ERIC LINDSTROM

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ERIC LINDSTROM Wie ich dich sehe
E R Z Ä H L E N D E S P R O G R A M M JU G EN D BU C H
i
Liebe macht sehend
»Ich bin wie du mit geschlossenen Augen, nur cleverer!«
Das ist Parkers Credo und sie hat strenge Regeln aufgestellt, wie sie behandelt werden will. Seit der Trennung
von ihrem Freund Scott und dem Tod ihres Vaters verlässt
sie sich nur noch auf sich selbst. Für jeden Tag, an dem
sie nicht heult, gibt sie sich einen Goldstern. Sie trainiert
fürs Laufteam – okay, sie ist blind, aber ihre Beine funktionieren ja. Und sonst hält sie sich die meisten Leute mit
Ruppigkeit vom Hals. Bis Scott ihrer Liebe doch noch eine
Chance geben will …
• Realistisch und unsentimental aus der Sicht eines
blinden Mädchens erzählt
• Eine sympathische, außergewöhnliche Protagonistin
• Wunderschönes, lebensbejahendes Happy End
• Ein starkes Debüt!
ERIC LINDSTROM Wie ich dich sehe
Prolog
Prolog
Mein Wecker piepst. Mit einem Schlag bringe ich ihn zum
Verstummen und drücke gleichzeitig den Knopf für die
Sprachansage, weil ich immer gern auf Nummer sicher gehe.
»Fünf Uhr fünfundfünfzig«, meldet Stephen Hawking.
Ich schiebe das Fenster hoch und halte eine Hand nach
draußen. Kühl, neblig, aber nicht zu feucht. Wahrscheinlich bewölkt. Wahllos greife ich mir Klamotten aus dem
Schrank – Sport-BH, ärmelloses Shirt, Shorts, Joggingschuhe. Meine Laufsachen sind sowieso alle schwarz.
Die Tücher nicht. Ich befühle sie, taste nach den kleinen
Etiketten und überlege, in welcher Stimmung ich bin. Aus
irgendeinem Grund verspüre ich leichte Unruhe und entscheide mich für eins, das vielleicht hilft: gelbe Baumwolle
mit aufgestickten Smileys. Ich binde es mir um den Kopf
und schiebe es so zurecht, dass zwei der Smileys genau auf
Höhe meiner geschlossenen Lider grinsen.
Als ich nach draußen trete, spüre ich die Morgensonne
warm auf dem Gesicht. Anscheinend ist der Himmel doch
klar, zumindest am Horizont. Ich ziehe die Haustür hinter
mir zu und stecke den kalten Schlüssel in meine Socke. Vom
Plattenweg aus biege ich nach rechts auf den Gehsteig ab und
jogge los.
Die drei Blocks bis zum Gunther Field sind fest in mei-
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ne Füße, meine Beine und mein Körpergefühl einprogrammiert. Nach sieben Jahren kenne ich jede einzelne Bodenwelle, jeden Riss im Asphalt, jede hervorstehende Wurzel. Ich
muss nicht sehen, wo ich langlaufe, ich spüre es.
»Parker, STOPP !«
Schwankend und mit vorgestreckten Händen bleibe ich
abrupt stehen, als würde vor mir ein Loch im Boden klaffen – was durchaus sein kann, falls seit gestern ein Bagger
hier gewesen ist.
»Entschuldige bitte, Parker!« Mrs Reiches leidende Hausfrauenstimme hallt von der Veranda zu mir rüber. Jetzt
kommt sie mit klimpernden Schlüsseln die Einfahrt heruntergeeilt. »Lens Bruder ist gestern ziemlich spät nach Hause
gekommen und …«
Ich stelle mir lieber nicht vor, wie es sich angefühlt hätte, wenn ich in vollem Lauf gegen seinen Van geprallt wäre.
Die Hände weiter vor mir ausgestreckt, gehe ich Schritt für
Schritt vorwärts, bis ich kaltes, von Morgentau überzogenes
Blech unter den Fingerkuppen spüre. »Schon okay. Sie müssen den Wagen meinetwegen nicht extra umparken.« Ich taste mich an der Karosserie entlang.
