Referat Mathias Lindenau: "Das Schweigen der Lämmer"

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Das Schweigen der Lämmer?
Sehr geehrte Damen und Herren
Von den Veranstaltern dieser Tagung wurde ich damit
beauftragt, sie mit einem Impulsreferat auf die sich
anschliessenden Lernorte einzustimmen und dabei eine
ethische Sichtweise einzunehmen. Dieser Auftrag ist alles
andere als einfach, da sich in einem halbstündigen Referat
selbstredend nicht alle damit verbundenen Fragestellungen
angemessen erörtern lassen.
Deswegen habe ich mich darauf konzentriert, die Begriffe
Selbstbestimmung und Verantwortung aus einer ethischen
Sicht näher zu fassen. Von dieser erarbeiteten Grundlage
aus erlaube ich mir zum Schluss ein paar Anmerkungen zu
den jeweiligen Lernorten und werde dabei gelegentlich zu
Zuspitzungen greifen, um die Dinge möglichst auf den
Punkt zu bringen.
Ich gehe davon aus, dass ihre Diskussionen in den
Denkinseln gezeigt haben, dass das Thema dieser Tagung
Selbstbestimmt, gegängelt, verwaltet eine enorme
Spannbreite und Spannungslinien in sich birgt.
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Wenn wir eine erste Bestimmung dieser Begriffe
vornehmen, dann sind wir uns sicher schnell einig darüber,
dass
- selbstbestimmt für ein Agieren steht; also dafür, dass
zu tun, was man für richtig hält und eben auch, dass
man überhaupt in der Lage ist, Dinge beeinflussen zu
können.
- Gegängelt und verwaltet dagegen stehen für das
Reagieren und für Dinge, die der Beeinflussung durch
uns entzogen sind; also all das, worauf wir eben
keinen Zugriff besitzen.
Mit anderen Worten geht es hierbei um das Spektrum von
Selbstbestimmung und Fremdbestimmung. Doch mit dieser
ersten Bestimmung haben wir noch nichts weiter erreicht,
als die banale Feststellung, dass nicht alles, was wir tun
und/oder unterlassen allein auf unserer Selbstbestimmung
beruht.
Aber was bedeutet das eigentlich: Selbstbestimmung?
Jedem und jeder von uns wird dazu spontan etwas
einfallen und vielleicht erscheinen jetzt vor unserem
geistigen Auge Situationen, die wir mit Selbstbestimmung
in Verbindung bringen.
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Um solche Verbindungen, solche Bilder oder Metaphern
habe ich mich natürlich auch bemüht und bin bei dieser
Suche auf das Bild des Lammes, bekanntlich eines jungen
Schafes, gestossen. Eben jenes Bild hat mich in Bezug auf
die Soziale Arbeit gereizt. Deshalb habe ich für mein
Referat den Titel „Das Schweigen der Lämmer?“ gewählt.
Vielleicht haben sie sich darüber gewundert: Ist das nicht
der Film, in dem die unerfahrene FBI-Agentin Clarice
Starling den Serienmörder Buffalo Bill fängt, dabei jedoch
auf die Hilfe des kannibalistisch veranlagten Serienmörders
Hannibal Lecter angewiesen ist? Was hat das mit dem
Thema dieser Tagung, mit Sozialer Arbeit generell zu tun?
Ich fand, der Titel passt ganz gut zum Thema dieser
Tagung. Denn schliesslich wird in dem besagten Film
dargestellt, wie die junge FBI-Agentin Starling erst ihre
Ängste und Selbstzweifel überwinden muss, bevor sie zu
jener selbstbewussten, oder auch selbstbestimmten,
Persönlichkeit reift, die es mit der harten Realität
aufnehmen kann.
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Das war der erste Grund, warum ich mich für den Titel
meines Referates entschieden habe. Denn es liesse sich
fragen, ob die Soziale Arbeit bereits zu jener
selbstbewussten Profession geworden ist und damit, ob und
was sie sich selbst zutraut, um im gesellschaftspolitischen
Kräfteparallelogramm gut bestehen zu können. Denn
Selbstbestimmung scheint etwas zu sein, das errungen und
gelegentlich auch verteidigt werden muss.
