Ansätze und Wege in der (musik) - Deutsche Musiktherapeutische

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Musiktherapeutische Umschau Online
Johannes-Th.-Eschen-Förderpreis
der Deutschen Gesellschaft für Musiktherapie
2006
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” März 07
Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie, Libauer Straße 17, 10245 Berlin
Internetredaktion
[email protected]
Trauma und Musiktherapie ÿ Ansätze und Wege
in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch
traumatisierter Menschen
Diplomarbeit
zum Abschluss des Ergänzungsstudienganges
Musiktherapie
am Institut Musiktherapie der UdK-Berlin
vorgelegt von:
Name:
Adresse:
Regina Weiß
Jakobsplatz 15
86152 Augsburg
Augsburg, 31.12.2005
Betreuerin: Frau Prof. Dr. Mechtild Jahn-Langenberg
Gutachterin: Frau Prof. Dr. Mechtild Jahn-Langenberg
Inhalt
3
Inhalt
1
Einleitung........................................................................................ 5
2
Das Phänomen des psychischen Traumas..................................... 7
2.1
ÿTraumaþ: Begrifflichkeiten und Begriffsdefinition ...........................................7
2.1.1 Definition des psychischen Traumas ..............................................................8
2.1.2 Psychotraumatologie als Forschungs- und Praxisfeld......................................9
2.2
Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung ............................................11
2.3
Traumatische Ereignisse ..................................................................................11
2.4
Traumatische Reaktionen .................................................................................13
2.4.1 Neurobiologische und neurophysiologische Veränderungen der
Gedächtnisleistungen durch Traumata ..........................................................14
2.4.2 Geistige, seelische und körperliche Veränderungen und ihre Auswirkungen
auf Verhalten und Beziehungen....................................................................17
3
Pathologie...................................................................................... 22
3.1
Merkmale, die die Entstehung und den Verlauf traumatischer Störungen
beeinflussen .....................................................................................................22
Klassifikation posttraumatischer Störungen......................................................26
Komorbidität....................................................................................................31
Problematik der derzeit festgelegten Diagnosekriterien ....................................33
Diagnostik .......................................................................................................36
3.2
3.3
3.4
3.5
4
Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter
Menschen ...................................................................................... 39
4.1
Behandlungsansatz...........................................................................................39
4.2
Psychotherapeutische Verfahren ......................................................................43
4.3
Phasenmodell traumazentrierter Psychotherapie...............................................48
4.3.1 Stabilisierungsphase .....................................................................................49
4.3.2 Traumabearbeitungsphase ............................................................................51
4.3.3 Traumaintegrationsphase..............................................................................53
4.3.4 Manuale zur traumazentrierten Psychotherapie nach dem Phasenmodell ......54
4.4
Traumabezogene Wirkfaktoren in der therapeutischen Beziehung....................56
4.5
Der Stellenwert der Musiktherapie in der psychotraumatologischen Literatur...60
5
Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der
Musiktherapie............................................................................... 62
5.1
Die Rolle der Traumatherapie in der Musiktherapie .........................................62
5.2
Indikationen und mögliche Kontraindikationen für Musiktherapie ...................66
5.3
Psychodiagnostik .............................................................................................73
5.4
Besonderheiten der Therapie bei Kindern im Gegensatz zu Erwachsenen.........75
5.5
Therapeutische Beziehung ...............................................................................76
5.5.1 Komponenten der therapeutischen Beziehung ..............................................77
5.5.2 Übertragungsbeziehungen, therapeutische Abstinenz und Regression...........79
5.6
Supervision, Eigentherapie und Psychohygiene der Therapeutin ......................81
5.7
Praxisfelder......................................................................................................83
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
Inhalt
4
5.8
Behandlungskontext.........................................................................................85
5.8.1 Die Bedeutung des sozialen, politischen und kulturellen Kontextes für die
Therapie.......................................................................................................86
5.8.2 Community Music Therapy..........................................................................89
5.8.3 Einzel- oder Gruppentherapie.......................................................................91
5.8.4 Interdisziplinäre Zusammenarbeit.................................................................92
6
Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter
Menschen ...................................................................................... 94
6.1
Rezeptive Musiktherapie..................................................................................94
6.1.1 Guided Imagery and Music (GIM) ...............................................................96
6.1.2 Physioacoustic Method...............................................................................100
6.2
Aktive Musiktherapie.....................................................................................101
6.2.1 Musikalische Improvisation .......................................................................101
6.2.2 Improvisation und Gespräch.......................................................................102
6.2.3 Stimmimprovisationen ...............................................................................105
6.3
Traumazentrierte Musikpsychotherapie mit kombinierten Methoden rezeptiver
und aktiver Musiktherapie..............................................................................109
7
Ausgewählte Praxisfelder der speziellen Psychotraumatologie
und ihre Bedeutung für die Musiktherapie............................... 113
7.1
Traumatisierung aufgrund sexueller Gewalt ...................................................113
7.2
Traumatisierung aufgrund politischer Gewalt .................................................117
7.2.1 Flüchtlinge und Folteropfer ........................................................................118
7.2.2 Kriegstraumatisierte ...................................................................................122
7.2.3 Holocaust ...................................................................................................123
8
Fazit und Ausblick...................................................................... 126
9
Zusammenfassung ...................................................................... 129
Literatur.......................................................................................................132
Anhang ........................................................................................................142
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
1 Einleitung
1
5
Einleitung
Betrachtet man die musiktherapeutischen Publikationen im deutschsprachigen Raum,
stößt man immer wieder auf den Begriff des ÿTraumasþ und kann feststellen, dass er in
vielfältiger Weise und unterschiedlichsten Zusammenhängen genannt wird. Der Begriff
des Traumas hat historisch gesehen in der Medizin eine lange Tradition.
Wie sieht es dagegen mit der Erforschung und Therapie von seelischen Verletzungen
sogenannten psychischen Traumata aus? Durch die nicht allzu lange zurückliegenden
Ereignisse der Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York und im Juni/Juli
2005 in London, des Irak-Krieges sowie der TsunamiýFlutkatastrophe Ende 2004, rückte auch hierzulande die Auseinandersetzung mit den psychischen Folgen von existentiell bedrohlichen Ereignissen besonders in das Bewusstsein. Aber auch soziale und
sexuelle Gewalt, Trennung, Folgen steigender Armut (wie z.B. Deprivation) sowie Folter und Vertreibung als Formen psychischen Traumas sind nach wie vor Themen unserer Gesellschaft (Hilweg & Ullmann, 1997).
Welche Formen psychischer Traumatisierungen gibt es, was sind ihre Auswirkungen
auf die Betroffenen und wie kann man sie behandeln? In den letzen 20 Jahren fand zu
diesen Fragen in Deutschland eine Entwicklung statt, die bisherigen Ergebnisse und die
weitere Erforschung und Behandlung auf diesem Gebiet, in einer eigenen interdisziplinär ausgerichteten wissenschaftlichen Disziplin der Psychotraumatologie zu bündeln
(vgl. Fischer & Riedesser, 2003; Landolt, 2004; Streeck-Fischer, Sachsse, & Özkan,
2001a; van der Kolk, McFarlane & Weisaeth, 2000a).
Nach Brisch und Hellbrügge (2003) existieren bereits mehrere Forschungsergebnisse
der Psychotraumatologie, die darauf hinweisen, dass unverarbeitete psychische Traumatisierungen zu zahlreichen Symptomen und psychischen bzw. psychiatrischen Störungsbildern, wie Posttraumatische Belastungsstörungen, aber auch Persönlichkeitsstörungen
- insbesondere die Borderline-Persönlichkeitsstörung -, Angsterkrankungen und Depressionen, führen können. Zudem wird angenommen, dass sich unverarbeitete Traumaerfahrungen von Eltern beispielsweise auf die ElternýKindýInteraktion auswirken
können und sich somit auf die nächste Generation übertragen können (ebd.).
Durch die wachsende Bedeutung der Psychotraumatologie als eigenes Forschungs- und
Praxisfeld erweitert sich zukünftig das Aufgabenfeld der Musiktherapeutinnen im Rahmen der Behandlung psychisch traumatisierter Menschen. Es fällt jedoch auf, dass bisher in den Standardwerken zur Psychotraumatologie und trotz der interdisziplinären
Ausrichtung im Bereich der traumazentrierten Psychotherapie, die Musiktherapie gar
nicht oder nur sporadisch erwähnt wird. Eine zunehmende Bedeutung der Psychotraumatologie zeichnet sich aber dennoch in der Musiktherapie ab und es hat sowohl in
Deutschland als auch international bereits eine öffentliche Auseinandersetzung darüber
im Rahmen von Publikationen und der Gründung von Arbeitskreisen begonnen. M. E.
zeichnet sich dabei zunehmend ab, dass es sich bei der Musiktherapie von psychisch
traumatisierten Menschen um ein eigenes Anwendungsgebiet für eigene pathologische
Erscheinungsformen handelt, die spezifische musiktherapeutische Indikationen und Methoden zur Behandlung sowie spezielle Behandlungskonzepte erfordern.
Aufgrund der Entwicklungen zu einem eigenen Forschungs- und Praxisfeld mit besonderen therapeutischen Ansätzen und Verfahren wird in der vorliegenden Arbeit untersucht, was die Musiktherapie zu diesem Themenkomplex beitragen kann. Nachdem
bisher noch keine zusammenfassende musiktherapeutische Abhandlung verfasst wurde,
die sich mit der Psychotraumatologie in der Musiktherapie befasst, möchte ich im Rahmen meiner Diplomarbeit in einer Art Bestandsaufnahme zur Sortierung und Orientierung in diesem Feld beitragen.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
1 Einleitung
6
Die Arbeit gliedert sich in zwei Bereiche: Im ersten Teil (Kap. 2-4) werden die für die
musiktherapeutische Arbeit mit psychisch traumatisierten Menschen wesentlichen theoretischen Grundlagen des Forschungs- und Praxisfeldes der Psychotraumatologie dargestellt. Neben der Klärung von Begrifflichkeiten und der Darstellung des komplexen und
vielschichtigen Phänomens des psychischen Traumas werden die Grundzüge möglicher
Ansätze und Wege der Behandlung psychotraumatischer Symptome und Störungen,
insbesondere der traumazentrierten psychotherapeutischen Behandlung, vorgestellt.
Im zweiten Teil (Kap. 5-8) wird auf der Grundlage der Erkenntnisse aus der Psychotraumatologie untersucht, welchen Stellenwert die Traumatherapie in der Musiktherapie bisher einnimmt, was die Musiktherapie im deutschsprachigen Raum, aber auch
auf internationaler Ebene, bisher allgemein zur Behandlung psychotraumatischer Symptome und Störungen beitragen kann, welche Indikationen für Musiktherapie sprechen
und wie sich ihre Verortung in der Praxis gestaltet. Aufgrund der besonderen Bedeutung
des Kontextes bei traumatischen Erfahrungen, wird dieser dabei ausführlich betrachtet.
Zudem erfolgt eine zusammenfassende Darstellung bisher existierender musiktherapeutischer Methoden und Verfahren zur traumazentrierten Musikpsychotherapie und die
Betrachtung ausgewählter Traumaformen und ihre Bedeutung für die Musiktherapie.
Die vorliegende Arbeit stellt eine Grundlagenarbeit gestützt auf Literaturstudien dar.
Zur Methodik der für den musiktherapeutischen Teil dieser Arbeit verwendeten Literaturauswertung sei Folgendes anzumerken: Recherchiert wurde in musiktherapeutischen
deutschsprachigen und englischsprachigen Veröffentlichungen der letzten Dekade
(1995-2005), wobei aktuellere Publikationen aus den letzten 5 Jahren schwerpunktmäßig aufgearbeitet wurden. Die älteren wurden bei Bedarf hinzugezogen, wenn sie der
musiktherapeutischen Methodik bezogen auf Traumatherapie zur Ergänzung dienten.
Eingrenzungskriterium für die Recherche in Suchmaschinen von Bibliotheken und im
Internet, sowie in musiktherapeutischen Fachzeitschriften und Büchern war, dass als
Schlagwort oder als (Titel)Stichwort oder als Keywords oder im Sachwortregister von
Büchern einer der folgenden Begriffe auftauchen musste: Trauma bzw. traumatisiert,
Posttraumatische Belastungsstörung bzw. Posttraumatic Stress Disorder, bzw. einzelne
Traumaformen u.a. ÿsexuelle Gewaltþ oder ÿKriegstraumatisierteþ.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
2 Das Phänomen des psychischen Traumas
2
7
Das Phänomen des psychischen Traumas1
2.1
þTraumaý: Begrifflichkeiten und Begriffsdefinition
Betrachtet man die musiktherapeutischen Publikationen im deutschsprachigen Raum, so
stößt man immer wieder - sowohl in den einzelnen musiktherapeutischen Richtungen
als auch in den unterschiedlichsten Zusammenhängen und Praxisfeldern - auf den Begriff des Traumas. Im musiktherapeutischen Arbeitsfeld der Neonatologie tauchen beispielsweise Begriffe wie Geburtstraumata oder Trauma durch extrem frühe Geburt auf
(vgl. z.B.: Loos, 1996; Nöcker-Ribaupierre & Zimmer, 2004). Ebenso ist im klinischen
und ambulanten psychiatrischen und psychosomatischen Bereich, sowie in anderen sozialen Bereichen und Einrichtungen (z.B. pädagogischen Einrichtungen oder Beratungsstellen), sei es mit Erwachsenen oder Kindern und Jugendlichen, immer wieder die Rede von z.B. traumatischen Erfahrungen, traumatischen Erlebnissen, traumatisierten
Menschen, traumatisierten Kindern, Traumata, sexuell traumatisierten Kindern, Trennungstraumata (vgl. z.B.: Frohne-Hagemann, 2004; Decker-Voigt, Knill & Weymann,
1996; Haffa-Schmidt, von Moreau & Wölfl, 1999; Metzner, 1999; Plahl & KochTemming, 2005; Schröder, 1999; etc.). Auch in musiktherapeutischen Veröffentlichungen aus dem Bereich der Neurologie findet man den Traumabegriff, meist den des
Schädel-Hirn-Traumas oder traumatisierte Schädel-Hirn-Verletzung (vgl. Baumann &
Gessner, 2004; vgl. auch: Musiktherapeutische Umschau der Deutschen Gesellschaft für
Musiktherapie [DGMT] (2004): ÿThemenheft der Neurowissenschaften und Musiktherapie ý eine erste Annäherungþ). Ebenso taucht der Traumabegriff in der rituellen Musiktherapie auf (vgl. z.B.: Mastnak, 2000; Strobel, 1999; Van Camp, 2005).
Anhand der eben dargestellten Beispiele lässt sich erkennen, dass bisher der Traumabegriff sehr vielfältig verwendet wird. Zudem wird in zahlreichen Fällen auch nicht
näher beschrieben, was eigentlich genau darunter zu verstehen ist, ob es bestimmte
Kennzeichen und Symptomatiken gibt und wie diese spezifisch musiktherapeutisch behandelbar sein könnten. Den meisten Abhandlungen ist gemeinsam, dass das gemeinte
Trauma einen erheblichen Einfluss auf den seelischen Bereich des Menschen hat. Ohne
eine nähere Definition oder Erklärung kann der Begriff des Traumas dazu verführen, ein
modisches, inflationär gebrauchtes Schlagwort und undifferenziertes Erklärungsmodell
für die Entstehung psychischer Störungen zu werden, bei dem außerdem das komplexe
Zusammenspiel innerer und äußerer Faktoren nicht mitberücksichtigt wird. Zudem bedarf es einer deutlichen Abgrenzung zu anderen unangenehmen oder schmerzlichen
Erfahrungen, wie z.B. Verlusterlebnisse (Mitzlaff, 2005c). Daher ist eine differenzierte
Betrachtung des Traumabegriffs erforderlich.
Wie in der Musiktherapie taucht der Begriff des Traumas auch im medizinischen, psychologischen und weiteren psychotherapeutischen Sprachgebrauch in verschiedensten
Zusammenhängen auf. Wahrscheinlich hängt diese Vielfalt der Begriffsverwendung
auch damit zusammen, dass zunächst die wörtliche Bedeutung des griechischen Wortes
Traumas gemeint ist, was laut Duden (1990) wörtlich übersetzt Verletzung und Wunde
heißt.
In der Medizin hat die Traumatologie im Feld der Chirurgie schon eine lange Tradition. Man benutzt den Begriff des Chirurgischen Traumas für körperliche Wunden und
Behinderungen aufgrund von Verletzungen z.B. durch Unfälle (Fischer & Riedesser,
1
In meinem sozialen und politischen Verständnis steht die Gleichberechtigung von Frau und Mann mit an
vorderster Stelle. Konsequenterweise wäre auch meine Schreibweise daraufhin abzustimmen. Ich habe
aber die Entscheidung getroffen, mich in dieser Diplomarbeit auf die weibliche Schreibweise zu beschränken, da ich die gleichberechtigte Schreibweise (z.B. Musiktherapeut/in) beim Lesen sehr hinderlich
finde. Eine Unterscheidung wird daher nur getroffen, wenn dies erforderlich ist.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
2 Das Phänomen des psychischen Traumas
8
2003). Daneben wird aber auch immer wieder im seelischen Bereich von Trauma gesprochen. In Abgrenzung zum Chirurgischen Trauma wird hierbei zunehmend der Term
des psychischen (oder auch seelischen) Traumas gebraucht. Im folgenden Kapitel wird
der Frage nachgegangen, was man unter dem psychischen Trauma versteht.
2.1.1
Definition des psychischen Traumas
Es existiert keine allgemeingültige Definition von einem psychischen Trauma, sondern
verschiedene, die sich jedoch teilweise sehr ähnlich sind. Dennoch unterscheiden sie
sich im Fokus verschiedener Aspekte. M. E. wird dieser Fokus einerseits von den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen (z.B. Medizin oder Psychologie oder Psychotherapie) und darin auch wiederum von den einzelnen Richtungen (z.B. psychotherapeutischen Richtungen) bestimmt. Zum anderen mag dies an der Komplexität des
Phänomens Trauma liegen.
Häufig werden die eine seelische Verletzung verursachenden Ereignisse oder Situationen als Trauma bezeichnet. Bei diesen Ereignissen, die von außen auf den Menschen
einwirken, handelt es sich zunächst auf jeden Fall um belastende Lebensereignisse. Jedoch muss nicht jedes belastende Lebensereignis automatisch ein Trauma sein (Huber,
2005). Es stellt sich also die Frage, wann ein belastendes Lebensereignis zu einem
Trauma wird. Nach Besser (2002) sind das
ÿplötzliche und heftige oder lang anhaltende, langsam ansteigende oder sich
wiederholende Ereignisse existentiell bedrohlichen Charaktersþ (S.176).
In dieser Definition wird deutlich, dass der existentiell bedrohliche Charakter des Ereignisses ein psychisches Trauma kennzeichnet. Auch wenn traumatische Ereignisse
täglich vorkommen können, stehen sie definitorisch gesehen außerhalb einer alltäglichen Erfahrung (Overkamp, 2002). Darüber hinaus handelt es sich bei einem psychischen Trauma um eine Extremsituation, auf die man nicht vorbereitet ist und in der alle
individuellen Bewältigungsmechanismen überfordert sind (sog. Überflutung mit aversiven Reizen) (Huber, 2005). Normalerweise reagiert der Körper instinktiv mit Kampf
oder Flucht, aber in diesem Fall versagen diese Reaktionen und die Selbstheilungskräfte
sind meist überfordert, da die Gefahr nicht abgewehrt werden kann (ebd.).
Wirtz (2001) beschreibt m. E. sehr anschaulich diese psychische, die Bewältigungsmechanismen überfordernde Komponente des Traumas:
ÿEin Trauma ist ein Erlebnis extremer Hilflosigkeit. Es stellt eine Art Angriff auf
unsere Persönlichkeitsorganisation dar, die es dem Menschen unmöglich macht,
das Erlebnis in gewohnter Weise zu verarbeiten. Das psychische Gleichgewicht
wird extrem gestört, und das Ich funktioniert nicht mehr in gewohnter Weiseý
(Wirtz, 2001, S.83).
Nur das verursachende Ereignis als Trauma zu bezeichnen führt jedoch zu Verwirrungen, da ein Trauma ein komplexes Phänomen darstellt und üblicherweise mehr darunter verstanden wird. Man sollte deshalb aus folgenden Gründen bei den eben dargestellten Definitionen nicht vom Trauma, sondern vom traumatischen Ereignis oder auch
vom traumatischen Geschehen oder von einer traumatischer Situation sprechen (Fischer & Riedesser, 2003; Sutton, 2002b; van der Kolk et al., 2000a):
Sutton (2002b) weist zum einen darauf hin, dass sich das Verständnis von Trauma
(sog. Traumakonzepte) im Laufe der Jahre in der Forschung gewandelt hat. Trauma
beschreibt heutzutage nicht nur das Ereignis, sondern auch die damit einhergehenden
Einflüsse sowie vielfältigen und weitreichenden Auswirkungen sowohl auf die direkt
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
2 Das Phänomen des psychischen Traumas
9
Betroffenen als auch auf das gesamte Umfeld (auch grenzüberschreitend2). Auch beinhaltet es traumatische Ereignisse aus der Vergangenheit, die teilweise über lange Zeit
immer wieder auftauchen (z.B. Holocaust oder Kriegstraumata) oder über Generationen
weitergegeben werden (Brisch & Hellbrügge, 2003). Nach heutigem Verständnis wird
das psychische Trauma von äußeren (sog. objektiven3 Situationsfaktoren) und inneren
Faktoren (sog. subjektiven Situationsfaktoren) wechselseitig und aufeinander bezogen
beeinflusst. Eine Definition von psychischer Traumatisierung, die dieses Wechselspiel
und die Beziehung der subjektiven und objektiven Situationsfaktoren enthält, geben die
Mitbegründer der Psychotraumatologie als Forschungs- und Praxisfeld in Deutschland
Fischer und Riedesser (2003):
Psychische Traumatisierung lässt sich definieren ÿals ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirktý (Fischer & Riedesser, 2003, S.82).
Dieses Begriffsverständnis enthält die in der Psychotraumatologie gemeinsamen
kennzeichnenden Kriterien für ein psychisches Trauma und den prozesshaften Verlauf
eines Traumas und soll die für die vorliegende Arbeit gültige Definition des psychischen Traumas darstellen.
2.1.2
Psychotraumatologie als Forschungs- und Praxisfeld
Die Entwicklung von Konzepten einer seelischen Verletzung zur Erklärung für die Entstehung psychischer Störungen begann Mitte des 19. Jahrhunderts (Fischer & Riedesser,
2003; Landolt, 2004, Streeck-Fischer et al., 2001b; van der Kolk et al., 2000a). Immer
wieder boten Kriege (wie z.B. der I. und II. Weltkrieg sowie der Vietnamkrieg) und
zivile Katastrophen (z.B. Eisenbahnunglücke) dafür Gelegenheit, die psychischen Auswirkungen und Folgen solcher Ereignisse zu untersuchen und beforschen. Als Wegbereiter gelten die Traumakonzepte von Janet, Freud, Binet, und Breuer (Fischer & Riedesser, 2003; Landolt, 2004). Ca. 10 Jahre nach dem II. Weltkrieg begann eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Holocaust, die bis heute anhält. Mehrere Forscherinnen in den USA und der BRD stellten dabei unabhängig voneinander fest, dass eine
extreme Traumatisierung zu bleibenden Veränderungen und Schädigungen auch bei
absolut gesunden Menschen führen kann (Streeck-Fischer et al., 2001b). Dieses Ergebnis wurde auch in den 1960er Jahren durch Forschungsergebnisse an Überlebenden der
Bombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki bestätigt. Auch Bowlby, Stern, Klein und
Winnicott mit ihren entwicklungspsychologischen Erkenntnissen und den Erkenntnissen
aus der Bindungsforschung bezüglich der Zusammenhänge zwischen frühesten Beziehungserfahrungen und Trauma(auswirkungen) in den 1950er und 60er Jahren führten
zur Weiterentwicklung der Traumakonzepte (Brisch & Hellbrügge, 2003). Seit den
1970er Jahren nahmen die multidisziplinären Perspektiven der Traumabetrachtung zu
und erweiterten die Traumakonzepte (Streeck-Fischer et al., 2001b).
Nachdem die Posttraumatische Belastungsstörung [PTBS] für Folgen von Extremtraumatisierungen als offizielle Diagnose im Jahr 1980 in die psychiatrische Nomenklatur aufgenommen wurde, setzte dies eine weitere Welle von wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema in Gang (Fischer & Riedesser, 2003; Streeck-Fischer et al.,
2001b; van der Kolk et al., 2000a). Eine wesentliche Rolle spielte des weiteren das Hin2
Darstellung der grenzüberschreitenden Dimension siehe auch unter Merkmale des sozialen Umfelds in
Kapitel 3.1.
3
Wobei objektiv nicht im Sinne von sachlich und unvoreingenommen gemeint ist, sondern alle äußeren
Faktoren, die bei einer Traumatisierung auf ein Individuum einwirken (Fischer & Riedesser, 2003).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
2 Das Phänomen des psychischen Traumas
10
zukommen von Forschungsergebnissen aus dem Bereich der Neurowissenschaften, vor
allem die Erkenntnisse der Neurobiologie und Neurologie, dass Gehirnstrukturen durch
traumatische Erfahrungen verletzt werden können (Rüegg, 2004).
Seither fand in den letzten 20 Jahren in Deutschland - in Amerika schon ein bisschen
länger - eine Entwicklung statt, die bisherigen Ergebnisse und weiteren Erforschungen
und Behandlungen auf diesem Gebiet in einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin zu
bündeln (Fischer & Riedesser, 2003; van der Kolk et al., 2000a). Dabei wurden Erfahrungen zu unterschiedlichen Formen von Traumatisierungen, wie z.B. durch Krieg, Folter, Vergewaltigung, Inzest, Tötungsversuch und Zeugenschaft von Gewalt, erstmals
zusammengetragen: Es wurde deutlich, dass verschiedene Arten von Traumatisierungen
sehr ähnliche seelische und körperliche Folgen hatten (Streeck-Fischer et al., 2001b).
Ziel war es die Bereiche der Traumaforschung, Traumatherapie und Prävention in einem eigenen Forschungs- und Praxisfeld zu integrieren (Fischer & Riedesser, 2003).
Hinsichtlich der Entwicklung zu einem eigenen Forschungs- und Praxisfeld beschreiben
Fischer und Riedesser (2003) in den USA eine etwas früher beginnende aber ähnliche
Entwicklung wie in Deutschland. Da sich die Folgen von psychischen Verletzungen,
körperlich, psychisch und psychosomatisch niederschlagen können und die Erforschung
parallel zur Medizin in der Psychologie und Psychotherapie stattfand, handelt es sich
um ein interdisziplinär ausgerichtetes Forschungs- und Praxisfeld, das in Deutschland in
Abgrenzung zur Chirurgischen Traumatologie seit den 90er Jahren als Psychotraumatologie bezeichnet wird (ebd.).
Da es den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, ausführlicher auf die historische Entwicklung der Psychotraumatologie einzugehen, möchte ich auf einige Quellen hinweisen, in denen sehr anschaulich und übersichtlich die für das Forschungsfeld wegbereitenden Studien dargestellt werden: Fischer und Riedesser (2003), Huber (2005), Landolt
(2004), Streeck-Fischer et al. (2001a), Sutton (2002b) und van der Kolk et al. (2000a).
