Hans Christian Lehner, Prophetie zwischen Eschatologie und Politik

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Francia­Recensio 2016/4
Mittelalter – Moyen Âge (500–1500)
Hans Christian Lehner, Prophetie zwischen Eschatologie und Politik. Zur Rolle der Vorhersagbarkeit von Zukünftigem in der hochmittelalterlichen Historiografie, Mainz (Franz Steiner Verlag) 2015, XII–279 S., 3 Abb. (Historische Forschungen, 29), ISBN 978­3­515­11155­3, EUR 39,00.
rezensiert von/compte rendu rédigé par
Thomas Foerster, Rom
Als sich Herzog Heinrich der Stolze von Sachsen 1139 gegen den König erhob, so berichtet ein Annalist aus Brauweiler, hätten die Menschen überaus seltsame Vorzeichen beobachtet: Armeen von Dämonen seien in ritterlichen Schlachten aufeinandergestoßen, hätten ganze Eichen ausgerissen und diese als Geschosse verwendet. Derartige Vorzeichen wurden in der mittelalterlichen Historiografie häufig in Chroniken und Annalen eingebaut: Sie strukturierten die Handlung, indem sie nicht nur die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Kommende ausrichteten, sondern auch Gottes Plan in der Weltgeschichte lesbar machten. Politische Ereignisse wurden daher oft als Erfüllung von Prophezeiungen gesehen, wie der Verlauf der Geschichte selbst Zukünftiges vorausahnen ließ. Derartige Passagen in der Chronistik untersucht Hans Christian Lehner in seiner Erlanger Dissertation.
Die von Lehner untersuchten Quellen bieten ein durchaus umfangreiches Korpus, in dem jeder einzelne Text seine angemessene quellenkritische Diskussion, eine Einordnung in den Entstehungszusammenhang und einen Überblick über die relevante Forschung erfährt. Nach all der quellenkritischen Individualisierung der Autoren ist es dann aber zumindest überraschend, die Aussage des Gervasius von Canterbury, der die Aufgabe des Geschichtsschreibers darin sah, den Zeitenlauf, das Handeln der Herrscher und Vorzeichen und Wunder wiederzugeben, als geradezu gemeingültigen »zeitgenössischen Ansatz« zu verstehen (S. 10–11, 195, 213). Die Vorhersagbarkeit des Zukünftigen wurde sicher nicht von allen Autoren dieser Zeit als möglich erachtet. Als Beispiel sei hier nur die bekannte Stelle aus Heinrich von Huntingdon erwähnt, der menschliche Erkenntnismöglichkeiten in dieser Hinsicht explizit ablehnt. Lehner unterteilt seine Untersuchung in verschiedene Quellengruppen, die zum Teil geografisch, zum Teil nach Genre definiert sind, beginnt aber mit dem berühmtesten Geschichtsschreiber des deutschen Mittelalters: Otto von Freising bietet ihm gleichsam das Arbeitsmodell für die nachfolgenden Quellenstudien. Er stellt Otto (und Rahewin) dabei zuerst in den Forschungszusammenhang und beleuchtet dann die verschiedenen Textstellen zur Zukunft im Werk, zunächst zum Ende der Welt im Rahmen der Vier­Weltreiche­Lehre, zum Antichrist, zu sybillinischen und anderen Weissagungen und zuletzt zu wunderhaften Vorzeichen, bevor er einen abschließenden Blick auf Rahewins Werk wirft. In ähnlicher Vorgehensweise untersucht Lehner danach drei Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by­nc­nd/4.0/
Missionschroniken aus dem Norden des Reichs: Helmold von Bosau, Arnold von Lübeck und Heinrich von Lettland. Wie auch in den folgenden Kapiteln wären hier einzelne Zusammenfassungen hilfreich gewesen, um die Auswahl der Quellen besser nachvollziehen zu können. So drohen interessante Beobachtungen leider etwas unterzugehen, z. B. dass mantische Praktiken gegenüber anderen Wegen der Zukunftserkenntnis insbesondere fremden Welten zugeschrieben werden, wie in diesen Fällen den Heiden des Ostseeraums, was besonders bei Helmold und Heinrich deutlich wird. Darauf folgen drei Texte aus dem Westen des Reichs, die Annalentexte aus Brauweiler, aus Pöhlde in Niedersachsen und aus Egmond in den Niederlanden. In ihnen spiegelt sich besonders die Krisenzeit des 11. Jahrhunderts wider, die besonders häufig Vorzeichendiskurse hervorgebracht haben. Darauf folgt die Untersuchung einiger Chroniken, die ins 13. Jahrhundert weisen: vom Niederrhein die Kölner Königschronik und die Chronik von St. Pantaleon, aus Schwaben Burchard von Ursberg und aus dem Norden – und schon mit ersten minoritischen Anklängen – Albert von Stade. Ein Großteil dieser Texte entstand als Fortsetzungen Frutolf­Ekkehards. Die interessanten Unterschiede liegen dabei im Umgang mit den in der Vorlage überlieferten Vorzeichen wie auch in eigenen Deutungen etwa der Ereignisse um den deutschen Thronstreit. Am Ende fasst Lehner seine Ergebnisse noch einmal typologisch zusammen. Äußerst hilfreiche Register der Personen, Orte, Sachworte, Chroniken und Bibelstellen schließen den Band ab.
