intersubjektivitit und das Vermeiden eines 'aiugeren'Konflikts rauben dem Roman absichtsvoll die Dimension der kommunikativen Verstindigung. Jean Amdry hat Handkes Roman nicht zuletzt aus diesem Grunde ein "human leeres Buch" genannt: "Bei Handke sehe ich nichts als grundlosen Ekel."41 198 Scherpeund Treichel Dennoch mu3 sich auch Keuschnig an einer Wirklichkeit stosen. an denen sich seine Auch er bedarf bestimmter Realititsanlisse, Empfindungen entziinden. Vielleicht ist es kein Zufall, daB dazu auch politische Momente gehoren: In der Rue Mirabeausah Keuschnig... eine Tafel, auf der das Wort 'autrichien'erschien.Es war eine Gedenktafelfiir einen aus Osterreichstammenden Partisanen,der als Mitgliedeiner franzosischenWiderstandsgruppe gegen die Nationalsozialistengekimpft hatte und vor dreiBigJahrenan dieser Stelle von den Deutschenerschossenwordenwar. Zum Nationalfeiertagam vierzehntenJulihatte man die Tafel gereinigtund darunterauf den Gehsteig eine Blechbiichsemit einem Tannenzweiggestellt. Dieses Arschloch,dachte Keuschnigund gab der Blechbuichsezugleicheinen FuBtritt;hielt sie dann aberan, als sie immerweiterkollerte. Er ging fiberdie Avenue de Versailles undsah an einem Bauzaunein Plakat,das zu einem Meetingeinlud:"Isabell Allende sprichtzu uns ... ZU UNS! dachte er. Er drehte sich weg und spuckte aus. Gesindel!42 Nihmen wir Keuschnigs Ausfille ernst und die Wahl der Objekte seiner Aggressionen und seines Ekels als zielgerichtet an, so miiBten wir ihn der Inhumanitaitoder zumindest einer reaktioniren Gesinnung bezichtigen. Die Gesamtanlage der Figur aber legt nahe, daB Keuschnig ein Mensch ohne Gesinnungsein soil. KeuschnigsAusfille sind also wenigerim Sinne eines bewul3tenAngriffs, in diesem Falle gegen antifaschistischeTraditionen etwa, zu deuten als vielmehrim Sinne seiner Reaktion auf Symbole, Zeichen und Bedeutungstriger, die auf Kausales verweisen, auf den Zusammenhang von Individuum und Geschichte. Gerade aus diesen Zusammenhingen sieht Keuschnig sich herausgelist. Er ist einsam, und die Forderung nach Gemeinschaft, ja schon deren Moglichkeit verursacht ihm, ebensolchen Ekel (den die Psychoanalyse sicher als Wunsch deuten wiurde) wie das Bild handelnder, widerstehender, engagierter Individuen: "Ich hire 'Lernziel Solidaritait' und stecke mir den Finger in den Hals.'"43Die Bedeutung sozialer Zusammenhlinge, die Bedeutung von Geschichte und auch die einer M6glichkeit von gesellschaftlicher Praxis wird von Keuschnig hysterisch abgewehrt. Keuschnig handelt nicht. "Sein Tun ist das Sehnen." Die Beschreibung des "ungliicklichen BewuBtseins," die Hegel in seiner Romantikkritik formulierte, trifft auch noch Handkes Helden: Es fehltihmdie Kraftder EntauBerung,die Kraft,sichzum.Dingezu machen unddas Seinzu ertragen.Es lebt in der Angst, die Herrlichkeitseines Innern durchHandlungundDaseinzu beflecken;undumdie Reinheitdes Herzenszu bewahren,fliehtes die Beriihrungder Wirklichkeitund beharrtin der eigensinnigenKraftlosigkeit,seinemzurletztenAbstraktionzugespitztenSelbstzu entsagen und sich Substantialitatzu geben oder sein Denken in Sein zu verwandelnund sich dem absolutenUnterschiedeanzuvertrauen.Der hohle Gegenstand,den es sicherzeugt,erfiilltes dahernunmit dem BewuBtseinder Handke, Born und Strauf3 199 Leerheit;sein Tun ist das Sehnen, das in dem Werdenseinerselbst zum wesenlosenGegenstandesich nurverliertund, fiberdiesen Verlusthinausund zu sichfallend,sichnuralsverlorenesfindet;-in dieserdurchsichtigen zuruick Reinheit