JUSTUS-LIEBIG-UNIVERSIT€T GIESSEN Finanzwissenschaftliche Arbeitspapiere Wolfgang Scherf Orientierungsgrš§en und gesamtwirtschaftliche Wirkungen der Nominallohnpolitik Arbeitspapier Nr. 56/2000 ISSN 0179-2806 Fachbereich Wirtschaftswissenschaften Prof. Dr. Armin Bohnet Professur fŸr Volkswirtschaftslehre IV Licher Stra§e 66 35394 Gie§en % 0641 99 22100 Prof. Dr. Wolfgang Scherf Professur fŸr Volkswirtschaftslehre II Licher Stra§e 74 35394 Gie§en % 0641 99 22080 Inhaltsverzeichnis 1. Problemstellung: Lohnpolitik zwischen StabilitŠt und Verteilung 3 2. Angebots- und nachfrageorientierte Konzeptionen der Lohnpolitik 4 a. Das Konzept der produktivitŠtsbezogenen Lohnpolitik 4 b. Das Konzept der kostenniveauneutralen Lohnpolitik 6 c. Das Konzept der nachfrageniveauneutralen Lohnpolitik 8 3. VerknŸpfung der angebots- und nachfrageorientierten Lohnleitlinien 11 a. Angebots- und Nachfrageeffekte der Nominallohnpolitik 11 b. Die Problematik einer ãkompensatorischenÒ Lohnpolitik 12 4. Konsequenzen fŸr ein erweitertes StabilitŠtslohnkonzept 13 Literatur 15 Bisher erschienene Finanzwissenschaftliche Arbeitspapiere 16 2 Wolfgang Scherf Orientierungsgrš§en und gesamtwirtschaftliche Wirkungen der Nominallohnpolitik 1. Problemstellung: Lohnpolitik zwischen StabilitŠt und Verteilung Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ist seit den siebziger Jahren gekennzeichnet durch das periodisch gleichzeitige Auftreten von Inflation und Arbeitslosigkeit. Zur Entstehung und Verfestigung solcher Stagflationstendenzen hat eine gewerkschaftliche Nominallohnpolitik erheblich beigetragen, die neben der Beteiligung am ProduktivitŠtsfortschritt in der Regel einen ãInflationsausgleichÒ und teilweise auch eine VerteilungsŠnderung zugunsten der Arbeitnehmer im Sinne einer Erhšhung der Lohnquote erreichen will. Die empirischen Erfahrungen zeigen, da§ Ÿberzogene LohnabschlŸsse zu kosteninduzierten Preissteigerungen und Ð in Verbindung mit einer restriktiven Geldpolitik Ð zu gravierenden Produktions- und BeschŠftigungsverluste fŸhren kšnnen. Infolgedessen plŠdieren viele …konomen fŸr eine stabilitŠtskonforme Lohnpolitik1, nicht zuletzt zur ErgŠnzung bzw. Absicherung der Globalsteuerung durch die Geldund Finanzpolitik. Die Erfolgsaussichten derartiger VorschlŠge dŸrfen angesichts des tatsŠchlichen Verhaltens der Tarifparteien in der Bundesrepublik Deutschland nicht ŸberschŠtzt werden. Die Suche nach adŠquaten Orientierungsgrš§en fŸr eine Lohnpolitik, die weder inflationsfšrdernd noch beschŠftigungsfeindlich wirken soll, erscheint dennoch sinnvoll. Die traditionellen Lohnleitlinien werden nŠmlich nicht nur in der Praxis stŠndig ignoriert; sie kšnnen auch aus theoretischer Sicht nur mit erheblichen EinschrŠnkungen Ÿberzeugen. Unter bestimmten Voraussetzungen fŸhren sie sogar zu falschen Empfehlungen fŸr die Tarifverhandlungen. Die Mi§achtung der Lohnleitlinien beruht aber nicht primŠr auf ihrer unzulŠnglichen škonomischen Fundierung, sondern auf dem verbreiteten Glauben an die Verteilungswirksamkeit der Nominallohnpolitik. Die Forderung nach ãLohnzurŸckhaltungÒ wird oftmals verstanden als verklausulierter Vorschlag einer ãUmverteilung von unten nach obenÒ, als verteilungspolitisch unzumutbarer Verzicht auf wohlverdiente ReallohnansprŸche. DarŸber hinaus wird die stabilitŠtspolitische BegrŸndung der Lohnleitlinien als Versuch kritisiert, die Stabilisierungslasten einseitig auf die Arbeitnehmer abzuwŠlzen. Die folgende Analyse der stabilitŠts- und verteilungspolitischen Implikationen alternativer Nominallohnkonzepte soll auch dazu beitragen, derartigen Fehlurteilen entgegenzuwirken und die Verteilungsdebatte auf eine škonomisch rationale Grundlage zu stellen. 1 Vgl. zu den grundlegenden Aspekten der Einkommenspolitik z.ÊB. J. PŠtzold, 1993, S.Ê292Êff. Gesamtwirtschaftlich orientierte Lohnkonzeptionen werden ausfŸhrlich diskutiert bei A. E. Ott, 1968; E. Scheele, 1969; K. Kleps, 1982. 