Versöhnung mit der Wildnis

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ZEIT ONLINE 21/2008 S. 35 [http://www.zeit.de/2008/21/U−Artenschutz]
Artenschutz
Versöhnung mit der Wildnis
Die Rettung einzelner Arten nützt gar nichts. Es muss um den Schutz
ganzer Lebensräume gehen. Das stürzt die Menschheit in ein Dilemma.
Sie will die Vielfalt der Natur bewahren, muss aber auch Ackerflächen für
die Welternährung sichern.
Von Christiane Grefe und Andreas Sentker
Welches Aug , welch ew ge Hand formten Deines Schreckens Brand?« Zu diesen Zeilen riss es den Poeten
William Blake einst beim Anblick des Tigers hin. Die goldene »Feuerspracht« seines Fells, darunter das
kraftvolle Muskelspiel, wenn er elegant durch die Wälder streift: Alles flößt Ehrfurcht ein. Jedenfalls in jenen
Regionen der Welt, deren Bewohner ihre eigenen Raubtiere schon seit Langem so gut wie ausgerottet haben.
Von Sibirien bis Indonesien aber, wo der Tiger lebt, wird er oft anders gesehen: als Einkommensquelle, deren
Fell, Zähne, Klauen und Knochen sich teuer verkaufen lassen. Als Raubtier, das Nutztiere reißt und getötet
werden muss. Mit den Wäldern roden die Menschen zudem seine artenreichen Reviere. Zwischen 1995 und
2005 sind die Lebensräume des Tigers um 40 Prozent geschrumpft, einige Unterarten sind ausgestorben. In
Indien, wo 40.000 Tiere gezählt wurden, gibt es heute womöglich nur mehr 1.500.
Nicht allein des Tigers und seines Dschungels wegen kommen in dieser Woche 5.000 Delegierte, Journalisten
und Umweltminister aus aller Welt zur 9. Vertragsstaatenkonferenz der Convention on Biological Diversity
(CBD) nach Bonn. Ihr diplomatisches Ringen gilt der Rettung der weltweiten biologischen Vielfalt: an den
Polen, in Gebirgs− und Waldlandschaften, in mediterranen Zonen, in den Savannen. Und in den Ozeanen.
Dort machen rund 2.000 Wissenschaftler im »Census of Marine Life«−Projekt derzeit Inventur bei einem
kaum zählbaren Schatz noch unbekannter Lebewesen. Doch gleichzeitig arbeitet der wohlhabende Teil der
Menschheit an der Vernichtung dieses Reichtums mit der industriellen Wucht gigantischer Hochseeflotten.
Die Bestände von Thunfisch, Kabeljau, Heilbutt, Rochen und Flunder wurden in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts auf ein Zehntel reduziert.
Stiller, unscheinbarer siechen Wiesen−Augentrost und Knackelbeere in Europa, die Wilde Aprikose in
Kasachstan oder eine ecuadorianische Flamingoblumenart dahin. Botaniker versuchen, zu retten, was zu
retten ist, damit Samen und Gewebeproben solcher Todeskandidaten wenigstens in Genbanken überleben.
Wildpflanzen haben kaum eine Lobby. In Bonn aber wird erstmals auch um sie ein Spektakel zelebriert, so
wie um knopfäugige Eisbären und verträumte Orang−Utans. Anders als bei bisherigen
Artenschutzkonferenzen steht dieses Mal die Vielfalt im Zentrum aktueller Kontroversen.
Denn angesichts der dramatisch steigenden Nahrungsmittelpreise und des weltweiten Energiehungers fragen
manche: Hat die Menschheit nicht größere Probleme als die Gefährdung des Sumatra−Nashorns? Braucht sie
nicht mehr intensiven Anbau von Ackerfrüchten statt neue Naturparks? Und muss die Biomasse auf dem
Globus nicht eher der klimaneutralen Energiegewinnung dienen, als in geschützten Wäldern vor sich hin zu
modern? Andere sehen im Erhalt der »freien Wildbahn« und der ganzen Vielfalt der Agrarkulturen die
wichtigste Voraussetzung des Überlebens. Natur hat Konjunktur und steckt zugleich mehr denn je in der
Defensive.