seiner Momente eine unglickliche sogenannte 'sch6ne Seele,' verglimmtsie in sichundschwindetals ein gestaltloserDunst, der sichin Luft aufl6st.44 Keuschnig ist die Fihigkeit abhanden gekommen, nach Orten der Rekonstruktion von Sinn zu suchen. Ebenso zuffillig wie seine Ekelerfahrungen ihn fiberfallen, fiberfailltihn auch die Gliuckserfahrungbeim Betrachten der 'Wunderdinge' im Sand. In einer Studie fiber "Asthetisierende Wirklichkeitsdarstellung bei Proust, Valkry und Sartre" hat Peter Biirger die Realititserfahrung des homo absurdus mit der des Astheten verglichen und diese unter dem Blickpunkt eines Umschichtungsprozesses der sinnlichen Wahrnehmung in der biurgerlichenGesellschaft historisch relativiert: Wasdie Erfahrungendes Asthetenvon denjenigendeshomo absurdusunterscheidet,ist vor allemdie Wertung,die derErlebendeihnenbeimil3t.Wasfir den Astheten begnadeter Augenblick ist, der ihm Erlosung aus der Alltagsweltbedeutet und als Glick genossen wird, ist fir den Protagonisten Sartreseine im hochstenMale negativeErfahrung,ein Zwang, dem er sich trotzallerAnstrengungnichtentziehenkann ... Wasfir den AsthetenProtest gegen die und Fluchtaus der Wirklichkeitder buirgerlichen Gesellschaft war,kehrtsichbei Sartregegenden Erlebenden.4s Geschichtliche Prozesse setzen sich in der Entfremdungserfahrung des Einzelnen durch. Der Asthetizismus, wie ihn die Autoren des Fin de Si~cle zur Lebenshaltung stilisierten, war nach der Weltwirtschaftskrise und nach dem Einbruch von Faschismus und Zweitem Weltkrieg nicht mehr aufrechtzuerhalten. Geschichte, welche nur noch in der Form von Lebensekel in die literarische Darstellungsweise eindringt, wird als Geschichtserfahrung selbst nicht sichtbar. Die neuen Sensibilisierten geben hierffir ein extremes Beispiel. Sowohl Handkes Keuschnig als auch die Helden von Strauf3und Born erleiden in jeweils spezifischer Weise ihr Schicksal jenseits der Geschichte. Die besondere Geschichtlichkeit dieser Literatur und ihrer Autoren tritt in der mehr oder minder gewollten Abwesenheit von Geschichte und Geschichtsbewuf3tsein zutage. Born driickt dies bereits mit dem Titel seines Romans programmatisch aus. "Mit uns macht die Geschichte Schlul3"46hei3t es in einem seiner neuesten Texte. "Und wir mit ihr," liege sich erginzen. Im Erzihlablauf des Romans hinterliBt die Absage an die Geschichte aber dennoch deutliche Spuren des Wissens um den Verlust des Ich-Erzihlers an geschichtlichem Bewu3tsein. Handkes Keuschnig dagegen ist der Ebene einer begrifflichen Abkehr von historischem Bewul3tsein lingst enthoben. Er bedarf nicht mehr des anti-aufklfirerischen Referats wie Borns Ich-Erzihler.47Was bei Born noch Gegenstand der Aus- 200 Scherpe und Treichel einandersetzung, zumindest noch der Erwihnung wert ist und somit eine Notwendigkeit der Legitimation einer bestimmten weltanschaulichen Haltung (bzw. deren Revision) erkennen liiBt, ist bei Handke lingst getilgt. In seiner Stunde der wahren Empfindung hat sich die historische und soziale Dialektik ginzlich in die Gemiitsbewegungen des sensiblen und verstorten Subjekts verfliichtigt und ist gleichsam nur noch in der asthetischen Form ihrer Abwesenheit auffindbar. Die Universalitit (Welthaftigkeit) individueller Existenz ist aufgesogen worden von einer sich universell gebirdenden Betroffenheit und Erschiitterung uiberdas soziale Sein in einer gegenstindlichen Welt. Der Totalititsverlust, zentraler Topos moderner BewuBtseinserfahrung und Romantradition, der "abendlindische