Das Schweigen der Lämmer? Sehr geehrte Damen und Herren Von den Veranstaltern dieser Tagung wurde ich damit beauftragt, sie mit einem Impulsreferat auf die sich anschliessenden Lernorte einzustimmen und dabei eine ethische Sichtweise einzunehmen. Dieser Auftrag ist alles andere als einfach, da sich in einem halbstündigen Referat selbstredend nicht alle damit verbundenen Fragestellungen angemessen erörtern lassen. Deswegen habe ich mich darauf konzentriert, die Begriffe Selbstbestimmung und Verantwortung aus einer ethischen Sicht näher zu fassen. Von dieser erarbeiteten Grundlage aus erlaube ich mir zum Schluss ein paar Anmerkungen zu den jeweiligen Lernorten und werde dabei gelegentlich zu Zuspitzungen greifen, um die Dinge möglichst auf den Punkt zu bringen. Ich gehe davon aus, dass ihre Diskussionen in den Denkinseln gezeigt haben, dass das Thema dieser Tagung Selbstbestimmt, gegängelt, verwaltet eine enorme Spannbreite und Spannungslinien in sich birgt. 1 Wenn wir eine erste Bestimmung dieser Begriffe vornehmen, dann sind wir uns sicher schnell einig darüber, dass - selbstbestimmt für ein Agieren steht; also dafür, dass zu tun, was man für richtig hält und eben auch, dass man überhaupt in der Lage ist, Dinge beeinflussen zu können. - Gegängelt und verwaltet dagegen stehen für das Reagieren und für Dinge, die der Beeinflussung durch uns entzogen sind; also all das, worauf wir eben keinen Zugriff besitzen. Mit anderen Worten geht es hierbei um das Spektrum von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung. Doch mit dieser ersten Bestimmung haben wir noch nichts weiter erreicht, als die banale Feststellung, dass nicht alles, was wir tun und/oder unterlassen allein auf unserer Selbstbestimmung beruht. Aber was bedeutet das eigentlich: Selbstbestimmung? Jedem und jeder von uns wird dazu spontan etwas einfallen und vielleicht erscheinen jetzt vor unserem geistigen Auge Situationen, die wir mit Selbstbestimmung in Verbindung bringen. 2 Um solche Verbindungen, solche Bilder oder Metaphern habe ich mich natürlich auch bemüht und bin bei dieser Suche auf das Bild des Lammes, bekanntlich eines jungen Schafes, gestossen. Eben jenes Bild hat mich in Bezug auf die Soziale Arbeit gereizt. Deshalb habe ich für mein Referat den Titel „Das Schweigen der Lämmer?“ gewählt. Vielleicht haben sie sich darüber gewundert: Ist das nicht der Film, in dem die unerfahrene FBI-Agentin Clarice Starling den Serienmörder Buffalo Bill fängt, dabei jedoch auf die Hilfe des kannibalistisch veranlagten Serienmörders Hannibal Lecter angewiesen ist? Was hat das mit dem Thema dieser Tagung, mit Sozialer Arbeit generell zu tun? Ich fand, der Titel passt ganz gut zum Thema dieser Tagung. Denn schliesslich wird in dem besagten Film dargestellt, wie die junge FBI-Agentin Starling erst ihre Ängste und Selbstzweifel überwinden muss, bevor sie zu jener selbstbewussten, oder auch selbstbestimmten, Persönlichkeit reift, die es mit der harten Realität aufnehmen kann. 3 Das war der erste Grund, warum ich mich für den Titel meines Referates entschieden habe. Denn es liesse sich fragen, ob die Soziale Arbeit bereits zu jener selbstbewussten Profession geworden ist und damit, ob und was sie sich selbst zutraut, um im gesellschaftspolitischen Kräfteparallelogramm gut bestehen zu können. Denn Selbstbestimmung scheint etwas zu sein, das errungen und gelegentlich auch verteidigt werden muss. Gerade die Berichte in der Presse, wie sie seit September dieses Jahres zu lesen