Trotz ihrer Fülle bleibt Lehners Auswahl an Texten doch selektiv und birgt nicht die Breite, welche die »hochmittelalterliche Historiografie« des Titels verspricht. So behandelt das Buch ausschließlich Texte aus dem Reich nördlich der Alpen. Natürlich müssen einer Dissertation Grenzen gesetzt sein, zumindest aber kurze Einblicke in die chronikalischen Traditionen anderer Regionen Europas hätte man durchaus wagen dürfen. Die deutschen Chroniken des 12. und 13. Jahrhunderts schrieben zumeist in einem römisch­rechtlichen Rahmen oder zumindest mit implizitem Bezug auf das römische Kaisertum. Das ermöglichte und diktierte ihnen natürlich eine etwas andere Perspektive auf Heilsgeschichte und göttliches Wirken, als dies in der Chronistik anderer Länder der Fall war, wo sich Prophezeiungen in durchaus anderen Bedeutungskontexten abspielten. Deren vergleichende Betrachtung hätte sicherlich einige Ergebnisse noch differenziert. Beispielsweise hat Alheydis Plassmann für die englischen Prophetien des 12. Jahrhunderts aufgezeigt, wie Prophezeiungen, die Zeitgenossen durch göttliche Eingebung aussprechen, in dieser Zeit immer weniger auftraten und die Prophetie stattdessen weit in die Vergangenheit geschoben wurde und zeitgenössische Ereignisse in der Chronistik vermehrt als die Erfüllung alter Vatizinien gedeutet wurden1. Ähnliche Entwicklungen ließen sich durchaus auch in der deutschen Chronistik ausmachen. Lehner kennt Plassmanns Argumentation indes nicht, wenngleich sie seine Ergebnisse sicher noch grundlegend differenziert hätte. Stattdessen werden solche Problematiken nur vereinzelt angesprochen (S. 36, 76f., 120, 122–
Alheydis Plassmann, Prophezeiungen in der englischen Historiographie des 12. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 90 (2002), S. 19–49.
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Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by­nc­nd/4.0/
124, 138–141). Selbst für das Reich vermisst man in Lehners Untersuchung einige wichtige Texte. Gottfried von Viterbos »Pantheon« wäre hier an erster Stelle zu nennen – nicht etwa, weil diesem Autor das besondere Forschungsinteresse des Rezensenten gilt, sondern weil diese Universalchronik schon im frühen 13. Jahrhundert die Chronik des Frutolf­Ekkehard an Bedeutung überstieg und vor allem, weil sie darüber hinaus einer der wichtigsten mittelalterlichen Überlieferungsträger der »Sibylla Tiburtina« war. Selbst bei einer Beschränkung auf den deutschsprachigen Raum hätte man den »Pantheon« nicht übergehen dürfen, da dieser Text auch nördlich der Alpen weite Verbreitung fand, und sich an vielen deutschen Orten Fortsetzer fanden, welche die Zukunftsvorhersagen des »Pantheon« mit dem bekannten Zeitgeschehen in Einklang bringen mussten. Von diesen Einzelproblemen abgesehen, hat Lehner jedoch eine sehr solide Studie vorgelegt, die ein in der Forschung vernachlässigtes Thema grundlegend erschließt und es in ausgewogenem Urteil darstellt. Er hebt zu Recht hervor, dass die Bedeutung und Zeichenhaftigkeit verschiedener Signa nicht in Genreüberlegungen zu suchen sind, sondern durchweg in der Entscheidung des einzelnen Historiografen und dessen Geschichtsbewusstsein. Daher ist zu hoffen, dass Lehners Anregung aufgenommen wird und künftig auch auf andere Historiografen des mittelalterlichen Europas angewandt wird.
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