Generalschmerz" (Reinhard Baumgart) iiberhaupt, ist auch die zentrale Erfahrung der Helden der neuen Sensibilitit: DaB ich hier, im letzten Buch, in Die Stundeder wahrenEmpfindungviele Notizen verwendethabe, liegt eben daran, da3 es fiir diesen Helden keine Ganzheit,keineEinheit,keineHarmoniegibt. JedeEinzelheitkannvon einer Sekunde zur anderen etwas anderes bedeuten, und vor allem nimmt die HauptfigurKeuschnigdie Welt, die sie sichvorherals harmonischvorgestellt hat, plotzlichnurnoch als eine unordentlicheWeltvon Einzelheitenwahr.48 Die Erfahrung der Irritation wie die des Totalititsverlustes ist letztlich die Erfahrung der zunehmenden Reduktion von Erfahrungsmoglichkeiten. Diese Erfahrung des Erfahrungsverlustes bedingt die Vorstellung von der Welt als Chaos: Leitgedanke der Moderne seit der Romantik. Realititsverlust, Verlust der M6glichkeit 'authentischer' Erfahrung und Sensibilisierung hingen auf das engste zusammen. Auch unseren Autoren geht es darum, dem "Leben aus zweiter Hand,"49dem "Ich bin als wire ich nicht"50 zu entkommen. Die entscheidende Differenz aber zu den Werken eines Joyce, eines Musil, eines Aragon oder eines Breton liegt darin, daB bei der immer bedrohlicheren 'Sachlage' der modernen biurgerlichen Gesellschaft die Erfahrung des Realititsverlustes sogleich umschligt in den literarischen Gestus der unbedingten Verweigerung von Realititserfahrung jenseits des eigenen Erfahrungshorizonts. So denkt der Ich-Erzihler in der Widmung bei Gelegenheit seiner Turgenjew-Lekttire fiber das Defizit an Erfahrung und Erlebnis nach: "Das wirkliche Leben bietet keine Gelegenheiten, an denen man sich satt erleben k6nnte."5' Und: Alles ist typisch,dachteer, alles auf Anhieb bekannt;noch der verworrenste personlichste Augenblick eines Menschen besteht nur aus einer etwas raffinierterenMischungder allertypischsten,allerallgemeinstenMerkmale. Und selbstwennes so etwaswie EinzelheitenundIndividuelleswirklichgabe, wiren wir nichtin der Lage, es wahrzunehmen.Unsere Organewerden uns immernurverstindigen,wenn sie irgendeinenZusammenhanggefundenha- Handke, Born und Strauf3 201 ben, eine Typik, oder zumindest etwas davon, gerade so viel, daf3 der Rest zumGanzenhalluziniertwird.52 Gerade weil StrauB'analytischer' zu Werke geht als Handke und Born, wird ihm die Erklfirbarkeitder gesellschaftlichen Wirklichkeit zur Last. Auch Handkes Held sucht seinen Mangel an Erfahrungen und Erlebnissen auszugleichen. Am Ende des ersten Tages seiner Verstorung, der, wie wir wissen, mit Banalititen ausgefiulltwar, heiBt es: Was fiir ein abenteuerlicherTag das heute war!Er konnte nicht gehen, lief wieder. Um neun haitte er zu Hause sein sollen. Nur mit einem Taxi ware er rechtzeitig, vor dem osterreichischen Schriftsteller, dagewesen. Aber dann dachte er: Ich muB noch etwas erleben, und blieb vor einem Kastanienbaum stehen, der ihm, mit einem noch hellen Streifen Himmel dahinter, auf einmal sehr gefiel. Das anzuschauen habe ich mir jetzt verdient, dachte Keuschnig und betrachtete die schwappenden Blfitter lange.