3 2. Angebots- und nachfrageorientierte Konzeptionen der Lohnpolitik Das bekannteste StabilitŠtslohnkonzept ist die produktivitŠtsorientierte Lohnpolitik, die auch den Ausgangspunkt der weiteren †berlegungen bildet1. Diskutiert werden alternative AnsŠtze einer theoretischen BegrŸndung der ProduktivitŠtsformel sowie Ansatzpunkte der Kritik und der Weiterentwicklung des Konzepts unter angebotsoder nachfragetheoretischen Aspekten. Die angebotsorientierte Perspektive charakterisiert vor allem das Konzept der kostenniveauneutralen Lohnpolitik des SachverstŠndigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2. Nachfragefaktoren spielen dagegen in der Diskussion Ÿber die Lohnleitlinien eine untergeordnete Rolle. Sie werden vor allem in Verbindung mit einer verstŠrkten Vermšgensbildung der Arbeitnehmer diskutiert. Eine stabilitŠtsgerechte Lohnpolitik setzt freilich voraus, da§ die einseitige Angebots- bzw. Kostenorientierung zugunsten einer stŠrkeren Integration von Nachfrage- bzw. Kreislaufaspekten aufgegeben wird. a. Das Konzept der produktivitŠtsbezogenen Lohnpolitik Die produktivitŠtsorientierte Lohnpolitik zeichnet sich durch die Orientierung der Erhšhung der NominallohnsŠtze an der Steigerungsrate der durchschnittlichen volkswirtschaftlichen ArbeitsproduktivitŠt aus. Das damit verfolgte PrimŠrziel ist die Preisniveaustabilisierung. Verteilungspolitische Ziele sollen demgegenŸber zurŸcktreten: ãDie Konstanz der Lohnquote wird als Preis fŸr die Stabilisierung des volkswirtschaftlichen Preisniveaus in Kauf genommenÒ3. Die angebots- bzw. kostenorientierte Argumentation stellt den Zusammenhang zwischen Angebotspreisniveau und StŸckkosten in den Vordergrund 4. Ausgangspunkt ist die †berlegung, da§ die Preisbildung in einer Wirtschaft, in der monopolistische Marktformen (Oligopole, monopolistische Konkurrenz) dominieren, typischerweise mit Hilfe einer Zuschlagskalkulation erfolgt. Als Kalkulationsgrundlage dienen im einfachsten Fall die LohnstŸckkosten5, die dem Produkt aus Lohnsatz (w) und Arbeitsstunden (A) dividiert durch das reale Sozialprodukt ( Yr ) entsprechen. Das Angebotspreisniveau ( p s ) ergibt sich dann in AbhŠngigkeit von den LohnstŸckkosten und dem darauf bezogenen Gewinnzuschlag (z): (1) ps = (1+ z) w A Yr Nominallohnerhšhungen im Umfang des ProduktivitŠtsfortschritts haben nach Gleichung (1) keine Preissteigerungen zur Folge, sofern der Gewinnzuschlag konstant bleibt. Da der Zuschlag den durchschnittlichen Monopolgrad zum Ausdruck bringt, 1 2 3 4 5 Vgl. zur produktivitŠtsbezogenen Lohnpolitik M. Wansleben, 1984; J. Husmann, 1985. Vgl. SachverstŠndigenrat, 1964, Z.Ê248. A. E. Ott, 1968, S. 48. Vgl. H. Bartmann, 1981, S.Ê338 ff. Vgl. zur BerŸcksichtigung weiterer Kostenelemente im Rahmen der kostenniveauneutralen Lohnpolitik Abschnitt 2.b. 4 kann man Gleichung (1) auch so interpretieren, da§ produktivitŠtsorientierte LohnabschlŸsse bei unverŠnderten WettbewerbsverhŠltnissen preisniveauneutral sind1. Der Bezug zur Einkommensverteilung lŠ§t sich leicht Ÿber die Lohnquote herstellen, die aus der Angebotspreisbildung gemŠ§ Gleichung (1) resultiert: (2) wA 1 L = = ps Yr 1+ z Y Bei konstantem Gewinnzuschlag bzw. Monopolgrad ist der Anteil der Lšhne (L) am Gesamteinkommen (Y) angebotsseitig fixiert2. Die Nominallohnpolitik hat keinen Einflu§ auf die Einkommensverteilung. Lohnerhšhungen Ÿber den ProduktivitŠtsfortschritt hinaus bewirken einen Anstieg des Preisniveaus, der die Lohn- bzw. die Gewinnquote stabilisiert. Die Forderung nach einer produktivitŠtsbezogenen Lohnpolitik bedeutet aus dieser Perspektive, da§ die ohnehin feststehende Verteilung akzeptiert werden soll, damit die PreisniveaustabilitŠt nicht unter zwecklosen VerteilungskŠmpfen leidet. Da sich die Einkommensverteilung unabhŠngig von der Lohnpolitik aus den unterstellten Angebotsbedingungen ergibt, ist die oben zitierte Aussage von Ott etwas irrefŸhrend, da§ die Konstanz der Lohnquote mit Blick auf die Stabilisierung des Preisniveaus in Kauf genommen werden mŸsse. Die angebotsseitige BegrŸndung der ProduktivitŠtsregel kann nicht nur auf der Basis einer monopolgradtheoretisch, sondern auch auf der Basis einer grenzproduktivitŠtstheoretisch fundierten Preisbildung erfolgen3. Die makroškonomische GrenzproduktivitŠtstheorie geht von einer neoklassischen Produktionsfunktion aus, die Substitution zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit (A) und Kapital (K) zulŠ§t und bei partieller Faktorvariation abnehmende ErtragszuwŠchse aufweist. Die Preisbildung der Unternehmen folgt einem GewinnmaximierungskalkŸl nach dem Marginalprinzip. Oftmals wird Ÿber diesen allgemeinen Rahmen hinausgehend die Marktform der vollkommenen Konkurrenz sowie als spezifische Form der neoklassischen eine Cobb-Douglas-Produktionsfunktion vorausgesetzt. In diesem Fall gilt fŸr die Gesamtproduktion bzw. das Realeinkommen: (3) Yr = Yr (A, K ) = Aa K 1- a Bei vollkommener Konkurrenz resultiert dann fŸr den Reallohn: 1 Ein steigender Monopolgrad reduziert die Lohnquote. Infolgedessen hat die Wettbewerbspolitik in der Marktwirtschaft auch erhebliche verteilungspolitische Bedeutung. 