Da die Psychotraumatologie auch die Behandlung des psychischen Traumas beinhaltet,
sei noch darauf hingewiesen, dass Veränderungen in der Forschung auch immer die
Unterstützung und Behandlung beeinflussen (Sutton, 2002b).
In der Erforschung der Folgen und Symptome, die aufgrund einer traumatischen Erfahrung entstehen können, liegt die Schwierigkeit darin, dass sie anfällig sind für Suggestionen (sog. false-memory-Theorien) (vgl. Beispiele bei Fischer & Riedesser, 2003;
Huber, 2005; Landolt, 2004; Streeck-Fischer et al., 2001a; van der Kolk et al., 2000a).
Daher werden noch immer die Konzepte der traumatischen Belastungen von Kontroversen geprägt (ebd.).
Der derzeitige Büchermarkt wird regelrecht von einer Flut von Büchern aus dem Bereich der Psychotraumatologie überschwemmt. Dies liegt an der zunehmenden Bedeutung der Konzepte der psychischen Traumatisierungen und damit einhergehend der
Psychotraumatologie als eigenes Forschungs- und Praxisfeld mit eigenen Behandlungsmethoden. Daher ist es für die Musiktherapie wichtig, zu überprüfen, was sie zu
diesem Themenkomplex beitragen kann und wie sie bereits in diesem Feld verortet ist
bzw. sich weiter verorten kann. Aufgrund der Vielschichtigkeit psychotraumatischer
Phänomene handelt es sich in der psychotraumatologischen Literatur zum Teil um sehr
komplexe Darstellungen und Erklärungen der Zusammenhänge von psychischen Traumatisierungen. In der vorliegenden Arbeit wird kein Wert auf Vollständigkeit und zu
detaillierte Beschreibungen gelegt, sondern das Augenmerk wird auf die wesentlichen
Erkenntnisse beschränkt, um einen Einblick in die Thematik zu geben und die meiner
Ansicht nach für die Musiktherapie und ihre praktische Arbeit in einem solchen Arbeitsfeld wesentlichen theoretischen Bezüge aus der Psychotraumatologie herzustellen.
Weiteres lässt sich beispielsweise in den Standardwerken von Fischer und Riedesser
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
2 Das Phänomen des psychischen Traumas
11
(2003), Huber (2004, 2005) und van der Kolk et al. (2000a) nachlesen. Die Darstellungen in diesen Abhandlungen sind auch deshalb so komplex, weil ihre Betrachtungsweise der psychotraumatischen Phänomene am Verlaufsprozess psychischer Traumatisierungen orientiert ist und weil sie interdisziplinär ausgerichtet ist (Fischer & Riedesser,
2003; Reddemann, 2004; Streeck-Fischer et al., 2001b; van der Kolk et al. 2000a).
2.2
Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung
Dadurch, dass ein Trauma weit über das Ereignis hinaus reicht und sich auf verschiedenen Ebenen abspielt, werden in der Psychotraumatologie Modelle zur Beschreibung
entwickelt, die die prozesshafte Verlaufsgestalt der Traumatisierung mit abbilden. Das
von Fischer und Riedesser (2003) entwickelte Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung basiert auf einem psychodynamischen Verständnis:
ÿPsychische Traumata weisen eine zeitliche Verlaufsgestalt auf, die sich in den
Phasen von Situation, Reaktion und traumatischem Prozess manifestiert. Die
Phasen müssen in ihrem wechselseitigen Zusammenhang untersucht werden, da
sie nur aus diesem verständlich werden, also z.B. Situation nicht ohne Berücksichtigung von Erleben und Verhalten der Persönlichkeit, Reaktion nicht ohne
Situationsanalyse und der traumatische Prozess nicht ohne Kenntnis und Untersuchung von Situation und Reaktioný (Fischer & Riedesser, 2003, S.379).
Ähnliche Modelle werden auch von anderen Autorinnen beschrieben (z.B. van der
Kolk et al., 2000a). Der besseren Lesbarkeit halber wird im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit, wenn das psychische Trauma bzw. Psychotrauma mit seiner gesamten
Komplexität gemeint ist, von Trauma bzw. traumatisierten Menschen gesprochen.
Zu Beginn einer Traumatisierung steht immer ein traumatisches Ereignis. Dieses Ereignis führt bei einer Person, die damit konfrontiert wird, zu einem Zusammenspiel innerer
(z.B. subjektive Bedeutungszuschreibungen oder Erleben und Verhalten) und äußerer
Faktoren (z.B. Umweltbedingungen) und bildet dadurch die traumatische Situation als
erste Phase des Verlaufsmodells. Auf die traumatische Situation erfolgt eine traumatische Reaktion, da keine subjektiv angemessene Reaktion möglich ist. Dies mündet in
den Traumatischen Prozess [TP] (Fischer & Riedesser, 2003):
ÿSelbstschutzmaßnahmen zielen auf eine Schadensbegrenzung und traumakompensatorische Vorkehrungen ab im Sinne des Versuchs, mit einer Erfahrung zu
leben, mit der sich nicht leben lässt. Zentrales Agens im TP ist die dynamische
Spannung zwischen Traumaschema, das die traumatischen Eindrücke und Erinnerungsbilder speichert und traumakompensatorischem Schema als der Basisstrategie kompensatorischer Selbstschutzmaßnahmený (Fischer & Riedesser,
2003, S. 376).
2.3
Traumatische Ereignisse
Die eine traumatische Situation bestimmenden Faktoren sind vielfältig und komplex
und werden durch verschiedene Situationsfaktoren bestimmt. Einen Situationsfaktor
stellt das zu Beginn stehende traumatische Ereignis dar. Die Bandbreite potentiell traumatisierender Ereignisse ist groß. Im Folgenden sollen sie zunächst anhand ihrer Ursache klassifiziert werden. Zur Systematisierung wird hier zwischen zwei Arten von
traumatischen Ereignissen unterschieden: den von Menschen gemachten sogenannten
man-made Traumata (oder auch man-made-disasters) und den natürlichen, nicht durch
menschliche Handlungen bestimmten sogenannten non-man-made Traumata (-disasters) (Riedesser, 2003).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
2 Das Phänomen des psychischen Traumas
12
Man-made Taumata
ÿ
Trennungen und Verlust von Bindungspersonen im Säuglings- und
Kleinkindalter (Separationstrauma)
ÿ
Schwere (Verkehrs-)unfälle
ÿ
Medizinische Traumatisierungen
ÿ
Arbeitslosigkeit und Mobbing
ÿ
(Besonders bei Kindern): gewaltsamer Tod oder Suizid einer nahestehenden Person
ÿ
Kulturschock
ÿ
Technische Katastrophen, Großbrände, ökologische Katastrophen
ÿ
Verschiedene Gewalthandlungen
Die meisten Traumatisierungen erfolgen aufgrund von Gewalterfahrungen. Gewalt kann
dabei viele Formen annehmen, wobei der Mechanismus immer der Gleiche ist, nämlich
dass Kontrolle und Macht über eine andere Person ausgeübt werden (Purdon & Ostertag, 1999). Gewalt muss nicht unbedingt immer physische Gewalt bedeuten und körperliche Verletzungen zur Folge haben, sondern es gibt auch emotionale Gewalt. Alle Gewaltformen haben außerdem emotionale, psychische und soziale Folgen. Bezogen auf
die Gewalthandlungen lassen sich die Gewaltformen folgendermaßen unterteilen, wobei
die Gewalthandlungen sich oft überschneiden und selten isoliert vorkommen:
Gewaltformen
Gewalthandlungen
z.B.
Sexuelle Gewalt4
þ Vergewaltigung
þ Sexueller (Kindes)missbrauch
Emotionale und körperliche Gewalt
þ Misshandlungen durch verbale Attacken
þ Verwahrlosung, emotionale Vernachlässigung
oder Zurückweisung, chronisch schwere emotionale Vernachlässigung oder Zurückweisung
und Verwahrlosung
þ Physische Misshandlungen
þ Traumatische Konflikte der Eltern (z.B. tätliche Auseinandersetzungen, Bedrohungen und
sexuelle Gewalt im Beisein des Kindes)
þ Narzisstische Ausbeutung eines Kindes oder
eines Menschen in extremen Formen
Politische Gewalt
þ Folter, Verfolgung, Vertreibung, Entführung
und Exil
þ Exekutionen
þ Krieg, Kriegsgefangenschaft
þ Terrorismus
þ Völkermord, Holocaust
þ Lagerhaft
Gewaltkriminalität
þ Geiselnahme
þ Raubüberfälle
þ Entführung
þ Schießereien, Amoklauf
Abbildung 1: Zusammenfassung der Gewaltformen bezogen auf die Gewalthandlungen
Neben den möglichen Traumatisierungen, die aufgrund menschlicher Handlungen passieren können, existieren noch potentiell traumatische Ereignisse, auf deren Eintreten
der Mensch zunächst keinen Einfluss nehmen kann.
4
Körperliche, sexuelle und emotionale Gewalthandlungen werden über 90% von männlichen Tätern
verübt (May, 2003; PKS, 2004), so dass bei diesen drei Gewaltformen im Folgenden, wenn von den Tätern die Rede ist, die männliche Schreibweise verwendet wird.
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2 Das Phänomen des psychischen Traumas
13
Non-man-made Traumata
ÿ
Naturkatastrophen (natural disasters)
ÿ
Lebensbedrohliche Erkrankungen
ÿ
Geburtstrauma
ÿ
Tod, Verlust von nahestehenden Personen, plötzlicher Kindstod
2.4
Traumatische Reaktionen
ÿTraumatisiert worden zu sein, ist keine Störung oder Krankheit. Gewalt oder
andere körperlich und/oder seelisch lebensbedrohliche Situationen durchlitten zu haben, hat zunächst einmal gar nichts damit zu tun, ob man gesund oder krank istý (Huber, 2005, S.111).
Auf ein belastendes Ereignis kann der Mensch auf zwei Arten reagieren. Die Reaktionen auf eine lebensbedrohliche Situation stellen zunächst keine Krankheit dar, sondern
sind Bewältigungsversuche und Anpassungsleistungen und dienen dem Überleben der
Situation (Fischer & Riedesser, 2003; Huber, 2005; Sachsse, Özkan & Streeck-Fischer,
2002a; van der Kolk et al., 2000a). Das Psychophysiologische Modell der Traumatisierungserfahrung von Peichl (2001) stellt die beiden möglichen psychophysiologischen
Reaktionsprozesse auf eine für den Menschen bedrohliche Situation einander gegenüber:
Physiologische
Normalreaktion
Physiologische
Notfallreaktion
Reiz/Gefahr
Traumatisierung
Erregungen des vegetativen
Nervensystems
Übererregung des vegetativen
Nervensystems
Wahrnehmungsveränderung zur
Anpassung an Kampf/Flucht
- Steigerung der Aufmerksamkeit
- Steigerung der Wahrnehmung
- Steigerung der Empfindung
Intrusion
unauslöschliche Prägung
durch traumatischen Moment:
aufdrängende Erinnerungen
Gefühle, Bilder und Gedanken
Handeln als Reaktion:
Kampf oder Flucht
Konstriktion
Erstarrung als Reaktion
auf Niederlage:
avoidance
numbing
Abbildung 2: Psychophysiologisches Modell der Traumatisierungserfahrung (Peichl, 2001, S.153)
Im Gegensatz zu einer Normalreaktion sind bei einer traumatischen Erfahrung die realen Kampf- oder Fluchtmechanismen (ÿFight- oder Flight-Mechanismenþ) blockiert und
man hat keine Möglichkeit das Geschehen zu verhindern oder zu beenden (Overkamp,
2002). Die Folgen und Auswirkungen einer traumatischen Erfahrung können sich beim
Menschen in unterschiedlichen Ausprägungen auf verschiedenen Ebenen niederschlagen und beeinflussen seine Verhaltensweisen und ýreaktionen (Fischer & Riedesser,
2003; Streeck-Fischer et al., 2001a; van der Kolk et al., 2000a). Eine solche Erfahrung
kann zu psychischen Veränderungen, einer Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten
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2 Das Phänomen des psychischen Traumas
14
und Gedächtnisleistungen, Veränderungen der Körperwahrnehmung sowie zu motorischen Veränderungen und Beeinträchtigungen führen (Streeck-Fischer et al., 2001b).
Die zentrale Frage ist, warum bei einer traumatischen Erfahrung die normalen Reaktions- und Verarbeitungsmechanismen außer Kraft gesetzt werden. Durch die heutigen
Möglichkeiten der Forschungsmethoden der Neurowissenschaften wie die der bildgebenden Verfahren lässt sich erklären, wie das zentrale Nervensystem in einer traumatischen Situation reagieren kann.
2.4.1
Neurobiologische und neurophysiologische Veränderungen der Gedächtnisleistungen durch Traumata
Die neurophysiologische und neurobiologische Forschung, die sich mit den Auswirkungen von traumatischen Erfahrungen auf das Gehirn und zentrale Nervensystem befasst,
kommt zu dem Ergebnis, dass traumatische Erlebnisse die Gehirnstrukturen und Hirnentwicklung beeinflussen können (Streeck-Fischer et al., 2001a). Die strukturellen Veränderungen im Gehirn nach einem traumatischen Erlebnis sind sehr komplex und nicht
leicht nachvollziehbar, insbesondere die Darstellung der hormonellen Veränderungen.
Es sollen im Folgenden nur die m.E. für die (Musik-)Therapie relevanten neurobiologischen und neurophysiologischen Auswirkungen einer traumatischen Erfahrung dargestellt werden. Ausführlichere Abhandlungen zu diesem Themenkomplex geben: Brisch
und Hellbrügge (2003), Fischer und Riedesser (2003), Huber (2005), Rüegg (2004),
Streeck-Fischer et al. (2001a) und van der Kolk et al. (2000a).
Besondere Bedeutung kommt dabei zwei Bereichen im Gehirn zu, dem Mandelkern
(Amygdala), und einem in der Tiefe des Schläfenlappens gelegenem Rindenfeld, dem
Hippocampus. Die folgenden beiden Abschnitte zur Rolle der Amygdala bei der Abspeicherung emotionaler Gedächtnisinhalte und zur Bedeutung der Mitbeteiligung des
Hippocampus stellen eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse zur Rolle des
Mandelkerns bei traumatischen Erlebnissen und die Beeinflussung durch Neurotransmitter dar, die sich hauptsächlich auf Rüegg (2004) beziehen, sich aber auch z.B. bei
Brisch und Hellbrügge (2003), Fischer und Riedesser (2003), Huber (2005), StreeckFischer et al. (2001a) und van der Kolk et al. (2000a) nachlesen lassen.
Die Rolle der Amygdala bei der Abspeicherung emotionaler Gedächtnisinhalte
Nach dem heutigen neurophysiologischen Forschungsstand scheint der Mandelkern
(Amygdala) im limbischem System, unserem ÿemotionalen Gehirnþ, eine wesentliche
Rolle bei der Abspeicherung und Bewertung von emotional bedeutsamen Erlebnissen
im Gedächtnis zu spielen und er verleiht außerdem allen Erinnerungen die emotionale
Färbung (Rüegg, 2004). Aber auch beim Erwerb eines ÿTraumagedächtnissesþ nach
lebensbedrohlichen Erfahrungen hat die Amygdala einen bedeutenden Anteil. Bei der
traumatischen Erfahrung kann es zu einer Umstrukturierung neuronaler Netzwerke im
Mandelkern kommen (neuronale Plastizität). Dabei kann der Mensch das, was ihn emotional berührt, scheinbar besser behalten als Erlebnisse, die keine Emotionen auslösen.
Dies mag nach Rüegg (2004) möglicherweise durch den Anstieg der Adrenalinkonzentration im Plasma bei emotionellen Erfahrungen ausgelöst werden. Nicht nur die Beteiligung an einem angstvollen Erlebnis, sondern auch die Vorstellungen und Erinnerungen
danach, aktivieren das autonome Nervensystem. Nicht alle unsere Erlebnisse sind dem
Bewusstsein zugänglich und lassen sich in Worte fassen, sind also im expliziten episodischen Gedächtnis abgespeichert. Es existieren auch Erfahrungen, die man nicht sprachlich wiedergeben kann und die trotzdem Erinnerungsspuren im neuronalen Netzwerk
hinterlassen haben (z.B. frühkindliche Erfahrungen wie Geborgenheit). Diese Erfahrungen sind im sogenannten impliziten Gedächtnis abgespeichert und der Betroffene wird
sich möglicherweise vorbewusst auf der Ebene der Emotionen und des Körpers an diese
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Situation erinnern können und sie körperlich ausdrücken können (sog. Körpergedächtnis (van der Kolk et al., 2000a)). Nicht nur positive Gefühlseindrücke, sondern alle Färbungen können so abgespeichert worden sein, wie z.B. auch Angst oder Furcht, was
dann in manchen Situationen z.B. zu unerklärlichen Angstzuständen führt. Traumatische Erlebnisse verankern sich also tief im emotionalen Gedächtnis des Mandelkerns.
Traumatische Erfahrungen bewirken zudem eine Veränderung der Strukturen im
neuronalen Netzwerk. Dies führt zu veränderten Nervenbahnen sowie Verfestigung und
Stabilisierungen synaptischer Verbindungen durch einen Lernprozess. Daher reagieren
Menschen, die traumatisiert wurden, im besonderen Maße reizempfindlich auf Stress.
Schon ein kleiner Anlass lässt sie erschrecken, sie sind leicht reizbar und reagieren psychosomatisch z.B. mit Muskelzittern und Schweißausbrüchen.
Bei Tierversuchen zur Furchtkonditionierung (Tonsignal und Schmerzzuführung) hat
man herausgefunden, dass funktionierende neue (subkortikale) Verbindungen zwischen
dem im Zwischenhirn gelegenen Neuronen der Hörbahn und Neuronen im Mandelkern
etabliert wurden, deren Erregung eine emotionale Furchtreaktion auslöste (z.B. Schreckensstarre ÿFreezingþ oder Veränderung der Herzfrequenz). Diese direkte Verschaltung zwischen Hörnerv und Gehirn existiert auch beim Menschen, war früher sicher
lebensrettend und blieb ihm bei der evolutionären Entwicklung bis in die heutige Zeit
erhalten. Der Mensch reagiert deshalb heute noch mit einem reflexartigen, subkortikal
ausgelösten Verhalten einer elementaren Kampf- oder Fluchtreaktion bei unbekannten
Geräuschen. Jedoch bei der Erfahrung eines traumatischen Ereignisses scheint dieser
angeborene Mechanismus beim Menschen nicht zu funktionieren.
Bedeutung und Mitbeteiligung des Hippocampus
Der Mandelkern scheint also bei elementaren Angstreaktionen eine wesentliche Rolle
zu spielen. Es stellt sich nach dieser Darstellung die Frage, warum aber gerade bei der
Erfahrung eines traumatischen Erlebnisses diese beschriebene Bereitschaft zu Kampf
oder Flucht eben nicht möglich ist, sondern warum der Mensch stattdessen mit Erstarrung und Lähmung (bzw. freezing und numbing) reagiert.
Neben dem Mandelkern ist bei komplexeren erlernten Reaktionen, z.B. was die
räumliche bzw. örtliche Umgebung betrifft, der Cortex cerebri (Hirnrinde) von Bedeutung. Es wird daher angenommen, dass besonders die Mitwirkung des Hippocampus
(ein in der Tiefe des Schläfenlappens gelegenes Rindenfeld) für das Erlernen und Speichern komplexerer Zusammenhänge und Episoden im expliziten Gedächtnis (das in der
Großhirnrinde angenommen wird) nötig ist und er zudem das Ortsgedächtnis enthält.
Man hat herausgefunden, dass bei Menschen, die unter posttraumatischen Störungen
leiden, eben dieser Hippocampus verändert und oftmals verkleinert (atropisch) ist
(Hüther, 2003).
Die Konfrontation mit einer traumatischen Situation führt zu einer Überflutung mit
aversiven Reizen, bei der die normalen Reaktionen und Bewältigungsmöglichkeiten
(gesteigerte Wahrnehmung => Flucht oder Kampf) außer Kraft gesetzt werden und es
kommt wegen der direkten Verbindung zwischen den im Zwischenhirn gelegenen Neuronen der Hörbahn und Neuronen in der Amygdala zu einer permanenten Übererregung
des vegetativen Nervensystems auf verschiedene Reize und somit zu einer psychophysiologischen Notfallreaktion (Engl, 2002; Peichl, 2001; van der Kolk et al., 2000a; siehe
auch Abbildung 2). Aufgrund der Gefahr eines chronischen Überreizungszustandes im
Gehirn reagiert die Amygdala immer schneller mit Stress auf Reize, bei denen eigentlich die objektive Gefahr viel geringer ist. Eigentlich müssten bei Menschen, die mit
Übererregtheit reagieren, die Stresshormone (z.B. Cortisol) im Blut ständig erhöht sein.
Bei Untersuchungen von Menschen mit der Diagnose der PTBS ergaben aber die Messungen des Cortisolspiegels einen signifikant erniedrigten Wert (Streeck-Fischer et al.,
2001b). Dabei konnte zudem nachgewiesen werden, dass der Hippocampus bei einer
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16
traumatischen Erfahrung aufgrund hormoneller Veränderungen außer Kraft gesetzt und
beschädigt werden kann. Durch die Überflutung mit aversiven Reizen wird im Gehirn
zunächst eine Flut von Stresshormonen freigesetzt. Das zunächst übermäßige Ausschütten von Stresshormonen beeinträchtigt die Hirnstrukturen, die eigentlich dafür zuständig
sind, die Angstreaktion der Amygdala zu differenzieren, was wiederum zu einer Reduktion der Stresshormone führt. Beispielsweise werden Endorphine freigesetzt, die zur
Neutralisierung der Todesangst und zum Weggetretensein führen, so dass die Menschen
mit Erstarrung, Vermeidung (avoidance) und Gefühlstaubheit (numbing) reagieren. Der
gesamte neurochemische Prozess führt zu Affektdysregulationen, woraus chaotische,
vermischte und nicht handhabbare Affekte resultieren, die schwer in Worten zu beschreiben sind.
Bei traumatisierten Menschen scheint das implizite Gedächtnis in Takt zu sein, aber
durch den beschädigten Hippocampus sind die im expliziten Gedächtnis gespeicherten
Erinnerungen an das Trauma nur bruchstückhaft und lassen sich daher nicht in Worte
fassen. Dies konnte mit Hilfe der bildgebenden Verfahren bei Menschen mit der Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung nachgewiesen werden: Wenn diese
Menschen Reizen, die sie an das Trauma erinnern, ausgesetzt werden, erfolgt in der
rechten Gehirnhälfte eine erhöhte Durchblutung, die mit emotionalen Zuständen und
vegetativen Erregungen im Zusammenhang steht. Im linken Frontalkortex (Broca Areal), der für das Generieren von Worten zur Bezeichnung internaler Zustände zuständig
ist, nimmt gleichzeitig der Sauerstoffverbrauch ab (van der Kolk, 2000). Möglicherweise liegt darin die Ursache, dass die Emotionen nur noch körperlich ausgedrückt werden
können. Traumatisierte Menschen verlieren dadurch die Verbalisierungsfähigkeit für die
beim Trauma auftretenden Gefühle, die die Kommunikation mit sich und anderen ermöglichen. Diese Traumafolge wird auch als Alexithymie und Somatisierung bezeichnet. Die fehlende Symbolisierungsfähigkeit kann auch die Impulskontrolle beeinträchtigen und führt z.B. zu unangemessenen Wutausbrüchen (ebd.).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es bei einer traumatischen Erfahrung zu einer
Überflutung aversiver Reize auf den menschlichen Körper kommt und das vegetative
Nervensystem mit einer Übererregung reagiert. Die Reize werden über das gesamte
vegetative Nervensystem aufgenommen, z.B. über die Sinnesorgane, Muskulatur und
Knochen, die wiederum die Reize an das zentrale Nervensystem weiterleiten. Dort
kommt es zu Störungen der neuronalen, hormonellen und biochemischen Funktionen
von limbischem System, Amygdala, Hippocampus, Formatio reticularis, Hypothalamus
und Hypophyse (Fischer & Riedesser, 2003; Huber, 2005; Hüther, 2003; Rüegg, 2004;
Streeck-Fischer et al., 2001a; van der Kolk et al., 2000a). Dies führt zu einer Anpassung
des Hirnstoffwechsels, des vegetativen Nervensystems und der Funktionen der Körperorgane an die erfahrenen traumatischen Belastungen, was auch als physiologische Dysregulation bezeichnet wird. Dies verändert wiederum Bereiche des Denkens, Fühlens,
Erinnerns und der Konzentration (Streeck-Fischer et al., 2001b). Alle diese geistigen,
emotionalen und körperlichen Reaktionen während und nach einer traumatischen Erfahrung dienen dem Überleben und lassen sich daher zunächst als Anpassungsleistungen
oder Bewältigungsmechanismen des Menschen verstehen und stellen zunächst keine
Störung oder Krankheit dar.
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17
2.4.2
Geistige, seelische und körperliche Veränderungen und ihre Auswirkungen auf Verhalten und Beziehungen
Aufgrund der neurobiologischen und neurophysiologischen Veränderungen bleiben
nach einer traumatischen Erfahrung oftmals nur diffuse Erinnerungen, wie z.B. Angst,
Hilflosigkeit, Ohnmacht, Alleinsein, Resignation, Apathie, verschiedene Stimmungslagen, die assoziativ nicht integrierbar sind und Unwohlsein, Schmerzempfindungen, sowie körperliche Missempfindungen als Information im zentralen Nervensystem gespeichert (Besser, 2002).
Die traumatischen Reaktionsprozesse bezogen auf die geistige, seelische und körperliche Ebene beim Menschen lassen sich folgendermaßen systematisieren und werden
auch als traumatogene Wirkfaktoren bezeichnet:
ÿ
ÿ
ÿ
Gedächtnisstörungen und Dissoziation
Retraumatisierung und Wiedererleben (Intrusion)
Flashbacks, Alpträume
Intensive emotionale Reaktionen þ Konstriktion
Psychosomatische Reaktionen
Vegetative Übererregtheit (Hyperarousal)
Gedächtnisstörungen und Dissoziation
Ein traumatisches Erlebnis stellt eine Schocksituation dar, in der wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben das autonome Nervensystem und das gesamte Gehirn reagieren, mit dem Ziel den Menschen wieder handlungsfähig zu machen (Huber, 2005). Da
bei einer traumatischen Situation die angeborenen Flucht- oder Kampfmechanismen
blockiert sind, stellt Dissoziation die Möglichkeit einer inneren Flucht dar, um die unbewältigbare Situation zu überleben (Overkamp, 2002). Aufgrund der Erkenntnisse aus
den Neurowissenschaften, wird beim Menschen der Freezing-Prozess bei den Tieren als
Modell zum Verständnis für dissoziative Reaktionen angenommen. Dissoziation stellt
daher, wie der Todstellreflex bei Tieren, zunächst eine natürliche Reaktion auf eine Situation dar, bei der Flucht oder Kampf nicht möglich ist (Huber, 2005). Vorübergehende Dissoziationen sind deshalb bei traumatischen Erfahrungen weitverbreitet (Overkamp, 2002). Bei der Dissoziation handelt es sich grundsätzlich um ein alltägliches
Phänomen. Alltagsdissoziationen verhindern eine Reizüberflutung und helfen abzuschalten (Huber, 2005). Die Fähigkeit zur Dissoziation ist bei den einzelnen Menschen
unterschiedlich ausgeprägt, wobei bei Kindern die Fähigkeit zur Dissoziation meist ausgeprägter ist als bei Erwachsenen (Huber, 2005; Overkamp, 2002). Dissoziation stellt
ein Persönlichkeitsmerkmal dar und Menschen mit einer ausgeprägten Dissoziationsfähigkeit können sich gut aus der Realität des Alltags wegträumen. Man geht davon aus,
dass Menschen mit angeborener hoher Fähigkeit zur Dissoziation, diese als Hauptabwehrmechanismus bei traumatischen Erfahrungen nutzen (ebd.).