-In einem Autobus wiurde er mehr erleben als in einem Taxi. So nahm er an der Avenue Gabriel den Bus der Linie 52, der von der Oper direkt zur Porte d'Auteuil fuhr."3 Die Akte der gesteigerten subjektiven Wahrnehmung werden fuirsich genommen zum eigentlichen Inhalt des Erlebens. Sie zeichnen sich dadurch aus, daB sie um- bzw. neustrukturiert sind und sich den Objekten der Realitit anti-hierarchisch, das heil3t unterschieden von den uiblichen sozialen Wertzuweisungen nihern. Ein prignantes Beispiel ffir dieses 'antihierarchische' Funktionieren des Wahrnehmungsapparates finden wir in Borns Beschreibung der Studentendemonstration vor der Westberliner Oper anlil31ich des Schahbesuches, bei der der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde: Vor derOperwarendie Maskenversammelt,Leidenschaftenausden kleinen Kinos, deren Wirklichkeitaber doch nicht mehrzu bestreitenwar. Ich verstand die Berechtigung,nicht erst, als der Herrscherdurchein Spaliervon Auserwahltenging. Ich sah, wie er sich nervos am Ohrlappchenzupfte (er hatteda ein Ohrlappchen,was mirgroteskvorkam).Er ducktesichetwasunter den Sprechchorenund er sah so harmlosaus, daBich verstand,warumer vor mirbeschuitztwerdenmugte.54 Die Beschreibung der anschliel3enden gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Polizei und Demonstranten folgt ebenso dem vorgefarten Prinzip der Umstrukturierung der Realitit durch die Wahrnehmung: Es gabnichtsGanzesmehr.BairterutschtendurchGesichter,Schulternflogen setzte fiberdie Absperrungin eine diinngegegen Ohren.Ein Schlaigertrupp wordeneStelle hinein.Jetztdachteich schonwiederan ein Ballett.Ein Knuippel trafmicham Arm, und da habe ich die Stelle an meinemArm genau betrachtet.Es tat nichtweh, und ich sah da auch nichts.Aber ich merkte,da3 hier immernur ein Einzelnererstauntwar, irgendwiegetroffenzu werden, vielleichtauchdariiber,daBes ihn als Einzelnenimmernochgab.55 202 Scherpe und Treichel Wollte man diese Passage einer inhaltlichen Beurteilung unterziehen, so wire der Erzihler zu schelten wegen seiner an der politischen Realitait dieser Szene vorbeizielenden isthetisierenden, genieBenden und ins Ungefihre abschweifenden Wahrnehmungs- und Assoziationsketten. Der Autor dagegen wiirde fiir sich in Anspruch nehmen, durch die besondere Form der Wahrnehmung eine Art Metakritik der politischen Szene versucht zu haben. Ein solcher Anspruch allerdings bleibt der Kritik recht hilfslos ausgeliefert, solange es dieser Art Literatur nicht gelingen will, ihre eigenen, neuen Ge- und Verbotstafeln der Realititserfahrung beiseite zu riumen. Die Umwendung und Konzentration der aufs iul3erste angestrengten sinnlichen Wahrnehmung auf Marginalphinomene und die damit verbundene Umdeutung der Wirklichkeit in eine Fiille von Akzidentien ist Born ebenso eigen wie Handke. Sie ist ein konstitutives Moment der Wahrnehmungs- und Produktionsweise der sensibilistischen Literatur: "Auf dem FuBboden standen die Schuhe. Miihsam machte ich mir klar, daB die Schniirsenkel keiner Erklirung bedurften."56 Der Erzahler in Borns Roman findet aber im Unterschied zu Handkes Keuschnig in der Reduktion des Handelns auf die Wahrnehmungstitigkeit keine epiphanische Erffillung. Diese Haltung bleibt Ausdruck einer Notlage, kenntlich als ein Zwangsverhalten: Als ob ich mit meinem Hinsehen erreichenk6nnte, dab nichts blieb wie es war, jedes StiickElektrozaun,wenn wir spazierengingen,jedes auf dem Asphalt plattgequetschteZigarettenfilter.Und was mir wie ein besonderer Wahnsinnvorkam,war, daBdie Wahrnehmungschon alles sein sollte, dann nichtmehrdasWahrgenommene,nurnoch die Wahrnehmung.Der Blick aus dem Fensterauf die Obstbuiume,die dastandenin regelmaBigenAbstainden und an denen sich die kleinen hartenApfel und Birnenwie unverhofftnach auBendringten, und auf dem Nachbarhofder von den TraktorreifenaufgewiuhlteSchlamm--dasalles war so unbeeinfluBbardurchHinsehen wie die UhroderderFernsehapparat,unddochmuBteich