Dabei war gerade der Versuch, den Interessenkonflikt zwischen dem Schutz der Tier− und Pflanzenwelt und
menschlichem Wirtschaften aufzulösen, von Anfang an das Neue an der CBD. Große Industriestaaten und die
Agrarwirtschaft hatten 1992 besorgt erkannt, dass mit den Arten auch genetische Informationen
verschwanden. Zugleich war offensichtlich geworden, dass Kleinbauern vom Amazonas bis in den Kongo so
lange wertvolle Bäume für Land und Holz schlagen, wie sie keine anderen Energie− und Einkommensquellen
haben; dass indische Ureinwohner den Tiger weiter vergiften, solange er in stacheldrahtbewehrten Reservaten
geschützt wird, aus denen man sie selbst vertreibt. Der Naturschutz würde keine Anhänger finden, folgerten
seine Protagonisten, wenn er die Bedürfnisse der Einheimischen nach Entwicklung ignoriere.
Nicht der Gorilla muss geschützt werden, sondern sein Lebensraum
Fortan sollte nicht mehr der einzelne Weißkopfgeier oder Gorilla im Fokus stehen, sondern der Lebensraum
für Mensch und Tier. Mit diesem Paradigmenwechsel ging die Verpflichtung einher, ein dichtes Netz von
Schutzgebieten zu schaffen und den Schwund der Arten bis zum Jahr 2010 signifikant zu senken. Doch
stattdessen hat sich ihr Verlust seither noch beschleunigt. 1,75 Millionen Spezies sind auf der Welt
beschrieben, davon 400.000 Pflanzen, 5.500 Säugetiere, 9.800 Vögel, eine Million Insekten. Die große
Mehrheit aber ist noch unerforscht. Entsprechend unterschiedlich sind die Angaben, wie viele Arten jeden Tag
verschwinden: 70, sagt Edward O. Wilson, der Doyen der Biologen; die G8−Umweltminister rechnen mit
150.
Die Tendenz ist eindeutig. Mehr als 16.000 Arten stehen auf der Roten Liste der Internationalen
Naturschutzunion (IUCN). Ein Drittel aller Amphibien gilt als bedroht, jede achte Vogel− und jede vierte
Säugetierart, bis zu 100.000 Wildpflanzenarten. So ist die Enttäuschung nach 16 Jahren CBD groß: »Der
innovative Ansatz, die Natur nachhaltig zu nutzen und zu schützen, muss seine Wirksamkeit leider erst noch
unter Beweis stellen«, sagt Barbara Unmüßig von der Heinrich−Böll−Stiftung.
Allzu oft gerät das Ziel, ökologische und ökonomische Interessen zu vereinen, ins Hintertreffen, wenn
Straßen, Minen und Pipelines gebaut werden, Städte und Industriezonen sich ausbreiten oder
Agrarunternehmen nach Flächen für den Anbau von Futtermitteln und Biomasse suchen. Mit den Urwäldern
ist inzwischen die Menschheit selbst gefährdet. Denn sie speichern auf natürliche Weise das Klimagas CO2.
Fallen die Bäume, steigt die globale Temperatur.
Nicht nur auf diese ursächliche Weise hängen Klimaschutz und Artenschutz eng zusammen, sondern auch bei
den Folgen: Mit dem Klimawandel wird sich der Artenschwund dramatisch zuspitzen. Manche Biologen
vertrauen zwar wie der Münchner Evolutionsbiologe Josef Reichholf auf die evolutionäre Anpassung der
Lebenswelt. Die Forscher des Weltklimarates IPCC sehen im Falle einer Temperaturerhöhung von 2,5 Grad
bis zum Ende des Jahrhunderts jedoch die Auslöschung eines Drittels der Arten voraus. »Wir verlieren die
Schlacht!« Um ihren Appell zu bekräftigen, verwendet Monique Barbut, Direktorin der Global Environment
Facility, die den internationalen Artenschutz finanziert, nicht einmal mehr den Konjunktiv.
Um endlich einen Durchbruch beim Handeln zu erzielen, versuchen Umweltpolitiker, den
Nicholas−Stern−Effekt nachzuahmen. Der britische Wirtschaftswissenschaftler hatte 2006 die ökonomischen
Kosten des Klimawandels berechnet und mit seiner Botschaft, dass Nichtstun teurer sei als Handeln, in Politik
und Wirtschaft einen zuvor unerreichten Bewusstseinswandel erzielt. Eine ähnliche Wirkung erhoffen sich
EU−Umweltkommissar Stavros Dimas und Bundesumweltminister Sigmar Gabriel jetzt von einer
Expertengruppe um Pavan Sukhdev. Der Manager der Deutschen Bank in London und Direktor des »Green
Accounting for Indian States«−Projektes in Delhi soll die globalen volkswirtschaftlichen Schäden des
Artenschwunds erheben.