Da Dissoziation ein alltägliches Phänomen ist, unterscheidet man grundsätzlich zwischen einer alltäglichen und einer pathologischen Dissoziation (Overkamp, 2002; siehe
auch Abb. 3). Die auf ein traumatisches Ereignis gezeigte Reaktion der Dissoziation
kann im Laufe des traumatischen Prozesses pathologisch werden, was zu individuellen
Einschränkungen und Blockaden bis hin zu Entwicklungsblockaden führt und die Kohärenz der Identität gefährden kann (Huber, 2005). Für die pathologische Dissoziation
werden nach Overkamp (2002) immer traumatische Erfahrungen angenommen. Bei der
pathologischen Dissoziation handelt es sich um einen komplexen psychophysiologischen Prozess, der zur Veränderung des Bewusstseins der Person führt. Die pathologische Dissoziation ist dadurch gekennzeichnet, dass die durch sie entstehenden Reaktionen und Verhaltensweisen zu massiven Beeinträchtigungen der alltäglichen LebensbeDiplomarbeit von Regina Weiß:
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18
dingungen führen. Gedanken, Gefühle und Bilder werden nicht auf normale Weise in
das Bewusstsein des Gedächtnisses integriert und verarbeitet. Normale Erinnerungen
werden unemotional, logisch, biografisch und Ich-synton im Gedächtnis abgespeichert.
Die traumatische Erfahrung wird dagegen mit dem gesamten affektiven Gehalt, hochemotional sinnlich und bildlich ohne Beteiligung des Sprachzentrums abgespeichert und
erinnert. Dadurch kann es zur Spaltung, einem Nebeneinanderstehen von verschiedenen
Bewusstseinsebenen, Gedächtnisinhalten, Wahrnehmungen der Umwelt und somit zur
pathologischen Dissoziation kommen. Aufgrund der Dissoziation werden traumatische
Erfahrungen auf verschiedenen Bewusstseinsebenen abgespeichert, im Wachbewusstsein, im Trancebewusstsein und im Traumabewusstsein und sind somit dem Wachbewusstsein unterschiedlich zugänglich und werden nur teilweise als Ich-synton erlebt
(ebd.). Traumatisierte Menschen speichern hierbei eher sensorische Merkmale der
Traumatisierung ab wie szenische Bilder, Geräusche, Körpergefühle, Gerüche, Affekte
und begleitende Emotionen und Gedanken, die verschiedenen Sinneseindrücke (z.B.
taktil, optisch), unterschiedliche Reaktionen des vegetativen Nervensystems und Körpererinnerungen (wie Herzklopfen, Atemnot, Übelkeit oder psychomotorische Abläufe).
Der zeitliche und räumliche Kontext und der Beziehungskontext der traumatischen Situation (Traumakontext) wird dabei mehr oder weniger zusammenhangslos in die Erinnerung mit aufgenommen (Besser, 2002).
Die Einordnung aktueller Erfahrungen wird zudem durch Stimulation von unterschiedlichen Sinneskanälen infolge von Erstarrung und Abblendung gestört. Das Alltagsbewusstsein wird dabei außer Kraft gesetzt, wobei Ort, Raum und Zeit beispielsweise entfremdet erlebt werden wobei auch ein sprachliches Einordnen nicht mehr möglich
ist (Huber, 2005). Gegenüber den fehlenden sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten treten Aktionen (z.B. körperliche Reaktionen wie Herzrasen) in den Vordergrund. Durch
Dissoziation sind folglich Teile oder die ganze traumatische Erinnerung dem Bewusstsein nicht mehr zugänglich (Besser, 2002). Dissoziation muss dabei nicht zwangsläufig
zu Beeinträchtigungen und Kontrollverlust führen (Huber, 2005; Overkamp, 2002), aber
sie kann die intellektuellen Fähigkeiten und die Gedächtnisleistungen einschränken, wie
z.B. Störung der Aufmerksamkeit und Konzentration, inhaltliche und formale Denkstörungen und Sprachstörungen (Fuckert, 2002; Sachsse, Schröder & Vogel, 2002b). Gedächtnissysteme sind szenisch organisiert, so dass man davon ausgehen muss, dass die
traumatische Erfahrung trotzdem als ganzheitliche Erfahrung gespeichert bleibt (Huber,
2005).
Diese sogenannten Dissoziations- und Abspaltungsprozesse übernehmen einerseits
eine Schutzfunktion das Erlebte überhaupt auszuhalten und verhindern andererseits eine
ganzheitliche Wahrnehmung und die Entwicklung von Identitätsempfindungen, da sie
unbewusst auch auf andere Situationen übertragen werden (Overkamp, 2002). Durch
Wiederholungen verselbständigt sich dieser Mechanismus oft unbewusst und es entsteht
ein Automatismus, die Erfahrungen fragmentiert abzuspeichern. Dies kann zu IchFragmentierung und der damit einhergehenden Angst vor Auflösung der Ich-Grenzen
führen (Besser, 2002; Huber, 2005; Overkamp, 2002).
Dissoziation kann Reaktionen im direkten Anschluss an das Trauma beinhalten, wobei
die Dissoziation, die sich genau auf den Moment der Traumatisierung bezieht, als peritraumatische Dissoziation bezeichnet wird (Overkamp, 2002). Es wird angenommen,
dass das Ausmaß der peritraumatischen Dissoziation eine wichtige Vorhersagekraft für
das Auftreten einer Posttraumatischen Belastungsstörung hat. Je höher die Dissoziation
im Moment der Traumatisierung ist, umso wahrscheinlicher ist eine nachfolgende Posttraumatische Belastungsstörung (Huber, 2005; Overkamp, 2002).
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ÿ
Alltägliche Dissoziation
Absorption (Abschalten), Zustände hoher
Konzentration
ÿ
Pathologische Dissoziation
Derealisation (z.B. andere Farben sehen; Zeitverzerrungen, wie im Film, etc.)
ÿ
Trance-Erfahrungen
ÿ
Despersonalisation (z.B. neben sich stehen)
ÿ
Alltags-Trancen: Trancen bei automatisch
ablaufenden Handlungen (z.B. Autofahren)
ÿ
Dissoziative Amnesie (z.B. biografische Erinnerungslücken)
ÿ
Dissoziative Fugue (z.B. plötzliches Verlassen
der gewohnten Umgebung und Beginn z.B. eines neuen Lebens unter anderem Namen)
ÿ
alle Formen von Bewusstseinslücken
ÿ
alle Formen von Identitätswechseln, wobei
damit auch ein Zustand der Leere gemeint sein
kann
ÿ
Dissoziative Identitätsstörung
Abbildung 3: Formen alltäglicher und pathologischer Dissoziation
Retraumatisierung und Wiedererleben (Intrusion)
Das traumatische Ereignis und die traumatischen Erfahrungen werden nach dem Ereignis ständig in Gedanken, Gefühlen, Handlungen und Vorstellungen wiedererlebt, was
bei den Betroffenen zu Retraumatisierungen und einem Nicht-Loskommen von den Erlebnissen führt (Streeck-Fischer et al. 2001a). Dieses Wiedererleben wird auch als
Intrusion oder intrusives Wiedererleben bezeichnet und ist mehr noch der Grund für die
psychischen Veränderungen als das traumatische Ereignis selbst, da der Mensch vom
Trauma durch das unkontrollierbare Auftreten beherrscht wird (van der Kolk, McFarlane & van der Hart, 2000b). Das intrusive Wiedererleben eines traumatischen Ereignisses geschieht auf vielfältige und komplexe Weise. Intrusion führt zu einem Zustand
überwältigender Emotionen und Kognitionen, worauf mit emotionaler Taubheit reagiert
wird, um sich nicht ständig mit diesem gefährlichen Innenleben auseinandersetzen zu
müssen (van der Kolk, 2000). Die Betroffenen erleben häufig die abgespaltenen sensorischen Elemente des Traumas in Rückblenden (Flashbacks) und Alpträumen (Overkamp, 2002).
Flashbacks und Alpträume
Bei Flashbacks und Alpträumen handelt es sich um ungewollte, durch äußere Reize
ausgelöste Erinnerungen und Schreckensbilder an das traumatische Geschehen (z.B.
Erinnerung an den erlebten Verkehrsunfall beim Hören von quietschenden Reifen), die
sich immer wieder aufgrund der neuronalen Verschaltungen im Gehirn aus der Tiefe
des Unterbewusstseins ins Bewusstsein drängen und zu körperlichen und emotionalen
Angst- und Schreckensreaktionen führen (Rüegg, 2004). Diese traumatischen Erinnerungen werden durch bestimmte Schlüsselreize sogenannte Trigger ausgelöst (Besser,
2002; Fischer & Riedesser, 2003; Huber, 2005). In Flashbacks und Alpträumen werden
die traumatischen Szenen immer wieder vor dem inneren Auge erlebt. Diese Erfahrungen sind nicht kontrollierbar (Overkamp, 2002). Das Bewusstsein wird von inneren Bildern überflutet, die mit vehementen unbewussten Emotionen einhergehen und zu körperlichen, vegetativen Veränderungen führen (z.B. Angst, Zittern, Übelkeit, Herzrasen,
Änderungen der Mimik und Gestik, Starre und Schmerz) (Besser, 2002).
Bei Flashbacks als Form des intrusiven Wiedererlebens handelt es sich um ÿintensive
Wiedererlebenssequenzen, deren Intensität das aktuelle Wahrnehmen überdeckt und
eine ûdoppelte Wahrnehmungú oder sogar ein vollkommenes ûWegtreten in die Erinnerungú erzwingtþ (Huber, 2005, S. 74). Dabei handelt es sich nur um bruchstückhafte
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Erinnerungen des traumatischen Erlebnisses. Kontingenzerfahrungen, um sinnvolle Zusammenhänge zwischen sensorischen, affektiven Interaktionen zu erkennen, fehlen. Sie
werden durch die traumatische Erfahrung zerstört (Streeck-Fischer et al., 2001a).
Traumatisierte Menschen erleben daher nicht nur die Nachwirkungen ihrer traumatischen Erfahrungen, sondern erleben durch Flashbacks und Alpträume auch das Trauma
wieder und die Reaktionen werden dadurch zusätzlich verstärkt (Huber, 2005). Die
durch Intrusion hervorgerufenen traumatischen Erinnerungen werden auch als Nachhallerinnerungen bezeichnet (z.B. in der ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt,
2005)).
Intensive emotionale Reaktionen þ Konstriktion
Intrusion führt zu intensiven emotionalen Reaktionen auf die mit Vermeidungsverhalten
(Konstriktion) in Form von Vermeidung (avoidance) und/oder emotionaler Taubheit
(numbing) und/oder Erstarrung reagiert wird (vgl. Abb. 2 Kap. 2.4). Die Emotionen
dieser Erinnerungen sind so gefährlich und überwältigend, dass sie nicht mehr zu Handlungen anregen, sondern lähmen (van der Kolk, 2000). Neben emotionaler Taubheit
kann dies zur Vermeidung aller Reize führen, die mit dem Trauma zu tun haben, z.B.
von Situationen, Personen, Orten und Emotionen, die an das traumatische Ereignis erinnern, aber auch zur Einnahme von Alkohol oder Drogen zur Bewusstseinsbetäubung.
Dieses Vermeidungsverhalten geht oft mit einer Einengung der Vitalität und des Verhaltens einher (Huber, 2005).
Psychosomatische Reaktionen
Wie bereits dargestellt, wirkt jedes traumatische Ereignis auch Mikrotrauma auf den
menschlichen Organismus (Fuckert, 2002) und die traumatische Erfahrung bleibt auch
als Körpererinnerungen abgespeichert (van der Kolk et al., 2000a). Traumatisierte Menschen fühlen sich u.U. in ihrem Körper nicht mehr zu Hause (Herman, 2003). Der
Mensch kann mit vegetativer Übererregung (Hyperarousal) und emotionaler Taubheit
(numbing) reagieren. Die Übererregtheit führt zu Schlafstörungen und vegetativen Beeinträchtigungen (Fuckert, 2002). Um der Übererregung entgegenzuwirken, werden die
Gefühle ausgeblendet, wodurch Gefühle des Gelähmtseins, Eingefrorenseins entstehen,
die oft verbunden sind mit den Gefühlen neben sich zu stehen oder als würde es gar
nicht passieren und als wäre das ein Film. Der Körper ist dabei wie betäubt, empfindungslos (Herman, 2003). Des weiteren kann der Körper die Gefühle in Form von körperlichen Symptomen wie Schmerz, muskulären Verspannungen oder anderen psychosomatischen Beschwerden ausdrücken (Fischer & Riedesser, 2003). Bezogen auf die
Art des Traumas sind viele Traumatisierungen wie z.B. alle Gewalterfahrungen massive
Grenzverletzungen (Hille, 2002). Diese Grenzverletzungen schließen auch oft die körperlichen Grenzen mit ein. Dadurch, dass der Körper Hauptanlass und ýziel der Gewalt
ist, sind Symptome auf dieser Ebene naheliegend. Symptome auf körperlicher Ebene
sind dabei beispielsweise diverse Schmerzen, selbstverletzendes Verhalten, psychogene
Erkrankungen bis hin zu Lähmungen und Essstörungen. Aber es gibt auch die gegenteilige Reaktion, dass die Betroffenen nichts mehr spüren und ihren Körper schmerzunempfindlich gemacht haben. Das eigene Körperempfinden wird gestört oder beeinträchtigt und auch zerstört und es kann zu Empfindungsstörungen auf der Hautebene kommen (Herman, 2003; Hille, 2002). Nicht selten geht die Traumatisierung auch mit körperlichen Verletzungen einher und/oder die Betroffenen bedürfen medizinischer Eingriffe (Sachsse et al., 2002a).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
2 Das Phänomen des psychischen Traumas
21
Gemeinsamkeit der in diesem Kapitel vorgestellten traumatischen Reaktionsprozesse
ist, dass sie zu einer Vielfalt von Problemen bei der Regulation affektiver Zustände führen. Diese lassen sich unter dem Begriff der Affektdysregulation zusammenfassen: Der
Verlust der Fähigkeit, ein Gefühl für Sicherheit und Ordnung herzustellen führt z.B. zu
ÿ...charakterologischen Anpassungen, unter Einschluß von Problemen in bezug auf die
Selbstwirksamkeit, auf Scham, Selbsthaß, sowie zu Problemen bei der Bearbeitung interpersonaler Konflikte. Solche Probleme finden ihren Ausdruck entweder in übertriebener Abhängigkeit oder im Gegenteil ý sozialer Isolation, Mangel an Vertrauen und
Unfähigkeit wechselseitig befriedigende Beziehungen aufzubauenþ (van der Kolk,
2000, S.171). Daher sind typische Verhaltensweisen nach einer traumatischen Erfahrung: feindliche misstrauische Haltung der Welt gegenüber, verbunden mit Ohnmacht,
Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein sowie sozialer Rückzug, Gefühle der Leere, Hoffnungslosigkeit und Entfremdung (Herman, 2003; van der Kolk, 2000).
Die komplexen menschlichen Reaktionsprozesse auf ein traumatisches Geschehen sind
zunächst Strategien und Verhaltensweisen, die entwickelt und angewandt werden, um
dem Überleben zu dienen. Man spricht daher auch von vielschichtigen Anpassungsprozessen nach erfolgter Traumatisierung und sie stellen zunächst keine Krankheit dar
(Huber, 2005; van der Kolk, 2000). Deshalb bedarf nicht jedes Trauma einer Behandlung oder mündet in eine psychische Störung. Jeder Mensch kann Überlebender eines
Traumas werden. Die meisten Menschen, die eine traumatische Erfahrung gemacht haben, verfügen über genügend eigene Ressourcen, um für sich die notwendige Unterstützung in ihrem sozialen Umfeld zu finden und selbst wieder ins Leben zurückfinden sowie durch funktionierende soziale Netzwerke Unterstützung zu bekommen, so dass die
traumatischen Reaktionen kurz nach dem Ereignis wieder abklingen (Huber, 2004;
2005; van der Kolk, 2000). Ob jemand eine Störung entwickelt hängt von den verschiedenen objektiven und subjektiven Situationsfaktoren ab, die die Auswirkungen
beeinflussen (Brisch & Hellbrügge, 2003; Fischer & Riedesser, 2003).
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3 Pathologie
3
22
Pathologie
Wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben kann die seelische und körperliche Gesundheit eines Menschen durch Traumatisierungen anhaltend beeinträchtigt werden
(Streeck-Fischer et al., 2001b). Das Ausmaß des Traumas, vor allem die psychischen
Folgen, werden von verschiedenen Faktoren und deren Intensität beeinflusst.
3.1
Merkmale, die die Entstehung und den Verlauf traumatischer Störungen
beeinflussen
Huber (2005) beschreibt folgende Faktoren, die es einem Menschen schwer machen ein
traumatisches Erlebnis zu integrieren:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
Ereignisse und Faktoren, nach denen besonders schwere
Traumareaktionen zu erwarten sind:
dauern sehr lange
wiederholen sich häufig
lassen das Opfer mit schweren körperlichen Verletzungen zurück
sind vom Opfer schwer zu verstehen
beinhalten sexuelle Gewalt
beinhalten zwischenmenschliche Gewalt
beinhalten sadistische Folter
der Täter ist ein nahestehender Mensch
das Opfer (mochte) mag den Täter
das Opfer fühlt sich mitschuldig
die Persönlichkeit ist noch nicht gefestigt oder gestört
mehrere Täter haben das Opfer zugerichtet
das Opfer hatte starke Dissoziationen
niemand hat dem Opfer unmittelbar danach beigestanden
niemand hat nach der Tat mit dem Opfer darüber gesprochen
Abbildung 4: Faktoren besonders schwerer Traumareaktionen
(in Anlehnung an Huber,2005, S. 75)
Wie die Abbildung 4 zeigt, werden der Verlauf und die Entstehung von psychotraumatischen Störungen von vielen verschiedenen Schutz- und Risikofaktoren beeinflusst, die
sich in folgende Bereiche einordnen lassen:
ÿ
ÿ
ÿ
Merkmale der traumatischen Situationen
Merkmale des Individuums
Bewertungsprozesse
Bewältigungsstrategien
Merkmale des sozialen Umfeldes
Diese Faktoren stehen in Wechselwirkung zueinander, beeinflussen sich gegenseitig
und beeinflussen die Reaktionen bzw. die psychosozialen Auswirkungen auf die traumatische Erfahrung. Wie diese einzelnen Faktoren in Wechselbeziehung zueinander
stehen, hängt von dem zugrundeliegenden Erklärungsmodell ab. Derzeit gibt es verschiedene Erklärungsmodelle zur Entstehung und zum Verlauf von posttraumatischen
Störungen, die an dieser Stelle nur genannt werden sollen: Psychodynamische und psychoanalytische Erklärungsansätze, Kognitiv-behaviorale und lerntheoretische Erklärungsansätze, Netzwerkmodelle, systemische Erklärungsansätze sowie Neurobiologische Modelle (vgl. Landolt, 2004; Peichl, 2001).
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3 Pathologie
23
Merkmale der traumatischen Situation
Ausschlaggebend für das Ausmaß der psychischen Schädigung ist das traumatische
Ereignis selbst und der Schweregrad der Traumatisierung. Der Schweregrad für die
Entwicklung einer posttraumatischen Störung ist abhängig vom Zeitpunkt, Dauer, Art
und Intensität der Traumatisierung. Die Intensität beinhaltet das Ausmaß der Gefährdung und die Überwältigung durch die Situation. Je größer die Gefährdung der Person
durch das Ereignis ist, je früher eine Traumatisierung im Leben erfolgt und je schwerer
sowie fortgesetzter die traumatischen Einwirkungen sind, desto gravierender und anhaltender sind die pathologischen Auswirkungen auf die Psyche und den Körper. Besonders schwerwiegende Folgen haben anhaltende (chronische) Traumatisierungen, die von
nahestehenden oder vertrauten Personen verübt werden (Streeck-Fischer et al., 2001b).
Chronische Traumata führen zudem häufig zu einem unklaren Symptombild mit unspezifischen Verhaltensauffälligkeiten und gelten bei der psychischen Bearbeitung als psychisch stärker belastend (AWMF, 2000; Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003). Die
Prävalenz (post)traumatischer Störungen hängt von der Typologie der traumatischen
Situation ab, die durch folgende Faktoren gekennzeichnet ist, die unterschiedliche Intensität aufweisen können und in Wechselwirkungen zueinander stehen:
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
Verursachung(sfaktoren) - Schweregrad des traumatischen Ereignisses
Art der Betroffenheit der traumatisierten Person
Schweregrad der psychosozialen Belastungsfaktoren
Häufung traumatischer Ereignisse oder Umstände und ihre zeitliche
Verlaufsstruktur
Verhältnis zwischen Täter und Opfer
Der Schweregrad eines traumatischen Ereignisses wird von verschiedenen Verursachungsfaktoren beeinflusst. Ein besonders großes Risiko für eine psychotraumatische
Störung besteht nach Fischer & Riedesser (2003) beispielsweise bei folgenden Verursachungsfaktoren: Bedrohung für Leib und Leben, schwere körperliche Verletzung, absichtliche Verletzungen, extremer Kontrollverlust, Beobachtung von Gewalt gegen eine
nahestehende Person, Schuld am Tod einer anderen Person, gewaltsamer Verlust einer
Person, etc.. Diese Faktoren wirken additiv und stehen in Wechselwirkung zueinander.
Die Art der Betroffenheit der traumatisierten Person kann unterschiedliche Auswirkungen haben. Die größte Gefährdung eine psychotraumatische Störung zu entwickeln
besteht, wenn man selbst unmittelbar von dem traumatischen Geschehen betroffen gewesen ist. Weitere Abstufungen ergeben sich, wenn man Zeugin des Geschehens oder
indirekt davon betroffen ist (z.B. Angehörige von Unfallopfern). Eine unverarbeitete
Traumatisierung kann auf das Umfeld übertragen werden (sog. sekundäre Traumatisierung oder vicariierende (stellvertretende) Traumatisierung) und sogar an die nächste
Generation weitergegeben werden (sog. transgenerationale und intergenerationale
Traumatisierung) (Brisch & Hellbrügge, 2003). Sutton (2002b) beschreibt außerdem
anhand des Beispiels der Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York, dass
die Auswirkungen eines Traumas weit über den Ort des Geschehens in die Welt hinausreichen. Sutton (2002b) bezeichnet diese Folgen als ÿpost-trauma echoþ (S.27)5.
5
Im Zuge der zunehmenden Mobilität und medialen Vernetzung sind die Einflüsse traumatischer Ereignisse und ihre Wahrnehmung grenzüberschreitend und kollektiv geworden. Nicht nur die Betroffenen vor
Ort, sondern auch die Zuschauer weit weg können den Schock fühlen (Sutton, 2002b). Neben den Traumaüberlebenden und Traumazeuginnen (wie z.B. Verwandte, Freunde, Passantinnen) sind nahestehende
Personen, die nicht beteiligt waren, Rettungsdienste, Medien, Helferinnen und Behandlungspersonen, die
unmittelbar betroffene Bevölkerung (z.B. in der Straße oder Gegend) und Gemeinde (Landkreis, Land
und darüber hinaus) mehr oder weniger von den Auswirkungen betroffen. Nach Ansicht von Sutton
(2002b) führt das post-trauma echo zu langfristigen körperlichen und psychischen Auswirkungen auf
diese Personen. Dadurch, dass die Menschen (z.B. über die Medien oder Reisen, Hilfseinsätze) mit vielen
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3 Pathologie
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Traumatische Ereignisse stellen per se eine schwere Belastung dar, werden aber zudem von Stressoren bzw. psychosozialen Belastungsfaktoren, die nicht in direkter Verbindung mit dem traumatischen Ereignis stehen, zusätzlich beeinflusst (Fischer & Riedesser, 2003; Landolt, 2004).
Ein wesentliches Kriterium der traumatischen Situation stellt die Häufigkeit der
traumatischen Einwirkung und ihre zeitliche Verlaufsstruktur dar. Ein einmaliges Ereignis führt i.d.R. zu anderen Symptomen als eine langanhaltende (chronische) bzw.
sich wiederholende traumatische Erfahrung (=> Intensität der Auswirkungen nimmt zu)
(Fischer & Riedesser, 2003; Landolt, 2004; Streeck-Fischer et al., 2001a; Terr, 2001;
van der Kolk et al., 2000a). Bezüglich der Häufung des traumatischen Ereignisses wird
oft die Unterscheidung von Terr (2001) zwischen Typ 1ýTraumata (=einmalige, akute
und unvorhersehbare Traumatisierungen) und Typ 2ýTraumata (=chronisch wiederkehrende Traumatisierungen) genannt. ÿTyp 1-Traumata führen typischerweise zu den
klassischen Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung, während Typ 2Traumata oft komplexere Störungen und eine höhere Komorbidität zur Folge habenþ
(Landolt, 2004, S.59). Man spricht neben Typ 2-Traumata bei besonders schweren und
anhaltenden Traumatisierungen, auch von chronisch traumatischen Erfahrungen oder
komplexen Traumatisierungen. Dies trifft besonders auf anhaltende Traumatisierungen
durch Misshandlungen, sexuellen Missbrauch und Vernachlässigung mit Beginn in früher Kindheit zu (Fischer & Riedesser, 2003; Landolt, 2004; Sachsse et al., 2002a;
Streeck-Fischer et al., 2001a; van der Kolk et al., 2000a). Chronische und komplexe
Traumatisierungen führen zu schweren Beziehungsstörungen sowohl im Hinblick auf
das Selbst, wie auch gegenüber anderen (Herman, 2003; Streeck-Fischer, Kepper, Lehmann & Schrader-Mosbach, 2002). Weitere Bezeichnungen für sich wiederholende
Traumatisierungen sind: Polytraumatisierung, sequenzielle Traumatisierung und kumulative Traumatisierung (vgl. Fischer & Riedesser, 2003, S.137).
Das Verhältnis zwischen Täter und Opfer ist für das Risiko einer traumatischen Störung ausschlaggebend. Die Gefährdung ist geringer, wenn kein Bezug zur Familie besteht und höher, wenn es sich bei den Tätern um direkte Bezugspersonen handelt (Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003).
Merkmale des Individuums
Neben dem Typ der traumatischen Situation haben individuelle Merkmale Einfluss darauf, ob es zu einer traumatischen Störung kommt und welche Form sie annehmen kann.
Individuelle Merkmale sind biologische Merkmale der Betroffenen wie Alter, Entwicklungsstand und Geschlecht sowie psychologische Merkmale wie Persönlichkeit, Temperament, Intelligenz, psychopathologischer Status und psychopathologische Vorgeschichte (vgl. Landolt, 2004, S.59f). Darüber hinaus bestimmen subjektive Bewertungen und Bewältigungsmöglichkeiten (Copingprozesse) die Ausprägung traumatischer
Symptome. Welches Bild der psychischen Folgen bei Traumatisierungen einem letztendlich in der Therapie begegnet, hängt vor allem von der Persönlichkeitsstruktur und
dem Entwicklungsstand der Betroffenen ab.