waren, verdeutlichen das. Sie erinnern sich: Im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten einer eritreischen Flüchtlingsfamilie und den immensen Kosten für ihre Betreuung, waren in den Tagesmedien und den Boulevardblättern Schlagzeilen wie diese zu lesen: «Sozial-Irrsinn. Hilfe, die Helfer sind überall», oder den Hinweis auf – ich zitiere – «eine kleine Gemeinde im Kanton Zürich als Schauplatz eines Trauerspiels, das viele Verlierer kennt – und nur einen Gewinner: die boomende Sozialindustrie», Zitatende. Passend dazu wird auf die hohen Ausbildungszahlen Studierender Sozialer Arbeit und das Eldorado freier Stellen hingewiesen. 4 Welche Schlagzeile man auch immer heranzieht: die Soziale Arbeit steht unter Beschuss und muss sich dadurch eigentlich herausgefordert fühlen. Aber wie reagiert sie darauf? Das war der zweite Grund, warum ich mich für den Titel „Das Schweigen der Lämmer?“ entschieden habe. Mit einem Lamm verbinden wir Eigenschaften wie sanft, geduldig und unschuldig, das sich gutmütig und manchmal vielleicht ein wenig einfältig verhält. Wird mit so einer Beschreibung nicht ganz gut unsere Profession gekennzeichnet? Denn in den Augen vieler gilt unsere Profession als „weiche Disziplin“, die von „Gutmenschen“ bevölkert ist, die wenig durchsetzungsstark sind, die die Macht verabscheuen und sich als „Alles-Versteher“ auszeichnen. Aber welchem Bild entspricht die Soziale Arbeit? - Verhält sie sich tatsächlich lammfromm, eben geduldig, gehorsam und ohne Widerstand und ist sie deshalb so leicht zu steuern? Sind wir mit anderen Worten einfach bei dem „Empört Euch!“ stehengeblieben? 5 - Oder spielen wir das Unschuldslamm, in dem wir vorgeben, keine Mit-Schuld für die gegenwärtigen Entwicklungen zu besitzen, also nicht verantwortlich oder mitverantwortlich dafür zu sein? - Oder ist unsere Rolle eher die des Opferlamms, des Sündenbocks oder Schwarzen Schafes, das sich bereitwillig als Projektionsfläche für die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen anbietet? - Oder sind wir doch ein bisschen wie einfältige Schafe, und haben an den immerwährenden Wohlfahrtsstaat und die unverbrüchliche Solidarität innerhalb der Wohlstandsgesellschaft geglaubt? All diesen Metaphern ist gemeinsam, dass man sie nur schwer mit dem Begriff der Selbstbestimmung in Verbindung bringt. Und so ist es an der Zeit genauer zu schauen, was unter Selbstbestimmung verstanden werden kann. 1) Selbstbestimmung Selbstbestimmung wird in vielerlei Hinsicht verwendet: z.B. - in Bezug auf die politische Anerkennung als Selbstbestimmungsrecht der Völker - oder in der Psychologie und Pädagogik als psychische Stabilität und Gesundheit 6 - oder, um ein letztes Beispiel zu nennen, die wertfreie Logik der Selbststeuerung in der soziologischen Systemtheorie. Ich hingegen werde mich im Folgenden an einem ethischen Autonomieverständnis orientieren und von dort aus versuchen zu skizzieren, was Selbstbestimmung bedeuten kann. In unserem Kulturkreis ist Selbstbestimmung ein hohes Gut, das als wertvoll gilt. Wir wollen selbstbestimmt planen, handeln, unser Leben vollziehen und empfinden jede Begrenzung unserer Selbstbestimmung als einen tiefgreifenden Einschnitt. Und zwar nicht erst dann, wenn wir keine Möglichkeit zur Selbstbestimmung besitzen oder man uns diese entziehen will. Sondern bereits dann, wenn man uns allein das Recht auf Selbstbestimmung nicht zugestehen will. Deshalb verlangen wir auch, dass jede Form der Einmischung in unsere Selbstbestimmung, wenn sie