Gerade die Berichte in der Presse, wie sie seit September
dieses Jahres zu lesen waren, verdeutlichen das. Sie
erinnern sich: Im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten
einer eritreischen Flüchtlingsfamilie und den immensen
Kosten für ihre Betreuung, waren in den Tagesmedien und
den Boulevardblättern Schlagzeilen wie diese zu lesen:
«Sozial-Irrsinn. Hilfe, die Helfer sind überall», oder den
Hinweis auf – ich zitiere – «eine kleine Gemeinde im
Kanton Zürich als Schauplatz eines Trauerspiels, das viele
Verlierer kennt – und nur einen Gewinner: die boomende
Sozialindustrie», Zitatende. Passend dazu wird auf die
hohen Ausbildungszahlen Studierender Sozialer Arbeit und
das Eldorado freier Stellen hingewiesen.
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Welche Schlagzeile man auch immer heranzieht: die Soziale
Arbeit steht unter Beschuss und muss sich dadurch
eigentlich herausgefordert fühlen. Aber wie reagiert sie
darauf?
Das war der zweite Grund, warum ich mich für den Titel
„Das Schweigen der Lämmer?“ entschieden habe. Mit
einem Lamm verbinden wir Eigenschaften wie sanft,
geduldig und unschuldig, das sich gutmütig und manchmal
vielleicht ein wenig einfältig verhält. Wird mit so einer
Beschreibung nicht ganz gut unsere Profession
gekennzeichnet?
Denn in den Augen vieler gilt unsere Profession als „weiche
Disziplin“, die von „Gutmenschen“ bevölkert ist, die wenig
durchsetzungsstark sind, die die Macht verabscheuen und
sich als „Alles-Versteher“ auszeichnen.
Aber welchem Bild entspricht die Soziale Arbeit?
- Verhält sie sich tatsächlich lammfromm, eben
geduldig, gehorsam und ohne Widerstand und ist sie
deshalb so leicht zu steuern? Sind wir mit anderen
Worten einfach bei dem „Empört Euch!“
stehengeblieben?
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- Oder spielen wir das Unschuldslamm, in dem wir
vorgeben, keine Mit-Schuld für die gegenwärtigen
Entwicklungen zu besitzen, also nicht verantwortlich
oder mitverantwortlich dafür zu sein?
- Oder ist unsere Rolle eher die des Opferlamms, des
Sündenbocks oder Schwarzen Schafes, das sich
bereitwillig als Projektionsfläche für die
gesellschaftlichen Fehlentwicklungen anbietet?
- Oder sind wir doch ein bisschen wie einfältige Schafe,
und haben an den immerwährenden Wohlfahrtsstaat
und die unverbrüchliche Solidarität innerhalb der
Wohlstandsgesellschaft geglaubt?
All diesen Metaphern ist gemeinsam, dass man sie nur
schwer mit dem Begriff der Selbstbestimmung in
Verbindung bringt. Und so ist es an der Zeit genauer zu
schauen, was unter Selbstbestimmung verstanden werden
kann.
1) Selbstbestimmung
Selbstbestimmung wird in vielerlei Hinsicht verwendet: z.B.
- in Bezug auf die politische Anerkennung als
Selbstbestimmungsrecht der Völker
- oder in der Psychologie und Pädagogik als psychische
Stabilität und Gesundheit
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- oder, um ein letztes Beispiel zu nennen, die wertfreie
Logik der Selbststeuerung in der soziologischen
Systemtheorie.
Ich hingegen werde mich im Folgenden an einem ethischen
Autonomieverständnis orientieren und von dort aus
versuchen zu skizzieren, was Selbstbestimmung bedeuten
kann.
In unserem Kulturkreis ist Selbstbestimmung ein hohes Gut,
das als wertvoll gilt. Wir wollen selbstbestimmt planen,
handeln, unser Leben vollziehen und empfinden jede
Begrenzung unserer Selbstbestimmung als einen
tiefgreifenden Einschnitt.
Und zwar nicht erst dann, wenn wir keine Möglichkeit zur
Selbstbestimmung besitzen oder man uns diese entziehen
will. Sondern bereits dann, wenn man uns allein das Recht
auf Selbstbestimmung nicht zugestehen will. Deshalb
verlangen wir auch, dass jede Form der Einmischung in
unsere Selbstbestimmung, wenn sie statthaft sein soll, einer
Legitimation bedarf.