Bei den Bewertungs- und Copingprozessen handelt es sich um subjektive Einschätzungen und Bewertungsprozesse (z.B. Schuldgefühle (wie z.B. Mitschuld), Hilflosigkeit, Bewertung der Situation als lebensbedrohlich oder Bewertung des traumatischen
Ereignisses als Herausforderung), aber auch um Bewertungen (Feed-back) aus dem sozialen Umfeld (Fischer & Riedesser, 2003; Landolt, 2004). Bei den Bewertungsstrategien stellen die Einschätzung der Kontrollierbarkeit und das Gefühl von Hoffnung einen
Schutzmechanismus dar. Je größer dagegen das Ausmaß der erlebten Hilflosigkeit und
traumatischen Ereignissen aus der ganzen Welt konfrontiert werden, steigt nach Sutton (2002b) die
Wahrscheinlichkeit, in der heutigen Gesellschaft eine traumatische Erfahrung zu machen.
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3 Pathologie
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Bedrohung für das Leben erlebt wird, desto größer ist das Risiko einer posttraumatischen Störung.
Die Reaktionen auf eine traumatische Erfahrung hängen von der persönlichen Disposition, aber auch von verschiedenen Schutz- und Risikofaktoren ab (Brisch & Hellbrügge, 2003; Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003; van der Kolk, 1999). Bezüglich
der persönlichen Disposition konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass Menschen mit besonders ausgeprägten kommunikativen und sozialen Fähigkeiten, einem
lebhaften Wesen und mit der Überzeugung ihr Schicksal beeinflussen zu können (sog.
innere Steuerungsinstanz), traumatische Ereignisse überwinden konnten und keine Störung entwickelten. Eine vorliegende psychische Störung stellt hingegen ein zusätzliches
Risiko dar.
Sichere Bindungserfahrungen in früher Kindheit werden im besonderen Maße als ein
Schutz vor Traumawirkungen angenommen, da eine relativ stabile Persönlichkeit beispielsweise andere Verarbeitungs- und Bewältigungsmöglichkeiten hat als ein frühgestörter Mensch (Brisch & Hellbrügge, 2003; Huber, 2005; Streeck-Fischer et al., 2002;
van der Kolk, 1999, 2000). Für die Schutz- und Risikofaktoren werden deshalb in der
Psychotraumatologie die Erkenntnisse aus der Bindungsforschung hinzugezogen. Als
Schutzfaktoren gelten z.B. sicheres Bindungsverhalten, soziale Förderung, verlässliche
und unterstützende Bezugspersonen sowie hinreichend gute Beziehungserfahrungen
(Brisch & Hellbrügge, 2003; Fischer & Riedesser, 2003; van der Kolk, 1999). Eine ausführliche Darstellung der Risiken und Schutzfaktoren in Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen liefern Brisch & Hellbrügge (2003) mit ihrem Buch zum Thema
Bindung und Trauma6. Zentrale Aussage dieser Erkenntnisse ist, dass frühe Lebenserfahrungen die späteren Antworten auf ein Trauma beeinflussen und sich auf die Bewältigungsmöglichkeiten für bedrohliche Situationen auswirken. Besonders bei anhaltenden Traumatisierungen kann man davon ausgehen, dass je früher bezogen auf das Lebensalter die traumatische Erfahrung erlebt wurde umso komplexer und schwerer die
Folgen sind (Brisch & Hellbrügge, 2003; May & Remus, 2003; van der Kolk, 1999).
Frühkindliche Traumatisierungen können aber nicht nur durch lebensbedrohliche Ereignisse wie Krieg oder Katastrophen, sondern auch durch die Störung der Mutter-KindInteraktion, Vernachlässigung und Missbrauch hervorgerufen werden.
Bei Kindern, die in einer Atmosphäre von Angst, Feindseligkeit, Gewalt oder Vernachlässigung aufwachsen oder deren Eltern einen chaotischen Bindungsstil aufweisen,
emotional verwirrt sind oder die abwesend sind, wird die Selbstregulation und
-organisation behindert, was zu innerer Überflutung mit chaotischen, nicht nennbaren
Gefühlen und Brüchen in zwischenmenschlichen Beziehungen führt (Brisch &
Hellbrügge, 2003; van der Kolk, 1999). Stabile Orientierungen fehlen, da das basale
Vertrauen in Personen, Umwelt und Ordnungen verlorengegangen ist (Fuckert, 2002;
Streeck-Fischer et al., 2002; van der Kolk, 1999). Diese frühkindlichen schweren und
chronischen Traumatisierungen (auch Kindheitstraumata, frühkindliche Traumata, Developmental Traumata, Beziehungstraumata und bei Säuglingen oder Kleinkindern vor
der Sprachentwicklung auch präverbale Traumata genannt) führen zu komplexen Störungen und zu Störungen basaler Integrations- und Regulationsmechanismen, die sich
auch in komplexen neuropsychologischen Veränderungen zeigen und die Reifung gefährden (Streeck-Fischer et al., 2002; Terr, 2001; van der Kolk, 1999). Diese frühkindlichen Traumata manifestieren sich im Erwachsenenalter in verschiedenen meist komplexen Symptomen und in verschiedenen psychosomatischen Erscheinungsformen. Gerade
bei der therapeutischen Arbeit im psychiatrischen Kontext hat man oft mit diesen frühen
Traumata zu tun (Herman, 2003).
6
Tabellarische Zusammenstellung der Schutz- und Risikofaktoren darin: vgl. Grossmann (2003) S.22ff
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Merkmale des sozialen Umfeldes
So wie traumatische Ereignisse immer Auswirkungen auf die Beziehungen haben, kann
das soziale Umfeld umgekehrt auch die Symptomausprägung beeinflussen, z.B. durch
ablehnende oder feindselige Reaktionen. Wurde das Selbstgefühl beispielsweise durch
die traumatische Erfahrung zerstört kann es nur durch Beziehungen zu anderen Menschen wieder aufgebaut werden. Daher ist eine emotionale Unterstützung von nahestehenden Personen unmittelbar nach dem Trauma notwendig, um wieder ein Minimum an
Vertrauen herzustellen sowie Schutz und Geborgenheit zu bieten (Herman, 2003).
Die Merkmale des sozialen Umfeldes beziehen sich auf alle Variablen, die das soziale Netzwerk bzw. die sozialen Beziehungen der traumatisierten Menschen betreffen.
Z.B. Reaktionen und Bewertungen der Familie, nahestehender Personen, Beziehungen
zu Gleichaltrigen, soziale Unterstützung bei der Traumabewältigung, die Qualität der
Beziehungen, psychische Erkrankungen in der Familie, etc.. Nicht selten reagiert aber
das soziale Umfeld mit Wegsehen, NichtýWahrhaben-Wollen, fehlendem Schutz, Verharmlosung, bis hin zur Täter-Opfer-Vertauschung oder zu Nachfolgetaten (Fischer &
Riedesser, 2003; Herman, 2003; van der Kolk et al., 2000a). Eine natürliche Reaktion
auf Verletzungen wäre dagegen Schmerz, Wut oder Trauer, die aber u.U. nicht möglich
sind, da man z.B. vom Täter gezwungen wird zu schweigen. Reagiert das Umfeld mit
Gewalt, Erpressung, Bedrohung oder Verharmlosung wird den Opfern die Möglichkeit,
ihre eigenen Gefühle auszudrücken, genommen. Die Opfer entwickeln daraufhin zwei
Strategien: entweder die eigenen Gefühle, Empfindungen und Bedürfnisse nicht mehr
wahrzunehmen in Form einer Störung der Selbstwahrnehmung und/oder sie spüren sich
noch, drücken dies aber nicht adäquat aus (Störung der Ausdrucksfähigkeit) (Hille,
2002). Die Reaktionen der Umwelt spielen eine besondere Rolle während und nach der
Traumatisierung und beeinflussen die traumatischen Reaktionen (auf die besondere Bedeutung des Umfeldes für die Betroffenen und ihre Behandlung wird im musiktherapeutischen Teil der Arbeit in Kapitel 5.8 ausführlicher eingegangen).
Wie die eben beschriebenen Merkmale deutlich machen, helfen protektive Faktoren bei
der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen (Brisch & Hellbrügge, 2003; Fischer &
Riedesser, 2003), bestimmte Risikofaktoren dagegen begünstigen eine Ausprägung von
Symptomen und Störungen. Zwar können auch spätere Traumata zu posttraumatischen
Störungen führen, aber sie führen in der Regel nicht zu solch gravierenden Veränderungen von physiologischen Funktionen und Gesamtpersönlichkeit wie frühkindliche
Traumata und lassen sich daher leichter behandeln (Fuckert, 2002).
3.2
Klassifikation posttraumatischer Störungen
Den meisten traumatisierten Menschen gelingt es, selbstständig das Trauma zu überwinden und in ihre Biografie als Erinnerung zu integrieren. Damit man von einer Störung und posttraumatischen Symptomen sprechen kann, müssen die betroffenen Personen darunter leiden und zudem die gezeigten traumabezogenen Reaktionen die sozialen
und beruflichen Lebensbereiche so stark beeinträchtigen, dass die Unterstützung anderer benötigt wird, um sie zu bewältigen.
Aufgrund der Bandbreite der möglichen traumatischen Situationen, der individuellen
Situationsverarbeitung und unterschiedlichen Reaktionen darauf, muss man mit einer
Vielzahl von posttraumatischen Symptomen und Syndromen als mögliche Folgeerscheinungen rechnen und es existiert kein einheitliches Traumasyndrom (Herman,
2003). Dennoch wird versucht, auf einer abstrakten Ebene bestehende Gemeinsamkeiten zu klassifizieren, z.B. im Diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen der American Psychiatric Association [DSM] und der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation [ICD].
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Nachfolgend werden die posttraumatischen Störungen, die bisher in die beiden Klassifikationssysteme DSM-IV (Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003) und ICD-10 (Dilling
et al., 2005) aufgenommen wurden, vorgestellt, wobei es sich nicht um eine detaillierte
Darstellung der einzelnen Störungsbilder handelt. Für die Beschreibungen werden die
m.E. wesentlichen Aspekte auf Grundlage der ICD-10 beleuchtet und bei Bedarf Kriterien des DSM-IV zur Ergänzung hinzugezogen, da diese ausführlicher ist. Zwischen den
Kriterien des DSM-IV und der ICD-10 bestehen zahlreiche Unterschiede, besonders bei
den dissoziativen Störungen, z.B. bezüglich des zeitlichen Rahmens, der beschrieben
wird, bzw. bezüglich Dauer und Auftrittszeitpunkt.
Im Unterschied zu anderen psychischen Störungen wird bei (post)traumatischen Störungen davon ausgegangen, dass das belastende Ereignis immer der ausschlaggebende
Kausalfaktor ist (Dilling et al., 2005; Huber, 2005; Saß et al., 2003). Man muss nicht
selbst Opfer traumatischer Situationen sein, sondern es reicht auch die Bezeugung aus,
um eine Symptomatik und Störung zu entwickeln.
In der ICD-10 werden die meisten traumatischen Störungsbilder unter F43 die Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen geführt (Dilling et al., 2005).
Die erste Reaktion auf ein traumatisches Ereignis wird als Akute Belastungsreaktion
bezeichnet. Diese kann in eine kürzer- oder längerandauernde Anpassungsstörung übergehen. Oft entwickelt sich auch eine Posttraumatische Belastungsstörung und bei
besonders schweren und langandauernden Traumatisierungen können sich andauernde
Persönlichkeitsänderungen einstellen. Derzeit sind folgende Verläufe posttraumatischer
Reaktionen in der ICD-10 und im DSM-IV festgelegt (hier mit der Bezifferung der
ICD-10):
Akute Belastungsreaktion
Die in der ICD-10 als Akute Belastungsreaktion (F43.0) bezeichnete Störung wird im
DSM-IV Akute Belastungsstörung genannt (engl.: acute stress disorder). Dabei handelt
es sich um eine vorübergehende massive Reaktion, die in eine PTBS münden kann, aber
nicht muss. Ziel dieser Kategorie ist, neben der Beschreibung der akuten Belastungsreaktion nach dem Trauma, damit Personen zu erfassen, für die ein erhöhtes Risiko für die
Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung besteht (Landolt, 2004). Einige
der Symptombilder der Akuten Belastungsreaktion treten bei den meisten Menschen
nach der Konfrontation mit einer traumatischen Situation auf, daher sollte die Diagnose
der Akuten Belastungsreaktion nur bei Menschen gestellt werden, die darunter in bedeutsamer Weise leiden oder dadurch in wichtigen Funktions- und Fähigkeitsbereichen
des Lebens (z.B. sozial oder beruflich) beeinträchtigt werden (Saß et al., 2003).
Kernsymptome der ICD-10: sind eine Art ÿBetäubungþ, Bewusstseinseinengung,
Einschränkung der Aufmerksamkeit, Unfähigkeit Reize zu verarbeiten und Desorientierung. Dies kann zu Rückzug (bis hin zu dissoziativem Stupor F44.2 ) oder Unruhezustand und Überaktivität, wie Fluchtreaktion oder Fugue auch vegetativ (z.B. Herzrasen,
Schwitzen, Erröten) führen. Die Symptome erscheinen innerhalb der ersten zwei Minuten des traumatischen Ereignisses und gehen i.d.R. in ein zwei Tagen zurück. Für diese
Episode kann eine Amnesie (F44.0) vorliegen (Dilling et al., 2005). Bei der Akuten
Belastungsreaktion besteht eine erhöhtes Risiko, eine Posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln (Saß et al., 2003).
Die Störung tritt laut ICD-10 kurz nach dem traumatischen Ereignis auf und klingt in
der Regel nach einigen Stunden bis längstens 48 Stunden ab (Dilling et al., 2005). Nach
DSM-IV dauert sie längstens bis zu vier Wochen (Saß et al., 2003).
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Anpassungsstörungen
Bei den Anpassungsstörungen (F43.2) (engl.: adjustment disorder) ÿhandelt es sich um
Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer
entscheidenden Lebensveränderung, nach einem belastenden Lebensereignis oder nach
schwerer körperlicher Krankheit auftreten. Die Belastung kann die Unversehrtheit des
sozialen Netzes betroffen haben (bei einem Trauerfall oder Trennungserlebnis), das
weitere Umfeld sozialer Unterstützung oder sozialer Werte (wie bei Emigration oder
nach Flucht). Die Belastung kann dabei nur den Einzelnen oder auch seine Gruppe oder
Gemeinde betreffenþ (Dilling et al., 2005; S.170f). Die individuelle Disposition spielt
eine größere Rolle als bei den anderen Störungsbildern von F43 der ICD-10 (Dilling et
al., 2005). Der Anpassungsstörung muss nicht immer ein lebensbedrohliches Ereignis
zugrunde liegen (Saß et al., 2003).
Anpassungsstörungen treten gemäß der ICD-10 innerhalb des ersten Monats ab Einsetzen des Stressors auf (Dilling et al., 2005). In der Regel beträgt die Dauer dieser Störung maximal 6 Monate, bis auf die längere depressive Reaktion (F43.21) oder wenn
Symptome als Reaktion einer chronischen Belastung oder auf eine Belastung mit lang
anhaltenden Folgen auftreten (Fischer & Riedesser, 2003; Landolt, 2004). Daher wird in
dem DSM-IV zwischen akuter (Dauer: weniger als 6 Monate) und chronischer Anpassungsstörung (Dauer: 6 Monate oder mehr) unterschieden (Saß et al., 2003). Laut ICD10 sollte dagegen bei einer Dauer über 6 Monaten die Diagnose geändert werden. Die
Anpassungsstörung kann einhergehen mit depressiven und/oder ängstlichen Stimmungen, mit Verhaltensstörungen bzw. Störungen des Sozialverhaltens und/oder mit emotionalen Störungen, bei Kindern auch regressiven Reaktionen (wie z.B. Bettnässen,
Daumenlutschen) (F43.20-F43.25) (Dilling et al., 2005).
Drei Hauptsymptome
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Am häufigsten entwickeln sich auf psychisch traumatische Ereignisse Symptome einer
Posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) (Flatten et al., 2004). Im Gegensatz zur
Anpassungsstörung muss das auslösende Ereignis außergewöhnlich bedrohlich sein
oder ein katastrophenartiges Ausmaß annehmen (Dilling et al., 2005; Saß et. al., 2003).
Menschen mit einer vorbestehenden Psychopathologie haben ein erhöhtes Risiko für
eine Posttraumatische Belastungsstörung. Hierbei ist es auch wichtig, die psychischen
Störungen zu erkennen, die nicht in Verbindung mit dem Trauma stehen (Fischer &
Riedesser, 2003; Herman, 2003).
Syndromales Störungsbild
Intrusion:
Sich aufdrängende, belastende Gedanken und Erinnerungen an das
Trauma (Flashbacks, Alpträume) oder Erinnerungslücken (partielle
Amnesie)
Übererregungssymptome:
z.B. Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, vermehrte Reizbarkeit, Affektintoleranz, Konzentrationsstörungen
Konstriktion/Vermeidungssymptome:
Vermeidungsverhalten (Vermeidung traumaassoziierter Stimuli)
emotionale Taubheit (allgemeiner Rückzug, Interessensverlust, innere Teilnahmslosigkeit)
Im Kindesalter teilweise veränderte Symptomausprägungen (z.B. wiederholtes Durchspielen des traumatischen Erlebens, Verhaltensauffälligkeiten, z.T.
aggressive Verhaltensmuster)
Die Symptomatik kann unmittelbar oder auch mit (z.T. mehrjähriger) Verzögerung nach dem traumatischen Geschehen auftreten (late-onset PTBS)
Abbildung 5: Syndromales Störungsbild der PTBS (vgl. z.B. Flatten et al., 2004)
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3 Pathologie
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Die drei Hauptsymptome (Abb. 5) bzw. grundlegenden Dimensionen des Traumaverarbeitungsprozesses der PTBS Intrusion, Übererregung und Vermeidung müssen zeitgleich vorhanden sein.
Die Psychodynamik der PTBS ist gekennzeichnet von einem desorganisierten Bindungsstil, Spaltung bzw. Dissoziation, Autoaggressivität, Identifikation mit dem Aggressor und Wiederholungszwang (Flatten et al., 2004). Die Posttraumatischen Belastungsstörungen treten innerhalb von sechs Monaten nach einem belastenden Ereignis
auf (Dilling et al., 2005). Fischer und Riedesser (2003) weisen zudem auf eine
verzögerte Form der PTBS hin, die erst Monate oder Jahre nach dem Ereignis auftreten
kann.
Posttraumatische Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Bereits bei Säuglingen und Kleinkindern (0 bis 3 Jahre) werden die traumatischen Folgen in der Diagnostischen Klassifikation: 0-3 [Zero to Three] (1999) unter der Posttraumatischen Stressstörung eingeordnet.
Die Hauptsymptome der Posttraumatischen Stressstörung und der PTBS bei Kindern
sind die gleichen wie bei der PTBS bei Erwachsenen. Kinder und Jugendliche zeigen
zudem oft als Reaktionen der PTBS: Bettnässen, Verhaltensauffälligkeiten, Störungen
des Sozialverhaltens, Selbstverletzungen, Selbst- und Fremdaggressionen, chronisches
Weglaufen, Suizidversuche, Rückzug in Phantasiewelten, Delinquenz, Angstzustände
und Alpträume, Substanzkonsum sowie schwere Lern-, Aufmerksamkeits- und Kontaktstörungen (Brisch & Hellbrügge, 2003; van der Kolk, 1999). Den Verhaltensauffälligkeiten liegen multiple Ich-strukturelle Beeinträchtigungen zugrunde (Streeck-Fischer
et al., 2002).
Bei der Klassifikation der PTBS wird nicht erfasst, ob die Traumatisierung noch anhält
oder nicht. Bei der PTBS besteht eine hohe Chronifizierungsneigung (Flatten et al.,
2004). ÿSpätere, chronifizierte Folgen von extremer Belastung, d. h. solche, die noch
Jahrzehnte nach der belastenden Erfahrung bestehen, sind unter F62.0 (andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung) zu klassifizierenþ (Dilling et al., 2005,
S.170).
Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung ÿ Persönlichkeitsstörungen insbesondere Borderline-Persönlichkeitsstörung
Störungen aufgrund von komplexen und chronischen Traumatisierungen werden, wenn
nicht als PTBS, auch als andauernde Persönlichkeitsänderungen nach Extrembelastung
(F62.0) eingeordnet. Die Persönlichkeitsänderung geht auf die Erfahrung einer extremen Belastungssituation zurück, die aber eine besondere Intensität aufweisen muss,
zeitlich gesehen länger andauert und derzeit in der ICD-10 im wörtlichen Sinn auf politische Gewalthandlungen beschränkt ist (z.B. Konzentrationslagererfahrungen, längere
Gefangenschaft unter Lebensbedrohung), aber in der Praxis auch auf andere traumatische Erfahrungen wie anhaltender sexueller Missbrauch übertragen wird (Fischer &
Riedesser, 2003). Derzeit sind nach ICD-10 langanhaltende Persönlichkeitsänderungen
nach einer kurzen Lebensbedrohung (wie ein Autounfall) nicht in diese Kategorie einzuordnen (vgl. Dilling et al., 2005, S. 235). Die Persönlichkeitsänderung kann auf eine
PTBS folgen, kann sich aber auch ohne sie entwickeln. Neben der andauernden Persönlichkeitsänderung müssen folgende Merkmale vorliegen:
Feindliche und misstrauische Haltung der Welt gegenüber, sozialer Rückzug, Gefühle der Leere und Hoffnungslosigkeit, ein chronisches Gefühl von Nervosität wie bei
ständigem Bedrohtsein sowie Entfremdung (vgl. Dilling et al., 2005, S.235).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
3 Pathologie
30
Neben biologischen Faktoren werden mittlerweile gravierende Familienprobleme in der
Ursprungsfamilie und traumatische Erfahrungen als mögliche Ursachen für die Entstehung von Persönlichkeitsstörungen gesehen (Herman, 2003; Maack, 2004). Inzwischen
bestätigen zahlreiche Untersuchungen, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung unter
den Persönlichkeitsstörungen die höchste Rate an erlebten schweren Traumatisierungen,
die höchste Rate an PTBS und das jüngste Lebensalter bei der Einwirkung des ersten
Taumas aufweist (Herman, 2003). Ähnlich wie die PTBS und die Dissoziativen Störungen (siehe im folgenden Abschnitt) wird daher zunehmend die BorderlinePersönlichkeitsstörung in engem Zusammenhang mit real erlebten Traumatisierungen in
der Kindheit, wie Vernachlässigung, Missbrauch und sexuelle Gewalt gesehen (Herman, 2003; Overkamp, 2002).
Dissoziative Störungen
Auch die Dissoziativen Störungen (F44) stehen in engem Zusammenhang mit traumatischen Lebensereignissen. Bezüglich der Konzeptionen der Dissoziativen Störungen der
beiden Klassifikationssysteme DSM-IV und ICD-10 macht Overkamp (2002) auf große
Unterschiede zwischen den beiden aufmerksam. Dies erschwert die Übertragung des
US-amerikanischen Systems ins Deutsche. In der ICD-10 liegt der Schwerpunkt auf
körperlichen Ausfallerscheinungen (Konversionssymptome) und sie bezieht auch Störungen der Bewegung und Sinnesempfindung mit ein. Das DSM-IV führt die Konversionsstörung dagegen unter den Somatoformen Störungen, da dort auch neurologische
oder andere medizinische Krankheitsfaktoren in die Differentialdiagnose einfließen.
Dissoziative Symptome sind laut Overkamp (2002) nicht immer leicht zu diagnostizieren. Gerade bei frühkindlichen Traumatisierungen wurde die Dissoziation bereits so
früh erlernt, dass der Person nicht bewusst ist, dass andere Menschen die Welt anders
(konsistenter) erleben, und eine sogenannte Amnesie für die Amnesie wurde entwickelt.
Oft stehen zu Beginn einer Behandlung andere eindeutig benennbare Symptome im
Vordergrund (z.B. körperliche Schmerzen, Selbstverletzung) und die Betroffenen schämen sich häufig für die dissoziative Symptomatik und überspielen sie (Dilling et al.,
2005; Herman, 2003; Huber, 2004; Overkamp, 2002).
Dissoziative Symptome kommen auch bei der Akuten Belastungsstörung, Anpassungsstörung und der PTBS vor und sind daher von diesen Störungen zu unterscheiden.
Zur Erfassung und Behandlung der Symptome ist es sinnvoll, zwischen einer Dissoziation auf der Ebene des Bewusstseins (der psychologischen Dissoziation) und auf der
körperlichen Ebene (der somatoformen Dissoziation) zu unterscheiden:
Psychologische Dissoziation: Dissoziation im Bewusstsein z.B. in Form von
gedanklicher Abwesenheit, Amnesien für Handlungen oder Geschehnisse,
Derealisation.
Somatoforme Dissoziation: sogenannte ÿKörpererinnerungenþ in Form von unerklärlichen Schmerzen, körperlichen Symptomen, Ausfallerscheinungen ohne medizinische
Ursachen und ohne ein Bewusstsein dafür, dass es eine Körpererinnerung sein kann
(Overkamp, 2002).
ÿDas Hauptmerkmal der Dissoziativen Störung ist eine Unterbrechung der normalerweise integrativen Funktionen des Bewußtseins, des Gedächtnisses, der Identität oder
der Wahrnehmung der Umwelt. Die Störung kann plötzlich oder allmählich auftreten
und sowohl vorübergehend wie chronisch verlaufenþ (Saß et al., 2003, S.575).
Unterschieden werden folgende dissoziative Störungen (siehe auch Abb. 3 in Kap.
2.4.2):
ÿ
Dissoziative Amnesie (F44.0)
Partielle oder vollständige Amnesie für traumatisierende oder belastende Ereignisse (Dilling et al., 2005).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
3 Pathologie
31
ÿ
Dissoziative Fugue (F44.1)
Neben dem Kennzeichen der dissoziativen Amnesie, zielgerichtete Ortsveränderung über den alltäglichen Ortsbereich hinaus (Dilling et al., 2005).
ÿ
Depersonalisationsstörung (F48.1)
Andauernde oder wiederkehrende Erfahrungen, sich von den eigenen geistigen Prozessen oder dem eigenen Körper losgelöst oder sich wie ein außenstehender Beobachter des eigenen Körpers zu fühlen (z.B. sich fühlen, als
sei man in einem Traum) (Saß et al., 2003).
ÿ
Dissoziative Identitätsstörung [DIS] - Multiple Persönlichkeitsstörung
(F44.81)
Man nimmt zunehmend Abstand von dem Begriff der multiplen Persönlichkeitsstörung, wie er noch in der ICD-10 geführt ist, und ersetzt ihn durch
Dissoziative Identitätsstörung (DIS) (DSM-IV). Hauptkennzeichen der DIS
ist die Anwesenheit von zwei oder mehr unterscheidbaren Identitäten oder
Persönlichkeitszuständen (Saß et al., 2003). Es bestehen eine Amnesie für
die Amnesie und mehrere Ichs (Overkamp, 2002).
ÿ
Nicht näher bezeichnete dissoziative Störungen [DDNOS] (F44.9)
Nicht näher bezeichnete dissoziative Störungen sind Störungen, bei denen
ein dissoziatives Symptom vorherrscht, ÿd.h. eine Unterbrechung von integrativen Funktionen des Bewußtseins, des Gedächtnisses, der Identität oder
der Wahrnehmung der Umgebungþ (Saß et al., 2003, S.590), das sich aber in
keine der vorangegangenen spezifischen dissoziativen Störungen einordnen
lässt (ebd.). Nach Overkamp (2002) haben beispielsweise die Abspaltungen
keine eigenen Persönlichkeitsanteile, sondern es liegen abgespaltene Traumateile und Introjekte vor.