statthaft sein soll, einer Legitimation bedarf. Damit wird nicht nur ein Anspruch von uns gegenüber anderen, sondern auch eine Aufforderung an uns verbunden: In der Existenzphilosophie hat man das – nach meiner Meinung – sehr schön beschrieben: Nämlich, dass jeder Mensch über seinen Selbstentwurf entscheidet, d.h. 7 seine Haltung, sein Denken und Leben gestaltet und darin selbst- oder fremdbestimmt sein kann. In unserer Alltagssprache drücken wir das mit dem Begriff von einem positiven Selbstwertgefühl aus: Es ist unsere Überzeugung vom Wert der eigenen Persönlichkeit als denkendes, fühlendes und handelndes Wesen und auch der Einschätzung der eigenen Fähigkeiten. Mit anderen Worten geht es darum, wie der Einzelne sich zu sich selbst verhält: also, was er selbst ist oder sein will, oder ob er lediglich vorgegebene Rollen, Wertungen und Handlungsmuster unreflektiert übernimmt. Wir sehen schon: Selbstbestimmung kann nicht ohne eine „Idee“, die man sich von sich selber macht, auskommen. Es geht hierbei um die Selbstvergewisserung oder Selbsterkenntnis des Menschen, d.h. wer man ist, aber auch, wer man sein möchte. So wird verständlich, warum Selbstbestimmung immer an Freiheit gebunden ist, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen geht es dabei um die Unabhängigkeit von Fremdbestimmung. Diese kann durch politische und/oder, soziale Autoritäten mittels Bevormundung und Kontrolle erfolgen, aber auch auf unserer Wesensart beruhen, wenn wir uns etwa unreflektiert und unmittelbar durch unsere Affekte, Begierden, Leidenschaften und Interessen leiten 8 lassen. Zum anderen gehört zur Selbstbestimmung aber auch die Möglichkeit, unserem Handeln und auch unserem Leben einen frei gewählten, eben selbstbestimmten Inhalt geben zu können. Wobei wir uns bei der Festlegung dieses Inhalts möglichst unserer eigenen Vernunft bedienen sollen. Nun wäre es illusorisch und vollkommen verfehlt von einer grenzenlosen Selbstbestimmung oder einer absoluten Freiheit auszugehen: Sicherlich, wir verfügen über eine Handlungs- und eine Willensfreiheit: - Handlungsfreiheit bedeutet, dass wir frei darin sind, ob wir überhaupt handeln wollen und wenn wir das bejahen, wie wir handeln wollen. - Willensfreiheit bedeutet, das Gewollte auch auszuführen zu können und daran nicht gehindert zu werden; also die Möglichkeit so zu handeln, wie man will. Zugleich sind wir aber immer in irgendeiner Weise determiniert, also begrenzt und damit in gewisser Weise abhängig. Diese Grenzen bestehen aus einer ethischen Perspektive insbesondere dort, wo wir mit unserem Handeln die legitimen Interessen und Rechte anderer verletzen würden. 9 Deshalb gilt eine Person strenggenommen nur dann als selbstbestimmt oder autonom, wenn sie – vereinfacht formuliert – 4 Bedingungen erfüllt - Sie muss über einen freien Willen verfügen; es darf also kein aufgezwungener Wille sein, egal, ob dieser von inneren Begierden oder äusseren Einschränkungen herrührt - Sie muss zwischen verschiedenen Handlungs- und Lebensoptionen entscheiden können; also in der Lage sein, eine Wahl zu treffen - Sie muss ihre Wünsche reflektieren können; d.h., in der Lage sein, diese zurückzustellen, sobald sie merkt, dass ihre Wünsche die legitimen Interessen und Rechte anderer verletzen würde - Und schliesslich muss sie ihr Handeln ethisch legitimieren können. Wir sehen: Selbstbestimmung besteht nicht ausschliesslich in der Abwesenheit von Bevormundung und Kontrolle oder der Beherrschung unserer Affekte. Man muss zudem auch Fähigkeiten und Möglichkeiten besitzen, um überhaupt selbständig zu sein oder als selbstbestimmt zu gelten. 