hori 207 - Gymnasiums Calvarienberg

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Forum für Religion, Jugend und Familie
am Gymnasium Calvarienberg
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Nr. 2/2007
Jungen – das benachteiligte Geschlecht? (2)
Brauchen Jungen eine andere Erziehung?
Zu dieser Frage nimmt der Waldorf-Pädagoge und Buchautor Peter Singer („Bildung ist mehr als Lernen“) in einem Interview Stellung.
In den Schulen hat man heute sehr stark den Eindruck, dass der überwiegende Teil der Probleme, ob
es sich um Lernschwierigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten oder Gewalt unter Schülern handelt, bei den
Jungen auftreten. Mädchen scheinen es sowohl im Unterricht als auch im sozialen Umfeld viel leichter
zu haben.
Singer: Sie haben recht, in der heutigen Schule werden Jungen zunehmend auffälliger. Ich habe mich
deshalb schon gefragt, ob es vielleicht daran liegt, dass Jungen in der Schule etwas vermissen, was
ihrem ureigensten Wesen entspricht. Heftgestaltung, Sprache, Musikalisches, bildnerisches Gestalten
sind Bereiche, in denen sich vor allem die Mädchen recht wohl fühlen. Wie steht es aber mit dem Naturell der Jungen? Die sind impulsiv, lieben das Wagnis, das Draufgängertum. Nun haben es die kleinen Jungen vom Kindergarten an durch die ersten Schuljahre hindurch meistens mit weiblichen Lehrkräften zu tun, die ihren Unterricht mit viel Liebe und Harmoniebedürfnis gestalten wollen und denen
ihre „wilden Jungs“ viel Kraft kosten. Und die kleinen Draufgänger müssen wiederum erleben, dass sie
fortwährend ausgebremst werden und oft als Störenfriede gelten.
Jungen lieben ja eher das Kämpferische, oft sogar Aggressive. Kann denn eine Lehrperson in ihrem
Unterricht auf diese Seite des Männlichen überhaupt reagieren?
Singer: Jungen fallen ja besonders dadurch auf, dass sie sich körperlich stärker einsetzen, die Extreme lieben, alles ausprobieren, klettern, stürzen, sich verletzen usw. In dieser ihrer Art werden Jungen
in der Schule oft zu wenig verstanden. Dem kann man abhelfen. Zum Beispiel: Chemieunterricht. Die
Jungen freuen sich zu Beginn natürlich auf möglichst viel Rauch und Explosionen, während die Mädchen sich eher abwartend verhalten. Hier kommt es darauf an, dass die Lehrerpersönlichkeit den Experimenten nicht selbst distanziert oder übervorsichtig gegenübersteht, sondern beherzt an die Sache
herangeht, so dass die Jungen erleben: „Heute hat es richtig geknallt.“ Während der Erarbeitungsphase kommen die Jungen emotional und gedanklich wieder „auf den Boden“, während die Mädchen ihre
Scheu überwinden und rasch in die Materie einsteigen. So sollte bei jedem Unterricht zu dem Beschaulichen immer auch etwas Deftiges, vielleicht sogar Derbes für die Jungen dabei sein. Das ist für
sie das Salz in der Suppe!
Schule hat heute leider immer noch eine eindeutige Tendenz: Man sitzt und sitzt, hört und schreibt.
Sind die Schüler eigentlich genügend in Bewegung? In der Schule wird vor allem die jungenhafte Impulsivität in den unteren Klassen stark gedämpft, wenn es so oft heißt: „Nun sitz doch mal still, sei
ruhig und störe nicht immer!“ Heute erhalten Kinder in unserer Kultur kaum noch Einblick in handwerklich-praktische Tätigkeiten, wo mit körperlicher Kraft richtig gearbeitet wird. Früher wurden solche Eindrücke im Alltag auf natürliche Weise erlebt – Spielen im Wald, am Bach mit viel körperlicher Bewegung. Die Kinder verbringen heute viel zu viel Zeit in Schulräumen oder zu Hause im eigenen Zimmer.
Was kann man anders machen?
Singer: Kinder und Jugendliche müssen wieder eine stärkere Beziehung zur Natur bekommen. Ich
beobachte, dass viele von Ihnen diese Beziehung gar nicht mehr haben und eine gewisse Scheu z.B.
vor Feuer zeigen. Hier empfehle ich, mit Kindern und Jugendlichen Fahrten und Lager zu veranstalten,
wo dann gemeinsam gewandert, im Zelt übernachtet, Feuer gemacht wird usw. Hier kommen nun die
Jungen so richtig gut zum Zuge, wenn es heißt, Holz zu sammeln, mit Beil und Säge umzugehen, das
Feuer in Gang zu halten, die Zelte aufzustellen. Durch die Witterung kann es dann auch mal zu „bedrohlichen“ Situationen kommen, wo man sich bewähren muss, etwa wenn ein stürmischer Wind die
Zelte wegzureißen droht. In Lappland hatten wir z.B. einmal die Situation, dass wir bei Dauerregen ein
Sumpfgebiet durchqueren mussten, wo wir natürlich nicht übernachten konnten. Ich staunte über die
Zähigkeit der 14 bis 16-jährigen Mädchen, die – durchnässt und schwer beladen – klaglos weitermarschierten, während die gleichaltrigen Jungs nun auch ihrerseits die Zähne zusammenbeißen und Ausdauer beweisen mussten.