3.3
Komorbidität
Bei traumatischen Störungen gibt es bezüglich der Symptomatik zahlreiche Überschneidungen mit anderen Störungsbildern. Laut DSM-IV bestehen bei der Akuten Belastungsstörung Überschneidungen mit der Major Depression. Es kann sein, dass
zusätzlich diese Diagnose auch gerechtfertigt ist (Saß et al., 2003).
Auch bei der PTBS besteht ein erhöhtes Risiko für Major Depressionen (ebd.).
Chronisch traumatisierte Menschen (Erwachsene und Kinder) zeigen nach Hofmann
und Besser (2003) mit zunehmender Zeit der Traumafolgestörungen eine zunehmende
Komorbidität zur Kernsymptomatik der PTBS, insbesondere mit Störungen der Affektund Impulskontrolle z.B. Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen,
Panikstörungen, (generalisierte) Angststörungen, Agoraphobie, Zwangsstörungen, spezifische Phobien, Essstörungen, Selbstverletzungen, Anpassungsstörungen, Schmerzsyndrome, Somatisierungsstörungen und bipolare Störungen. Diese Störungen können
der PTBS vorausgehen oder sich zeitgleich oder nachfolgend entwickeln (vgl. z.B. Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003; Huber, 2005; van der Kolk et al., 2000a).
Vor Aufnahme der PTBS in das DSM wurden häufig intrusive Erinnerungsbilder als
Halluzinationen bewertet und es kam öfters zu Fehldiagnosen einer paranoiden Schizophrenie (Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003). Differentialdiagnostisch kann die
Schizophrenie dadurch unterschieden werden, dass die Halluzinationen oft nicht mit
einer konkreten Erfahrung in Zusammenhang stehen (Saß et al., 2003). Interessensverlust an Aktivitäten sowie Konzentrations- und Schlafstörungen überschneiden sich mit
Symptomatiken von depressiven Störungen. Substanzmissbrauch (insbesondere Alkohol) stellt eine Art Selbstmedikation dar, um die Erregungszustände zu betäuben und
Alpträume zu verdrängen (Herman, 2003; Saß et al., 2003).
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3 Pathologie
32
In bezug auf die psychiatrische Komorbidität und Begleitstörungen stellt der sexuelle
Missbrauch als Belastungsfaktor bei betroffenen Kinder ein erhöhtes Risiko dar
(AWMF, 2000; Herman, 2003). Damit erklärt sich auch, warum häufig zu Beginn einer
Behandlung ein anderer Aufnahmegrund als der sexuelle Missbrauch steht. Am häufigsten gehen schwere Missbrauchstraumata mit Posttraumatischen Belastungsstörungen
einher. Unter sexuell missbrauchten Jugendlichen findet man außerdem gehäuft Alkoholismus und andere Formen des Substanzmissbrauchs sowie Suizidalität und selbstschädigendes Verhalten und ein erhöhtes Risiko für Depressionen (AWMF, 2000;
Wirtz, 2001).
Bei Kindern können PTBS auch mit Störungen im Bereich der Konzentrations- und
Leistungsfähigkeit einhergehen, wie dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit und
ohne Hyperaktivität (ADS, ADHS). Sutton (2002b) zitiert zudem eine Studie von Almquist und Broberg, die Mutismus erforscht haben und zu dem Ergebnis kommen, dass
Mutismus zwischen Kindern und Eltern die Folge von Überwältigung durch Kriegstraumata sein kann. Mutismus fungiert dabei als Vermeidung über das Erlebte bzw. die
Erfahrungen zu sprechen also als ÿFamilien-Überlebensstrategieþ (ebd.).
Für den Behandlungserfolg ist entscheidend zu erkennen, dass es sich um Komorbidität handelt, dass es also nicht genügt die erkannte psychische Störung zu behandeln
(z.B. Depression) (siehe Kap. 3.5).
Die Untersuchungen über die Häufigkeit psychischer Auffälligkeiten nach einem
psychotraumatischen Ereignis gestalten sich aufgrund der Komplexität des Traumas bei
den meisten Störungsbildern schwierig. Dies kann z.B. damit zusammenhängen, dass
eine akute Belastungsreaktion meist von alleine abklingt. Die meisten der bisher existierenden Studien beziehen sich hauptsächlich auf das Syndrom der Posttraumatischen
Belastungsstörung (Fischer & Riedesser, 2003; van der Kolk et al., 2000a).
Die Prävalenz der akuten Belastungsreaktion hängt von der Schwere und Dauer und
dem subjektiven Erlebnis der traumatischen Erfahrung ab. Die Prävalenz der Gesamtbevölkerung dieser Störung ist unbekannt und bei Untersuchungen schwerer traumatischer Situationen wird eine Prävalenz von 14%-33% genannt (Saß et al. 2003).
Vorübergehende dissoziative Reaktionen sind bei einem Trauma weit verbreitet,
dagegen reagieren nur 10-15% sofort auf ein Trauma mit einer chronisch
pathologischen Dissoziation (Overkamp, 2002). Bei den dissoziativen Störungen und
andauernden Persönlichkeitsänderungen wird oft aufgrund der Amnesie oder der
starken Schuld- und Schamgefühle das Trauma nicht mehr erinnert (Herman, 2003). Die
Prävalenz für eine Dissoziationsstörungen ist bei Kriegserlebnissen und sexuellen
Gewalttaten besonders hoch und die Wahrscheinlichkeit für eine solche Störung erhöht
sich signifikant bei sich wiederholenden Typ 2-Traumata (Huber, 2005; Overkamp,
2002).
Nach Overkamp (2002) liegt die Lifetime-Prävalenzrate für mindestens ein traumatisches Ereignis bei 68%, dabei entwickeln ca. 9-12% im weiteren Verlauf eine Posttraumatische Belastungsstörung. Nach Flatten et al. (2004) ist die Häufigkeit für die
Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung abhängig von der Art des
traumatischen Ereignisses und entsprechend den traumatischen Situationsfaktoren
schwanken die Prävalenzraten:
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
Ca. 50% nach Vergewaltigung
Ca. 25% nach anderen Gewaltverbrechen
Ca. 20% bei Kriegstraumatisierten
Ca. 15% bei Verkehrsunfallopfern
Ca. 15% bei schweren Organerkrankungen (Herzinfarkt, Malignome)
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3 Pathologie
33
Immer wieder wird in der Literatur zur Psychotraumatologie angeführt, dass ein sehr
hoher Prozentsatz psychiatrischer Patientinnen, die in stationäre psychiatrische Behandlung kommen, über traumatische Vorerfahrungen verfügt (vgl. Engl, 2002; Fischer &
Riedesser, 2003; Herman, 2003; Herman, 2003; Huber; 2005; van der Kolk et al.,
2000b). Zahlreiche statistische Untersuchungen belegen, dass zwei Drittel der klinisch
behandlungsbedürftigen Borderlinepatientinnen erhebliche Traumatisierungen in der
Kindheit und Jugend aufweisen (Streeck-Fischer et al., 2001b). Nach Herman (2003)
beispielsweise ist die Zahl der Opfer langanhaltender und wiederholter Kindheitstraumata bei Erwachsenen in psychiatrischer Behandlung sehr hoch und liegt nach Angaben
von Studien zwischen 40 und 70%.
Aufgrund der Vielfältigkeit und Komplexität der durch den Chronifizierungsprozess
entstandenen Symptome dieser Menschen sind eindeutige Zuordnungen oft schwierig
und es fehlen dafür geeignete klassifikatorische Kriterien.
3.4
Problematik der derzeit festgelegten Diagnosekriterien
Nach Hermann (2003) fehlt in der ICD-10 und dem DSM-IV eine genaue und umfassende Kategorie für psychotraumatische Syndrome. Die derzeitigen psychiatrischen
Diagnoseschemata sind nicht auf Menschen mit schweren (oftmals chronischen) traumatischen Erfahrungen zugeschnitten und übertragbar, da die einzelnen Symptome
nicht denen der (post)traumatischen Symptome entsprechen7. Oft wird zudem die einer
psychischen Störung bzw. ihren aktuellen Symptomen zugrundeliegende traumatische
Erfahrung nicht erkannt (ebd.). Die Diagnostik nach den derzeitigen Klassifikationsschemata berücksichtigt zudem nur eine Momentaufnahme im Prozess traumatischer
Erlebnisverarbeitung und zu wenig den prozessualen Verlauf traumatischer Erfahrungen
(Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003; van der Kolk et al., 2000a). Die Verwendung der Vorsilbe post-traumatisch wird als missverständlich beschrieben, da das
Trauma nicht vorbei ist, wenn das traumatische Ereignis vorüber ist und die Vorsilbe ist
darüber hinaus auch unangemessen bei traumatischen Erfahrungen die noch andauern
(Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003). Wieso soll man beispielsweise von posttraumatischen Reaktionen sprechen, wenn die traumatischen Geschehnisse und ihre
Einflüsse über Jahre und immer noch andauern, wie z.B. andauernde politische Krisen
(wie z.B. in Nordirland) (Smyth, 2002)8.
Bezogen auf die Symptomatik müssen bei der Posttraumatischen Belastungsstörung
nach den beiden Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV die drei grundlegenden
Dimensionen der Traumaverarbeitung (siehe Abb. 5) ý Erinnerung bzw. Intrusion, Verleugnung/Vermeidung und Übererregungssymptome - zeitgleich vorhanden sein. Phasenhafte Verläufe werden bisher nicht berücksichtigt: Je nach traumatischer Situation
und der individuellen Disposition ergeben sich jedoch zwischenzeitlich unterschiedliche
Ausprägungen der drei Dimensionen und damit unterschiedliche Symptombilder
(=Syndrome) (Fischer & Riedesser, 2003). Überwiegt beispielsweise die Verleugnung,
kommt es zu Gefühlstaubheit, Eingefrorensein, Apathie, depressiven Zuständen, katatonieähnlichen Verhaltensweisen und somatischen Reaktionen. Erhöhte Erregungszustände sind in dieser Phase vielleicht gar nicht diagnostizierbar, dennoch liegt eine Posttraumatische Belastungsstörung vor. Starke Intrusion führt dagegen zu dauerhaften Ü7
Beispielsweise lassen sich die Ängste und Panikgefühle der Opfer nicht mit den gewöhnlichen Angststörungen vergleichen. Das Gleiche gilt für die Depression, die somatischen Symptome und Persönlichkeitsstörungen.
8
Smyth verweist auf Straker, der die Bezeichnung ÿposttraumatic stress disorderþ bei anhaltender/andauernder Gewalt unzutreffend findet und schlägt stattdessen die Terminologie ÿcontinuous traumatic stress syndromeþ vor, um dem Wesen der andauernden Gewalt und Belastung gerecht zu werden
(vgl. Straker zit. nach Smyth, 2002, S. 72).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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3 Pathologie
34
bererregungszuständen, und Verleugnung und Vermeidung werden vielleicht in dieser
Phase nicht diagnostiziert (ebd.).
Herman (2003) weist darauf hin, dass es zu Fehldiagnosen und falschen Therapien
kommt, da oft der Zusammenhang zwischen akutem Problem und den chronischen
Traumata der Vergangenheit nicht erkannt wird. Zahlreiche und komplexe Symptome
werden daher nur fragmentarisch und unvollständig behandelt. Zudem vertritt Herman
(2003) die Auffassung, dass das klinische Bild von Menschen mit traumatischen Reaktionen häufig fälschlicherweise als Beschreibung des eigentlichen Charakters verstanden wird. Dabei ÿwerden Strukturvorstellungen zur Persönlichkeitsentwicklung unter
Normalbedingungen ohne Berücksichtigung der Zerstörungen, die über einen langen
Zeitraum ausgeübter Terror anrichtet, auf die Persönlichkeit des Opfers angewandt. So
laufen Patienten, die unter den komplexen Nachwirkungen eines chronischen Traumas
leiden, immer noch häufig Gefahr, daß man bei ihnen fälschlicherweise Persönlichkeitsstörungen diagnostiziertþ (Herman, 2003, S.164).
Besser (2002) macht darauf aufmerksam, dass ein Teil der posttraumatischen Störungen in der ICD-10 unter F4 den neurotischen Belastungs- und somatoformen Störungen geführt werden, denen ein neurotisches Konfliktmodell als Erklärungsmodell zu
Grunde liegt, das nach den heutigen Forschungsergebnissen aus der Psychotraumatologie (z.B. neurobiologische Erkenntnisse) in dieser Form für psychotraumatische Störungen nicht mehr tragbar ist. Auch wenn das Neurosekonzept nicht mehr das alleinige
Organisationsprinzip dieses Kapitels in der ICD-10 darstellt.
Die Frage, ob die diagnostische Klassifikation ÿChronifizierte posttraumatische Belastungsstörungþ bestimmte Störungsbilder besser erklären könnte als gebräuchliche Verstehensmodelle, wie Borderline-Persönlichkeitsstörung, Multiple Persönlichkeit oder
Dissoziative Identitätsstörung bestimmt seit Ende der 1980er Jahre die Diskussion. Die
Symptomvielfalt, die wechselnden Symptomausprägungen und der Charakter der Symptomwahl bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung können auch als Coping-Strategien
bei Posttraumatischen Zuständen verstanden werden. Streeck-Fischer et al. (2001b)
schlagen daher vor die verschiedenen bestehenden Verstehensmodelle, BorderlineModell, Traumamodell, biologisches Entwicklungsmodell miteinander zu verbinden,
um der Komplexität Rechnung zu tragen. Man ist sich in der Psychotraumatologie zunehmend einig, dass es einer eigenen Kategorie für posttraumatische Syndrome bedarf,
unter der die bisher existierenden posttraumatischen Störungen wie z.B. die Posttraumatische Belastungsstörung, die Dissoziativen Störungen zusammen aufgeführt werden
sollen (Besser, 2002; Fischer & Riedesser, 2003; Hermann, 2003; van der Kolk et al.,
2002b).
Aufgrund der eben beschriebenen Problematik werden die Kriterien für das DSM
und die ICD derzeit weiterentwickelt9. Wesentlich ist die Erweiterung, dass die Reaktionen auf ein Trauma als ein Spektrum unterschiedlicher Zustände erfasst werden und
dass die unterschiedlichen Situationskonstellationen differenzierter beschrieben werden
(Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003). Besonders für langandauernde, wiederholte
Traumatisierungen und komplexe Symptomatiken bedarf es einer systematischen Beschreibung und eigener Kategorien (Herman, 2003; Huber, 2005; Sachsse et al., 2002a).
Dafür wurden bereits Modelle entwickelt: z.B. das Victimisierungssyndrom nach Ochberg für Menschen mit Gewalterfahrungen (vgl. Fischer & Riedesser, 2003) oder die
Komplexe traumatische Belastungsstörung (Abb.6) nach Herman (2003) für Folgen
9
Für die Formulierung der Kriterien für das DSM hat sich die Arbeitsgruppe DENSOS (=Diagnosis of
Extreme Stress Not Otherwise Specified) gegründet. Für die ICD der WHO gibt es auch eine Arbeitsgruppe, die die Kategorie ÿPersönlichkeitswandel nach katastrophischen Erfahrungenþ entwickelt (Fischer & Riedesser, 2003).
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3 Pathologie
35
langanhaltender oder besonders schwerer Traumatisierungen (z.B. Folter, Lagerhaft
oder anhaltender sexueller Missbrauch).
Komplexe traumatische Belastungsstörung
1.
Der Patient war über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) totalitärer Herrschaft unterworfen, wie zum Beispiel Geiseln, Kriegsgefangene, Überlebende von Konzentrationslagern oder
Aussteiger aus religiösen Sekten, aber auch Menschen, die in sexuellen oder familiären Beziehungen totale Unterdrückung erlebten, beispielsweise von Familienangehörigen geschlagen, als
Kinder physisch misshandelt oder sexuell missbraucht wurden oder von organisierten Banden
sexuell ausgebeutet wurden.
2.
Störung der Affektregulation, darunter
ÿ
anhaltende Dysphorie
ÿ
chronische Suizidgedanken
ÿ
Selbstverstümmelung
ÿ
aufbrausende oder extrem unterdrückte Wut (eventuell alternierend)
ÿ
zwanghafte oder extrem gehemmte Sexualität (eventuell alternierend)
3.
Bewusstseinsveränderung, darunter
ÿ
Amnesie oder Hypermnesie
ÿ
zeitweilig dissoziative Phasen
ÿ
Depersonalisation/Derealisation
ÿ
Wiederholung des traumatischen Geschehens, entweder als intrusive Symptome der
posttraumatischen Belastungsstörung oder als ständige grüblerische Beschäftigung
4.
Gestörte Selbstwahrnehmung, darunter
ÿ
Ohnmachtsgefühle, Lähmung jeglicher Initiative
ÿ
Scham- und Schuldgefühle, Selbstbezichtigung
ÿ
Gefühl der Beschmutzung und Stigmatisierung
ÿ
Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden (der Patient ist etwa überzeugt,
etwas ganz Besonderes zu sein, fühlt sich mutterseelenallein, glaubt, niemand könne
ihn verstehen oder nimmt eine nichtmenschliche Identität an)
5.
Gestörte Wahrnehmung des Täters, darunter
ÿ
ständiges Nachdenken über die Beziehung zum Täter (auch Rachegedanken)
ÿ
unrealistische Einschätzung des Täters, der für allmächtig gehalten wird (Vorsicht: Das
Opfer schätzt die Machtverhältnisse eventuell realistischer ein als der Arzt)
ÿ
Idealisierung oder paradoxe Dankbarkeit
ÿ
Gefühl einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung
ÿ
Übernahme des Überzeugungssystems oder der Rationalisierungen des Themas
6.
Beziehungsprobleme, darunter
ÿ
Isolation und Rückzug
ÿ
gestörte Intimbeziehungen
ÿ
wiederholte Suche nach einem Retter (eventuell alternierend mit Isolation und Rückzug)
ÿ
anhaltendes Misstrauen
ÿ
wiederholt erfahrene Unfähigkeit zum Selbstschutz
7.
Veränderung des Wertesystems, darunter
ÿ
Verlust fester Glaubensinhalte
ÿ
Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung
Abbildung 6: Komplexe traumatische Belastungsstörung (nach Hermann, 2003, S. 169f)
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36
3.5
Diagnostik
Wegen der unzureichenden Diagnosekriterien und der Komplexität der Symptomatik
besteht eine große Gefahr von Fehldiagnosen (Herman, 2003). Daher sollte jeder psychotherapeutischen Behandlung unabhängig von der Störung eine gründliche Anamnese
vorausgehen, bei der auch immer überprüft werden sollte, ob eine Traumatisierung vorliegt und das entsprechende Trauma erfasst werden (Herman, 2003). In diesem Kapitel
zur Diagnostik werden hauptsächlich Aspekte der Psychodiagnostik näher beleuchtet,
da diese eine wichtige Grundlage für die psychotherapeutische Arbeit und damit auch
für die Musiktherapie darstellt.
Erst wenn die traumatischen Syndrome umfassend diagnostiziert sind, können sie anschließend angemessen behandelt werden (Herman, 2003). Nicht weit zurückliegende
traumatische Erfahrungen lassen sich relativ einfach diagnostizieren. Je länger und
schwerwiegender das Trauma ist, umso schwieriger gestaltet sich die Diagnose. Bei
komplexen posttraumatischen Störungen verdecken die Symptome das eigentliche
Trauma, z.B. körperliche Beschwerden, Müdigkeit, Angstattacken, Depressionen.
Die meist komplexen posttraumatischen Störungen zu erkennen setzt jedoch voraus,
aus verwirrenden Verhaltensmustern, die Folge früher Reaktionen auf existentielle Bedrohung sind und die sprachlich nicht fassbar sind, Botschaften lesen zu können. Es
erfordert eine Wahrnehmungseinstellung, dass Verhaltensweisen, nicht unbedingt von
neurotischen Konflikten bestimmt sind, sondern sich quasi am Ich und an jeglicher
Kommunizierbarkeit vorbei entwickeln können (Streeck-Fischer et al., 2002). Die Veränderungen nach einem Trauma sind vielschichtig und daher unter verschiedenen Aspekten zu betrachten wie: Stressphysiologie, hirnorganische Veränderungen, Affektstörungen, Dissoziation und Gedächtnisstörungen, Störungen des Umgangs mit sich selbst,
anderen und dem eigenen Körper (Streeck-Fischer et al., 2001b; siehe Abb. 7). Hierfür
bedarf es gezielter Fragen und Testverfahren.
Herman (2003) weist daraufhin, dass die Diagnose einer traumatischen Störung bei
dissoziativen Störungen besonders schwer ist und bei der DIS sogar so schwer, dass die
treffende Diagnose im Schnitt erst sechs Jahre nach dem ersten Kontakt mit einer unterstützenden Einrichtung gestellt wird. Oftmals kommen daher dissoziative Symptome in
der therapeutischen Situation zunächst nicht zur Sprache, die Einschätzung der Dissoziationsfähigkeit einer Person ist aber wichtig für die Therapie. Es bedarf folglich bei der
Diagnose der systematischen Erfassung dissoziativer Symptome (Overkamp, 2002).
Dazu wurden vorwiegend in den USA Screening-Instrumente in Form von Fragebögen
entwickelt, die inzwischen für den deutschsprachigen Raum adaptiert und validiert wurden (Overkamp, 2002)10. Mit Hilfe dieser Tests erfährt man etwas über die Dissoziationsfähigkeit einer Person und man erhält Aussagen, ob sie zu behandeln ist oder nicht
und kann entsprechend die Therapie planen und gestalten. Zudem kann der Test als
Grundlage für ein Gespräch zur Symptomatik zwischen Therapeutin und Patientin dienen und man kann sich die Symptomatik erklären lassen und Aussagen zu Umgangsstrategien und Ressourcen erhalten (Overkamp, 2002; Reddemann, 2004).
Bei der individuellen Psychodiagnostik müssen auch eine vorbestehende Psychopathologie und betreffende psychische Störungen mitabgeklärt werden, die nicht in Verbindung mit dem Trauma stehen, da sie einer anderen Therapie bedürfen als die traumabezogene Symptomatik (Fischer & Riedesser, 2003; Reddemann, 2004). Außerdem müssen die für die Genesung förderlichen aber auch hinderlichen biologischen, psychischen, physischen und sozialen Komponenten des Traumas erfasst werden (Herman,
2003). Hierzu gehört das Einbeziehen der Angehörigen bei der Diagnostik und die Ab10
Einige dieser Testverfahren sind von Huber transferiert worden und lassen sich bei Huber (2005) nachlesen.
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3 Pathologie
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klärung, ob es hilfreich ist die Angehörigen in die Behandlung einzubeziehen oder
nicht. In der Traumabehandlung können die Familie oder andere nahestehenden Personen als Ressource fungieren, aber auch - besonders häufig bei Traumatisierungen durch
Gewalt - retraumatisieren (Herman, 2003; Özkan, 2002). Daher muss bei der Diagnose
der Täterkontakt geklärt werden, ob die Traumatisierung noch anhält, ihr Ausmaß und
ihre Intensität, welche Kontrollmöglichkeiten vorhanden sind und aber auch ob die
Klientin selber Täterin ist (Huber, 2004). Bei der Anamneseerhebung sollte eine Aufklärung über die posttraumatische Symptomatik, besonders die Vielfältigkeit der Symptome und negativen Persönlichkeitsveränderungen, stattfinden (Herman, 2003; Huber,
2004; Reddemann, 2004). Für die Behandlungsplanung ist es wichtig den Schweregrad
der Traumatisierung und die Lebensumstände zu explorieren. Hiefür können wiederum
die genannten standardisierten Testverfahren hinzugezogen werden. Aufgrund des prozesshaften Verlaufs psychischer Traumatisierungen sollte die Diagnose und die vorherrschende Symptomatik im therapeutischen Prozess immer wieder auf das Neue erfasst
werden (Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003).
Aufgrund der im Traumatischen Prozess entstehenden Spannung zwischen
Traumaschema und traumakompensatorischem Schema stellen ÿdie psychotraumatischen Symptome im Sinne des minimalen kontrollierten Handlungs- und
Ausdrucksfelds (...) eine Kompromissbildung zwischen diesen Strukturen dar.
Da so die Symptombildung von der relativen, dynamischen Balance zwischen
Traumaschema und kompensatorischem Schema abhängig ist, können Symptome
im Verlauf des traumatischen Prozesses wechseln in Abhängigkeit von inneren
und äußeren Faktoren, die das dynamische Gleichgewicht beeinflussen. Hierin
liegt die Schwierigkeit eines rein klassifikatorischen Umgangs mit psychotraumatischen Symptomen begründetý (Fischer & Riedesser, 2003, S. 376)11.
Wegen der bisher unzureichenden Klassifikationskriterien für psychotraumatische Syndrome, bedarf es einer Weiterentwicklung der Klassifikationssysteme, um eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Für die therapeutische Behandlung, insbesondere die psychotherapeutische Behandlung und Psychodiagnostik, ist darüber hinaus von Bedeutung, die individuellen Symptome zu erfassen. Sie gilt es therapeutisch zu behandeln
und sie sind daher auch z.B. für die Indikation für Musiktherapie bedeutsam. Daher
werden die wesentlichen psychotraumatischen Symptome zusammenfassend dargestellt
(Abb. 7):
11
Das minimale kontrollierte Handlungsfeld beschreibt nach Fischer und Riedesser (2003) das Feld der
Symptombildung (z.B. Zwangshandlungen)
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3 Pathologie
seelisch
38
körperlich
starkes Empfinden andauernder Übervon Scham,
erregungszustand
Schuld, Wertlosig(Hyperarousal,
keit, innere Leere,
Hypervigilganz)
Ohnmacht und
Hoffnungslosigkeit Ekel vor dem eigenen Körper
chronisches Gefühl
von Bedrohtsein
zerstörtes Körperbild
emotionale Leere/Taubheit
Empfindungsstö(numbing)
rungen auf der
Hautebene
unkontrollierbare
Gefühlsausbrüche
intime Nähe zu
anderen wird als
Gefühl neben sich bedrohlich erlebt
zu stehen oder
alles wie im Film der Körper drückt
wahrzunehmen
die Gefühle aus in
Form von SymGefühl von nie- ptomen (Körperermanden verstanden innerungen: der
zu werden
Körper lügt nicht)
Verlust des Selbstvertrauens
Gefühl der eigenen
Unzulänglichkeiten
Gefühl des Nichtverstandenwerdens
Gefühlsschwankungen
Depression, Panik,
Schlafstörungen,
Alpträume, chronische Selbstmordgedanken
geistig
Beziehungen/
Verhalten
Konzentrations- Unfähigkeit, andeund Gedächtnisstören Menschen
rungen
wieder vertrauen
zu können/ anhalLernstörungen
tendes Misstrauen
gegenüber anderen
vermindertes Interesse in Form von Angst wieder zum
flüchtigen Aktivi- Opfer zu werden,
täten
andere Menschen
zum Opfer zu
Verlust von frühen
machen
Überzeugungen
kein DurchhaltePseudohalluzinativermögen beim
onen
Aufrechterhalten
zwischenmenschliinnere Stimmen
cher Beziehungen
und von Beziehunplötzlich einschies- gen/Vermeidung
sende Bilder und
von Beziehungen
Filme, die mit dem
Trauma verknüpft Vermeidung von
sind (Intrusion,
Situationen, PersoFlashbacks, Alp- nen und Orten, die
träume)
mit dem Trauma zu
muskuläre Vertun haben
spannungen
oft ist der Gedächtniszugang zu Zurückgezogenheit
Schmerzen im
normalen Ereignisgesamten Körper- sen in der Biogra- Aggression gegen
bereich
fie nicht möglich
sich oder andere
(Erinnerungslü(Selbstverletzunkörperliche Verlet- cken)/Amnesien
gen)
zungen
(Gedächtnisverluste)
ev. häufige Operationen
Wiederholungszwang
chronischer posttraumatischer
verschiedene ForDisstress
men der Dissoziation
Schlafstörungen
Verlust des Zeitgefühls
hormonell/neuroanatomisch
Gehirnaktivität ist
permanent auf
Alarm geschaltet
Reize von außen
werden als traumatisch wahrgenommen und werden
deswegen gemieden oder es wird
mit sofortiger
Angst oder Panik
reagiert
neurobiologische
Veränderungen im
Gehirn: hormonell,
Neurotransmitter
Veränderungen der
Gehirnentwicklung
Reizbarkeit
Abbildung 7: Zusammenfassung der komplexen Traumasymptome
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
4
39
Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter
Menschen
»Erst mit den Jahren dämmerte die Erkenntnis, für deren Konsequenzen ich
mich nun bereit fühlte: Wer einmal in Auschwitz war, der kommt nicht mehr
heraus, ob er will oder nicht. Vergessen kann man es nicht, irgendwann muß
man anfangen, die Erinnerung mit in das Leben einzubeziehen. Wenn ich auch
nicht an Erlösung glaube, welcher Art auch immer, so gilt für mich der Satz
des Schriftstellers Armin T. Wegner: ûDas Vergessenwollen verlängert das Exil. Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung.ú Ich mußte Wege finden,
von meinem Leben zu erzählen, genau wie ich Wege gefunden habe, wieder La
Paloma zu spielen.