10 2) Verantwortung Nun ist der Begriff der Selbstbestimmung unlösbar mit einem anderen Begriff verknüpft: dem der Verantwortung. Warum das so ist, liegt auf der Hand: Wenn ich frei bin in dem, was ich tun und/oder unterlassen kann, dann bin ich auch für dieses Handeln verantwortlich. Ebenso wird aber auch klar, dass Menschen, die sich im Zustand der Unfreiheit befinden, keine oder nur eine eingeschränkte Form der Verantwortung übernehmen können. Und damit sind wir schon mitten in der Frage, was denn unter Verantwortung zu verstehen ist. Voraussetzung für die Zurechnung von Verantwortung, das haben wir schon gesagt, ist die Selbstbestimmung oder Autonomie. Daraus erwächst für uns ein Verantwortungsbewusstsein: Das bedeutet, dass wir all unser Tun und Unterlassen nicht ausschliesslich als milieu- oder situationsbedingt rechtfertigen und in gewisser Weise entschuldigen können. Sondern, dass wir, solange wir frei darin sind, ob und wie wir handeln, wir auch für die Folgen unserer Handlungen verantwortlich sind, und, wenig überraschend, von uns eine Rechenschaft dafür verlangt werden kann. 11 Wir sind also rechenschaftspflichtig und zwar nicht nur im Sinne einer haftenden Verantwortung für die tatsächlich entstandenen und eingetretenen Folgen. Sondern auch für die prospektiv möglichen, erwartbaren oder vermuteten Konsequenzen unseres Tuns und/oder Unterlassens. Verantwortlich sind wir aber nicht nur für die Folgen unserer Handlungen, sondern ebenso dafür, wie wir andere Menschen „behandeln“. Hier geht es um die Absicht unserer Handlungen, oder anders gesagt, was wir mit ihnen bezwecken. Das verweist auf den sogenannten „kategorischen Imperativ“, der besagt, dass in jeder Handlungssituation ein Mensch niemals instrumentalisiert werden darf, also ich keinen Menschen zu einem blossen Mittel degradieren darf, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Und zudem, dass ich nicht nur erwarten darf, dass die anderen sich an die moralischen Regeln halten, sondern ich dazu ebenso verpflichtet bin. Gradmesser dafür ist, ob mein Handeln so sozialverträglich ist, dass es ein allgemeines Gesetz werden könnte. 12 Nun ist es nicht so einfach zu bestimmen, wer eigentlich für was verantwortlich ist. Denn nur einfache Aufgaben lassen sich vorweg und quasi wie in einem Pflichtenheft festlegen. Als Verantwortungsträger sind unsere Aufgaben in der Regel aber komplexer und wir zudem häufig in verschiedenen Rollen unterwegs, wie z.B. Elternteil und Professioneller, und die unterschiedlichen Rollenerwartungen müssen nicht immer passgenau miteinander sein. Deshalb sind Bewertungskriterien für die Verantwortung erforderlich, deren kürzeste Formulierung lautet: WER ist für WAS gegenüber WEM verantwortlich? - Das WER betrifft den Akteur. Das kann einmal ein Individuum sein, aber eben auch eine Organisation oder eine Profession. Gerade in Kollektiven fällt die Zurechnung von Verantwortung schwer. Denn: sind die Handlungsfolgen jedem Mitglied zuzurechnen oder dem Personenkollektiv selbst, da sich hier die Handlungen der Einzelnen zu bestimmten Konsequenzen kumulieren? Zudem ist bei Kollektiven häufig das Problem zu beobachten, dass die Verantwortung zwischen den Beteiligten hin und her geschoben wird. 13 - Das WAS steht nicht nur für die bereits benannte Frage nach den Handlungsfolgen, sondern auch, wie diese bewertet werden. Denn gerade in einer pluralistischen Welt existieren dazu höchst unterschiedliche Sichtweisen: bewertet man sie als schwerwiegend oder als Bagatellen, oder sieht man gar die Beachtung von Handlungsfolgen als Zumutung und Überforderung an? - Schliesslich ist zu fragen, WEM gegenüber wir eigentlich verpflichtet sind. Das kann zunächst einmal unser Gewissen sein oder können auch generell unsere Mitmenschen sein. Aber in jedem Fall sind wir gegenüber denjenigen, die von unseren Handlungen betroffen sind, verantwortlich. 