»Doch, doch, natürlich mach ich das. Wenn du zurückkommst, ist er weg.«
Im Weitergehen höre ich, wie Mrs Reiche hinter mir den
Wagen startet. An der Ecke warte ich, bis sie fertig ist und
den Motor wieder abgestellt hat, um zu lauschen, ob ein
Auto kommt. Es ist aber bloß Vogelgezwitscher zu hören,
also überquere ich die Kreuzung.
Als ich ein paar Minuten später den Maschendrahtzaun
berühre, der das Baseballfeld umgibt, wende ich mich nach
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rechts. Vierzehn Schritte zur Öffnung im Zaun und dann
links hindurch mit ausgestreckter Hand, nur für den Fall,
dass ich mich heute ausnahmsweise mal verschätzt haben
sollte, obwohl mir das seit Jahren nicht mehr passiert ist. Alles geht gut. Wie immer.
Das Feld ist ungefähr hundert Meter breit. Falls hier
seit gestern Morgen irgendwelche neuen Hindernisse aufgetaucht sein sollten, stehen die Chancen eher schlecht, dass
ich sie entdecke, indem ich einmal quer rübergehe. Aber so
verrückt es auch ist, dass ich überhaupt hier laufe – es wäre
noch viel verrückter, loszulaufen, ohne die Strecke vorher
wenigstens einmal abgegangen zu sein.
Nach hundertzweiundvierzig Schritten bin ich am Zaun
auf der gegenüberliegenden Seite angekommen.
Alles wie immer. Ich mache ein paar Dehnübungen, danach bin ich bereit. Fünfundsiebzig lange Laufschritte. Ich
drossle mein Tempo, schlage den Zaun ab und laufe das
Ganze wieder zurück.
Ab der fünften Runde beginne ich zu sprinten.
Diesmal sind es nur sechzig Schritte, wieder langsamer
zum Zaun, Abschlag und zurück. Anschließend zwei Schritte
zur Seite, um wieder zurück auf meine ursprüngliche Startposition zu kommen. Obwohl es wärmer und windstiller ist
als gestern, fühlt sich die Luft, durch die ich fliege, kühl an.
Die schlimme Sommerhitze beginnt erst in ein paar Wochen.
Nach dem zehnten Sprint beschließe ich, dass es genug ist.
Ich überquere wieder die Straßenkreuzung und falle danach
in einen leichten Trab, den ich verlangsame, als ich mich der
abgesenkten Einfahrt der Reiches nähere. Ich habe zwar gehört, wie Mrs Reiche den Wagen weggefahren hat, aber wenn
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man ein Hindernis einmal abgespeichert hat, ist es schwierig,
es aus dem Kopf zu löschen. Sobald ich erneut Gehwegplatten
unter meinen Sohlen spüre, laufe ich wieder schneller.
Ich schließe die Haustür auf und weiß sofort, dass irgendwas nicht stimmt. Es riecht nicht nach Frühstück. Selbst an
normalen Cornflakes-Tagen gibt es immer auch Toast. In
der Küche höre ich nur das Summen des Kühlschranks, das
Ticken der Uhr über dem Herd, meine Atemzüge und meinen Herzschlag, als ich die Luft anhalte, um in die schläfrige
Stille des Hauses hineinzuhorchen.
Auf dem Weg zur Treppe stolpere ich im Flur über etwas,
gehe in die Hocke und taste über den Boden. Vor mir liegt mein
Vater in seiner Flanell-Schlafanzughose und einem T-Shirt.
»Dad? Dad! Was ist los?«
»Parker.« Seine Stimme klingt merkwürdig monoton.
Nicht gepresst oder als wäre er verletzt.
»Bist du gestürzt? Was ist passiert?«
»Hör zu«, sagt er immer noch ganz ruhig und nicht so,
wie jemand klingen müsste, der vor einer Treppe auf dem
Boden liegt. »Jeder Mensch hat Geheimnisse, Parker. Jeder
Mensch ist ein Geheimnis.«
In dem Moment wache ich auf – wie immer –, aber das
ist genau, was letztes Jahr am dritten Juni, eine Woche nach
Ferienbeginn und zwei Wochen nach meinem sechzehnten
Geburtstag, wirklich passiert ist.
Jedenfalls bis auf zwei Details. Erstens: Ich wäre zwar tatsächlich beinahe gegen den Van der Reiches geknallt, das war
aber erst ein paar Wochen später. Und zweitens lag mein Vater nicht vor der Treppe auf dem Boden. Als ich ihn gefunden
habe, lag er noch im Bett und war schon seit Stunden tot.