Ein definitiv wahres und authentisches Erzählen von Leben und Gefühlen in
Auschwitz ist nicht möglich, aber jeder neue Versuch ein wichtiger Teil der
Geschichte, die jenen Tagen folgt. Viele Menschen sind auch heute nicht in der
Lage, sich damit auseinanderzusetzen oder gar davon zu berichten. Täglich
verzweifeln Menschen im nachhinein daran. Bei jedem, mit dem das passiert,
hat Hitler doch noch gesiegt« Coco Schumann ÿDer Ghetto-Swingerý S.212
Wie bereits erwähnt, bedarf nicht jedes psychische Trauma einer Behandlung, sondern
den meisten Menschen gelingt es selbstständig das Trauma zu verarbeiten und zu überwinden. So komplex wie ein psychisches Trauma ist, so vielschichtig und vielfältig sind
auch die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten. Smyth (2002) weist am Beispiel der
Bevölkerung von Nordirland einerseits auf die Zunahme von Biografien und Geschichtenerzählen als Bewältigungsmechanismen des Nordirland Konflikts hin, aber andererseits auch auf die Zunahme legaler und illegaler psychotroper Drogen zur Bewältigung,
besonders Alkohol. Zwar stellt das Erzählen eine wirkungsvolle Bewältigungsform
traumatischer Erfahrungen dar, aber man ist sich auch einig, dass das Reden über das
Trauma allein nicht ausreicht (Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003; Huber, 2005;
Reddemann, 2004; van der Kolk et al., 2000b). Es bedarf einer aktiven Form des Erinnerns, um das Trauma zu überwinden (Herman, 2003; Huber, 2005; van der Kolk et al.,
2000b).
Die Behandlung traumatisierter Menschen stellt besondere Herausforderungen an alle am Behandlungsprozess beteiligten Personen einschließlich der Angehörigen
und/oder nahestehenden Personen der Traumaüberlebenden. Die Reaktionen auf traumatische Erlebnisse, wie Hilflosigkeit, Passivität, Gefangenheit in der Vergangenheit
und dem traumatischen Erlebnis, Depressionen, Stimmungsschwankungen, Impulsivität
und somatische Beschwerden, machen den therapeutischen Umgang besonders schwierig (Herman, 2003). Durch die Schrecklichkeit, Brutalität und Unvorstellbarkeit vieler
traumatischer Erfahrungen werden die Therapeutinnen zwangsläufig mit der eigenen
Verletzlichkeit sowie mit der Zerstörbarkeit des eigenen Selbst- und Weltbildes und der
eigenen Persönlichkeit konfrontiert (Fischer & Riedesser, 2003; Huber, 2005; Reddemann, 2004; Sachsse et al., 2002a; van der Kolk et al., 2000a). Außerdem hängen traumatische Erfahrungen immer mit dem sozialen, kulturellen und politischen Kontext
zusammen, in dem sie passieren und behandelt werden (Herman, 2003; van der Kolk et
al., 2000a). Bezogen auf die Musiktherapie wird in Kapitel 5.8 auf die Bedeutung des
(Behandlungs)kontextes eingegangen.
4.1
Behandlungsansatz
Wie schon in den beiden vorhergehenden Kapiteln deutlich gemacht wurde, handelt es
sich bei psychotraumatischen Störungen, um ein eigenes Behandlungsfeld mit eigenen
Syndromen und Symptomen und somit auch eigenen Behandlungsansätzen, die den
traumabedingten Veränderungen im psychosomatischen Organismus der Patientinnen,
ihrem Erleben, Denken, Verhalten und ihren Beziehungen zu sich, den anderen und der
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
40
Welt gerecht werden (Herman, 2003). Aufgrund der individuellen Unterschiedlichkeit
der Ausprägungen der traumatischen Syndrome, müssen die einzelnen Therapien individuell zugeschnitten werden und nicht jede Therapieform eignet sich für jeden Menschen gleichermaßen und in jeder Situation (Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003;
Huber, 2004; van der Kolk et al., 2000a). Es bedarf eines effektiven Behandlungskonzeptes, unabhängig von den therapeutischen Richtungen (Besser, 2002). Ein Trauma
muss in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedlich behandelt werden und die Methoden müssen auf diese einzelnen Phasen abgestimmt werden (Fischer & Riedesser,
2003; van der Kolk, 2000b).
Um der Vielschichtigkeit des Traumas Rechnung zu tragen, sollten bei der Entwicklung des Behandlungsansatzes die Ätiologie, Pathogenese, die psychophysiologischen
und psychodynamischen Auswirkungen, die Individualität und eine ganzheitliche Betrachtung berücksichtigt werden (Fischer & Riedesser, 2003; Fuckert, 2002). Nachdem
bereits die Traumaätiologie, -pathogenese und traumabedingten Auswirkungen ausführlich dargestellt wurden, wird nun untersucht, wie die Therapie des Traumas aussehen
kann.
Laut Herman (2003) kann eine einzelne Person alleine kein Trauma heilen (vgl. z.B.
auch Huber, 2004). Es bedarf der Unterstützung von Kolleginnen und einem Team, da
die Gefahr sehr groß ist, sich als Therapeutin aufgrund der Heftigkeit der Übertragungsbeziehungen und Reinszenierungen beruflich und privat zu überlasten. Zudem ist die
Arbeit mit traumatisierten Menschen auch eine ständige Auseinandersetzung mit sich
selbst und macht ein hohes Maß an Problembewältigungskompetenzen erforderlich
(Reddemann, 2004). Nach Herman (2003) werden oft nur Teile der posttraumatischen
Störung diagnostiziert und bruchstückhaft behandelt. Traumata führen zu Veränderungen im sensorischen, gefühlsmäßigen und kognitiven Erfassen der Umwelt, im Stoffwechsel und Gehirn. Aufgrund der Komplexität der traumatischen Syndrome bedarf es
entsprechend differenzierter Behandlungsstrategien (Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003; Sachsse et al., 2002; van der Kolk et al., 2000a). Da sich die Auswirkungen
auf sämtliche Lebensbereiche erstrecken, muss ein Trauma umfassend behandelt werden. Um dieser Komplexität der bio-psycho-sozialen Auswirkungen der traumatischen
Erfahrungen gerecht zu werden, sollte eine Traumabehandlung immer im Rahmen einer
interdisziplinären Behandlung auf den drei Ebenen der Auswirkungen erfolgen (Fischer
& Riedesser, 2003; van der Kolk et al, 2000b):
ÿ
Biologische Ebene
Pharmakotherapie: In der Literatur zur Psychotraumatologie wird darauf
hingewiesen, dass die Erforschung der medikamentösen Behandlung
(post)traumatischer Störungen noch in den Kinderschuhen steckt (Fischer &
Riedesser, 2003; Herman, 2003; van der Kolk et al., 2000a). Hierbei wird
beschrieben, dass entsprechende Medikamente, die bei ähnlichen Symptomen wirken, u.U. nicht wirken. Ziel der medikamentösen Therapie ist die
Verringerung oder Auflösung von Symptomen (Symptomreduktion) bei
akuten und starken Belastungs- und Angstreaktionen, deren Heilung ist damit jedoch nicht möglich (Turnbull & McFarlane, 2000). Medikamente dienen zur Unterstützung der psychotherapeutischen Behandlung (Reddemann,
2004). In der Therapie werden Medikamente eingesetzt, um die körperlichen
Erscheinungen einer traumatischen Störung zu behandeln, wie beispielsweise durch ein Medikament zur Abdämpfung von Übererregtheit (Herman,
2003). Antidepressiva und Lithium werden beispielsweise zur Behandlung
depressiver Symptome, aber auch von Übererregtheit und intrusiven Symptomen als wirkungsvoll beschrieben. Meist werden aufgrund der Suchtgefahr kurzfristig sogenannte Minor Tranquilizer verschrieben (wie z.B. Benzodiazepine) (Turnbull & McFarlane, 2000).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
41
ÿ
Psychische Ebene
verschiedene psychotherapeutische Verfahren (verbale und nonverbale),
Entspannungstechniken und Trainingsprogramme
ÿ
Soziale Ebene
Die Arbeit auf der sozialen Ebene beinhaltet primär das Einbeziehen des sozialen Umfeldes während der Behandlung, das Schaffen eines sozialen
Netzwerkes und die Unterstützung beim (Wieder)aufbau sozialer Beziehungen sowie eine alltagsnahe Behandlung.
In psychiatrischen Kliniken in Deutschland gibt es immer mehr Einrichtungen, die versuchen aufgrund der Entwicklung der Psychotraumatologie als eigenes Praxisfeld spezielle Behandlungsbereiche bzw. Stationen für traumatisierte Menschen einzurichten.
Engl (2002) weist darauf hin, dass durch ein traumaspezifisches Therapiekonzept mit
auch eigenen Behandlungsbereichen insbesondere Erfolge bezüglich der Verweildauern
und des Behandlungserfolges der Patientinnen verbucht werden.
Was die Behandlungsmöglichkeiten traumatischer Symptome und Störungen betrifft,
gibt es nicht die Traumatherapie, sondern, genauso wie bei anderen psychischen Problemen und Syndromen, existieren zur Behandlung eines Traumas verschiedene therapeutische Ansätze und Wege (Huber, 2004, 2005; Landolt, 2004; Reddemann, 2004;
Sachsse et al., 2002a). Der therapeutische Ansatz, auch als therapeutische Richtung bezeichnet, ist geprägt vom zugrundeliegenden Paradigma und Erklärungsmodell und den
daraus entwickelten Behandlungsmethoden12. Unabhängig vom therapeutischen Ansatz
existieren jedoch zur Behandlung eines Traumas Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen hinsichtlich der Vorgehensweise, die in diesem Kapitel dargestellt werden.
Turnbull & McFarlane (2000) weisen auf die Unterscheidung zwischen Akutbehandlungsformen für akute traumatische Reaktionen und therapeutischen Verfahren für posttraumatische Reaktionen nach einer Posttraumatischen Belastungsstörung hin. Sie vertreten die Ansicht, dass es in der Literatur zu Behandlungsmöglichkeiten zahlreiche
empirisch belegte Behandlungstechniken für Menschen mit der Diagnose PTBS gibt,
aber nur sehr wenige empirische Ergebnisstudien über den Umgang mit traumatischen
Akutreaktionen. Je schwerer und chronischer ein Trauma ist z.B. schwerwiegende und
langanhaltende sexuelle Gewalterfahrung in früher Kindheit, desto komplizierter wird
die therapeutische Behandlung (Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003; Huber,
2004, 2005; Reddemann, 2004). Man unterscheidet zwischen allgemeinen Aussagen zur
Behandlung traumatischer Syndrome, einer störungsspezifischen Behandlung und der
Behandlung bei bestimmten traumatischen Situationskonstellationen (wie z.B. Folter
oder Krieg). Da, wie in Kapitel 3.4 beschrieben, die Diagnosekriterien für traumatische
Störungen diese nur unzureichend beschreiben und die individuelle Komplexität der
einzelnen traumatischen Störungen sehr unterschiedlich ist, erfolgt meist eine symptomspezifische Behandlung und Betrachtung. Fischer und Riedesser (2003) unterscheiden
zwischen der allgemeinen und der speziellen Psychotraumatologie. Die allgemeine Psychotraumatologie beinhaltet die allgemeinen (symptombezogenen) Gemeinsamkeiten
des psychischen Traumas. Die spezielle Psychotraumatologie bündelt und erforscht die
Gemeinsamkeiten und Besonderheiten bezogen auf die traumatischen Situationskonstellationen, z.B. Missbrauchstraumata oder Vergewaltigungstraumata (Fischer & Riedesser, 2003).
12
Im Englischen wird meist sowohl für den therapeutischen Ansatz als auch die daraus entwickelten
Methoden das Wort ÿapproachþ verwendet, wodurch es leicht zu Irritationen kommen kann.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
42
Die traumatische Erfahrung kann nicht ungeschehen gemacht werden, daher ist das Ziel
einer traumazentrierten Behandlung die nachträgliche Bewältigung und Integration
nichtverarbeiteter traumatischer Erfahrungen (Besser, 2002). Für das Vorgehen in der
Behandlung sind zunächst der Zeitpunkt, die Dauer und Komplexität der Traumatisierung ausschlaggebend und man unterscheidet zwischen folgenden Behandlungsformen:
ÿ
ÿ
Traumaakutbehandlung
Krisenintervention
Behandlung traumatischer Langzeitfolgen
Besonders bei Monotraumatisierungen können sofortige Interventionen die mögliche
Ausprägung einer Posttraumatischen Belastungsstörung eindämmen (Fischer & Riedesser, 2003; van der Kolk et al., 2000). Die therapeutischen Möglichkeiten zur Krisenintervention und Traumaakutbehandlung hängen sehr von der traumatischen Situation ab
und inwieweit eine sofortige Hilfe aufgrund der vorherrschenden Gegebenheiten überhaupt möglich ist (z.B. ob die regionale Infrastruktur mitzerstört wurde) (Turnbull &
McFarlane, 2000).
Traumaakutbehandlung
In der Akutbehandlung erfolgt eine zeitnahe Behandlung ý wenn die Betroffenen sich
von der direkten Einwirkung der traumatischen Situation erholen - auf biologischer,
psychischer und sozialer Ebene (Fischer & Riedesser, 2003). Meist handelt es sich um
sogenannte Monotraumatisierungen aufgrund von Katastrophen oder Unfällen. In der
Akutphase haben sich die Symptome meist noch nicht verfestigt und sind dadurch nach
Turnbull und McFarlane (2000) gut behandelbar. Die Phase direkt nach einem traumatischen Erlebnis ist geprägt von einem starken Disstress und intensiven dissoziativen Reaktionen, die dazu führen, dass die Betroffenen verwirrt sind und nicht wissen, wie sie
damit umgehen sollen. Ziel der Akuttherapie ist es, den Disstress zu erfassen und begrenzen (Turnbull & McFarlane, 2000) z.B. durch umfassende Aufklärung und über die
Erfahrungen zu reden und damit zu vermeiden, dass z.B. die Symptome mit psychotropen Drogen bekämpft werden (Herman, 2003). Hierbei kann auch der Einsatz eines
angstlösenden Medikaments hilfreich sein, damit der Disstress reduziert wird und sich
die Betroffene auf psychischer Ebene mit der Erfahrung auseinandersetzen kann.
Hauptziel der Akutbehandlung ist die Verhinderung traumatischer Langzeitfolgen und
Ausbildung von Morbidität (Turnbull & McFarlane, 2000). Die Betroffenen werden
dabei unterstützt, eine eigenständige Genesung zu erreichen. Da zahlreiche Studien belegen, dass viele akut traumatisierte Menschen nicht von sich aus die Hilfe aufsuchen,
weil z.B. die Betroffenen aufgrund ihres Unfalles im Krankenhaus liegen, bedarf es
einer aktiven Kontaktaufnahme durch die Therapeutinnen (Fischer & Riedesser, 2003;
Turnbull & McFarlane, 2000).
In der Traumaakutbehandlung sollte immer auch erfasst werden, ob vor der traumatischen Erfahrung eine psychische Störung vorlag. Die Wiedererlangung von Sicherheit
und Kontrolle stellen eine wesentliche Voraussetzung für die Überwindung aber auch
zur Verhinderung der Verfestigung des Traumas dar. Besondere Rolle kommt hierbei
dem sozialen Netzwerk und der Entwicklung von Copingmöglichkeiten zu. Hierfür
werden verschiedene psychotherapeutische Verfahren und ressourcenorientierte Methoden eingesetzt (ähnlich den Methoden in der Stabilisierungsphase bei der Behandlung
traumatischer Langzeitfolgen (siehe Kap. 4.3.1)).
Krisenintervention
Die Krisenintervention als Teil der Traumaakutbehandlung erfolgt in der Regel direkt
im Anschluss an das traumatische Ereignis, z.B. nach Katastrophen oder Zivilunfällen.
Hierfür bedarf es eines entsprechenden Schutzraumes. Krisenintervention erfolgt häufig
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
43
durch spezielle Krisennotdienste, die für die entsprechenden Ereignisse ausgebildet
sind. Ziel der Krisenintervention ist eine Gelegenheit zu geben über das Erlebte zu sprechen und zu trauern. Hierbei werden Kriseninterventionsverfahren und -techniken angewandt. Darüber hinaus werden die Betoffenen oder ihre Angehörigen über posttraumatische Reaktionen informiert, damit sie darauf vorbereitet sind, wenn diese Reaktionen auftauchen (Herman, 2003). Nach Turnbull und McFarlane (2000) handelt es sich
dabei um eine wirkungsvolle und vorbeugende Aufklärung, damit die Betroffenen diese
Reaktionen besser aushalten und bewältigen können (vgl. auch Herman, 2003). Die eingesetzten Interventionen dienen dazu, das Gefühl von Macht, Kontrolle und Autonomie
wiederzuerlangen sowie der Entwicklung anderer Bewältigungsformen, um Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Misstrauen zu reduzieren (Turnbull & McFarlane, 2000).
Behandlung traumatischer Langzeitfolgen
Für die psychotherapeutische Therapie ist vor allem die Behandlung traumatischer
Langzeitfolgen von Bedeutung, die schon über mehrere Monate oder Jahre existieren
(siehe Abb. 7 Kap. 3.5). Dabei ist die Länge der Therapie von der Komplexität der
traumatischen Störung abhängig und es bedarf einer individuellen Behandlungsplanung
und Herangehensweise. Landolt (2004) weist auf Untersuchungen hin, die nachweisen,
dass psychologische Therapieverfahren bei der Behandlung traumatischer Langzeitfolgen effektiver sind und zu einer geringeren Abbruchrate führen als
psychopharmakotherapeutische Behandlungen. Bezüglich der psychotherapeutischen
Behandlung haben sich in Anlehnung an die verschiedenen psychotherapeutischen
Richtungen, verschiedene therapeutische Zugänge entwickelt. Die einzelnen
psychotherapeutischen Methoden dienen einerseits der Identifizierung von Symptomen
und damit der Diagnostik und andererseits der Behandlung (Hille, 2002).
4.2
Psychotherapeutische Verfahren
Das traumatische Erlebnis ist passiert und man kann es nicht ungeschehen machen, aber
man kann die Menschen unterstützen, das Trauma zu überwinden und es in das Leben
zu integrieren. Voraussetzung dafür ist aber, dass man sich erinnert. Das Trauma zu
überwinden müssen die Betroffenen selbst schaffen, aber sie können in diesem Prozess
begleitet und unterstützt werden (Herman, 2003). Eine nachträgliche Bewältigung und
Integration nicht verarbeiteter traumatischer Erfahrungen ist im Rahmen einer sogenannten traumazentrierten Psychotherapie möglich (Besser, 2002; Fischer, 2000; Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003; Huber, 2004, 2005; Reddemann, 2001, 2004;
Sachsse et al., 2002; van der Kolk et al., 2000a). Inzwischen wurden und werden zahlreiche psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten zur Traumatherapie entwickelt.
Sie unterscheiden sich hauptsächlich in dem zugrunde liegenden Ansatz, z.B. tiefenpsychologisch fundiert, kognitiv-behavioral, etc.. Entsprechend des Ansatzes unterscheiden
sich die Krankheitserklärungsmodelle der Traumaätiologie (vgl. Kap. 3.1) und zum Teil
die sich aus dem jeweiligen Verständnis ergebenden Therapieverfahren und ýtechniken.
Bei Huber (2004) kann man eine ausführliche Literatursammlung bisher existierender
psychotherapeutischer Therapieverfahren zur Traumabehandlung nachlesen (S.300ff).
Inzwischen geht es in der traumazentrierten Psychotherapie nicht mehr um die Abgrenzung der einzelnen Therapierichtungen voneinander, sondern darum in interdisziplinärer
Zusammenarbeit und im Austausch zu überprüfen, welche Therapie dem Genesungsprozess nützlich ist, z.B. wie es möglich ist, die Verarbeitung traumatischer Erfahrung
möglichst erträglich und stressarm zu gestalten (Fischer & Riedesser, 2003; Hille,
2002). Aufgrund der Auswirkungen des Traumas auf psychologische, physiologische
und soziale Systeme und dadurch, dass traumatische Erfahrungen zu einer engen VerDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
44
zahnung kognitiver, sensorischer und affektiver Reaktionen führen (Streeck-Fischer et
al., 2002), befasst sich die Psychotraumatologie mit integrativen Behandlungskonzepten
für traumatisierte Menschen (Fischer & Riedesser, 2003; van der Kolk et al., 2000a).
Petzold et al. (2002) und van der Kolk (2000) als Vertreter der Integrativen Psychotherapie beziehen auch noch die soziologischen und kulturtheoretischen Aspekte in ihre
Betrachtung mit ein. Eine besondere Bedeutung bekommen diese Aspekte meiner Ansicht nach bei der Therapie von Menschen, die durch politische Gewalt traumatisiert
wurden und/oder aus anderen Kulturkreisen stammen, da die Auswirkungen des kulturellen und politischen Kontextes sich besonders auch in den (post)traumatischen Störungen manifestieren (siehe Kap. 5.8.1). Voraussetzung für eine Behandlung ist zunächst eine individuell zugeschnittene und sorgfältige Diagnostik (siehe Kap. 3.5), einschließlich der Abklärung komorbider Störungen (Landolt, 2004).
Therapieziele
Ziel der Therapie ist es, das Trauma zu verarbeiten und die traumatische Erfahrung in
die Lebensgeschichte zu integrieren (Sachsse et al., 2002a). Aufgrund der Forschungsergebnisse aus der Neurobiologie stellt sich die Frage an die Psychotherapie, wie eine
gelungene Traumabearbeitung und Traumaintegration sich gestalten. Z.B. inwieweit
aufgrund der Retraumatisierungsgefahr das Durcharbeiten des Traumas z.B. nach der
klassischen Psychoanalyse angebracht ist. Denn nicht nur die direkten Traumaauswirkungen, sondern auch die traumatischen Erinnerungen führen zu den genannten biologischen Veränderungen im Gehirn. Das bedeutet, dass bei der herkömmlichen Form des
Durcharbeitens durch die Erinnerung an das Trauma, die negativen Gedächtnisspuren
durch abwertende und verneinende Gedankenkreisläufe sowie durch Intrusion verstärkt
werden. Bei einem ressourcenorientierten Ansatz beispielsweise werden dagegen durch
entlastende und aufbauende Gedanken und Erfahrungen positive Gedächtnisspuren aufund ausgebaut (Hüther, 2001). Nach dem heutigen Kenntnisstand der Psychotraumatologie, die sich wie bereits beschrieben auf diese neurobiologischen Forschungsergebnisse stützt, geht man davon aus, dass je schwerer und komplexer das Trauma ist, desto
mehr sollte man in Therapien den Fokus auf einen ressourcenorientierten Ansatz und
den Aufbau von Bewältigungsmechanismen richten (Fischer & Riedesser, 2003; Huber,
2005; Herman, 2003; Sachsse et al., 2002a). Bei einer chronischen komplexen posttraumatischen Belastungsstörung sollte man daher überwiegend ressourcenorientiert
arbeiten. Zunächst ist es also für die Therapie von Bedeutung, abzuklären, um welche
Form der Belastungsreaktion es sich handelt. Psychoanalytische und psychodynamisch
orientierte Ansätze, die traumazentrierte psychotherapeutische Verfahren anwenden,
betonen daher die Abkehr von der klassischen psychoanalytischen Vorstellung des
Durcharbeitens (Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003; Reddemann, 2004; van der
Kolk et al., 2000a).
Bezogen auf die Traumabearbeitung findet zudem eine Abkehr von der zum Beispiel
in der klassischen Gestalttherapie auf eine Katharsis abzielende aufdeckende Arbeit
statt (Hille, 2002). Wie das eben beschriebene herkömmliche Durcharbeiten ist diese
kathartische Entladung in der traumaspezifischen Psychotherapie kontraindiziert, da
auch diese wegen der unbewusst ablaufenden Retraumatisierungen zu einer Verfestigung und Verstärkung der Symptomatik sowie auch zu neurobiologischen Veränderungen führt. Traumazentrierte Psychotherapie im Sinne einer Traumaverarbeitung versteht
sich deshalb heute nicht mehr als Abreaktion oder als Katharsis zur Reinigung von belastenden Erinnerungsfragmenten. Traumabearbeitung dient vielmehr der Traumasynthese zur Integration traumatischer Erfahrungen ins persönliche Narrativ. Nur eine
bewusste und kontrollierte Annäherung an das traumatische Material wird als hilfreich
verstanden (Huber, 2004, 2005): Aus Intrusionen und Flashbacks sollen erträgliche Erinnerungen werden, die nicht mehr den Einsatz pathologischer dissoziativer MechanisDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
45
men erforderlich machen und nicht mehr zur Symptombildung führen. Die traumatische
Erfahrung soll integrierter Bestandteil des Lebens werden. Auch wenn man das traumatische Geschehen nicht ungeschehen machen kann und das Leben nach einem Trauma
nicht mehr wie das Leben vor dem Trauma ist, so kann man dennoch die Symptome
zum Abklingen bringen (Besser, 2002). ÿTherapieziel ist die emotionale Verarbeitung
der Traumata, die psychophysische Integration und Nachreifung der psychischen Struktur. Damit verbessern sich folglich Lebensfunktion und Lebensqualitätþ (Fuckert, 2002,
S.111). Diese nachträgliche Verarbeitung des Traumas bezeichnet man als Traumaintegration:
Abbildung 8: Die fragmentierte Speicherung traumatischer Erinnerungen (Besser, 2002, S.180)
Jeder dieser Luftballons in Abbildung 8 ist ein Teil der fragmentiert abgespeicherten
Erinnerung. Solange Dissoziation und Amnesie die Erfahrungsfragmente voneinander
getrennt halten, wobei oft gleichzeitig amnestische Lücken bestehen, kann ein traumatisches Erlebnis nicht als ganzheitliche Erfahrung, körperlich gespürt, bewusst erinnert
und gefühlt und somit nicht integriert werden. Die einzelnen Luftballons können durch
Reize getriggert werden und führen zu Intrusion und Retraumatisierung.