3) Profession Was folgt aus dem Gesagten über Selbstbestimmung und Verantwortung für unsere Profession? Ganz allgemein scheint es bei der Frage nach der Selbstbestimmung in unserer Profession um das Beharren auf der Möglichkeit des Handelns nach eigenen professionellen Vorstellungen zu gehen. Mit anderen Worten stehen die Selbstverwirklichung und die Anerkennung als eigenständige Profession im Zentrum. 14 Auch wenn wir wissen, dass diese Form der autonomen Professionalität natürlich immer Beschränkungen unterliegt, denken wir etwa an rechtliche Rahmensetzungen, die wir nicht selbstherrlich überschreiten können, haben wir, wie andere Professionen auch, eine Aversion gegen Bevormundung und Unmündigkeit, die von aussen auf uns einwirkt, und fordern Respekt für unsere Leistungen. Aber wie gesagt: Ohne Verantwortung oder Verantwortungsübernahme ist keine Selbstbestimmung möglich, und so möchte ich ein paar Überlegungen dazu äussern, wofür wir als Profession Soziale Arbeit aus meiner Sicht verantwortlich gemacht werden können. Vielleicht sind diese Anmerkungen später für die Lernorte von Interesse. Sicherheit Beginnen wir mit der Sicherheit. Generell braucht unsere Profession einen anderen Umgang mit Sicherheit und Risiko. Sie hat hier vielleicht sogar einen aufklärerischen Auftrag. Nämlich dafür zu sorgen, dass der Gesellschaft bewusst wird, dass es auch für die von der Sozialen Arbeit zu verantwortenden Aufgabenbereiche keine Gewissheit, keine 100%ige Erfolgsgarantie gibt. 15 Wir alle werden lernen müssen, mit Ungewissheiten und Risiken umzugehen anstatt diese bekämpfen zu wollen. Denn das Streben der Gesellschaft nach der vermeintlich grösstmöglichen Sicherheit kann erhebliche Einschränkungen für gesellschaftliche Gruppierungen bedeuten. Gerade Entwicklungen hin zu einer Hochsicherheitsgesellschaft, an denen unsere Profession tatkräftig beteiligt ist, sind hier kritisch zu hinterfragen. [vgl. Mathias Lindenau/Marcel Meier Kressig (2012): Zwischen Sicherheitserwartung und Risikoerfahrung. Vom Umgang mit einem gesellschaftlichen Paradoxon in der Sozialen Arbeit, Bielefeldt: transcript Verlag.] Zudem werden wir auch nicht um die Frage herumkommen, uns mit der Restrukturierung des Sozialstaates auseinanderzusetzen. Denn Soziale Arbeit gilt als ein Sicherheitsversprechen von Gesellschaften an ihre jeweiligen Mitglieder. Deshalb haben wir in unserer Profession eben nicht nur allein die legitimen Interessen unserer Klientel zu beachten, sondern die ebenso legitimen Interessen der Gesellschaft, durch die die Soziale Arbeit alimentiert wird. Wir sind also gegenüber beiden Anspruchsgruppen verantwortlich und damit auch beiden rechenschaftspflichtig. 16 Der Philosoph Konrad Paul Liessmann hat kürzlich treffend diese doppelte Verantwortung illustriert. Ich zitiere: „Man kann die Augen nicht davor verschliessen, dass der Wohlfahrtsstaat klassischen Zuschnitts mit einer gewissen patriarchialen Überfürsorglichkeit tatsächlich viele unnötige Formen von Unmündigkeit und Abhängigkeit erzeugt hat. (…) Man kann seine Augen aber auch nicht davor verschliessen, dass unter programmatischen Schlagworten wie Eigenverantwortung und Autonomie Menschen auch um jene Hilfe und Unterstützung gebracht werden, die sie aus guten Gründen von der Gemeinschaft, in der sie leben, erwarten dürfen.