Damit wird nicht nur ein Anspruch von uns gegenüber
anderen, sondern auch eine Aufforderung an uns
verbunden: In der Existenzphilosophie hat man das – nach
meiner Meinung – sehr schön beschrieben: Nämlich, dass
jeder Mensch über seinen Selbstentwurf entscheidet, d.h.
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seine Haltung, sein Denken und Leben gestaltet und darin
selbst- oder fremdbestimmt sein kann. In unserer
Alltagssprache drücken wir das mit dem Begriff von einem
positiven Selbstwertgefühl aus: Es ist unsere Überzeugung
vom Wert der eigenen Persönlichkeit als denkendes,
fühlendes und handelndes Wesen und auch der
Einschätzung der eigenen Fähigkeiten.
Mit anderen Worten geht es darum, wie der Einzelne sich
zu sich selbst verhält: also, was er selbst ist oder sein will,
oder ob er lediglich vorgegebene Rollen, Wertungen und
Handlungsmuster unreflektiert übernimmt. Wir sehen
schon: Selbstbestimmung kann nicht ohne eine „Idee“, die
man sich von sich selber macht, auskommen. Es geht
hierbei um die Selbstvergewisserung oder Selbsterkenntnis
des Menschen, d.h. wer man ist, aber auch, wer man sein
möchte.
So wird verständlich, warum Selbstbestimmung immer an
Freiheit gebunden ist, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum
einen geht es dabei um die Unabhängigkeit von
Fremdbestimmung. Diese kann durch politische und/oder,
soziale Autoritäten mittels Bevormundung und Kontrolle
erfolgen, aber auch auf unserer Wesensart beruhen, wenn
wir uns etwa unreflektiert und unmittelbar durch unsere
Affekte, Begierden, Leidenschaften und Interessen leiten
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lassen. Zum anderen gehört zur Selbstbestimmung aber
auch die Möglichkeit, unserem Handeln und auch unserem
Leben einen frei gewählten, eben selbstbestimmten Inhalt
geben zu können. Wobei wir uns bei der Festlegung dieses
Inhalts möglichst unserer eigenen Vernunft bedienen sollen.
Nun wäre es illusorisch und vollkommen verfehlt von einer
grenzenlosen Selbstbestimmung oder einer absoluten
Freiheit auszugehen: Sicherlich, wir verfügen über eine
Handlungs- und eine Willensfreiheit:
- Handlungsfreiheit bedeutet, dass wir frei darin sind,
ob wir überhaupt handeln wollen und wenn wir das
bejahen, wie wir handeln wollen.
- Willensfreiheit bedeutet, das Gewollte auch
auszuführen zu können und daran nicht gehindert zu
werden; also die Möglichkeit so zu handeln, wie man
will.
Zugleich sind wir aber immer in irgendeiner Weise
determiniert, also begrenzt und damit in gewisser Weise
abhängig. Diese Grenzen bestehen aus einer ethischen
Perspektive insbesondere dort, wo wir mit unserem
Handeln die legitimen Interessen und Rechte anderer
verletzen würden.
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Deshalb gilt eine Person strenggenommen nur dann als
selbstbestimmt oder autonom, wenn sie – vereinfacht
formuliert – 4 Bedingungen erfüllt
- Sie muss über einen freien Willen verfügen; es darf
also kein aufgezwungener Wille sein, egal, ob dieser
von inneren Begierden oder äusseren Einschränkungen
herrührt
- Sie muss zwischen verschiedenen Handlungs- und
Lebensoptionen entscheiden können; also in der Lage
sein, eine Wahl zu treffen
- Sie muss ihre Wünsche reflektieren können; d.h., in
der Lage sein, diese zurückzustellen, sobald sie merkt,
dass ihre Wünsche die legitimen Interessen und Rechte
anderer verletzen würde
- Und schliesslich muss sie ihr Handeln ethisch
legitimieren können.