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EINS
Eins
Marissa schluchzt. Wieder mal.
»Er … er … hat mich überhaupt nicht beachtet …« Ihre
Stimme kommt von so tief in ihr drin, dass es sich beinahe
anhört, als würde sie grunzen.
Echt traurig. Dabei ist sie eigentlich alles andere als bescheuert. Jedenfalls, wenn es nicht gerade um Owen geht.
»Könnt ihr nicht doch mal mit ihm reden?«
Ich sage darauf genauso wenig wie Sarah. Wir geben
anderen gern gute Ratschläge – sogar ganz ohne Gegenleistung –, mischen uns aber nie aktiv ein. Das haben wir
Marissa auch schon tausendmal gesagt. Es hat keinen Sinn,
kostbaren Sauerstoff zu verschwenden und es ihr noch mal
zu sagen. Stattdessen warten wir, bis sie sich ausgeheult hat.
Es gongt sowieso gleich.
Letztes Schuljahr haben wir genau dieses Szenario alle
paar Wochen in Dauerschleife durchgespielt. Ansonsten
spricht Marissa kaum mit mir. Ich könnte nicht mal sagen,
wie sich ihre Stimme anhört, wenn sie gerade mal nicht so
klingt, als würde sie an ihren Tränen und ihrem Rotz ersticken, falls sie sich nicht schleunigst die Nase putzt.
Die meisten Menschen denken, wenn man blind wird,
werden die übrigen Sinne automatisch schärfer. Was auch
stimmt, aber es ist nicht so, als hätte man plötzlich Super-
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kräfte. Der größte Unterschied besteht eigentlich darin, dass
man sich besser auf das Wesentliche konzentrieren kann,
sobald man nicht mehr alles sieht. Andererseits nehme ich
unsere Sitzungen mit Marissa dadurch auch mit jedem einzelnen klebrigen akustischen Detail wahr, das ihr Mund und
ihre Nase hervorbringen können. So wie sie klingt unerwiderte Liebe für mich. Ziemlich eklig.
»Kannst du nicht was machen, Parker?«
»Tu ich doch. Ich sage dir, dass du dir einen anderen suchen sollst …« Unserem erprobten Drehbuch folgend, lege
ich eine Pause ein, damit sie mich unterbrechen kann.
»Neeeeein!«
Eigentlich bin ich die ungekrönte Königin der Kunst, es
mir am Arsch vorbeigehen zu lassen, was andere Leute über
mich denken, aber selbst mir nötigt es Respekt ab, dass es
Marissa offensichtlich komplett egal ist, wenn jeder auf dem
Pausenhof mitbekommt, wie sie schluchzend zu einer Lache
aus Tränen und Schnodder zerfließt – und das auch noch am
ersten Tag des neuen Schuljahrs.
»So was wie Seelenverwandte gibt es nicht, Marissa. Und
wenn es sie gäbe, wären das zwei Menschen, die sich beide zueinander hingezogen fühlen. Du willst mit Owen zusammen sein,
Owen will aber lieber mit Jasmine zusammen sein, was bedeutet, dass Owen nicht dein Seelenverwandter ist, verstanden? Du bist bloß seine Stalkerin.«
»Was? Mit Jasmine?«
Ich genieße den kurzen Moment der Stille, während sie
diese Information verdaut, die so neu nicht ist, weil wir ihr
das eigentlich schon letztes Frühjahr gesagt haben. »Aber …
aber die ist doch …«
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»Ja, stimmt. Jasmine steht auf Mädchen, aber sie hat noch
nicht die Richtige gefunden, weswegen sich Owen dämlicherweise einbildet, er hätte eine Chance bei ihr. Das macht
es noch ein bisschen sinnloser, dass er ihr hinterherläuft, und
noch trauriger, dass du ihm hinterherläufst. Du musst endlich einsehen …«, Sarah schnalzt warnend mit der Zunge,
aber wenn ich erst mal in Fahrt bin, fällt es mir manchmal
schwer, die Bremse zu ziehen, »… dass es zwischen Owen
und dir nur genau eine einzige Gemeinsamkeit gibt. Nämlich die Tatsache, dass ihr beide in jemanden verliebt seid,
der nichts von euch will. Mit Liebe, Seelenverwandtschaft
oder dem, was man Beziehung nennt, hat das überhaupt
nichts zu tun.«
Das darauf folgende Schweigen ist das perfekte Beispiel
dafür, was ich am Blindsein am allermeisten hasse: nicht sehen zu können, wie Leute auf das reagieren, was ich sage.