hinsehen,mitschreiben,als gingees um die Dinge selbst, um das Leben selbst.57 Kenntlich wird die Psychopathologie des Sensibilismus gleichsam als Wahrnehmungszwang: nicht ein philosophischer, sondern ein affektiver, motorischer Solipsismus und Sensualismus setzt diese Schreibweise in Gang. Handke fiihlt sich, wie schon bemerkt, auf Legitimationen seines literarischen Verfahrens nicht angewiesen. Die Haltung des magischen Blicks auf die Dinge wird in der Stunde der wahren Empfindung weitaus konsequenter und folgenreicher entwickelt und exekutiert als bei Born. Die Reflexion bildet bei Born gleichsam noch ein retardierendes Moment gegen die isthetisch-ideologische Durchsetzung des Sensibilismus. Handke dagegen besitzt ein festes Programm, das ihm bei aller krinkelnden Verletzbarkeit eine gesunde Einsicht sichert: Handke, Born und Straufi 203 Bis vorwenigenJahrenhabeich fastimmernurzu Bodengeschaut.Wennich etwaslese, wasich ganzfruihgeschriebenhabe, habeich dasGeffihlvon einem Menschenmit gesenktemBlick, so viel auf der Erde Liegendeskommtdarin vor, und so viel Kleines. Ein weggeworfenerHandschuh,die vom Tau beeiner Zigarettenschachtel,Hande im SchoB schlageneZellophanumhbillung ohnedie Gesichterdazu... Das allessahich alsZeichenfir das, wasich nicht sah-ffir die monumentalere Fremdheit der menschlichen Lebensau3erungen.8 Der Autor schaut noch immer zu Boden. In der Stunde der wahren Empfindung heil3t es: Er schautenurnoch zu Boden. Ein Pfirsich,geradeweggeworfen,lag feucht aufdemGehsteig,undbei diesemAnblickerlebteer aufeinmal,da3 Sommer war, und das wurde jetzt seltsam wichtig. Ein gutes Omen, dachte er und konntelangsamergehen. Vielleichtgab es noch mehrsolcherHinweise?59 Der Blick auf den Boden, der Blick des Flaneurs offenbart Keuschnig auf wunderbare Weise die Erfahrung der Totalitat. Auf dem Boden entdeckt er die sinnlichen gegenstindlichen Zeichen einer utopischen Versohnung: Wieder laufend bemerkte Keuschnigneben den frisch bewisserten Topfbiumen im SchotterblinkendekleineWasserlachenundspuirteim selbenMomentein traumhaftesZusammengehorigkeitsgeffihl.6w Das Epiphanieerlebnis wird am Ende des Romans noch einmal ins Programm gefal3t: Jetzt erschienihm die Idee, die ihm gekommenwar beim Anblick der drei Dingeim Sanddes Carr6eMarigny,anwendbar.Indemihmdie Weltgeheimnisvollwurde,offnete sie sichund konntezuruickerobert werden.61 Die Negation der Negation, die Verritselung der Welt soll die M6glichkeit ihrer Erkenntnis freisetzen. Die Entdeckung des merveilleux im Alltfiglichen strebt jedoch unmittelbar zur Wahrheit des Allgemeinen. Handkes literarische Schematik der einfachen Kombination von Wahrnehmungsdetails und allgemein-abstraktem Weltgeffihl, von beobachteter Realitit und phantastischem Eindruck setzt keine erkenntnistreibende Dialektik in Gang, nicht einmal in der Form der Ironie wie bei StrauB. Die Stunde der wahren Empfindung wandelt die Fremdheitserfahrung des Helden momentan zu einer Glhickserfahrung:"Ein Geffihl, daB man von jedem Punkt aus nach Hause gehen konnte."62 Die Stunde der wahren Empfindung ist die Stunde, in welcher das Begriffliche versagt und allein die Anschauung an Stelle von 'Erkenntnis' Trost und Geborgenheit verheiBt; es ist, um noch einmal Hegel zu bemtihen, die Stunde der sinnlichen GewiBheit: Der konkreteInhalt der 'sinnlichenGewiBheit'laift sie unmittelbarals die 'reichste'Erkenntnis,ja als eine Erkenntnisvon unendlichemReichtumerscheinen,fuirwelchenebensowohl,wenn wir im Raumeund