Wir sehen: Selbstbestimmung besteht nicht ausschliesslich in
der Abwesenheit von Bevormundung und Kontrolle oder
der Beherrschung unserer Affekte. Man muss zudem auch
Fähigkeiten und Möglichkeiten besitzen, um überhaupt
selbständig zu sein oder als selbstbestimmt zu gelten.
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2) Verantwortung
Nun ist der Begriff der Selbstbestimmung unlösbar mit
einem anderen Begriff verknüpft: dem der Verantwortung.
Warum das so ist, liegt auf der Hand: Wenn ich frei bin in
dem, was ich tun und/oder unterlassen kann, dann bin ich
auch für dieses Handeln verantwortlich. Ebenso wird aber
auch klar, dass Menschen, die sich im Zustand der
Unfreiheit befinden, keine oder nur eine eingeschränkte
Form der Verantwortung übernehmen können.
Und damit sind wir schon mitten in der Frage, was denn
unter Verantwortung zu verstehen ist. Voraussetzung für
die Zurechnung von Verantwortung, das haben wir schon
gesagt, ist die Selbstbestimmung oder Autonomie. Daraus
erwächst für uns ein Verantwortungsbewusstsein: Das
bedeutet, dass wir all unser Tun und Unterlassen nicht
ausschliesslich als milieu- oder situationsbedingt
rechtfertigen und in gewisser Weise entschuldigen können.
Sondern, dass wir, solange wir frei darin sind, ob und wie
wir handeln, wir auch für die Folgen unserer Handlungen
verantwortlich sind, und, wenig überraschend, von uns eine
Rechenschaft dafür verlangt werden kann.
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Wir sind also rechenschaftspflichtig und zwar nicht nur im
Sinne einer haftenden Verantwortung für die tatsächlich
entstandenen und eingetretenen Folgen. Sondern auch für
die prospektiv möglichen, erwartbaren oder vermuteten
Konsequenzen unseres Tuns und/oder Unterlassens.
Verantwortlich sind wir aber nicht nur für die Folgen
unserer Handlungen, sondern ebenso dafür, wie wir andere
Menschen „behandeln“. Hier geht es um die Absicht
unserer Handlungen, oder anders gesagt, was wir mit
ihnen bezwecken.
Das verweist auf den sogenannten „kategorischen
Imperativ“, der besagt, dass in jeder Handlungssituation
ein Mensch niemals instrumentalisiert werden darf, also ich
keinen Menschen zu einem blossen Mittel degradieren darf,
um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Und zudem,
dass ich nicht nur erwarten darf, dass die anderen sich an
die moralischen Regeln halten, sondern ich dazu ebenso
verpflichtet bin. Gradmesser dafür ist, ob mein Handeln so
sozialverträglich ist, dass es ein allgemeines Gesetz werden
könnte.
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Nun ist es nicht so einfach zu bestimmen, wer eigentlich
für was verantwortlich ist. Denn nur einfache Aufgaben
lassen sich vorweg und quasi wie in einem Pflichtenheft
festlegen. Als Verantwortungsträger sind unsere Aufgaben
in der Regel aber komplexer und wir zudem häufig in
verschiedenen Rollen unterwegs, wie z.B. Elternteil und
Professioneller, und die unterschiedlichen
Rollenerwartungen müssen nicht immer passgenau
miteinander sein.
Deshalb sind Bewertungskriterien für die Verantwortung
erforderlich, deren kürzeste Formulierung lautet: WER ist
für WAS gegenüber WEM verantwortlich?
- Das WER betrifft den Akteur. Das kann einmal ein
Individuum sein, aber eben auch eine Organisation
oder eine Profession. Gerade in Kollektiven fällt die
Zurechnung von Verantwortung schwer. Denn: sind
die Handlungsfolgen jedem Mitglied zuzurechnen oder
dem Personenkollektiv selbst, da sich hier die
Handlungen der Einzelnen zu bestimmten
Konsequenzen kumulieren? Zudem ist bei Kollektiven
häufig das Problem zu beobachten, dass die
Verantwortung zwischen den Beteiligten hin und her
geschoben wird.