2 Die aus der Zuschlagskalkulation abgeleitete Konstanz der Lohnquote setzt streng genommen eine proportionale Beziehung zwischen Arbeitseinsatz und Produktionsmenge voraus. Nur dann variieren die LohnstŸckkosten nicht mit dem Sozialprodukt, und die Preisgleichung (1) gilt wie die daraus resultierende Lohnquotengleichung (2) fŸr jedes Produktionsniveau. Vgl. zur AbhŠngigkeit der Lohnquote vom Auslastungsgrad des Produktionspotentials Abschnitt 3.a. 3 Es Ÿberrascht nicht, da§ die Preisaufschlagshypothese Kritik hervorgerufen hat, steht sie doch im Widerspruch zu den Aussagen der mikroškonomischen Theorie Ÿber gewinnorientiertes Unternehmerverhalten. Vgl. U. v. Suntum, 1982, S.Ê324. DafŸr hat sie allerdings den Vorzug, durch empirische Untersuchungen Ÿber die Preisbildung in der betrieblichen Praxis gestŸtzt zu werden. Vgl. fŸr die Bundesrepublik Deutschland S. Wied-Nebbeling, 1985. 5 (4) w d Yr Yr = = a A a - 1 K1 - a = a p dA A und infolgedessen fŸr die Lohnquote: (5) wA d Yr / d A L = = = a Yr / A p Yr Y Der Anteil der Lšhne am Sozialprodukt entspricht dem VerhŠltnis zwischen dem physischen Grenzprodukt und dem Durchschnittsprodukt der Arbeit (ProduktionselastizitŠt). Wenn eine Cobb-Douglas-Funktion vorliegt, verŠndern sich Grenz- und Durchschnittsprodukt bei partieller Faktorvariation prozentual gleich, so da§ der Quotient aus beiden Grš§en konstant bleibt. Die Lohnquote reagiert nicht auf VerŠnderungen von Produktion und BeschŠftigung, sondern erreicht im Gleichgewicht stets den Wert des Exponenten des Faktors Arbeit (a) in der Produktionsfunktion1. Wiederum ist also die Verteilung angebotsseitig fixiert, und zwar durch die Eigenschaften der Produktionsfunktion und die KonkurrenzverhŠltnisse. Die Konsequenzen fŸr die Lohnpolitik entsprechen daher auch weitgehend den auf der Grundlage einer Zuschlagskalkulation abgeleiteten Ergebnissen: ProduktivitŠtsbezogene Nominallohnerhšhungen lassen Preisniveau und Verteilung unberŸhrt, wŠhrend Lohnerhšhungen Ÿber den ProduktivitŠtsfortschritt hinaus bei gegebenem Sozialprodukt inflationŠr wirken, ohne die Lohnquote zu verŠndern. Allerdings kšnnen expansive Lohnerhšhungen auch zu Lasten von Produktion und BeschŠftigung gehen. Wenn der induzierte Anstieg des Preisniveaus den Nominallohnzuwachs nicht kompensiert, steigt der Reallohn und infolgedessen nimmt die BeschŠftigung ab. Die Konstanz der Lohnquote ist eben nicht gleichbedeutend mit einem konstanten Reallohn. Vielmehr besteht die Mšglichkeit, da§ die noch beschŠftigten Arbeitnehmer ihre Reallohnposition zu Lasten der nicht mehr BeschŠftigten verbessern. Entgegen einer verbreiteten Ansicht fŸhren hšhere Nominallšhne aber nicht zwangslŠufig zu einem BeschŠftigungsabbau. Ob und in welchem Ma§e dies geschieht, hŠngt vom Preiserhšhungsspielraum der Unternehmen und damit von der Entwicklung der nominellen Gesamtnachfrage ab. Dies zeigt bereits, da§ eine rein angebotsseitige Betrachtung der Lohneffekte unvollstŠndig ist und irrefŸhrende Schlu§folgerungen nahelegt. b. Das Konzept der kostenniveauneutralen Lohnpolitik Bevor die Nachfrageaspekte integriert werden, erscheint es zweckmŠ§ig, die angebotsorientierte Sicht durch das Konzept der kostenniveauneutralen Lohnpolitik zu ergŠnzen. Der SachverstŠndigenrat wandte sich damit vor allem gegen die VernachlŠssigung der Nichtlohnkosten durch die ProduktivitŠtsregel. Die wesentlichen lohn- 1 Vgl. B. KŸlp, 1994, S.Ê106. 6 politischen Bedingungen fŸr GeldwertstabilitŠt bei VollbeschŠftigung hat der SachverstŠndigenrat folgenderma§en umrissen1: q Das Problem der GeldwertstabilitŠt bei VollbeschŠftigung ist identisch mit dem Problem der Stabilisierung des volkswirtschaftlichen Kostenniveaus. q Damit das Kostenniveau nicht steigt, dŸrfen die Nominallšhne im allgemeinen nur um den Prozentsatz erhšht werden, um den in der Gesamtwirtschaft das Produktionsergebnis je Stunde zugenommen hat. q †ber den Fortschritt der gesamtwirtschaftlichen ProduktivitŠt hinaus ist ein zusŠtzlicher Spielraum fŸr Lohnerhšhungen gegeben, wenn der Anteil der Kapitalkosten an den Gesamtkosten abnimmt oder wenn die terms of trade sich verbessern. q Zu den Lohnerhšhungen rechnen im Hinblick auf die Kostenseite auch Anhebungen der SozialversicherungsbeitrŠge, sofern sie den Arbeitgeberanteil betreffen. Die kostenniveauneutrale Lohnpolitik stellt den Kosten-Preis-Zusammenhang in den Vordergrund und korrespondiert insofern mit einer Zuschlagskalkulation auf der Basis der gesamten StŸckkosten. Die Einbeziehung zusŠtzlicher Kostenfaktoren ist