Nach einer gelungenen Integration (Abb. 9) wird der Mensch nicht mehr überwältigt,
sondern hat seine Erinnerungen und Erfahrungen in der Hand als Teil seines Lebens.
Daher ist Ziel der Traumaintegration, dass das, was dissoziiert war, reassoziiert werden
muss und dadurch nachverarbeitbar gemacht wird, um dann alte Angst und ängstigende
Symptome zum Abklingen zu bringen. Die auf verschiedenen Bewusstseinsebenen
fragmentierte Speicherung traumatischer Erinnerungen soll bewusst gemacht werden
und werden dadurch integrierbar (Besser, 2002). In der Behandlung traumatischer Störungen gilt es den Teufelskreis, der funktionell sich autonomisierenden Regelkreise und
Wiederholungszwänge (z.B. automatisierte Dissoziationsprozesse) zu unterbrechen und
(z.B. durch Rückzug oder numbing) festgefahrene Entwicklungen in Gang zu bringen
(Streeck-Fischer et al., 2002).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
46
Abbildung 9: Gelungene Traumaintegration (Besser, 2002 S.181)
Da auch der Körper die traumatische Erfahrung abgespeichert hat, wird in der Psychotraumatologie immer wieder darauf hingewiesen, dass eine Therapie auf der rein
verbalen Kommunikationsebene nicht ausreicht, um ein Trauma vollständig zu integrieren, sondern auch das Einbeziehen der körperlichen und emotionalen Ebene im therapeutischen Prozess von Bedeutung ist (Hille, 2002; Huber, 2004; 2005; van der Kolk et
al., 2000a). Daher erfolgt auch in den einzelnen therapeutischen Richtungen inzwischen
meist ein integrativer Methodeneinsatz, um die einzelnen Ebenen in der Behandlung zu
erfassen. Mit Hilfe von mehrdimensionalen therapeutischen Angeboten können die sensorischen, affektiven und kognitiven Beeinträchtigungen reduziert und überwunden
werden (Streeck-Fischer et al., 2002). Unabhängig vom therapeutischen Ansatz enthält
die traumazentrierte Psychotherapie sowohl psychoedukative als auch psychotherapeutische Anteile (vgl. z.B. Fischer & Riedesser, 2003; Reddemann, 2004; Shapiro, 1998;
van der Kolk et al., 2000a).
Unabhängig vom traumatischen Syndrom und der therapeutischen Richtung existieren
grundlegende Gemeinsamkeiten hinsichtlich des therapeutischen Prozesses (Herman,
2003; Herman, 2003; Huber, 2004; Sachsse, Özkan & Streeck-Fischer, 2002a; van der
Kolk et al., 2000b). Voraussetzung für die Traumabearbeitung und Integration ist eine
stabile und vertrauensvolle therapeutische Beziehung, die vor allem ausreichend Sicherheit, Halt und Vertrauen und eine gemeinsame Kommunikationsebene gewährleisten muss. Zudem brauchen Patientin und Therapeutin genügend Bereitschaft und Stabilität, sich auf die zum Teil sehr schmerzhaften und unangenehmen traumatischen Erfahrungen einzulassen. Die Therapie ermöglicht einen schrittweisen Übergang von einem
Grundgefühl ständiger Gefahr und Unberechenbarkeit zu einem Gefühl von Verlässlichkeit und Sicherheit, von abgespaltenen traumatischen Erfahrungen zu bewussten
Erinnerungen und von Isolation zur Einbindung in das soziale Gefüge (ebd.).
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4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
47
Für einen erfolgreichen Therapieverlauf lassen sich folgende Faktoren zusammenfassen (vgl. z.B. Engl, 2002; Herman, 2003; Reddemann, 2004; van der Kolk et al.,
2000a):
ÿ
Sicherheit
Die traumatisierte Person muss das Vertrauen und die Sicherheit auf verschiedenen Ebenen wiederherstellen lernen: Hierzu gehören die innere Sicherheit der Person, interpersonelle Sicherheit und auch die Beziehung zur
Therapeutin. Aufgrund der Verquickung der einzelnen Symptome auf der
psychischen, physischen und sozialen Ebene muss diese Sicherheit gleichzeitig auf den einzelnen Ebenen geschaffen werden. Während des gesamten
Therapieverlaufs muss die Therapeutin die Patientin unterstützen, ein Gefühl
von innerer Sicherheit zu entwickeln, indem sie erfahren kann, dass sie wieder die Kontrolle über innere und äußere Prozesse hat und bewahren kann.
Die eigene Wahrnehmung und die Wahrnehmung der eigenen Grenzen soll
unterstützt und gestärkt werden.
ÿ
Methodenintegration, Interdisziplinarität und Kontextbezogenheit
Aufgrund der Komplexität der Traumaauswirkungen bedarf es des Einsatzes
verschiedener Ansätze und Methoden z.B. Methoden der Psychoanalyse, der
Systemischen Therapie, der Körperpsychotherapie, der kognitiven Verhaltenstherapie, der Familientherapie, der Hypnotherapie und der Musiktherapie.
ÿ
Stressreduktion
Es soll versucht werden, so wenig Stress wie möglich zu erzeugen und
Retraumatisierung zu vermeiden.
ÿ
Respekt und Empowerment
Die Patientin wird als erwachsene Partnerin verstanden, mit der sich die
Therapeutin um das ÿverletzte innere Kindþ kümmert. Die Arbeit mit Regression in der therapeutischen Beziehung soll vermieden und der regressive
Sog, den eine stationäre Einrichtung begünstigen kann, minimiert werden,
indem die Patientinnen ihre Selbstverantwortung behalten. Sie sollen stets
Herrin der Situation bleiben und die Therapie mitgestalten können.
Transparenter Therapieverlauf schafft Kontrollierbarkeit und somit Sicherheit (z.B. gemeinsame Besprechung und Planung des Therapieverlaufs).
Symptome werden als hilfreich und sinnvoll zum Überleben des Traumas
dienend anerkannt.
ÿ
Ressourcenorientierung
Traumatherapie ist primär ganzheitlich und ressourcenorientiert. Alle Fähigkeiten und Stärken der Patientin werden daher im therapeutischen Prozess
erarbeitet (z.B. auch durch Stressbewältigungstrainings, Entspannungsverfahren, Verfahren zur Körperwahrnehmung z.B. Qi Gong).
Die Bearbeitung des Traumas ist nicht das primäre Behandlungsziel, sondern die Bearbeitung der Traumafolgen (Symptome, Verhaltensweisen, Persönlichkeitsveränderungen).
Es soll unterschieden werden, was Vergangenheit und was Gegenwart ist.
ÿ
Zeit und Geduld
Je komplexer die Traumatisierung, umso länger braucht die Therapie. Es
kann u.U. sehr viel Zeit benötigen die Patientinnen zu stabilisieren, bis man
das traumatische Material bearbeiten kann.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
ÿ
48
Flexibilität der Therapeutin bezüglich der therapeutischen Beziehung
Aufgrund der vielfältigen und plötzlich wechselnden Wirkfaktoren eines
Traumas (vgl. Kap. 4.4) muss die Therapeutin über eine flexible Handhabung ihrer therapeutischen Möglichkeiten verfügen, z.B. die Therapeutin ist
mal Teil des Ichs, mal Spiegel, mal schützend, mal nährend, mal drängend
und fordernd, mal analysierend und reflektierend, unterstützend und ermutigend, etc..
In allen psychotherapeutischen Richtungen existieren inzwischen Verfahren und Techniken zur traumazentrierten Therapie. Den meisten traumaspezifischen psychotherapeutischen Verfahren ist dabei gemeinsam, dass eine direkte Auseinandersetzung mit dem
traumatischen Material als essentiell betrachtet wird: Kriterium für Traumatherapie ist,
dass in der Therapie mit den Betroffenen, neben der Behandlung der Traumafolgen,
eine direkte Exploration des Traumas und der Ausdruck der mit dem Trauma verbundenen Emotionen erfolgen kann. Die Art und Weise der jeweiligen Auseinandersetzung
hängt von dem eingesetzten Therapieverfahren und dem zugrundeliegenden therapeutischen Ansatz ab sowie von der Stabilität und Bereitschaft der Betroffenen . Die meisten
Ansätze und Verfahren beinhalten spezielle traumazentrierte Techniken und dienen
gleichzeitig der diagnostischen Abklärung (Fuckert, 2002). Im Folgenden wird nicht
weiter auf die unterschiedlichen psychotherapeutischen Ansätze und ihre therapeutischen Verfahren eingegangen, sondern auf ihre Gemeinsamkeiten und auf spezielle
standardisierte Methoden zur Traumabehandlung.
4.3
Phasenmodell traumazentrierter Psychotherapie
ÿEin hoher Prozentsatz der Traumaarbeit ist nicht unmittelbare Auseinandersetzung
mit Inhalten des Traumasý (Huber, 2004, S.22).
Die Gemeinsamkeiten der traumazentrierten Psychotherapie für die Behandlung traumatischer Langzeitfolgen bestehen darin, dass die Vorgehensweise nach einem gleichen
Grundgerüst erfolgt. Das Grundmodell der traumazentrierten Psychotherapie unterteilt
den therapeutischen Prozess in bestimmte Phasen und geht auf Pierre Janets Konzept
der traumatischen Hysterie zurück (Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003; Huber,
2004; Reddemann, 2004; Sachsse et al., 2002a; Shapiro, 1998; van der Kolk et al.,
2000a):
1. Stabilisierung
2. Traumabearbeitung
3. Traumaintegration
Dieses Dreiphasenmodell stellt ein theoretisches und vereinfachtes Modell für ein
komplexes und vielschichtiges Phänomen dar und ist nicht linear zu verstehen.
Die erste Phase dient der Wiederherstellung von Sicherheit und Stabilität, die zweite
Phase enthält das Erinnern, die Traumabearbeitung und in der dritten Phase geht es um
Trauern und Neuorientierung, in der die Verbindung zum normalen Leben wieder hergestellt werden soll. Die Phasenzahl variiert bei manchen Konzepten zwischen vier und
maximal acht Phasen (Herman, 2003). Inhaltlich gesehen sind diese Phasen dennoch
ähnlich. Standardwerke zur Psychotraumatologie beschreiben das Vorgehen meist in
drei Phasen (Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003; Reddemann, 2004; van der
Kolk et al., 2000a).
Die eigentliche Taumaexposition in der Traumabearbeitungsphase nimmt im Vergleich zur Stabilisierungsphase einen zeitlich geringeren Stellenwert ein. Je nach Komplexität der traumatischen Störung ist die Vorbereitungszeit bis zur Traumabearbeitung
unterschiedlich lange. Gerade bei besonders schweren und chronischen TraumatisierunDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
49
gen bleibt die Stabilisierung zunächst oft das alleinige Ziel der Therapie und man sieht
zunächst von einer Traumabearbeitung ab. Bei besonders frühen Traumata wird empfohlen erst die neurotischen Störungen und dann die frühen Störungen zu behandeln
(Fuckert, 2002). Psychotherapeutische Verfahren, die sich auf Erkenntnisse der Psychotraumatologie beziehen und nach dem Phasenmodell arbeiten, werden als traumazentrierte Psychotherapie bezeichnet (Fischer & Riedesser, 2003).
4.3.1
Stabilisierungsphase
Ist ein traumatisches Syndrom diagnostiziert, sollte es offen angesprochen werden, da
die Patientin durch die Erfahrung ihres Zustandes den ersten Schritt der Bewältigung
gehen kann und nicht mehr länger in der Sprachlosigkeit des Traumas gefangen ist. Zudem sollte sie informiert werden, dass die Symptome normale menschliche Reaktionen
auf eine Extremsituation sind. Daher erfolgt meist als nächster Schritt eine umfassende
Aufklärung (Herman, 2003). Ohne ein gewisses Maß an Sicherheit bleibt laut Herman
(2003) jede weitere Therapie erfolglos.
Die Voraussetzung für geplantes und zielgerichtetes Handeln stellt eine verhältnismäßige Sicherheit und Vorhersagbarkeit dar (van der Kolk et al., 2000b). Der Aufbau
eines gewissen Maßes an Sicherheit nimmt die meiste Therapiezeit in Anspruch. Damit
eine psychotherapeutische Auseinandersetzung (Traumabearbeitung) mit dem Trauma
überhaupt möglich ist, muss der traumatisierte Mensch daher zunächst psychisch, somatisch und sozial stabilisiert sein (van der Kolk et al, 2000b):
ÿ
Somatische Stabilisierung
Die körperlichen Leiden (z.B. körperliche Verletzungen durch Unfälle oder
andere Gewalteinwirkung) müssen so weit behandelt werden, dass sie die
Therapie nicht behindern z.B. durch medizinische Behandlung und Rehabilitation.
ÿ
Soziale Stabilisierung
Ein sicheres soziales Beziehungsnetz und stabile soziale Verhältnisse müssen geschaffen werden. Daher wird das nähere soziale Umfeld einbezogen
und mobilisiert. Die Stabilisierung des sozialen Bereichs gestaltet sich besonders problematisch und schwierig in Situationen, in denen die Traumatisierung noch anhält (z.B. anhaltender sexueller Missbrauch, politische Gewalt), so dass sie oft eine traumazentrierte Therapie verhindern und nur an
der Stabilisierung gearbeitet werden kann.
ÿ
Psychische Stabilisierung
Die psychische Stabilisierung richtet sich nach der Art und dem Schweregrad der Traumatisierung und dem Vorhandensein komorbider Störungen
und hängt von den Bewältigungsmöglichkeiten und der Ich-Struktur ab. Die
psychische Stabilisierung beinhaltet z.B. die Stärkung des Selbstwertgefühls
und der Ich-Funktionen. Ressourcenorientierte Techniken wie z.B. imaginative Techniken und körperorientierte Verfahren, Entspannungsverfahren und
verschiedene behaviorale Trainingsprogramme werden hierbei eingesetzt.
Zur Ressourcenstärkung gehört auch meiner Meinung nach abzuklären, welches Verfahren und welche Zugangsweise sich im individuellen Fall am besten eignen.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
50
Je nach therapeutischem Ansatz unterscheiden sich die Verfahren z.B. Methoden der
kognitiven Verhaltenstherapie wie Stressbewältigungstrainings. Die Wiedererlangung
der Autonomie ist nicht nur in der therapeutischen Beziehung sondern auch bei ärztlichen Untersuchungen von körperlichen Verletzungen von Bedeutung, ganz besonders
nach Unfällen und Gewalterfahrungen. Medizinische Untersuchungen können Gefühle
wie Ohnmacht und Kontrollverlust verstärken und die Art der Untersuchungen besonders im Intimbereich kann retraumatisieren. Information und Aufklärung und das Einbeziehen der Patientinnen sind wesentlich, damit sie weitestgehend aktiv am Geschehen
teilhaben und schrittweise Kontrolle über innere Abläufe wiedererlangen können
(Sachsse et al., 2002b). Bei der Entwicklung von Kontroll- und Distanzierungs- sowie
Bewältigungsmöglichkeiten des traumatischen Materials haben sich Distanzierungstechniken13 in Form von imaginativen Übungen und Dosierungstechniken zunehmend
bewährt (Huber, 2004, Reddemann, 2001; 2004; Sachsse et al., 2002a). Diese Techniken stammen beispielsweise aus der Hypnotherapie, dem Neurolinguistischen Programmieren [NLP] und der Psychodynamischen Imaginativen Traumatherapie [PITT].
Hierzu gehören beispielsweise Containertechniken: wie die Tresorübungen oder andere
Containments (z.B. imaginative Filmspule, Videokassette, CD, Päckchen); sichere imaginative Orte, Plätze oder Personen, wie z.B. der innere sichere Ort, der innere Helfer,
Beobachter und Wächter, Tagebuchschreiben und Bilder malen. Die einzelnen Techniken lassen sich zusätzlich durch Verankerung in Form von Symbolen ergänzen (z.B. für
eine Person hilfreiche Gegenstände, wie ein Stein oder eine Figur, Verankerung in angenehmen Musikaufnahmen) (Hille, 2002). Diese Techniken benutzen gezielt die Dissoziation als Ressource und zur Stabilisierung:
Stabilisierung durch Dissoziation und Spaltung
Dissoziative Symptome
Imaginative Techniken
Intrusionen, Flashbacks, Derealisation
Tresorübung,
Dissoziationsstopp mit Bildrücklauf und Gegenbildern
Panik, Angst, Paranoia
innerer sicherer Ort
Chaotische Beziehungen
nur gute innere Helfer
Unkontrollierte Spontanregressionen
Arbeit mit dem inneren Kind
Selbst- und Fremddestruktivität
Arbeit mit Täterintrojekten
Depersonalisation
Körperorientierte Verfahren, z.B. Feldenkrais, Qi
Gong
Abbildung 10: Stabilisierung durch Dissoziation und Spaltung
(in Anlehnung an Sachsse et al., 2002b, S. 40)
Folgende Abbildung (11) stellt noch einmal zusammenfassend die wesentlichen Bestandteile der Stabilisierungsphase dar:
13
Bei der Arbeit mit Distanzierungstechniken wird nach Huber (2004) ein Vorgehen nach Maslows Bedürfnispyramide in folgender Reihenfolge empfohlen: 1. Basale Sicherheit (z.B. Imagination des sicheren
Ortes); 2. Soziale Eingebundenheit und Unterstützung (z.B. Imagination der guten inneren Helfer); 3. Die
Möglichkeit aufzutanken (z.B. Baumübung); 4. Die Möglichkeit, Belastendes vorübergehend verdrängen,
wegpacken oder ausblenden zu können (z.B. Imagination des inneren Tresors; Tresorübungen) (vgl. Huber, S. 233).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
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Stabilisierungsphase
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Anerkennung der Symptomatik als sinnvoll, dem Überleben dienend
Soziale Stabilisierung
Information über das, was Traumatisierungen in einem Menschen anrichten können
Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung
Schulung der Imaginationsfähigkeit und Kognitionen mit heilsamen Ich-stärkenden Vorstellungen, damit Intrusionen, Flashbacks und dissoziativen Zuständen gesteuert begegnet werden kann. Dabei werden die Copingstrategien der Patientinnen, Dissoziation und Spaltung
zur Grundlage der Therapiestrategie (Dissoziation und Spaltung als positive Strategien; siehe Abb. 10)
Erlernen von Techniken zur Reduktion von Intrusionen und Flashbacks und zum kontrollierten Umgang mit dem traumatischem Material: Imaginationen und Distanzierungstechniken: innerer sicherer Ort; Tresorübung, Flashback-Kontrolle, Dissoziationsstopps, gelenkte
Dissoziation, etc.
Lernen von Affektdifferenzierung und -regulierung
Exploration und Distanzierung vom Traumamaterial
Lernen, sich sicher zu fühlen und wahrzunehmen, was dafür nötig ist
Ressourcenaktivierung: Alle Ressourcen suchen, bewusst machen und (ver)stärken, bzw.
Anknüpfen an Ressourcen vor der Traumatisierung
Benennung traumatischer Übertragungsverzerrungen (bei Erwachsenen)
Behandlung körperlicher Verletzungen und Beeinträchtigungen
Schaffen eines Zugangs zum Körpererleben und Körpergefühl: es wird dabei darauf geachtet, dass traumatisierte Körperstellen bei der Durchführung des Verfahrens ausgelassen
werden: Differenzierte Körperwahrnehmung (verschiedene Körperwahrnehmungsübungen,
Entspannungsverfahren, Kraniosakraltherapie)
Reduktion des traumatischen Stresses (auf mehreren Ebenen): des inneren Stresses, aber
auch Milieugestaltung zur Reduktion äußeren Stresses
Keine Reaktivierung des Traumas in dieser Phase!
Reorientierung im Hier und Jetzt
Bewältigungsstrategien für den Alltag: z.B. selbsttröstende und selbstfürsorgende Maßnahmen
Förderung der inneren Kommunikation bei Menschen mit dissoziativen Störungen
Eindämmung zerstörerischer Verhaltensweisen
Erkennen von Triggern
Wiedergewinnung von Selbstbestimmung und Autonomie
Alltagstransfer
auch meist weitere Diagnostik in dieser Phase
Abbildung 11: Zusammenfassung Stabilisierungsphase
(vgl. z.B. Engl, 2002; Fischer, 2000; Herman 2003; Huber, 2004; Reddemann, 2001, 2004; Sachsse et al.,
2002b; van der Kolk et al., 2000b)
4.3.2
Traumabearbeitungsphase
In dieser Phase findet die Begegnung mit dem Trauma statt. Daher wird die Phase der
Traumabearbeitung auch oft Traumaexpositionsphase genannt.
Voraussetzungen für die Traumaexposition sind ein sicheres soziales Netzwerk sowie sichere äußere und innere Lebensumstände (z.B. keine anhaltende Traumatisierung,
keine Abhängigkeiten vom Täter oder der Täterin; kein Substanzmittelmissbrauch; keine Suizidalität, keine schwere körperliche Erkrankung, etc.). Genauso wie in den anderen Phasen ist das Spektrum der Traumabearbeitung und -verarbeitung weit und hängt
zunächst von den Bedürfnissen der Betroffenen ab (Hille, 2002). Die einen wollen eine
Traumabearbeitung im Sinne eines dosierten und kontrollierten Durcharbeitens, um den
Alltag wieder bewältigen zu können, die anderen widmen sich lieber den aktuellen
Problemen und vollziehen nur eine Annäherung an das traumatische Erlebnis und erfahren hierbei so viele Bewältigungsmöglichkeiten, dass sie eine eigene Verarbeitungsform
entwickeln (ebd.). Es bedarf also nicht immer unbedingt einer Arbeit mit der Vergangenheit.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
52
Je nach therapeutischem Ansatz ist die Herangehensweise in dieser Phase unterschiedlich. Meist findet die Auseinandersetzung mit dem belastenden traumatischen Material
phasenweise in einem abgegrenzten und überschaubaren Rahmen, teilweise in Unterabschnitte eingeteilt, statt. Die Autonomie und Kontrolle der Betroffenen, inwieweit und
wann sie sich mit dem traumatischen Material auseinander setzen wollen, müssen während des gesamten Prozesses gewährleistet bleiben. Um die Kontrolle zu erleichtern,
wird auch in manchen Einrichtungen ein eigener spezieller Raum nur zur Traumaarbeit
genutzt, damit man die Erinnerungen leichter an einen anderen Ort schieben kann (Hille, 2002). Aufgrund der großen Retraumatisierungsgefahr wird die Traumabearbeitung
in kurzen Intervallen empfohlen, zwischen denen immer Phasen der Stabilisierung stattfinden müssen, z.B. alle zwei Wochen eine Traumaexpositionssitzung von 50 bis 100
Minuten (Engl, 2002; Herman, 2003; Huber, 2004; Reddemann, 2004; Sachsse et al.,
2002b). Nach Sachsse et al. (2002b) fühlen sich Patientinnen nach einer Traumaexposition so, als wäre das Trauma in der Expositionssitzung passiert.
Nach der Traumaexposition wird das Geschehene in Worte gefasst und man versucht
es ins verbale Wacherleben zu integrieren. Dadurch, dass ein Großteil der traumatischen
Erfahrung nicht der Sprache zugänglich ist, kommt es häufig vor, dass man gerne erzählen würde, aber es noch nicht in Sprache übersetzen kann bzw. sich das Erlebte einfach
nicht in Sprache übersetzen lässt und die Worte dafür nicht ausreichen. Oftmals ist es
daher ein langandauernder Prozess bis für das Geschehene die richtigen Worte gefunden
werden (Hille, 2002). So bleibt oft die traumatische Erfahrung lange auf einer symbolischen Ebene. Aufgrund der auflebenden Symptomatik wird bei schweren chronischen
Traumatisierungen wie bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung eine stationäre Behandlung empfohlen, um eine intensive Betreuung nach der Exposition zu gewährleisten (z.B. wegen selbstverletzenden Verhaltens) (Sachsse et al., 2002b). Reddemann
(2001, 2004) und Huber (2004, 2005) beschreiben den Prozess in der Traumaverarbeitungsphase als Traumasynthese. Traumasynthese bedeutet das Zusammenführen von
Wort, Bild, Affekt und Körpersensation, die Umwandlung einer unkontrollierbaren in
eine kontrollierbare Stressreaktion, die Integration von Unsagbarem ins verbale Wachbewusstsein, die biofokale Aufmerksamkeit und das Pendeln zwischen der Vergangenheit und dem Hier und Jetzt sowie das Aufheben der Verarbeitungsblockaden auf der
Gehirnebene (ebd.). Das veränderte Wiederdurchleben in einer kontrollierten Situation
führt zur Veränderung der Erinnerung.
Ein traumatisches Ereignis als Thema wird im Rahmen eines strukturierten Settings
gezielt ausgewählt, beschrieben und betrachtet. Um die Konfrontation aushaltbar und
kontrollierbar zu machen, können die erlernten Distanzierungstechniken (z.B. Imaginationen) angewandt werden. Es besteht jederzeit die Möglichkeit, die Konfrontation zu
stoppen, wenn es der Patientin zuviel wird. Bei der Arbeit mit dem ÿinneren Kindþ ist es
wichtig, das meist verletzte Kind aus der traumatischen Szene herauszuholen und jetzt
zu schützen und zu versorgen. Für die Arbeit mit Täterintrojekten (Definition siehe
Kap. 4.4) - z.B. mit der imaginativen Technik des ÿinneren Helfersþ - ist es wichtig, die
böse Gestalt zu benennen, Helferinnen im Kampf gegen sie zu finden und ihren Schatz
zu finden und sich anzueignen.
Zur Traumaexposition wurden in den einzelnen therapeutischen Verfahren verschiedene Techniken entwickelt, die wiederum Ausdruck des zugrundeliegenden Ansatzes
sind. Beispielsweise liegt bei einem Verfahren der kognitiv-behavioralen Therapie der
Fokus auf Einübung von Stressbewältigungsstrategien und der Exploration und Korrektur inadäquater traumabezogener Kognitionen z.B. Konfrontation mit traumabezogenen
Reizen und Umstrukturierung der Kognitionen, etc.
Mit Hilfe der in der Stabilisierungsphase erlernten imaginativen Distanzierungstechniken ist eine distanzierte und kontrollierte Exposition mit dem traumatischen Material
möglich. Z.B. kann die traumatisierte Person bei der Beobachtertechnik und bei der
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
53
Bildschirmtechnik aus einer beobachtenden Perspektive den traumatischen Prozess betrachten (Reddemann, 2001, 2004; Sachsse et al. 2002b). Weitere Techniken sind z.B.
Eye Movement Desensitization and Reprocessing [EMDR], NLP-Techniken (z.B. EMI
(Eye Movement Integration), Swish-Modell, Walt-Disney-Technik) (Sachsse et al.,
2002a). Die meisten Verfahren arbeiten mit imaginativen Techniken. Auch die sehr
häufig eingesetzte Technik des EMDR arbeitet mit Imaginationen, aber zusätzlich auch
mit gezielten Augenbewegungen.