“ Zitatende Profession Für mich ergibt sich aus dieser Verantwortlichkeit oder auch dem doppelten Mandat für unsere Profession die Pflicht zur politischen Arbeit –womit ich beim Lernort Profession bin. Es ist kein Geheimnis, dass die soziale Frage wiederkehren wird; wir also in Zukunft noch stärker mit Verteilungsfragen konfrontiert sein werden. 17 Erwartungsgemäss wird davon insbesondere unsere Klientel betroffen sein. Und so ist zu fragen, wie es uns gelingt, die Interessen unserer Klientel bestmöglich gegenüber dem gesellschaftspolitischen Kontext zu vertreten und zu legitimieren. Dafür benötigen wir zunächst ein Bewusstsein, dass es überhaupt politischer Arbeit und Betätigung bedarf, um die Interessen unserer Klientel angemessen vertreten zu können. Denn die Beschränkung auf Methoden, die dem Einzelnen oder Gruppen helfen, wird auf lange Sicht nicht ausreichen. Deshalb wir müssen auch lernen, uns viel strategischer zu verhalten als bisher, uns nicht scheuen, uns mit Machtfragen auseinanderzusetzen und konkret zu überlegen, wie die politische Arbeit aussehen kann. Und das bedeutet, uns gut zu rüsten für Auseinandersetzungen und Diskurse, die wir dann bereit sein müssen zu führen. Dann können wir für die Gesellschaft als ein seriöser und gewichtiger Player erkennbar zu werden, wenn es um gesellschaftspolitische Fragen generell und bezüglich Sozialer Arbeit speziell geht. 18 Im Zuge dessen scheint mir am dringlichsten geboten, dass wir es endlich schaffen, eine Lobbyarbeit in Bundesbern aufzubauen, die nicht Partikularinteressen einzelner Berufsverbände vertritt, sondern generell die Profession Soziale Arbeit. Ökonomie Verbunden damit haben wir auch die Ökonomie in den Blick zu nehmen. Wir müssen uns fragen, wie wir ökonomischen Sachverstand dergestalt aufbauen können, um die von der Gesellschaft zur Verfügung gestellten Ressourcen legitimieren zu können. Damit meine ich nicht, sich lediglich betriebswirtschaftliche Kenntnisse anzueignen; Ökonomie ist mehr als das. Worum es viel stärker geht ist die Auseinandersetzung mit der Sozialen Arbeit als einer Dienstleistung. Wir müssen uns fragen, wie es uns gelingt, auch ökonomisch den Nutzen und Wert der Sozialen Arbeit für die Gesellschaft und ihre Entscheidungsträger darlegen zu können: Wie gelingt es uns, die Wirksamkeit unserer Arbeit zu zeigen und dafür auch Begriffe wie Effizienz und Effektivität nutzen zu können? Denn gegen ein ökonomisches Handeln ist nichts einzuwenden, wohl aber gegen eine Ökonomisierung, der sich die Fachlichkeit ohne Wenn und Aber unterzuordnen hätte. 19 Was könnten in diesem Zusammenhang überhaupt Messgrössen sein, um unseren Beitrag zum sozialen Frieden und zur Umsetzung demokratischer Grundwerte auszuweisen? Zudem werden wir uns damit auseinandersetzen müssen, ob die Soziale Arbeit als ein Renditeprojekt zu legitimieren ist und wenn wir das bejahen, was daraus folgen würde. Denn gegen private Dienstleister ist auch in der Sozialen Arbeit per se nichts einzuwenden. Kritischer zu beurteilen ist es allerdings, wenn aufgrund von Renditeerwartungen eine Selektion in eine rentable und unrentable Klientel erfolgen würde. Wir müssen uns also befleissigen, ökonomischen Sachverstand aufzubauen, der uns befähigt, für uns existenziell ökonomische Fragen zu klären. Organisation Schliesslich haben wir das Augenmerk auf die Organisation zu lenken. Und hier kommt die Frage nach der Autonomie der Klientel und welche Verantwortung uns dabei zufällt, in den Blick. 