ein Fortschritt gegenŸber der einfachen ProduktivitŠtsregel. Neben Kapitalkosten, ArbeitgeberbeitrŠgen zur Sozialversicherung und Kosten der importierten Vorleistungen, die sich hinter dem Hinweis auf die terms of trade verbergen, mŸssen als weitere gesamtwirtschaftlich relevante Grš§e die indirekten Steuern berŸcksichtigt werden. Fa§t man diese Grš§en als Nichtlohnkosten (Q) zusammen, so erhŠlt man eine gegenŸber Gleichung (1) erweiterte Funktion fŸr das Angebotspreisniveau mit z* fŸr den Gewinnzuschlag auf die gesamten StŸckkosten: (6) é A Qù + ps = (1+ z*) ê w ú Yr û ë Yr Bei strenger ceteris-paribus-Argumentation unterscheidet sich die kostenniveauneutrale Lohnpolitik nicht von der einfachen ProduktivitŠtsregel. In beiden FŠllen lassen produktivitŠtsbezogene Nominallohnerhšhungen fŸr sich genommen das Kosten- und damit auch das Preisniveau unberŸhrt, wŠhrend Lohnerhšhungen Ÿber den ProduktivitŠtsfortschritt hinaus Preissteigerungen nach sich ziehen, die eine †berwŠlzung der zusŠtzlichen LohnstŸckkosten ermšglichen. In einer engen Interpretation kšnnte man der produktivitŠtsbezogenen Lohnpolitik aus angebotsorientierter Sicht also durchaus StabilitŠtskonformitŠt attestieren. Allerdings geht das Konzept der kostenniveauneutralen Lohnpolitik einen Schritt weiter. Variationen der Nichtlohnkosten pro StŸck sollen durch entgegengerichtete Abweichungen der Nominallohnerhšhungen vom ProduktivitŠtsfortschritt ausgeglichen werden. Steigen die spezifischen Nichtlohnkosten, so setzt ein stabiles Angebotspreisniveau aus kostentheoretischer Sicht Nominallohnerhšhungen unterhalb der Zuwachsrate der durchschnittlichen ArbeitsproduktivitŠt voraus. Hinter solchen 1 Vgl. SachverstŠndigenrat, 1964, Z.Ê248. 7 Abweichungen von der ProduktivitŠtsregel steht eine weit gefa§te Interpretation der StabilitŠtskonformitŠt. Die Lohnpolitik soll nicht nur selbst keine inflationŠren Impulse geben, sondern darŸber hinaus anderweitig verursachte Preisauftriebstendenzen neutralisieren. Eine solche kompensatorische Lohnpolitik stellt Ð unabhŠngig von der konkreten Kompensationsregel Ð besondere Anforderungen an die Kompromi§bereitschaft der Arbeitnehmer bzw. Gewerkschaften. In diesem Zusammenhang mu§ man jedoch beachten, da§ auch die kostenniveauneutrale Lohnpolitik innerhalb des gesetzten Modellrahmens keinen Verzicht der Arbeitnehmer auf sonst mšgliche Realeinkommen verlangt1. Beispielsweise impliziert ein Anstieg der indirekten Steuern einen RŸckgang der Lohnquote, egal, ob die Lohnpolitik dies in Form eines Abschlags von der ProduktivitŠtsformel freiwillig akzeptiert, oder ob der Reallohnverzicht unfreiwillig Ÿber eine hšhere Inflationsrate erfolgt. Aus angebotsorientierter Sicht verlieren die Arbeitnehmer durch eine kostenniveauneutrale Lohnpolitik nichts, was sie durch eine andere Lohnstrategie erreichen kšnnten. Andererseits ergibt sich aber auch kein Anhaltspunkt fŸr die Notwendigkeit einer LohnzurŸckhaltung, solange die Nichtlohnkosten pro StŸck konstant bleiben. Selbst wenn die Nominallohnerhšhungen den ProduktivitŠtsfortschritt unterschreiten, kommt es nach der Logik des SachverstŠndigenrates nicht zu einem RŸckgang der Lohnquote, sondern zu Preissenkungen, die dafŸr sorgen, da§ die Reallšhne letzten Endes mit der Zuwachsrate der ArbeitsproduktivitŠt steigen. Die zentrale angebotstheoretische Botschaft fŸr die Lohnpolitik besteht in dem nachdrŸcklichen Hinweis auf die Bedeutung des ProduktivitŠtsfortschritts fŸr den Reallohnspielraum in einer Volkswirtschaft. Es trifft zu, da§ eine produktivitŠtsbezogene und mehr noch eine kostenniveauneutrale Lohnpolitik allein die StabilitŠt des Angebotspreisniveaus zum Ma§stab škonomisch vertretbarer Lohnerhšhungen erhebt. Der Verzicht auf Nominallohnerhšhungen Ÿber den ProduktivitŠtsfortschritt hinaus kann aber nicht als verteilungspolitisches ZugestŠndnis interpretiert werden. Vielmehr ist die Lohnquote keine sinnvolle Zielgrš§e der Nominallohnpolitik, da sie von Faktoren abhŠngt, die sich einer lohnpolitischen Einflu§nahme entziehen. c. Das Konzept der nachfrageniveauneutralen Lohnpolitik Wie bereits erwŠhnt, vernachlŠssigt die angebots- bzw. kostenorientierte Sicht der Lohnpolitik die Nachfrageseite. Dies mu§ als Ÿberraschend empfunden werden, denn der SachverstŠndigenrat argumentiert explizit fŸr eine vollbeschŠftigte Wirtschaft, in der das Preisniveau gerade nicht rein kostentheoretisch erklŠrt werden kann. Vielmehr sind Variationen der monetŠren Gesamtnachfrage mit gleichgerichteten PreisŠnderungen verbunden, so da§ die Frage nach den nachfrageseitigen Determinanten des Preisniveaus und ihrer Bedeutung fŸr die Preis- und Verteilungseffekte der Lohnpolitik gestellt werden mu§2. 