»Weil er mich nicht kennt …« Marissa schnieft. »Aber
wenn er mich kennenlernen würde, dann …« Der Gong
bringt die Rettung. Für mich und für sie. Vor allem für sie.
***
»Hey, hey … wenn das nicht Parker Blindfisch in Begleitung
ihrer treuen zweibeinigen Sehhilfe ist«, höre ich eine vertraute helle Stimme von links und dazu das Klappern einer
Schließfachtür, die geöffnet wird.
»Hilfe, bitte sag mir, dass dieses Mädchen ihr Schließfach
nicht direkt neben meinem hat«, flüstere ich Sarah theatralisch zu und tue so, als wäre ich entsetzt. »Das wäre mein
Tod. Ich hab nämlich in den Ferien rausgefunden, dass ich
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allergisch gegen PVP bin, und muss deswegen jetzt immer
einen EpiPen im Rucksack mitschleppen.«
»Ach, ich bin also PVP?«, fragt Faith schnippisch. »Und
was soll das sein? P … P wie … Populäre …?«
»Polyvinylpyrrolidon. Ein gern verwendeter Inhaltsstoff
in Haarsprays, Haargels, Klebestiften und Sperrholz.«
»Ich glaube, da irrst du dich. PVP steht für populäre vielumschwärmte Persönlichkeit.«
Ich muss lachen und falle aus meiner Rolle. »Nicht
schlecht, Fay-Fay. Hast du dir das etwa gerade selbst ausgedacht?«
»Na klar. Ich bin nicht so doof, wie du aussiehst.«
Eine Welle aus Kiwi-Erdbeer-Aromen trifft mich und ich
stähle mich innerlich, weil ich weiß, was gleich passiert. Unglaublich, dass jemand, der so zart und dünn ist wie Faith,
so fest zudrücken kann. Wenn sie einen umarmt, fühlt sich
das immer an, als wäre sie ein Hundert-Kilo-Bär, der einen
in den Schwitzkasten nimmt.
Ich halte sie einen Moment zu lange fest und lasse dann
wieder los.
»Brauchst du echt einen EpiPen?«, fragt sie.
»Du weißt doch gar nicht, was ein EpiPen ist.« Sarah
lacht.
»Mein Neffe hat eine Erdnussallergie«, sagt Faith. »Du
weißt anscheinend nicht, dass du eine arrogante, überhebliche Kuh bist.«
»Doch. Das hab ich schon öfter gehööööööööööö…« Offensichtlich kommt Sarah auch gerade in den Genuss einer
Umarmung.
»Was sagt ihr zu den ganzen fremden Leuten, die sich hier
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rumtreiben?«, fragt Faith so laut, dass alle um uns herum es
hören können. »Die Schule ist der reinste Zoo.«
»Gut, dass sie die Neuen sind und nicht wir«, sagt Sarah. Ich bin ganz ihrer Meinung. Der Gemeinderat von Coastview hat vor einiger Zeit entschieden, dass die Stadt sich keine zwei Highschools mehr leisten kann, weshalb die Jefferson
High geschlossen wurde und mit Beginn dieses Schuljahrs
sämtliche Schüler auf die Adams übergewechselt sind. In den
Fluren wimmelt es von Leuten, die DIE REGELN nicht
kennen, denn diesmal sind es nicht nur die Neuntklässler, die
neu sind. Ich muss mich an Sarahs Arm festklammern, um
durch das Gedrängel zu meinem Schließfach zu kommen. Es
wird nicht einfach werden, diese ganzen Ahnungslosen zu
erziehen, aber wenigstens muss ich nicht den Grundriss einer
neuen Schule auswendig lernen.
»Oh, hey, ich muss dich nochmal drücken«, sagt Faith,
die sich anscheinend gerade an Regel Nr. 2 erinnert hat, diesmal etwas leiser. Sie umarmt mich. »Entschuldige, dass ich
nicht kommen konnte. Wir waren den ganzen Sommer in
Vermont, sonst hätte ich mich auf jeden Fall gemeldet.«
»Klar, weiß ich doch«, sage ich schnell und hoffe, dass das
Thema damit abgehakt ist.