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- Das WAS steht nicht nur für die bereits benannte
Frage nach den Handlungsfolgen, sondern auch, wie
diese bewertet werden. Denn gerade in einer
pluralistischen Welt existieren dazu höchst
unterschiedliche Sichtweisen: bewertet man sie als
schwerwiegend oder als Bagatellen, oder sieht man
gar die Beachtung von Handlungsfolgen als Zumutung
und Überforderung an?
- Schliesslich ist zu fragen, WEM gegenüber wir
eigentlich verpflichtet sind. Das kann zunächst einmal
unser Gewissen sein oder können auch generell unsere
Mitmenschen sein. Aber in jedem Fall sind wir
gegenüber denjenigen, die von unseren Handlungen
betroffen sind, verantwortlich.
3) Profession
Was folgt aus dem Gesagten über Selbstbestimmung und
Verantwortung für unsere Profession? Ganz allgemein
scheint es bei der Frage nach der Selbstbestimmung in
unserer Profession um das Beharren auf der Möglichkeit
des Handelns nach eigenen professionellen Vorstellungen zu
gehen. Mit anderen Worten stehen die Selbstverwirklichung
und die Anerkennung als eigenständige Profession im
Zentrum.
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Auch wenn wir wissen, dass diese Form der autonomen
Professionalität natürlich immer Beschränkungen
unterliegt, denken wir etwa an rechtliche
Rahmensetzungen, die wir nicht selbstherrlich
überschreiten können, haben wir, wie andere Professionen
auch, eine Aversion gegen Bevormundung und
Unmündigkeit, die von aussen auf uns einwirkt, und
fordern Respekt für unsere Leistungen.
Aber wie gesagt: Ohne Verantwortung oder
Verantwortungsübernahme ist keine Selbstbestimmung
möglich, und so möchte ich ein paar Überlegungen dazu
äussern, wofür wir als Profession Soziale Arbeit aus meiner
Sicht verantwortlich gemacht werden können. Vielleicht
sind diese Anmerkungen später für die Lernorte von
Interesse.
Sicherheit
Beginnen wir mit der Sicherheit. Generell braucht unsere
Profession einen anderen Umgang mit Sicherheit und
Risiko. Sie hat hier vielleicht sogar einen aufklärerischen
Auftrag. Nämlich dafür zu sorgen, dass der Gesellschaft
bewusst wird, dass es auch für die von der Sozialen Arbeit
zu verantwortenden Aufgabenbereiche keine Gewissheit,
keine 100%ige Erfolgsgarantie gibt.
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Wir alle werden lernen müssen, mit Ungewissheiten und
Risiken umzugehen anstatt diese bekämpfen zu wollen.
Denn das Streben der Gesellschaft nach der vermeintlich
grösstmöglichen Sicherheit kann erhebliche
Einschränkungen für gesellschaftliche Gruppierungen
bedeuten. Gerade Entwicklungen hin zu einer
Hochsicherheitsgesellschaft, an denen unsere Profession
tatkräftig beteiligt ist, sind hier kritisch zu hinterfragen.
[vgl. Mathias Lindenau/Marcel Meier Kressig (2012): Zwischen
Sicherheitserwartung und Risikoerfahrung. Vom Umgang mit einem
gesellschaftlichen Paradoxon in der Sozialen Arbeit, Bielefeldt:
transcript Verlag.]
Zudem werden wir auch nicht um die Frage
herumkommen, uns mit der Restrukturierung des
Sozialstaates auseinanderzusetzen. Denn Soziale Arbeit gilt
als ein Sicherheitsversprechen von Gesellschaften an ihre
jeweiligen Mitglieder. Deshalb haben wir in unserer
Profession eben nicht nur allein die legitimen Interessen
unserer Klientel zu beachten, sondern die ebenso legitimen
Interessen der Gesellschaft, durch die die Soziale Arbeit
alimentiert wird. Wir sind also gegenüber beiden
Anspruchsgruppen verantwortlich und damit auch beiden
rechenschaftspflichtig.
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Der Philosoph Konrad Paul Liessmann hat kürzlich treffend
diese doppelte Verantwortung illustriert. Ich zitiere: „Man
kann die Augen nicht davor verschliessen, dass der
Wohlfahrtsstaat klassischen Zuschnitts mit einer gewissen
patriarchialen Überfürsorglichkeit tatsächlich viele unnötige
Formen von Unmündigkeit und Abhängigkeit erzeugt hat.