1 Vgl. zu den verteilungspolitischen Implikationen einer kostenniveauneutralen Lohnpolitik N. GŸssregen, 1974. 2 Vgl. zu den kreislauftheoretischen Aspekten der Lohnpolitik A. Oberhauser, 1985, S. 202Êff. 8 Den Ausgangspunkt bildet die kreislauftheoretische BegrŸndung der ProduktivitŠtsregel1. PreisniveaustabilitŠt kann erreicht werden, wenn die nominelle Gesamtnachfrage und das reale Gesamtangebot mit derselben Rate wachsen. Bei einer produktivitŠtsbezogenen Lohnpolitik ist dies unter bestimmten Voraussetzungen der Fall. Die grundlegenden ZusammenhŠnge lassen sich unter VernachlŠssigung des Staates und der Au§enwirtschaft skizzieren. Verwendungsseitig entspricht das nominelle Sozialprodukt in diesem Fall der Summe aus Konsum (C) und (Netto-)ÊInvestitionen (I) bzw. Ersparnissen (S), wŠhrend auf der Verteilungsseite nach Lšhnen (L) und Gewinnen (G) zu differenzieren ist: (7) Y = C + I = C + S = L + G Ein gesamtwirtschaftliches GŸtermarkt-Gleichgewicht liegt vor, wenn die geplanten Investitionen den geplanten Ersparnissen entsprechen, denn im Umfang der Investitionen mu§ gesamtwirtschaftlich auf Konsum verzichtet werden. Die von Kaldor entwickelte Kreislauftheorie der Verteilung 2 zeigt, da§ ein IS-Gleichgewicht bei gegebenem realen Sozialprodukt Ÿber €nderungen in der Einkommensverteilung herbeigefŸhrt werden kann. Die Ersparnisse hŠngen in diesem Modell vom Einkommen der Arbeitnehmer und Unternehmer ab, und die Sparquote der Unternehmer ( sG ) ist grš§er als die Sparquote der Arbeitnehmer (sL ). Letzteres kann insbesondere aufgrund des Sparens der Unternehmen in Form der nicht ausgeschŸtteten Gewinne vorausgesetzt werden. Unter der Annahme einer Kaldor-Sparfunktion: (8) S = sL L + sG G variiert die volkswirtschaftliche Sparquote mit der Einkommensverteilung: (9) L G L S = sL + sG = sG - (sG - sL ) Y Y Y Y = I Ir = Y Yr Eine Verteilungsumschichtung zu Lasten der Arbeitnehmer erhšht den Anteil der Ersparnisse am Sozialprodukt (S/Y). Dies ist erforderlich, wenn der Anteil der Investitionen am Sozialprodukt (Investitionsquote:Ê I/ Y = I r / Yr ) zunimmt, d.Êh. wenn ein neues gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht nur durch eine VerdrŠngung des privaten Konsums relativ zum Sozialprodukt erreicht werden kann. Was hat dieser ãVerteilungsmechanismusÒ mit einer stabilitŠtskonformen Lohnpolitik zu tun? Bezogen auf die Einkommensverteilung folgt aus Gleichung (9), da§ die Lohnquote durch den Anteil der Investitionen am Sozialprodukt und das Sparverhalten der Arbeitnehmer bzw. Unternehmer determiniert ist: (10) wA sG - I r / Yr L = = p Yr sG - s L Y 1 Vgl. E. Scheele, 1969, S.Ê99Êff; H. Bartmann, 1981, S. 334Êff. 2 Eine Ÿbersichtliche EinfŸhrung liefert beispielsweise T. Koch, 1988, S.Ê253Êff. 9 Diese Kaldor-Formel fŸr die Lohnquote korrespondiert mit einer nachfrageseitigen Beziehung zwischen Preisniveau ( pd ) und LohnstŸckkosten: (11) pd = sG - s L A w Yr sG - I r / Yr Gleichung (11) zeigt, da§ die traditionelle Nominallohnpolitik auch aus nachfragetheoretischer Sicht in erster Linie auf das Preisniveau wirkt und sich damit als weitgehend ungeeignetes Instrument zur Beeinflussung der Einkommensverteilung erweist. Dabei kšnnen Nominallohnerhšhungen im Umfang des ProduktivitŠtsfortschritts wiederum als eine Art Nullinie angesehen werden. Sie lassen das Preisniveau von der Nachfrageseite her unberŸhrt, sofern die Investitionsquote und die gruppenspezifischen Sparneigungen der Arbeitnehmer bzw. Unternehmer konstant bleiben. In diesem Fall kann die nominelle KonsumgŸternachfrage mit der Zuwachsrate der ArbeitsproduktivitŠt wachsen, ohne die PreisniveaustabilitŠt zu gefŠhrden, denn aufgrund des ProduktivitŠtsfortschritts ist ein gŸterwirtschaftlicher Spielraum zur Befriedigung der Mehrnachfrage vorhanden. Abweichungen von der ProduktivitŠtsregel sind allerdings mit Blick auf die StabilitŠt des Preisniveaus immer dann angebracht, wenn Verschiebungen in der Verwendungsstruktur des Sozialprodukts, die in einer Variation der Investitionsquote zum Ausdruck kommen, oder €nderungen im Sparverhalten der Arbeitnehmer bzw. der Unternehmer eintreten. Betrachtet man beispielsweise einen Anstieg der Investitionsquote, so kann der reale Konsum gemessen am Produktionspotential nur unterproportional steigen. Dies impliziert eine Verteilungsumschichtung zugunsten der Unternehmer. Der