»Sag mal, war das Marissa, mit der ihr da vorhin auf dem
Hof geredet habt? Es sah aus, als würde sie heulen.«
»Neues Jahr, alte Story«, seufzt Sarah.
»Bitte sagt mir, dass es diesmal wegen einem anderen
ist. … Im Ernst? Nein …!«
Ich stelle mir die verschiedenen Gesichtsausdrücke vor, um
die Lücken zu füllen, Nicken, hochgezogene Augenbrauen.
»Deswegen hat sie geweint? Die denkt aber auch nur an
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sich, oder … Moment mal!« Ich höre, dass Faith sich umgedreht hat, um mich anzusehen. »Weiß sie es überhaupt?
Oder habt ihr es ihr etwa gar nicht erzählt?«
»Natürlich hab ich es ihr erzählt«, sage ich. »Ach, übrigens,
Marissa, während du dich in den Sommerferien nach einem Typen
verzehrt hast, den du nicht mal kennst, ist mein Vater gestorben und
meine Tante ist mit ihrer Familie hergezogen, weil unser Haus größer
und schöner ist als ihrs.«
»Das hast du aber nur gedacht, oder?«, sagt Faith. »Das
hast du nicht wirklich so zu ihr gesagt?«
»Gott, Fay. Ich sage den Leuten ehrlich meine Meinung,
aber ich bin nicht fies.«
»Mit kleinen Ausnahmen«, wirft Sarah ein.
»Ich muss los. Mathe.« Ich klappe meinen Stock auseinander. »Es sind so viele Neue unterwegs, dass ich bestimmt
eine Weile brauche, bis ich mich zum Klassenzimmer durchgekämpft hab.« »Hat sie noch keinen neuen Buddy?«, höre ich Faith Sarah fragen, während ich mich klappernd durch den Flur navigiere. »Petra ist ja nach Colorado gezogen, oder?«
Ich bin froh, dass sie sich so locker darüber unterhalten
können, ohne ein blödes Gefühl zu haben. Die beiden kommen für das Best-Buddies-Programm sowieso nicht in Frage.
Faith ist viel zu beschäftigt (eben eine populäre vielumschwärmte Persönlichkeit) und Sarah kann mir nicht helfen, weil ich
in vielen Fächern in Leistungskursen bin und sie bloß im
Grundkurs. Allerdings hat sich das Problem schon von selbst
erledigt, weil es eine Schülerin gibt, die neu von der Jefferson
zu uns gekommen ist, in allen meinen Kursen sitzt und sich
sofort bereit erklärt hat, mein Buddy zu werden.
ERIC LINDSTROM Wie ich dich sehe
***
Sobald ich mich auf den Platz ganz hinten rechts gesetzt
habe, der in allen Kursen mit einem Namensschild für mich
reserviert ist, geht es auch schon los.
»Du bist also blind, was?«
Ich neige meinen Kopf der unbekannten Jungenstimme
entgegen, die von dem Platz direkt vor mir kommt. Ziemlich
tief, ziemlich machomäßig. Klingt nach Footballspieler oder
irgendeinem anderen Sportidioten. Aber das behalte ich erst
mal nur als vorläufige Arbeitsthese im Hinterkopf, während
ich auf weitere Hinweise warte.
»Bist du sicher, dass du im richtigen Kurs sitzt?«, frage
ich. »Mathe für geistige Überflieger ist am Ende des Gangs.
Hier ist der ganz normale Leistungskurs.«
»Du bist wahrscheinlich bei der Kensington, oder? Fangt
ihr dieses Jahr schon so früh an?«
Ich habe keine Ahnung, was er damit meint oder wer
diese Kensington sein soll. Vielleicht eine Lehrerin von der
Jefferson.
»Hey, Dumpfbacke«, sagt eine andere Jungenstimme, die
jemandem gehört, der links von Dumpfbacke sitzt. »Sie ist
wirklich blind.«
Interessant. Diese zweite Stimme klingt zurückhaltender
und erstaunlich gelassen dafür, dass ihr Besitzer gerade einen Sportidioten mit Macho-Stimme beleidigt hat. Irgendwie kommt sie mir vage bekannt vor, aber ich kann sie noch
nicht zuordnen.