(…) Man kann seine Augen aber auch nicht davor
verschliessen, dass unter programmatischen Schlagworten
wie Eigenverantwortung und Autonomie Menschen auch
um jene Hilfe und Unterstützung gebracht werden, die sie
aus guten Gründen von der Gemeinschaft, in der sie leben,
erwarten dürfen.“ Zitatende
Profession
Für mich ergibt sich aus dieser Verantwortlichkeit oder
auch dem doppelten Mandat für unsere Profession die
Pflicht zur politischen Arbeit –womit ich beim Lernort
Profession bin. Es ist kein Geheimnis, dass die soziale Frage
wiederkehren wird; wir also in Zukunft noch stärker mit
Verteilungsfragen konfrontiert sein werden.
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Erwartungsgemäss wird davon insbesondere unsere Klientel
betroffen sein. Und so ist zu fragen, wie es uns gelingt, die
Interessen unserer Klientel bestmöglich gegenüber dem
gesellschaftspolitischen Kontext zu vertreten und zu
legitimieren.
Dafür benötigen wir zunächst ein Bewusstsein, dass es
überhaupt politischer Arbeit und Betätigung bedarf, um die
Interessen unserer Klientel angemessen vertreten zu
können. Denn die Beschränkung auf Methoden, die dem
Einzelnen oder Gruppen helfen, wird auf lange Sicht nicht
ausreichen.
Deshalb wir müssen auch lernen, uns viel strategischer zu
verhalten als bisher, uns nicht scheuen, uns mit
Machtfragen auseinanderzusetzen und konkret zu
überlegen, wie die politische Arbeit aussehen kann.
Und das bedeutet, uns gut zu rüsten für
Auseinandersetzungen und Diskurse, die wir dann bereit
sein müssen zu führen. Dann können wir für die
Gesellschaft als ein seriöser und gewichtiger Player
erkennbar zu werden, wenn es um gesellschaftspolitische
Fragen generell und bezüglich Sozialer Arbeit speziell geht.
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Im Zuge dessen scheint mir am dringlichsten geboten, dass
wir es endlich schaffen, eine Lobbyarbeit in Bundesbern
aufzubauen, die nicht Partikularinteressen einzelner
Berufsverbände vertritt, sondern generell die Profession
Soziale Arbeit.
Ökonomie
Verbunden damit haben wir auch die Ökonomie in den
Blick zu nehmen. Wir müssen uns fragen, wie wir
ökonomischen Sachverstand dergestalt aufbauen können,
um die von der Gesellschaft zur Verfügung gestellten
Ressourcen legitimieren zu können.
Damit meine ich nicht, sich lediglich betriebswirtschaftliche
Kenntnisse anzueignen; Ökonomie ist mehr als das. Worum
es viel stärker geht ist die Auseinandersetzung mit der
Sozialen Arbeit als einer Dienstleistung. Wir müssen uns
fragen, wie es uns gelingt, auch ökonomisch den Nutzen
und Wert der Sozialen Arbeit für die Gesellschaft und ihre
Entscheidungsträger darlegen zu können:
Wie gelingt es uns, die Wirksamkeit unserer Arbeit zu
zeigen und dafür auch Begriffe wie Effizienz und
Effektivität nutzen zu können? Denn gegen ein
ökonomisches Handeln ist nichts einzuwenden, wohl aber
gegen eine Ökonomisierung, der sich die Fachlichkeit ohne
Wenn und Aber unterzuordnen hätte.
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Was könnten in diesem Zusammenhang überhaupt
Messgrössen sein, um unseren Beitrag zum sozialen Frieden
und zur Umsetzung demokratischer Grundwerte
auszuweisen?
Zudem werden wir uns damit auseinandersetzen müssen,
ob die Soziale Arbeit als ein Renditeprojekt zu legitimieren
ist und wenn wir das bejahen, was daraus folgen würde.
Denn gegen private Dienstleister ist auch in der Sozialen
Arbeit per se nichts einzuwenden. Kritischer zu beurteilen
ist es allerdings, wenn aufgrund von Renditeerwartungen
eine Selektion in eine rentable und unrentable Klientel
erfolgen würde.