in der Zeit, als 204 Scherpe und Treichel woriner sichausbreitet,'hinaus'-,als wenn wiruns ein Stick aus dieserFiulle nehmenunddurchTeilungin dasselbe'hineingehen,'keine Grenzezu finden ist. Sie erscheintaulerdem als die 'wahrhafteste';denn sie hat von dem Gegenstandenoch nichts weggelassen,sondernihn in seiner ganzen Vollstandigkeitvor sich. Diese 'GewiBheit'abergibt in der Tat sich selbst fir die abstraktesteund irmste 'Wahrheit'aus. Sie sagtvon dem, was sie wei3, nurdies aus:es ist.63 Von Handkes Romanhelden heiB es: Als er in der Nahe der Gare de l'Est uibereine Briickeging, sah er darunter, neben den Eisenbahngeleisen,einen alten schwarzenSchirmliegen: es war keinHinweisauf etwasanderesmehr,sonderneine Sachefiirsich.64 Die Erkenntnis, auf die der Romanschreiber zusteuert, erweist sich am Ende als nichtig. Die Einsicht des "Es ist" hatte Keuschnig auch schon zu Beginn seiner Verstorung; nur nahm sie ihm da noch die Luft: Es gibt kein Wie fir mich, hochstensdal ich so weiterlebenmu3 'wie ich.'Bei dieserVorstellungbekamKeuschnigplotzlichkeine Luftmehr.Im nichsten Momentwarihm, als platzteer aus seinerHaut heraus,und ein FleischundSehnenklumpenlige naBund schwerauf dem Teppich.65 Die tautologische Bewegung des Erkenntnisvorgangs ist es, welche dem Roman seine Kraft, seine Spannung und letztlich auch die Glaubwlirdigkeit seines Realitatsbezuges nimmt. Die Stunde der wahren Empfindung suggeriert einen Erkenntnisvorgang, der in der Wirklichkeit dieses Romans niemals stattfindet. Im Lichte der nur scheinbaren Wandlung des Gregor Keuschnig verliert auch seine Krise an Substanz; zumindest die Anstrengung, sie zu bewiltigen, bleibt ohne Gewicht. Statt der Realitit durch ihre geschfirfte Wahrnehmung kritisch zuzusetzen, gleicht Handke sie seinem sensiblen Instrumentarium an. Ein realer Mangel an Wirklichkeitserfahrung des biurgerlichenIntellektuellen wird besonders im Handkeschen Roman mit dem schonen Schein der 'eigentlichen' und allein bedeutsamen Erfahrung des Empfindungskiinstlers uiberdeckt. In diesem Sinne hat Alexander Kluge anlhi3lichder sensiblen, Handke verbriderten Filmkunst von Wim Wenders auch der neuen Mode der Empfindsamkeitsliteratur das Urteil gesprochen: Die sogenannteSensibilitaitist im schlechtenSinne Intellektualitait,d.h. ein die sich dadurchabstuitzt,daBsie Programmvon sinnlicherGleichgiultigkeit, so tut, als wire sie die Metakritikdieser Kilte. Man kann aber keine Metakritikvon etwasbetreiben,das garnichtversuchtwordenist."6 Am Ende der Lektiire von Handkes Roman geht es unserer Teilnahme an dem Schicksal seiner Hauptfigur ebenso wie der des Rezensenten Peter Handke an dem Schriftstellerhelden in Nicolas Borns Roman: Handke, Born und Strauj 205 Um den Schriftsteller im Buch macht man sich nach all dem keine Sorgen mehr; will sich auch keine machen: er erscheint ohnedies zuletzt als eine unverwiistliche Figur, wie Marlowe, Uwe Seeler oder Berti Vogts... 1Nicolas Born, Die erdabgewandte Seite der Geschichte: Roman (Reinbek, 1976), S. 19. ImFol~endenzitiertals "Born." Botho Straul3, Die Widmung: Eine Erziihlung (Miinchen/Wien, 1977), S. 88. Im Folgendenzitiertals "Strauf." 3PeterHandke,Die StundederwahrenEmpfindung(Frankfurt,1978),S. 7. ImFolgendenzitiertals "Handke.'" von uns). 4Handke,S. 50 (Hervorhebungen 5Ebd.,S. 120. 6Ebd.,S. 11. 7Ebd.,S. 52. 8Ebd.,S. 67. 9Ebd.,S. 24. 1oEbd.,S. 21. "Ebd., S. 15. '2Ebd.,S. 73. '3Born,S. 13. 14Ebd.,S. 7. 15Ebd.,S. 20f. 16Ebd.,S. 51. '7Ebd.,S. 43. 18StrauB, S. 132. 19Ebd.,S. 102. 