20 Wir müssen uns darüber im Klaren sein, um hier noch einmal Konrad Paul Liessmann zu bemühen, dass die Bevormundung des Menschen durch Instanzen, die suggerieren, nur sein Bestes zu wollen, indem sie ihm die Fähigkeit absprechen, selbst Entscheidungen zu treffen und für deren Folgen einzustehen, den Menschen nicht nur infantilisieren, nicht nur seine Freiheit beschneiden; sondern ihm auch die Würde nehmen. Hier sind wir bei dem uns allen bekannten Dilemma zwischen Fürsorge und Autonomie angelangt. Als Organisationen der Sozialen Arbeit sind wir deshalb verpflichtet und dafür verantwortlich, jeden Eingriff in die Autonomie eines Menschen legitimieren zu können. Als Legitimationsgrund genügt dabei nicht allein das Wohl des Menschen, sondern sein Wille und seine Integrität sind ebenso zu achten und anzuerkennen. Andernfalls würden wir den Menschen nicht als souveränen und gleichberechtigten Gesprächs- und Aktionspartner akzeptieren. Dann bliebe nur, uns diesen Menschen gegenüber fürsorglich oder, zugespitzt formuliert, paternalistisch zu verhalten. 21 Aber auch gegenüber ihren Mitarbeitenden sind Organisationen verpflichtet, ihre Autonomie zu achten und diese zu fördern. Z.B. auch dadurch, in dem sie ihre Mitarbeiter für den Master der Sozialen Arbeit sensibilisieren – um auch so den Theorie-Praxis-Transfer immer weiter zu vertiefen. Ich sage das nicht in meiner Rolle als Angehöriger einer Hochschule, sondern weil ich als ehemaliger Praktiker zutiefst davon überzeugt bin, dass wir nie genug lernen und erlernen können, nie genug reflektieren und uns auseinandersetzen können für unsere überaus anspruchsvolle Tätigkeit. 4) Abschluss Soweit meine knappen Anmerkungen, die sie vielleicht anregen oder auch aufregen; von denen ich mir aber wünschen würde, dass sie mit zu einer fruchtbaren Diskussion beitragen können. Sicherlich habe ich nicht, genauso wenig wie sie oder irgendjemand anderes, die Patentlösung für die anstehenden Probleme und Herausforderungen. 22 Es wird uns also nichts anderes übrig bleiben, als zusammen und auch im zähen Ringen zu versuchen, Antworten zu finden und vielleicht gelingt es uns sogar, Impulse zu setzen. Nur dürfen wir es mit dem Ende dieser Tagung nicht dabei bewenden lassen, sondern müssen unsere Diskussionen und auch Auseinandersetzungen fortführen. Darin scheint mir die Verantwortung von uns als Teilnehmenden dieser Tagung zu liegen. Lassen sie mich zum Schluss zur Metapher des Lammes zurückkehren. Der Literat Hans Magnus Enzensberger spricht in seinem drastisch formulierten Gedicht Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer davon, dass die Lämmer die Welt nicht ändern werden. Das sollte uns Warnung und Ansporn zugleich sein. Wir müssen nun nicht sogleich zum Wolf im Schafspelz mutieren, aber wenn wir Selbstbestimmung wollen, dann müssen wir dafür etwas tun! Wir können uns dann nicht mit der defensiven Rolle des Reagierens zufrieden geben, sondern müssen aktiv werden, agieren und sicher auch etwas wagen. Tun wir das nicht, müssen wir uns womöglich in 2 oder 4 Jahren zu einer Bodenseetagung treffen mit dem Titel „Was ist noch zu retten in der Sozialen Arbeit?“ Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit! 23