Keine leichte Aufgabe, reicht doch die Leistungsbilanz der biologischen Vielfalt von der Regeneration der
Böden bis zur Aufrechterhaltung des Wasserkreislaufs, von der Kühlung des Weltklimas bis zu Arbeitsplätzen
in der Agrarindustrie. Wie berechnet man die Kreativität der Evolution, das Vorbild der Natur für neue
Technologien in der Bionik oder die Bedeutung noch unbekannter Tiere und Gewächse für die Medizin? Und
dann: Ist es nicht ein Teil des Problems, die Natur nur mehr unter dem Blickwinkel ihres Nutzens zu
bewerten? Pavan Sukhdev meint: »Die ökonomische Argumentation ist leider die einzige, die zieht.«
Doch Zweifel sind angebracht. 1997 veröffentlichte die Zeitschrift Nature eine Studie, in der die Leistungen
der Biosphäre mit 16 bis 54 Billionen Dollar berechnet wurden; im selben Jahr lag das gesamte globale
Bruttosozialprodukt bei rund 18 Billionen Dollar. Die Zahlen haben niemanden davon abgehalten,
kurzfristigen Gewinnen auf Kosten der Artenvielfalt hinterherzujagen.
Wie schwierig indes Nutzen und Schützen in Einklang zu bringen sind, zeigt das Beispiel Borneo. Die
Regenwälder der drittgrößten Insel der Welt zählen zu den artenreichsten Regionen der Erde. Einst war das
Land vollständig von Urwald bedeckt, doch allein zwischen 1985 und 2005 wurden nach einer Studie der
Weltbank durchschnittlich 850.000 Hektar Wald abgeholzt. Gegenwärtig fallen zwei Millionen Hektar Wald
im Jahr paradoxerweise auch im Dienst des europäischen Umweltgewissens. Auf den gerodeten Flächen
sollen Palmen wachsen für mehr Biosprit im Tank.
Im malaysischen Teil Borneos versucht man nun den Ausgleich aller Interessen. Dort legen drei
Holzkonzerne auf Brachland gewaltige Akazienplantagen an. Das »Grand Perfect s Planted Forest Project«
ist mit seiner Fläche von 490.000 Hektar eines der größten Experimente dieser Art. Die schnell wachsenden
Akazien werden bereits nach sieben Jahren abgeholzt. Die jährliche Ernte von 3,5 Millionen Tonnen Holz, vor
allem für die Papier− und Kartonagenproduktion, soll den Druck auf die bestehenden Urwälder senken.
Neben den Aufforstungsflächen, auf denen drei Millionen neue Setzlinge im Monat gepflanzt werden, bleiben
Schutzgebiete stehen auf einem Drittel des Grundes. Auch die einheimische Bevölkerung bekommt Flächen
für den Anbau ausgewiesen. So arbeiten Holzfäller, Artenschützer und Einheimische zusammen. Ein Fall von
Win−win−win?
Hilft die Akazie Mensch und Natur, oder ist sie bloß ein Ökofeigenblatt?
Umweltschützer bezweifeln das. Zwar sind Akazienwälder artenreicher als die öden Ölpalmenplantagen, die
anderswo auf Borneo den Wald verdrängt haben. Und möglicherweise simuliert das Patchwork aus
ursprünglichem und aufgeforstetem Wald einen größeren Lebensraum als die Urwaldflecken allein. Die
biologische Bestandsaufnahme zeigt jedoch, dass es Gewinner und Verlierer des Projektes gibt: Frösche,
Ratten, Hörnchen und einige Fleischfresser fühlen sich offenbar wohl im Schatten der Bäume. Die Vielfalt der
Vögel, Echsen, Schlangen und Fledermäuse aber schrumpft. Zudem geht die Fähigkeit der ursprünglichen
Wälder, Wasser zu speichern, verloren. Das Gegenteil ist zu beobachten: Akazien saugen das Wasser
regelrecht auf, der Pegel sinkt. Sind Plantagen also eine Lösung oder höchstens das kleinere Übel? Sind sie
ein Abholzungsprojekt mit Ökofeigenblatt oder die Versöhnung von Mensch und Natur?