2oEbd.,S. 144. den Schmerz 21Auffilligist die VorliebefuirNovalis.Der romantischeDichterverbuirgt des buirgerlichen Individuumsfiberdie Trennungvon Naturund Gesellschaft.In BornsDie Seiteder Geschichtelesen wir:"IchzitierteauchNovalis,was ein gefahrliches erdabgewandte Unterfangenwar,wie LasskiNovalismigbilligendzitierthatte, nein, er hatteNovalisvorgelesen, in der Stimme,die Novalisvorlas,die ganzeMifbilligungeines Aufsehers,der michmit Novaliserwischthatte. Die Natur,sagteich, ist nochnichtganzverschwunden; nochk6nnten wirsie unsgegenseitigStick fuirStick ausdenGeldborsenrei3en.Istsie es nicht,die Natur,die sichunserenmenschlich-wissenschaftlichen Formelnangepagthat, so da8 sie sichnochim unzerteilbarsten zerteilt,in industriellenVerliesenihregeheimeMachterstzu entfalten,unddas allesnurzu dem Zweck,rascheine Geschichtezu beenden,raschiber unszusammenzuschlagen, damitdieses Menschlicheein Ende erfihrt, dieses BewuBtloseund Korperlose,dieses K6pfige,Kopfhafte,dieses bewultlose BewuBteein Ende erfihrt.Ichwill nichtsmitnehmen, nein,ichwill alleinsein, wennich unweigerlichverschwinde.Schwachundfallengelassenund beiseitegeschoben wollteichsein als Beweisfuirden Rest einerWahrheit,vergessenundnichts bedeutend"(S. 122f.). 22Handke,S. 13. 23Ebd. 24Straul,S. 37. 25Ebd.,S. 25f. 26Ebd.,S. 31. 27Ebd. 28Ebd.,S. 68. 29Ebd.,S. 69. 30Born,S. 133. 31Ebd.,S. 135. 32Ebd.,S. 97. 33Ebd.,S. 32f. 34PeterHandke,"Gegenden tiefen Schlaf:NicolasBornszweiterRomanDie erdabge- 206 Scherpe und Treichel wandteSeitederGeschichte,"Die Zeit, Nr. 42 vom 8. Oktober1976. 35Ebd. 36Handke, S. 8. 37Ebd.,S. 9. 38Ebd., S. 11. 39Ebd., S. 41. 40Ebd., S. 67. 41Jean Amdry, "Grundloser Ekel: Marginales zu Peter Handkes neuem Buch Die Stunde der wahren Empfindung," Merkur, 29 (1975), S. 470. 42Handke, S. 16. 43Ebd., S. 91. 44G.W.F. Hegel, Phainomenologie des Geistes. Zit. nach der Ausgabe der Werke in zwanzig Binden (Frankfurt, 1970), III, 483f. Peter Buirger, Aktualitait und Geschichtlichkeit: Studien zum gesellschaftlichen Funktionswandelder Literatur (Frankfurt, 1977), S. 189. 46NicolasBorn, Gedichte 1967-1978 (Reinbek, 1982), S. 203. 47OJber Lasski als den Exponenten einer scheiternden Aufklarung heiBt es: "Er war wie ich, falsch und zerrieben wie ich, ohne ruhigen Blick wie ich, ohne Glauben und Hoffnung wie ich, aber er wollte immer noch uiberzeugen, aufklaren. Trotz seines Zustandes sollte alles weitergehen, der Aufbau, die Verinderung, das Soziale, Gerechte und das Menschliche. Und ich hatte Bauchschmerzen. Ich hatte immer etwas" (Born, S. 97f.). 48Heinz Ludwig Arnold, "Gesprich mit Peter Handke," Text und Kritik, H. 24/24a, S. 25. 49Born, S. 137. 50StrauB,S. 42. 51Ebd., S. 82. 52Ebd., S. 134. 53Handke, S. 83. 54Born, S. 48. 55Ebd., S. 49. 56Ebd., S. 20. 57Ebd., S. 223. 58PeterHandke, Als das Wiinschen noch geholfen hat (Frankfurt, 1974), S. 31. 59Handke, S. 41f. 60Ebd., S. 70. "6Ebd., S. 152. 62Ebd. 63Hegel, S. 82. 64Handke, S. 152. 65Ebd., S. 13f. 66Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (Frankfurt, 1975), S. 206. 67S.o. Anm. 34. YEARBOOKOF GERMAN-AMERICANSTUDIES will succeed the Journal of German-American Studies. The yearbook will be published by the University of Kansas and the Society for German-American Studies. Manuscripts pertaining to German-Americana should be directed to the editor: J. Anthony Burzle, Department of Germanic Languages, University of Kansas, Lawrence, KS 66045. 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