»Die Kensington stellt den Leuten doch immer so Auf-
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gaben. Die müssen dann eine Zeit lang so tun, als wären
sie …« »Ich weiß. Und ich weiß auch, dass sie keine Blindenstöcke verteilt. Erst recht nicht am ersten Schultag in der ersten
Stunde.«
»Aber wenn sie wirklich blind wäre, würde sie doch keine
Augenbind…«
»Glaub mir einfach und halt’s Maul, okay?« Harsche
Worte, die aber mit gleich bleibend freundlicher Stimme
ausgesprochen werden.
Heute Morgen habe ich mich für ein Tuch aus weißer
Seide mit zwei großen schwarzen X auf jedem Auge entschieden. Ich hatte noch kurz überlegt, ob ich nicht doch lieber
mein japanisches Stirnband nehmen soll, auf dem in Kanji
»Kamikaze« steht, was wörtlich übersetzt »Göttlicher Wind«
bedeutet, ich wollte die Frischlinge aber nicht mit so einer
doppeldeutigen Botschaft verwirren. Jedenfalls weiß ich
jetzt, dass es ein Fehler war, meine Weste zu Hause zu lassen.
Normalerweise laufe ich immer in einer verschlissenen
Armeejacke mit abgetrennten Ärmeln herum, die über und
über mit Buttons übersät ist, die mir Freunde im Laufe der
Jahre gebastelt oder gekauft haben. Darauf stehen Sprüche
wie Ja, ich bin blind. Krieg dich wieder ein! oder Blind – nicht taub,
nicht geistig beschränkt und mein persönlicher Favorit: Parker
Grant braucht keine Augen, um dich zu durchschauen. Tante Celia
hat mich heute Morgen überredet, sie nicht anzuziehen, weil
sie meinte, ich würde damit die Leute von der Jefferson, die
mich noch nicht kennen, vor den Kopf stoßen. Sie hat sich
geirrt. Diese Leute haben es dringend nötig, vor den Kopf
gestoßen zu werden.
ERIC LINDSTROM Wie ich dich sehe
Ich höre Schritte und dann das Knarzen von Holz und
quietschendes Metall, als sich jemand auf den Platz links von
mir fallen lässt.
»Hi, Parker.« Das ist Molly. »Tut mir leid, dass ich zu
spät bin. Ich musste noch mal im Sekretariat vorbei.«
»Es hat noch nicht gegongt, also bist du nicht zu spät.«
Ich versuche entspannt zu klingen und ihr gleichzeitig klarzumachen, dass die Tatsache, dass sie mein Buddy ist, nur
bedeutet, dass sie mir ein bisschen im Unterricht helfen soll
und nicht beim Leben im Allgemeinen.
»Aha, du heißt also Parker …«, sagt Dumpfbacke.
»Hey, toll«, lobe ich ihn. »Das hast du daraus geschlossen,
dass mich jemand so genannt hat, stimmt’s? Mit der gleichen Methode hab ich rausgefunden, wie du heißt. Nämlich Dumpfbacke. Aber Dumpfbacke klingt irgendwie nicht
besonders nett. Ich nenne dich lieber D.B.«
»Ich …«
»Schsch…« Ich schüttle den Kopf. »Bitte, D.B. Mach das
nicht kaputt.«
Das darauf folgende Schweigen ist das perfekte Beispiel
dafür, was ich am Blindsein am allermeisten liebe: nicht sehen zu können, wie Leute auf das reagieren, was ich sage.
»Ich …«, versucht es D.B. noch einmal, dann gongt es.
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Über den Autor
Eric Lindstrom hat viele Jahre als Game Designer, Art Director und Autor in der Unterhaltungsindustrie gearbeitet und
wurde dann Vor- und Grundschullehrer. Er lebt mit seiner
Frau und mehreren Katzen an der Westküste der USA. Mehr
unter www.ericlindstrombooks.com.
Eric Lindstrom
Wie ich dich sehe
Aus dem Englischen von Katarina Ganslandt
Umschlag: formlabor
Ca. 240 Seiten
Ab 14 Jahren
15 x 22 cm, Hardcover mit Schutzumschlag
978-3-551-58347-5
Ca. € 15,99 (D) / € 16,50(A) / sFr. 23,50
Erscheint im Dezember 2016
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