Darunter stellt man sich im Periyar−Nationalpark zum Schutz des Tigers im indischen Bundesstaat Kerala
anderes vor. Dort erhält sanfter Tourismus den Wald und schafft zugleich Einkommen. Ehemalige Wilderer
arbeiten als Ranger und Parkwächter. Noch mal anders agiert die ökologisch gesinnte Regierung des
brasilianischen Bundesstaats Amazonas. Sie hat die Zona Franca Verde, eine grüne Freihandelszone,
eingerichtet. Behutsam wird der Wald als Geldquelle erschlossen, teilweise unter der Regie der indianischen
Bevölkerung: mit Dokumentar− und Tierfilmproduktionen, der Ausbildung in nachhaltiger Forstwirtschaft,
der Überwachung von Schutzgebieten oder dem Verkauf von Konzessionen für die Vermarktung von
Duftstoffen, Medikamenten, exotischen Früchten und Fischen.
Trotz solcher Vorzeigeprojekte steht Brasilien wegen neuer Verluste im Kreuzfeuer. Naturschützer und
Entwicklungsorganisationen behaupten, dreimal so viel Regenwald wie im Vorjahr sei im ersten Quartal
dieses Jahres gefällt worden, um Flächen für Sojamonokulturen zu gewinnen. Zugleich werde der Anbau
existenzieller Nahrungspflanzen wie Bohnen und Reis verdrängt, und zwar zugunsten von
Zuckerrohrplantagen für die Produktion von Bioethanol auch für Lieferungen nach Deutschland. Gerade hat
Sigmar Gabriel ein entsprechendes Kooperationsabkommen mit Brasilien ausgehandelt.
Das Umweltministerium beruft sich darauf, dass nur sozial und ökologisch zertifizierter Biosprit importiert
werden dürfe. Solche Zertifikate aber lehnt Brasiliens Regierung als Handelshemmnis ab. Nicht nur wegen
der Verteidigung seiner Exportinteressen zählte das Land bei den CBD−Verhandlungen bisher zu den
Blockierern, sondern auch, weil es die Wachstumsinteressen der Entwicklungsländer verteidigt.
Zugeständnisse beim Schutz der Wälder dürften am Ende nur durch hohe finanzielle Transferzusagen zu
erreichen sein. »Die meisten Länder mit hoher Artenvielfalt haben nicht das Geld, sie zu schützen«, sagt
Kolumbiens Vizepräsident Francisco Santos Calderón. Um etwa ein Drittel wurden die Schutzgebiete seit
1992 ausgeweitet, auf knapp 12 Prozent der globalen Fläche. Die Finanzierung des Schutzes aber stagniert bei
rund 10 Milliarden Euro im Jahr, die zudem zu 90 Prozent in den Industrienationen selbst ausgegeben werden.
Naturschützer fordern, die Investitionen in die Schutzgebiete zu verdreifachen.
Die Bundesregierung hat dazu die Initiative »Life Web« ins Leben gerufen. »Pragmatisch und unbürokratisch«
sollen dabei nach Vorstellung des Umweltministeriums Entwicklungsländer wie bei einer Tauschbörse
Naturräume benennen, die sie zu schützen bereit wären die Geberländer sollen Finanzierungsangebote
unterbreiten.
Mit dieser Form des freiwilligen und daher unverbindlichen Ausgleichs wird es nicht getan sein. Der
Flächenangriff auf Meere und Wälder ist eine direkte Konsequenz des Konsums in Industrienationen, deren
Vorbild zunehmend auch Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien folgen. Immer mehr Menschen
wollen Auto fahren und Fleisch essen. Das Naturschutzplädoyer Meena Ramans, der Präsidentin der globalen
Umweltorganisation Friends of the Earth aus Malaysia, klingt daher so: »Ihr müsst einfacher leben, damit
andere einfach nur leben können.«
Mitarbeit: Dirk Asendorpf und Hans Schuh
Versöhnung mit der Wildnis
Zum Thema
DIE ZEIT 21/2008: Die Patentierung der Natur
Artenschutz lohnt sich. Pflanzen und Tiere liefern Wirkstoffe für Arzneimittel. Die Entwicklungsländer
wehren sich gegen die Beutezüge der Pharmaindustrie
[http://www.zeit.de/2008/21/U−Biopiraterie]
ZEIT ONLINE /2008: Artenschutz
Im Mai berät die UN−Naturschutzkonferenz in Bonn, wie sich die biologische Vielfalt erhalten lässt. Ein
Themenspezial zur aktuellen Debatte und zu den Hintergründen.
[http://www.zeit.de/themen/wissen/wissenschaft/artenschutz/index]
DIE ZEIT, 15.05.2008 Nr. 21
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