erforderliche RŸckgang der Lohnquote erfolgt bei produktivitŠtsbezogener Lohnpolitik Ÿber nachfragebedingte Preissteigerungen, die eine reale VerdrŠngung des Arbeitnehmerkonsums bewirken. PreisniveaustabilitŠt ist nur zu erreichen, wenn der Anstieg der Investitionsquote auf die Nominallohnerhšhungen angerechnet wird, die dann hinter dem ProduktivitŠtsfortschritt zurŸckbleiben mŸssen. Diese Folgerung gilt weitgehend analog fŸr eine Erhšhung des Leistungsbilanzsaldos oder der staatlichen Inanspruchnahme des Produktionspotentials. ProduktivitŠtsbezogene Lohnerhšhungen stellen also auch kreislauftheoretisch gesehen keine hinreichende StabilitŠtsbedingung dar. Allerdings unterscheiden sich die fŸr eine im weiteren Sinne stabilitŠtskonforme Lohnpolitik ma§geblichen Kompensationsregeln fundamental. WŠhrend der SachverstŠndigenrat die Kompensation anderweitig verursachter KostenŠnderungen als notwendig und hinreichend erachtet, stellt der kreislauftheoretische Ansatz den Ausgleich von Schwankungen der monetŠren Gesamtnachfrage in den Vordergrund, die auf €nderungen im Sparverhalten und in der Verwendungsstruktur des Sozialprodukts zurŸckgehen. 10 3. VerknŸpfung der angebots- und nachfrageorientierten Lohnleitlinien Die Lšhne stellen einerseits den gesamtwirtschaftlich bedeutendsten Kostenfaktor, andererseits aber auch die wichtigste Quelle des Konsums dar. Insofern ist es schon erstaunlich, da§ in der wissenschaftlichen und mehr noch in der politischen Diskussion meist keine Integration der relevanten Aspekte erfolgt. Angebots- und nachfrageorientierte StabilitŠtslohnkonzepte mŸssen jedoch miteinander verknŸpft werden, wenn man ein realitŠtsnahes Bild von den Mšglichkeiten und vielleicht mehr noch von den Grenzen einer stabilitŠtskonformen Lohnpolitik gewinnen will1. a. Angebots- und Nachfrageeffekte der Nominallohnpolitik Betrachtet man im ersten Schritt allein die Preis- und BeschŠftigungseffekte der Lohnpolitik, so gilt aus den genannten GrŸnden, da§ produktivitŠtsbezogene Nominallohnerhšhungen das Preisniveau angebots- wie nachfrageseitig weitgehend unberŸhrt lassen. Nominallohnerhšhungen Ÿber den ProduktivitŠtsfortschritt hinaus bewirken dagegen einen Anstieg der StŸckkosten und der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Daher ist auf jeden Fall mit Preissteigerungen zu rechnen, wŠhrend die BeschŠftigungs- und Verteilungseffekte vor allem von den monetŠren Rahmenbedingungen abhŠngen. q Bei elastischem Geldangebot ist eine VollŸberwŠlzung der Lohnerhšhungen wahrscheinlich. Die KonsumgŸternachfrage steigt weitgehend lohnkostenproportional. Bei konstantem Zinsniveau haben die Unternehmen folglich keinen Anla§ zur Reduktion ihrer InvestitionsgŸternachfrage. Die Lohnpolitik wirkt unter diesen UmstŠnden in erster Linie auf die Preise, wŠhrend ihr unmittelbarer Einflu§ auf Produktion und BeschŠftigung gering zu veranschlagen ist. Dementsprechend bleibt auch die Einkommensverteilung weitgehend unberŸhrt. q Dies Šndert sich, wenn die Zentralbank aufgrund der lohnbedingten Preissteigerungen einen restriktiven Kurs einschlŠgt. Es kommt dann zu Zinserhšhungen mit der Folge einer VerdrŠngung der zinsabhŠngigen Nachfrage, insbesondere der privaten Investitionen. In diesem Fall bleibt der nominelle Nachfragezuwachs hinter dem Kostenanstieg zurŸck. Da eine VollŸberwŠlzung nachfrageseitig nicht realisierbar ist, nehmen Produktion und BeschŠftigung bei steigendem Preisniveau ab. q Die Verteilung kann sich dabei durchaus zugunsten der Lohnquote verschieben. Dazu tragen zwei Faktoren bei: (1) Die Unternehmer machen bei rŸcklŠufigem Absatz begrenzte PreiszugestŠndnisse, reduzieren also den kostenbezogenen Gewinnzuschlag. (2) Der RŸckgang der Produktion ist trotz des BeschŠftigungsabbaus mit einem Anstieg der LohnstŸckkosten verbunden, weil die fixen Lohnkosten sich nun auf eine geringere Menge verteilen2. Die reale Lohnsumme nimmt jedoch ab, so da§ von einem verteilungspolitischen Erfolg keine Rede sein kann. 1 Vgl zum folgenden W. Scherf, 1995, S.Ê564Êff. 2 Diese †berlegung wird durch die empirisch beobachtbaren prozyklischen Schwankungen der ArbeitsproduktivitŠt gestŸtzt. Vgl. H.-D. Smeets, 1992, S.Ê518. 