Wir müssen uns also befleissigen, ökonomischen
Sachverstand aufzubauen, der uns befähigt, für uns
existenziell ökonomische Fragen zu klären.
Organisation
Schliesslich haben wir das Augenmerk auf die Organisation
zu lenken. Und hier kommt die Frage nach der Autonomie
der Klientel und welche Verantwortung uns dabei zufällt,
in den Blick.
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Wir müssen uns darüber im Klaren sein, um hier noch
einmal Konrad Paul Liessmann zu bemühen, dass die
Bevormundung des Menschen durch Instanzen, die
suggerieren, nur sein Bestes zu wollen, indem sie ihm die
Fähigkeit absprechen, selbst Entscheidungen zu treffen und
für deren Folgen einzustehen, den Menschen nicht nur
infantilisieren, nicht nur seine Freiheit beschneiden;
sondern ihm auch die Würde nehmen. Hier sind wir bei
dem uns allen bekannten Dilemma zwischen Fürsorge und
Autonomie angelangt.
Als Organisationen der Sozialen Arbeit sind wir deshalb
verpflichtet und dafür verantwortlich, jeden Eingriff in die
Autonomie eines Menschen legitimieren zu können. Als
Legitimationsgrund genügt dabei nicht allein das Wohl des
Menschen, sondern sein Wille und seine Integrität sind
ebenso zu achten und anzuerkennen.
Andernfalls würden wir den Menschen nicht als souveränen
und gleichberechtigten Gesprächs- und Aktionspartner
akzeptieren. Dann bliebe nur, uns diesen Menschen
gegenüber fürsorglich oder, zugespitzt formuliert,
paternalistisch zu verhalten.
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Aber auch gegenüber ihren Mitarbeitenden sind
Organisationen verpflichtet, ihre Autonomie zu achten und
diese zu fördern. Z.B. auch dadurch, in dem sie ihre
Mitarbeiter für den Master der Sozialen Arbeit
sensibilisieren – um auch so den Theorie-Praxis-Transfer
immer weiter zu vertiefen.
Ich sage das nicht in meiner Rolle als Angehöriger einer
Hochschule, sondern weil ich als ehemaliger Praktiker
zutiefst davon überzeugt bin, dass wir nie genug lernen und
erlernen können, nie genug reflektieren und uns
auseinandersetzen können für unsere überaus
anspruchsvolle Tätigkeit.
4) Abschluss
Soweit meine knappen Anmerkungen, die sie vielleicht
anregen oder auch aufregen; von denen ich mir aber
wünschen würde, dass sie mit zu einer fruchtbaren
Diskussion beitragen können. Sicherlich habe ich nicht,
genauso wenig wie sie oder irgendjemand anderes, die
Patentlösung für die anstehenden Probleme und
Herausforderungen.
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Es wird uns also nichts anderes übrig bleiben, als
zusammen und auch im zähen Ringen zu versuchen,
Antworten zu finden und vielleicht gelingt es uns sogar,
Impulse zu setzen. Nur dürfen wir es mit dem Ende dieser
Tagung nicht dabei bewenden lassen, sondern müssen
unsere Diskussionen und auch Auseinandersetzungen
fortführen. Darin scheint mir die Verantwortung von uns
als Teilnehmenden dieser Tagung zu liegen.
Lassen sie mich zum Schluss zur Metapher des Lammes
zurückkehren. Der Literat Hans Magnus Enzensberger
spricht in seinem drastisch formulierten Gedicht
Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer davon, dass die
Lämmer die Welt nicht ändern werden. Das sollte uns
Warnung und Ansporn zugleich sein. Wir müssen nun nicht
sogleich zum Wolf im Schafspelz mutieren, aber wenn wir
Selbstbestimmung wollen, dann müssen wir dafür etwas
tun! Wir können uns dann nicht mit der defensiven Rolle
des Reagierens zufrieden geben, sondern müssen aktiv
werden, agieren und sicher auch etwas wagen.
Tun wir das nicht, müssen wir uns womöglich in 2 oder 4
Jahren zu einer Bodenseetagung treffen mit dem Titel
„Was ist noch zu retten in der Sozialen Arbeit?“
Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit!
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