Dieses Erlebnis schaffte in der Gruppe eine große gegenseitige Achtung, die noch jahrelang anhielt.
Für solche Fahrten braucht es Vertrauen, man muss seine Schüler und deren Eltern kennen und wissen, was man ihnen zumuten kann. Auch die Schüler brauchen Verlässlichkeit untereinander. Das
bewusste Risiko schärft die Aufmerksamkeit und Wachheit aller Teilnehmer, wodurch Unfälle stark
minimiert werden.
Ist Mut eigentlich abhängig vom Geschlecht?
Singer: In gefahrvollen Situationen stehen die Mädchen den Jungen in nichts nach, aber für die Jungen
ist es von großer Bedeutung, sich bewähren zu können, Mut zu zeigen, Unerschrockenheit, Selbstbeherrschung, Rücksichtnahme. Diese Qualitäten verkörpern letztlich die alten „Rittertugenden“. Wenn
sich diese in einer männlichen Biographie nicht entfalten können, dann schlagen sie leicht ins Gegenteil um.
Sie meinen das Thema „Gewalt“?
Singer: Nicht eigentlich Gewalt, sondern ich meine das richtige Lenken der männlichen Verhaltensimpulse. Auf Wildnisfahrten kann man bei den Geschlechtern gewisse „Ur-Instinkte“ beobachten: Beim
abendlichen Aufschlagen des Lagers schwärmen die Jungen in ihrer impulsiven Art sofort aus, um die
Gegend zu erkunden; sie gehen gewissermaßen „auf die Jagd“. Die Mädchen haben eher die „lebenserhaltenden Maßnahmen“ im Sinn: Sie beginnen von sich aus mit der Essenszubereitung, richten das
Lager ein usw. Man muss dann die Jungen in die Pflicht nehmen, ihnen Aufgaben geben wie Holz- und
Wasserholen, eine Abfallgrube graben – möglichst anstrengende Arbeiten, die dem Gemeinwohl dienen. Das setzt vorhandene Energien sinnvoll ein und stellt zufrieden! Schafft man aber während der
Kindheit und Jugendzeit – besonders für Jungen – keine Gelegenheit zur Kräftekultivierung durch ausreichende körperliche Betätigung, dann besteht die Gefahr, dass die genannten Verhaltensimpulse in
Fehlformen umschlagen. Derzeit erleben wir, wie die Abenteuer in der Welt der Computerspiele aufgesucht werden. All diese Fantasy-Rollenspiele, die man ja heute auch im Internet spielen kann, sind voll
von solchen Abenteuern, wo es letztlich darum geht, die „ritterlichen Tugenden“ auszuleben. Aber da
es keine realen Grenzen gibt und der eigene Körper ja überhaupt nicht betätigt wird, wird hier nur sinnlose Gewalt ausgelebt. Und in der Schule wird dann möglicherweise die Gewalt gegen die schwachen
Mitschüler gerichtet, wobei sich regelrechte Gewaltrituale entwickeln, die aber nichts anderes sind als
der verzweifelte Versuch, sich körperlich zu behaupten.
Welche Möglichkeiten sehen Sie denn, die Gewalt zu verhindern?
Singer: Ich bin der Überzeugung, dass ein gewisses Maß an körperlicher Auseinandersetzung, ja an
„Kampf“ zum Jungendasein dazugehört. Ich meine damit nicht wüste Prügeleien. Es ist doch bekannt,
dass Jungen gerne raufen und dabei ihre Kräfte messen. Im kämpferischen Spiel werden Grenzen
ausgelotet, wird das Gefühl für den eigenen Körper und die Seele geschult. Daraus können sich Entschlusskraft, Ausdauer, Treue, Mitmenschlichkeit bilden; Eigenschaften, die der erwachsene Mann im
Leben braucht. Nichts Besseres kann Jungen passieren, wenn sie männlichen Vorbildern begegnen,
die solche Qualitäten verkörpern. Hier sind gerade die Väter gefordert. Diese Aufgabe wieder bewusst
zu ergreifen, könnte viele Väter auch persönlich bereichern. Hier liegen im Sinne der Gewaltprävention
noch große Potentiale vor uns.
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Ergänzend noch einige Ratschläge des Sozialwissenschaftlers Prof. Klaus Hurrelmann zum Thema
Bildung von Jungen:
Im Leistungsbereich haben die Jungen heute vor allem Defizite bei den Sprachen (Deutsch und
Fremdsprachen) und beim Sozialverhalten. So hinken die jungen Männer etwa bei der Kommunikationsfähigkeit und bei sozialer Empathie hinterher. Auch mangelt es ihnen häufig an Ausdauer. Das sind
alles Faktoren, die bei der späteren Suche nach einem Ausbildungsplatz und schließlich im Job eine
wichtige Rolle spielen und deswegen von großer Bedeutung sind.
Eltern können den Bildungserfolg ihrer Söhne
unterstützen, indem sie in der Familie viel
sprechen und kommunizieren, Gefühle ausdrücken, Empathie trainieren, Durchhaltevermögen schulen, langen Atem bei der Lösung
von Alltagsproblemen abfordern. Und danach
sollten sie eine realistische Rückmeldung über
das erreichte oder nicht erreichte Ziel geben.
Nur wenn es berechtigt ist, sollten sie positiv
reagieren und auch nur dann loben, um so die
angemessene, realistische Selbstwahrnehmung zu fördern.
Redaktion: Hubertus Gussone
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