11 q In einer offenen Volkswirtschaft kann der Preisanstieg im Inland auch unabhŠngig von monetŠren Restriktionen zu Lasten der BeschŠftigung gehen. Insbesondere bei festen Wechselkursen (und damit auch in der EuropŠischen WŠhrungsunion) ist eine BeeintrŠchtigung der internationalen WettbewerbsfŠhigkeit zu erwarten. Eine daraus resultierende Tendenz zur Passivierung der Leistungsbilanz trŠgt zu einem unterproportionalen Wachstum der nominellen Gesamtnachfrage relativ zu den Produktionskosten bei und schrŠnkt damit den †berwŠlzungsspielraum (weiter) ein. Aus der Kombination einer expansiven Lohn- mit einer restriktiven Geldpolitik resultiert eine Stagflationstendenz, die durch au§enwirtschaftliche RŸckwirkungen verstŠrkt werden kann. Derartige Entwicklungen waren charakteristisch fŸr die konjunkturellen RŸckschlŠge der jŸngeren Vergangenheit; nicht zuletzt auch fŸr die StabilitŠtsprobleme im Gefolge der deutschen Einheit. Durch eine Ausrichtung der Nominallohnerhšhungen an der ProduktivitŠtsregel ist Stagflation zumindest insoweit vermeidbar, als sie auf die Lohnpolitik selbst zurŸckgeht. ProduktivitŠtsbezogene Lohnerhšhungen sind fŸr sich genommen weitgehend preis- und beschŠftigungsneutral und kšnnen in diesem Sinne als stabilitŠtskonform gelten. b. Die Problematik einer ãkompensatorischenÒ Lohnpolitik Weniger eindeutig ist die Frage zu beantworten, ob eine im Prinzip produktivitŠtsbezogene Lohnpolitik durch EinfŸhrung bestimmter Kompensationsregeln stabilitŠtspolitisch sinnvoll ergŠnzt werden kann. Die grundlegenden Aspekte lassen sich am Beispiel einer angebots- und einer nachfrageseitigen Stšrung aufzeigen. (1) Kostenniveauneutrale Lohnpolitik: Bei einer Erhšhung der Nichtlohnkosten pro StŸck empfiehlt die kostenniveauneutrale Lohnpolitik ein ZurŸckbleiben der Nominallohnerhšhungen hinter dem ProduktivitŠtsfortschritt, um die gesamten StŸckkosten und damit das Angebotspreisniveau zu stabilisieren. VernachlŠssigt wird dabei, da§ Lohnerhšhungen unterhalb der Zuwachsrate der durchschnittlichen ArbeitsproduktivitŠt auf eine Verminderung der lohnabhŠngigen Nachfrage pro StŸck hinauslaufen und infolgedessen die Nachfragefunktion nach unten verschieben. Dadurch kommt es ceteris paribus zu Preissenkungen und in einer unterbeschŠftigten Wirtschaft auch zu Produktions- und BeschŠftigungsverlusten. Mit einem Ausgleich der Wirkungen wachsender Nichtlohnkosten durch eine kostenniveauneutrale Lohnpolitik kann also nicht ohne weiteres gerechnet werden. Erfolgversprechend ist die kostenniveauneutrale Lohnpolitik nur dann, wenn die Erhšhung der Nichtlohnkosten mit einem Nachfragezuwachs einhergeht. Dies charakterisiert beispielsweise eine Erhšhung der indirekten Steuern zur Finanzierung zusŠtzlicher Staatsausgaben oder eine Anhebung der ArbeitgeberbeitrŠge zur Sozialversicherung zur Finanzierung zusŠtzlicher Sozialleistungen. In solchen FŠllen kann eine restriktive Lohnpolitik der Kosten- und der Nachfragesteigerung entgegenwirken. Da die Lšhne Angebot und Nachfrage berŸhren, erweist sich der Kompensationsansatz jedoch als untauglich, wenn es um den Ausgleich reiner Kosteneffekte geht. 12 (2) Nachfrageniveauneutrale Lohnpolitik: Als zweites Beispiel fŸr ein Kompensationsproblem dient der Fall einer Erhšhung der Arbeitnehmersparquote, etwa durch die investive Bindung eines Teils der Nominallohnerhšhungen. Dies bewirkt bei produktivitŠtsbezogener Lohnpolitik ein ZurŸckbleiben des Wachstums der nominellen KonsumgŸternachfrage hinter dem produktivitŠtsbedingten Anstieg des verfŸgbaren KonsumgŸtervolumens. Aus kreislauftheoretischer Sicht gibt es daher einen Spielraum fŸr Nominallohnerhšhungen Ÿber den ProduktivitŠtsfortschritt hinaus. Sie wŸrden den restriktiven Effekt des zusŠtzlichen Arbeitnehmersparens kompensieren und die nominelle Gesamtnachfrage wieder auf ein Niveau anheben, das mit PreisniveaustabilitŠt zu vereinbaren wŠre. Allerdings vernachlŠssigt diese Argumentation die mšglichen RŸckwirkungen einer nachfrageniveauneutralen, aber kostensteigernden Lohnpolitik auf den Auslastungsgrad des Produktionspotentials. Befindet sich die Wirtschaft in einer Rezession, so dŸrfte der StŸckkostenzuwachs Preissteigerungen hervorrufen, die bei fehlender Mehrnachfrage mit einem RŸckgang der Produktionsmenge verbunden sind. Die nachfrageseitig scheinbar richtige lohnpolitische Strategie wŸrde also eine Stagflationstendenz hervorrufen und wŠre stabilitŠtspolitisch kontraproduktiv. Eine rein nachfrageseitige Stšrung der gesamtwirtschaftlichen Ausgangslage kann eben nicht durch kosten- und nachfragewirksame lohnpolitische Gegenma§nahmen kompensiert werden. Ein nachfrageseitiger Spielraum fŸr Lohnerhšhungen Ÿber den ProduktivitŠtsfortschritt hinaus sollte daher nur bei VollbeschŠftigung ausgeschšpft werden. Weil und soweit das effektive Preisniveau dann Ÿber dem durch die StŸckkosten bestimmten Mindestpreisniveau liegt, kann in gewissem Umfang mit beschŠftigungsneutralen Preissenkungen gerechnet werden. 4. Konsequenzen fŸr ein erweitertes StabilitŠtslohnkonzept Die †berlegungen zu den kompensatorischen Lohnkonzepten zeigen, da§ einseitige angebots- oder nachfrageorientierte Leitlinien den stabilitŠtspolitischen Erfordernissen nur eingeschrŠnkt gerecht werden kšnnen. Unter Beachtung beider Marktseiten lassen sich eindeutige Empfehlungen jedoch nur unter bestimmten zusŠtzlichen Voraussetzungen geben. Eine Verallgemeinerung der hier diskutierten Beispiele fŸhrt zu folgenden Ergebnissen: q Die Zuwachsrate der durchschnittlichen ArbeitsproduktivitŠt ist eine geeignete Ausgangsgrš§e zur Bestimmung des Verteilungsspielraums. ProduktivitŠtsbezogene Lohnerhšhungen stabilisieren fŸr sich genommen Angebot und Nachfrage relativ zum Auslastungsgrad des Produktionspotentials. Die produktivitŠtsorientierte Lohnpolitik kann aber nur unter ceteris-paribus-Bedingungen als weitgehend preisund beschŠftigungsneutral angesehen werden. q Von der Nominallohnpolitik gehen annŠhernd parallele Kosten- und Nachfrageeffekte aus, so da§ Abweichungen von der ProduktivitŠtsregel in erster Linie auf das Preisniveau wirken. Sie sollten aus stabilitŠtspolitischer Sicht in Betracht gezogen werden, wenn sich andere Bestimmungsfaktoren des Preisniveaus verŠndern. 13 Die Erfolgsaussichten einer kompensatorischen Lohnpolitik hŠngen allerdings von der Art der Stšrung und von der konjunkturellen Ausgangslage ab. q UnabhŠngig von der Konjunkturlage ist eine Anrechnung auf die Lohnsteigerungen sinnvoll, wenn der Stšrfaktor ebenso wie die Lohnpolitik weitgehend symmetrisch auf Kosten und Nachfrage wirkt. Beispielsweise fŸhrt die Finanzierung zusŠtzlicher Staatsausgaben durch eine Erhšhung der indirekten Steuern zu Kostensteigerungen, die durch Lohnerhšhungen unterhalb der Zuwachsrate der ArbeitsproduktivitŠt neutralisiert werden kšnnen. Der damit verbundene restriktive Nachfrageeffekt wŸrde darŸber hinaus tendenziell fŸr einen Ausgleich der staatlichen Mehrnachfrage sorgen. Die †berwŠlzung indirekter Steuern, die normalerweise Ÿber Preissteigerungen erfolgt, kann also stabilitŠtskonform mit Hilfe einer kompensatorischen Lohnpolitik erreicht werden. q Bei asymmetrischen Kosten- und Nachfrageeffekten sind die Mšglichkeiten der Lohnpolitik begrenzt. In jedem Fall mu§ auf die konjunkturelle Situation geachtet werden: (1) Bei VollbeschŠftigung bestimmt das Kostenniveau nur die Preisuntergrenze. Daher kann die Lohnpolitik anderweitig verursachten Variationen der Gesamtnachfrage und des Preisniveaus entgegenwirken. Nominallohnerhšhungen unterhalb des ProduktivitŠtsfortschritts sind beispielsweise anzuraten, wenn das Produktionspotential vermehrt durch Investitionen, Staatsausgaben oder Exporte in Anspruch genommen wird. (2) Bei UnterbeschŠftigung gewinnen die Kosten an Bedeutung fŸr die Bestimmung des Preisniveaus. Da die Lohnpolitik keine NachfragelŸcke schlie§en kann, weil sie immer auch auf das Angebot wirkt, ist sie zur RezessionsbekŠmpfung ungeeignet. Eine Orientierung an der Kostensituation kann aber zur PreisniveaustabilitŠt beitragen und damit die Voraussetzungen fŸr eine erfolgversprechende Globalsteuerung verbessern. Insgesamt bleibt festzuhalten, da§ die ProduktivitŠtsregel den Kern einer gesamtwirtschaftlich vertretbaren Nominallohnpolitik bildet. Wenn sich die Tarifpartner daran orientieren, begegnen sie wenigstens der von expansiven Lohnsteigerungen ausgehenden Stagflationsgefahr. Allerdings garantiert eine produktivitŠtsbezogene Nominallohnpolitik allein noch keine PreisniveaustabilitŠt bei konstanter BeschŠftigung, denn die Lšhne bestimmen nicht allein Ÿber die Entwicklung dieser Grš§en. Kommt es aus anderen GrŸnden zu einer Verletzung der StabilitŠtsziele, so ist stets zu prŸfen, ob sich der Stabilisierungsbeitrag der Lohnpolitik durch zielgerichtete Abweichungen von der ProduktivitŠtsregel verbessern lŠ§t. Entsprechende VorschlŠge haben jedoch nur Aussicht auf Erfolg, wenn sie nicht einseitig fŸr die Anrechnung von KostenŠnderungen plŠdieren, sondern auch die jeweils relevanten Nachfrageaspekte berŸcksichtigen. 14 Literatur Bartmann, H., Verteilungstheorie, MŸnchen 1981. GŸssregen, N., Kostenniveauneutrale Lohnpolitik und ihre verteilungspolitischen Implikationen, Frankfurt am Main 1974. Husmann, J., ProduktivitŠtsorientierung der Lšhne Ð globale Faustformel ohne Perfektionsanspruch, Wirtschaftsdienst, 1985, S. 151 Ð 154. 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