In der Verhaltenstherapie wird diese Phase Traumakonfrontationsphase genannt. In
dieser Phase unterscheiden sich verhaltenstherapeutisch orientierte Ansätze und psychodynamisch orientierte besonders. Die Verhaltenstherapeutinnen greifen aktiver in
das Verarbeitungsgeschehen ein (durch aktives Üben und aktive Konfrontation) (Fischer & Riedesser, 2003). Meines Erachtens ist dieses Vorgehen begrenzt geeignet, da
in dieser Phase nicht immer eine direkte Konfrontation mit dem belastenden Material
hilfreich ist. Außerdem ist die Autonomie der Patientin, was die Entscheidung zur Auseinandersetzung mit traumatischen Material betrifft eingeschränkt.
Abbildung 12 fasst die wesentlichen Bestandteile der Traumabearbeitungsphase zusammen:
Traumabearbeitungsphase
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
erfolgt erst, wenn ausreichend Stabilisierung erfahren wurde
Autonomie der Patientin
alles was nicht nötig ist kommt an einen imaginativen sicheren Ort
Zusammenhänge bestimmter Empfindungen, Reaktionen, Gedanken zum Trauma
erst einmal erkennen und verstehen lernen
ÿ
Reduktion von Disstressphänomenen, mittels Techniken, die in der Stabilisierungsphase erlernt worden sind (z.B. Distanzierungstechniken, Entspannungsverfahren, etc.)
ÿ
Beginn mit belastenden Lebensereignissen aus der Jetzt-Zeit und einfacheren
Traumata
ÿ
Bei Monotraumatisierungen ist oftmals Traumaexposition angesagt, bei sehr frühen und komplexen Traumatisierungen ist gut abzuwägen, ob eine weitere
Bearbeitung des Traumas durch Durcharbeitung geeignet ist
ÿ
Umgang mit traumabezogenen Affekten
ÿ
Distanzierung vom belastenden Traumamaterial
Kontraindikationen für Traumaexposition:
aktuelle körperliche Erkrankung, belastende Ereignisse, Täterkontakt, Psychose und psychosenahe Zustände, Suizidalität, geringe Distanzierungsfähigkeit zu den traumatischen Erlebnissen,
geringe Toleranz gegenüber eigenen Gefühlen, Selbstverletzung/-schädigung, schwere Dissoziationen, Drogenkonsum, lebensbedrohliche Erkrankungen bzw. starke körperliche Reaktionen
während der traumatischen Ereignisse, Medikamentenumstellung, schwere Depressionen
Abbildung 12: Zusammenfassung Traumabearbeitungsphase
(vgl. z.B. Engl, 2002; Fischer, 2000; Herman, 2003; Reddemann, 2001, 2004; Huber, 2004;
Sachsse et al., 2002b; van der Kolk et al., 2000b)
4.3.3
Traumaintegrationsphase
Es ist auffällig, dass in der Psychotraumatologie diese Phase sehr wenig beschrieben
wird und meist nur erwähnt wird, so dass man nur wenig erfährt, was eigentlich in dieser Phase gemacht wird. Dies mag eventuell daran liegen, dass in dieser Phase keine
spezielle Traumatherapie notwendig ist, sondern die herkömmlichen psychotherapeutischen Methoden und Verfahren angewandt werden.
Die Phase der Traumaintegration wird auch als Phase der Trauer und Neuorientierung bezeichnet (Huber, 2004; Reddemann, 2001, 2004). Dem Prozess des Trauerns
wird eine besondere Rolle im Traumaverarbeitungsprozess zugeschrieben. Hier geht es
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
54
um das Betrauern dessen was war und was für immer verloren ist und die Neubewertung und Neuorientierung. Dazu gehört eventuell die Sinngebung für die traumatische
Erfahrung und Erarbeitung einer Zukunftsperspektive (Engl, 2002; Reddemann, 2001,
2004).
Traumaintegrationsphase
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Arbeit mit dem verletzten inneren Kind und damit verbundene Trauerarbeit
Trauerarbeit: Wichtig ist echte Trauer von Depression zu unterscheiden
Es ist wirklich passiert und es ist mir passiert
Integration des Traumas in die Lebensgeschichte
Arbeit an der Opferrolle: vom hilflosen und ohnmächtigen Opfer hin zum selbstbestimmten
und -verantwortlichen Überlebenden; Abbau der Schuld, die vom Täter auf das Opfer übertragen wurde. Fokus auf zukunftsorientierte Themen, um aus der Opferrolle zu kommen
und Leben wieder aktiv zu gestalten
Abbau von ÿSchonhaltungenþ und Verhaltensweisen, die zu Zeiten des Traumas sinnvoll
waren, aber jetzt nicht mehr hilfreich sind
Entdecken und Wiederentdecken von neuen Verhaltensmöglichkeiten, die durch Trauma
verschüttet oder gar nicht entwickelt werden konnten
Je nach Ansatz mehr pädagogisch im Sinne von Verhaltensübungen (z.B. Hausaufgaben)
oder therapeutisch
Arbeit an der jetzigen Beziehung (z.B. in Form von Rollenspielen) und Wiederherstellung
der sozialen Beziehungen
Bearbeitung alltäglicher Probleme, um zurück in den Alltag zu finden
Auftauchen anderer Probleme z.B. neurotische Konflikte, die ev. bearbeitet werden müssen,
Beziehungsthemen
Abbildung 13: Zusammenfassung Traumaintegrationsphase
(vgl. z.B. Engl, 2002; Fischer, 2000; Herman, 2003; Reddemann, 2001, 2004; Huber, 2004; Sachsse et
al., 2002b; van der Kolk et al., 2000b)
4.3.4
Manuale zur traumazentrierten Psychotherapie nach dem Phasenmodell
Wie bereits dargestellt wird ein integratives Behandlungskonzept empfohlen, wobei
sich einige Therapieverfahren und -methoden bereits mehr etabliert haben und spezielle
Therapiemanuale, insbesondere für komplexe posttraumatische Störungen entwickelt
wurden. Hierzu gehören Verfahren, die sich aus tiefenpsychologisch und psychodynamisch orientierten Ansätzen entwickelt haben. Aufgrund des integrativen Denkens handelt es sich bei den meisten Behandlungskonzepten um Mischungen einzelner Methoden z.B. Mischformen aus psychodynamisch und verhaltenstherapeutisch orientierten
Methoden z.B. EMDR nach Shapiro (1998) oder Hypnotherapie zur imaginativen
Traumaexposition kombiniert mit verhaltenstherapeutischen Desensibilisierungstechniken oder Techniken aus dem NLP (Landolt, 2004). Aufgrund der Abspeicherung auf
verschiedenen Bewusstseinsebenen und besonders bei präverbalen Traumatisierungen
haben sich imaginative Techniken aus der Hypnotherapie aber auch aus dem NLP besonders etabliert. Bisher existieren keine Untersuchungen, dass eines dieser Verfahren
wirksamer als andere ist (Fischer & Riedesser, 2003; van der Kolk et al., 2000a).
Nach Fischer & Riedesser (2003) sollten daher die Verfahren neben der Behandlung
nach dem Phasenmodell noch weiteren Kriterien entsprechen, um als von der Psychotraumatologie anerkanntes Verfahren, der sogenannten psychotraumatologisch fundierten Psychotherapie [PFP] zu gelten:
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
55
Lehrbuchartige Darstellung, günstigstenfalls Manualisierung von Behandlungsprinzipien, die an
der Ätiopathogenese von Traumafolgeerkrankungen ausgerichtet sind.
Adaption der empfohlenen Behandlungstechnik für einfache (Typ-1) und komplexe (Typ-2), akute und chronifizierte posttraumatische Störungen einschließlich psychotraumatologisch bedingter Persönlichkeitsstörungen. Bezüglich des Chronifizierungsgrades können Einteilung und
Indikationsspektrum der MPTT [Mehrdimensionale psychodynamische Traumatherapie]
zugrunde gelegt werden:
ÿ
Akute Traumatisierung: Das traumatische Ereignis liegt nicht länger als maximal
ein Jahr zurück.
ÿ
Mittelfristiger traumatischer Prozess: Das Ereignis bzw. die belastenden Umstände finden im allgemeinen im Erwachsenenalter statt und liegen bereits über ein
Jahr zurück.
ÿ
Langfristiger traumatischer Prozess: Z.B. Kindheitstraumata, schwere und komplexe Traumatisierung
Ein psychotraumatologisch begründetes Mehr-Ebenen-Prozessmodell (Veränderungsmodell) für
akute und chronifizierte Störungen, zusätzlich zur Manualisierung von Behandlungsprinzipien
unter (1).
Individualisierte Diagnostik traumaassoziierter Nosologie und Ätiopathogenese, hierauf basierend Beziehungsgestaltung und Therapieplanung.
Abwandlung der Therapieführung nach persönlichkeitsspezifischen Parametern.
Systematische Adaption von Diagnostik und Therapieführung an die wichtigsten Gebiete der
speziellen Psychotraumatologie (Unfälle, Gewalt, Katastrophen, usw.).
Adaption an verschiedene Settings, wie stationär vs. ambulant, Paar-, Familien- und Gruppentherapie, Lebensaltersgruppen.
Evaluationsstudien nach unterschiedlichen Methodentypen (kontrollierter Gruppenvergleich,
klinische Feldstudie, systematische Fallstudien) mit konvergentem Ergebnis aus mindestens zwei
unterschiedlichen Studientypen (entsprechend dem intermethodalen Konvergenzprinzip).
Abbildung 14: Anforderungsprofil der psychotraumatologisch fundierten Psychotherapie (PFP)
(in Anlehnung an Fischer & Riedesser, 2003, S. 234)
Dieses Anforderungsprofil erfüllen folgende manualisierte psychotherapeutische Verfahren:
PITT® - Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie und MPTT - Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie
Die psychodynamische Traumatherapie [PTT] hat sich in den letzten drei Dekaden aus
der Psychoanalyse entwickelt und die Manuale der PITT und MPTT sind daraus hervorgegangen. Bei beiden Verfahren werden psychotherapeutische Elemente mit psychoedukativen verbunden (Fischer & Riedesser, 2003; Reddemann, 2004). Beispielsweise werden die traumakompensatorischen Fähigkeiten auch mit dem Einsatz gezielter
Übungen unterstützt (Fischer & Riedesser, 2003). PITT wurde von der deutschen Nervenärztin und Psychoanalytikerin Luise Reddemann zur Behandlung komplexer posttraumatischer Belastungsstörungen entwickelt (Reddemann, 2004) und MPTT von Gottfried Fischer, ursprünglich zur Behandlung komplexer posttraumatischer Belastungsstörungen nach Gewalterfahrungen (Fischer, 2000).
EMDRþ - Eye Movement Desensitization and Reprocessing
Da EMDR einerseits als eigenes Verfahren aber auch als Technik in vielen traumazentrierten psychotherapeutischen Verfahren sowohl in Deutschland als auch international zur Traumabearbeitung, z.B. auch in der PITT oder MPTT, ergänzend eingesetzt
wird, soll dieses Verfahren kurz skizziert werden:
Bei dem von der amerikanischen Psychologin Francine Shapiro in den 80er Jahren
entwickelten Verfahren zur Traumabearbeitung handelt es sich um ein Verfahren der
nachträglichen beschleunigten Informationsverarbeitung in Form von WiederdurchleDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
56
ben des Traumas (Shapiro, 1998). Die Besonderheit dieses Verfahrens ist therapiebegleitend die Stimulation der Augenbewegungen: ÿDurch Serien bilateraler Stimulation
beider Hirnhemisphären (Augenbewegungen, abwechselnde taktile Reize an den Händen oder auch akustische Signale) erfolgt möglicherweise eine nachträgliche beschleunigte Informationsverarbeitung und Synthese der traumatischen Erfahrungþ (Besser,
2002, S.185). Durch die bilaterale Stimulation und Fokussierung schlimmer Teile der
traumatischen Erfahrung klingen stressbegleitende Affekte und Körperreaktionen ab
und ermöglichen distanzierte Betrachtung. Das Verfahren wird durch Handtapping
(Trommeln oder Klatschen der Hände) beim Erleben von body memories (siehe psychosomatische Reaktionen in Kap. 2.4.2) ergänzt (Reddemann, 2004).
Der Psychotraumatologie liegt meist ein psychodynamisches Grundverständnis zugrunde, auf das die Therapie schwerpunktmäßig aufbaut. Neben den drei genannten Manualen wurden und werden zahlreiche Verfahren zur traumazentrierten Therapie entwickelt
und bestehende adaptiert. Im Einzelfall gilt es meines Erachtens zu prüfen, inwieweit
diese dem Anforderungsprofil (Abb. 14) der Psychotraumatologie entsprechen. Auch
hängt es im besonderen Maße von der Einrichtungskonzeption ab, welche Ausrichtung
und damit welches therapeutische Verfahren von der behandelnden Institution unterstützt wird. Derzeit ist die traumazentrierte Therapie in Deutschland stark von den genannten manualisierten Verfahren und Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie
geprägt. Allen traumazentrierten psychotherapeutischen Verfahren ist gemeinsam, dass
eine besondere Aufmerksamkeit der therapeutischen Beziehung und Beziehungsarbeit
zukommt.
Meist wird zur eigentlichen Traumabearbeitung eine Einzeltherapie empfohlen, gerade bei einer besonders ausgeprägten Symptomatik, da ein gruppentherapeutisches
Setting zu erneuter Reizüberflutung und Retraumatisierungen führen würde und die
Angst und Anspannungen verstärkt würden (Fischer & Riedesser, 2003; Huber, 2004;
Herman, 2003; Reddemann, 2004; Sachsse et al., 2002a; van der Kolk et al., 2000a).
Manchmal kann es aber sein, dass die therapeutische Dyade als zu intim und nah und
eine Gruppe als entlastender wahrgenommen wird. Häufig wird allerdings ergänzend in
der Stabilisierungsphase (z.B. bei speziellen Entspannungsverfahren oder anderen ressourcenorientiert angelegten Behandlungsformen) Gruppentherapie empfohlen, um der
sozialen Isolation und dem Rückzug entgegen zu wirken, aber auch um zu zeigen, dass
man nicht alleine eine so schwerwiegende Erfahrung gemacht hat (vgl. z.B. Fischer &
Riedesser, 2003; Reddemann, 2004; Shapiro, 1998; van der Kolk et al., 2000a). In der
Integrationsphase dienen gruppentherapeutische Verfahren der Rückführung ins alltägliche Leben und der Neuorientierung, da dabei die Wahrnehmung der anderen von Bedeutung ist (ebd.).
4.4
Traumabezogene Wirkfaktoren in der therapeutischen Beziehung14
Wie bereits beschrieben ist eine stabile, sichere und vertrauensvolle therapeutische Beziehung (therapeutisches Arbeitsbündnis) eine wesentliche Voraussetzung, dass eine
Traumabearbeitung erfolgen kann. Für die therapeutische Beziehung gibt es im Hinblick auf die traumabezogenen Wirkfaktoren Besonderheiten, die diese Beziehungsarbeit zusätzlich erschweren. In der Therapie bekommt die Therapeutin die Auswirkungen
des Traumas indirekt zu spüren, was den Aufbau einer vertrauensvollen und solidarischen therapeutischen Beziehung erschwert (Herman, 2003).
Wegen der eigenen Tabugrenzen und da die Schrecklichkeit der traumatischen Erfahrungen oft das eigene Vorstellungsvermögen und die eigenen moralischen Konzepte
14
weitere Ausführungen siehe im musiktherapeutischen Teil der Arbeit in Kapitel 5.5
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
57
übersteigen, besteht bei der Therapeutin sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene eine Gefahr, sich unbewusst nicht mit den Erfahrungen auseinandersetzen zu
wollen (Herman, 2003; Reddemann, 2004; van der Kolk et al., 2000a). Folgen können
ein kollektives Tabu, fehlendes Verständnis, eine sekundäre Traumatisierung der Therapeutin oder die Abwertung der traumatisierten Personen sein. Es kommt zu TäterOpfer-Vertauschungen, indem den Opfern eine Mitschuld am Zustandekommen der
Situation gegeben wird oder den Opfern nicht geglaubt wird, weil die Tat über das eigene Vorstellungsvermögen hinausreicht. Beispielsweise wird versucht eine Mitschuld
anhand des Charakters des Opfers zu erklären (Herman, 2003; Huber, 2004). Gerade,
wenn durch Gewalt traumatisierte Menschen auf Hilfe angewiesen sind, kann das Gefühl einer Niederlage bei den Opfern von Gewalterfahrungen verstärkt werden. Es ist
deshalb wichtig zu vermitteln, dass der Weg Unterstützung in Anspruch zu nehmen kein
Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke ist, da man nicht länger passiv bleibt und
den eigenen Zustand verleugnet, sondern selbst Initiative ergriffen hat und dadurch eigentlich neue Stärke gegenüber dem Täter erlangt (Herman, 2003; siehe auch Zitat von
Coco Schumann zu Beginn von Kap. 4). Die folgenden Faktoren wirken sich besonders
auf die therapeutische Beziehung aus.
Kontrollverlust, Ohnmacht und Isolation
Wie bereits dargestellt, sind Kontrollverlust, Ohnmacht und Isolation wesentliche Folgen des psychischen Traumas. Ein Hauptziel therapeutischer Arbeit zur Überwindung
des Traumas stellt daher die Stärkung und Festigung der Persönlichkeit und die Unterstützung zur Wiedererlangung der Bereitschaft für Beziehung zu anderen dar (Fischer &
Riedesser, 2003; Herman, 2003; Hille, 2002; Huber, 2004; Reddemann, 2004; Sachsse
et al., 2002a; van der Kolk et al., 2000a). Traumatisierte Menschen müssen wieder lernen zu vertrauen, autonom zu handeln, selbst Initiative zu entwickeln, handlungsfähig
werden, die eigene Identität wiedererlangen und nahe Beziehungen einzugehen. Wesentliche Voraussetzung für Besserung stellt daher neben dem Wiederaufbau sozialer
Beziehungen eine größtmögliche Autonomie der Betroffenen im therapeutischen Prozess dar. Die Therapeutin soll helfen, das Verhalten zu kontrollieren, aber nicht den
Menschen. Dies erfordert eine therapeutische Haltung, die die Wünsche, Entscheidungsfreiheit und Eigenverantwortung der traumatisierten Person einbezieht, sofern
dadurch nicht deren Sicherheit gefährdet ist. Dies erfolgt in einer geschützten Umgebung, in der die Erfahrungen ernstgenommen werden, die Stärken erkannt und gefördert
werden und die Betroffenen als eigenständige Persönlichkeiten wirken und handeln
können. Das Arbeitsbündnis bzw. die therapeutische Beziehung mit kooperativem Charakter hierfür muss von beiden gemeinsam im Laufe der Therapie erarbeitet werden
(ebd.).
Misstrauen
Besonders bei man-made Traumata wurde die Fähigkeit eine vertrauensvolle Beziehung
einzugehen zerstört oder massiv beeinträchtigt, so dass es vorkommen kann, dass die
therapeutische Beziehung immer wieder auf die Probe gestellt wird (Herman, 2003;
Reddemann, 2004). Misstrauen und Rückzug dienen als Selbstschutz (Engl, 2002). Besonders bei Traumatisierungen durch Gewalt wurden die individuellen Grenzen zudem
oft von außen massiv überschritten (Hille, 2002). Nach den erlittenen Grenzverletzungen, fällt es den Menschen oft schwer anderen zu vertrauen und die eigenen Grenzen zu
spüren (Herman, 2003; Hille, 2002; Reddemann, 2001, 2004; Sachsse et al., 2002a).
Auch hierbei sind das Wiederlernen zu vertrauen, die Wiedererlangung der Autonomie
und Handlungsfähigkeit wichtige Ziele im therapeutischen Prozess (Herman, 2003).
Dies erfordert von der Therapeutin eine erhöhte Sensibilität im Umgang mit Grenzen.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
58
Hier spielt auch der Aspekt des Machtgefälles (siehe Kap. 5.5.1) mit herein (Hille,
2002).
Schuld- und Schamgefühle, Geheimnis15
Schuld- und Schamgefühle spielen eine besondere Rolle bei Gewalterfahrungen (z.B.
Schuldgefühle den Holocaust überlebt zu haben) und dabei besonders bei sexueller Gewalt. Sie verhindern meist, dass über die Vergangenheit gesprochen wird (Engl, 2002).
Insbesondere bei Gewalterfahrungen durch nahestehende Personen werden die Gefühle
verstärkt durch die von den Tätern über lange Zeit auferlegte Verpflichtung zum
Schweigen über die Taten (Herman, 2003). Zudem intensivieren Gefühle wie Ohnmacht, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit die Schuld- und Schamgefühle (Hille,
2002). Angesichts des häufigen Verbots, über die traumatische Erfahrung zu sprechen,
teilweise unter Lebensbedrohung, fällt es den Betroffenen manchmal leichter sich auf
symbolischer Sprachebene und in Bildern auszudrücken, die wiederum an die Traumasprache erinnern (ebd.).
Täterintrojekte
In der therapeutischen Beziehung mit traumatisierten Menschen ist man mit sogenannten Täterintrojekten konfrontiert. Die Introjektion, verstanden als Verinnerlichung von
Gefühlen, Gedanken und Verhalten anderer Personen in das Selbst, wird als ein normaler psychischer Vorgang angenommen und in der Regel erfolgt eine Assimilation, so
dass aus Introjekten Selbstanteile werden, die nicht als fremd erlebt werden (Reddemann, 2004). Anders verhält es sich dagegen mit Täterintrojekten:
ÿTäterintrojektion ist ein Schutzvorgang, der während traumatischer Situationen
hilft, sich vor überwältigender Ohnmacht zu schützen. Lebt der Täter im Selbst,
ist die Tat richtig, und damit gibt es quasi keine Ohnmacht. Täterintrojektion im
Kindesalter schützt das Kind außerdem vor Objektverlust. (...) Den Begriff Täterintrojekt sollte man nur verwenden, wenn eine Tat bekannt ist. Andernfalls sollte man von malignen Introjekten sprechen oder auch nur von malignen Teilený
(Reddemann, 2004, S.134).
Täterintrojekte führen dazu, dass man wie der Täter denkt oder fühlt, eine Täteridentifikation äußert sich dagegen im Verhalten. Da Täterintrojektion ein Schutzvorgang ist,
werden die Täterintrojekte zunächst nicht behandelt, sondern nur wenn sie zu massiven
Retraumatisierungen führen (Huber, 2004; Reddemann, 2004).
Übertragungsbeziehungen
Herman (2003) beschreibt bei der Therapie traumatisierter Menschen eine typische Art
von therapeutischer Übertragungsbeziehung, die sich deutlich von denen zu anderen
Psychotherapiepatientinnen unterscheidet. Aufgrund der existentiellen Bedrohlichkeit
der traumatischen Erfahrung, ist die Intensität der traumatischen Übertragungen stark
und der lebensbedrohliche Charakter darin zu spüren. Es kommt zu folgenden überschiessenden und zum Teil unkontrollierbar wirkenden Übertragungsbeziehungen
(ebd.):
Im Rahmen der Therapie kann es Phasen geben, in der die Therapeutin von der Patientin zur Retterin idealisiert wird (Huber, 2004). Beim Wiederbeleben traumatischer
Erfahrungen wird die intensive Sehnsucht nach Rettung, die in der traumatischen Situation verspürt wurde, wieder erlebt (Herman, 2003; Reddemann, 2004). Hierbei besteht
die Gefahr, dass die Therapeutin die schrecklichen Erfahrungen der Patientinnen wie15
siehe auch Kapitel 7.1
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
59
dergutmachen möchte. Erwartungen werden geweckt, die zwangsläufig enttäuscht werden müssen und frühere Täter-Opfer-Situationen können sich dadurch wiederholen.
Durch die Überwältigung von den Gefühlen besteht die Gefahr, dass die Therapeutin
sich entweder zurückzieht oder sich in das Leben der Patientin aktiv einmischt und dadurch die Grenzen verletzt (Herman, 2003). Auch besteht die Gefahr von Schutzreaktionen, indem die Realität des Erlebten der Patientin angezweifelt und verleugnet wird bis
hin zum Bagatellisieren und Vermeiden traumatischer Themen und traumatischen Materials.
Dadurch dass die Therapeutin mit der eigenen Verletzlichkeit konfrontiert wird, besteht die Gefahr, das eigene Gleichgewicht zu verlieren. Umso wichtiger sind der Rückhalt von und der Austausch mit Kolleginnen sowie Supervision. Hierbei besteht wiederum die Gefahr der Spaltung im Behandlungsteam durch die (Gegen)übertragungsreaktionen (z.B. Helferin- und Retterinrolle einerseits und zweifelnde
vermeidende Haltung andererseits) (Herman, 2003).
Eine mögliche Folge von Täter-Opfer-Übertragungsbeziehungen ist auch der
Machtmissbrauch in therapeutischen Beziehungen (Fuckert, 2002; Hermann, 2003). Er
kann sowohl auf körperlicher als auch psychischer Ebene passieren (siehe Kap. 5.5.1).
Aufgrund der Gefahr durch Täter-Opfer-Verstrickungen zu retraumatisieren wird in der
therapeutischen Beziehung eine abstinente und neutrale therapeutische Haltung empfohlen (Fischer & Riedesser, 2003; Herman, 2003; Reddemann, 2004). Unter abstinent
wird in diesem Fall verstanden, dass die Therapeutin die Beziehung nicht missbraucht,
um eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Neutral bedeutet die Unparteilichkeit der Therapeutin bei inneren Konflikten, keine Bewertungen und kein Versuch seitens der Therapeutin, die Entscheidungen der Patientin in eine bestimmte Richtung zu lenken. Sie soll
die Patientin ernstnehmen und sich solidarisch zeigen (ebd.). ÿDie technische Neutralität des Therapeuten ist nicht mit moralischer Neutralität gleichzusetzen. Die Behandlung von Opfern setzt eine engagierte moralische Position voraus. Der Therapeut wird
zum Zeugen eines Verbrechens und muß dem Patienten gegenüber eine solidarische
Haltung einnehmen, was jedoch nicht bedeutet, daß er von der Unfehlbarkeit des Opfers
ausgeht. Er muss die fundamentale Ungerechtigkeit der traumatischen Erfahrung nachvollziehen können und sich konsequent um eine Lösung bemühen, die das Gefühl einer
gewissen Gerechtigkeit wiederherstelltþ (Herman, 2003, S.186).
Geschlechterrollen in der therapeutischen Beziehung
Immer wieder wird bei therapeutischen Konzepten für Erwachsene, die in ihrer Kindheit schweren und langanhaltenden traumatischen Situationen ausgesetzt waren, die
Genderfrage in der therapeutischen Beziehung diskutiert (vgl. z.B. Huber, 2005; Reddemann, 2001; 2004; Sachsse et al. 2002a). Huber (2005) weist beispielsweise darauf
hin, dass sich Traumaverarbeitungsprozesse bei Jungen und Mädchen, aber auch bei
Frauen und Männern aufgrund der Sozialisation unterscheiden.
Regression
Der Begriff der Regression als heilender Faktor spielt in analytischen und psychodynamischen Therapieverfahren eine bedeutende Rolle (Reddemann, 2004).
Bei der Regression handelt es sich um
ÿein innerseelisches Zurückgehen auf eine frühere Entwicklungsstufe, das sich
auch in entsprechendem Verhalten etc. ausdrückt. Regression ist ein normaler
Vorgang, der durchaus zur psychischen Gesundheit gehört. Erst wenn jemand
über regressive Prozesse keine Kontrolle mehr hat und sie nicht aktiv rückgängig machen kann, werden sie zum Problem. Kreative Prozesse z.B. wären ohne
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
60
die Fähigkeit zur Regression kaum vorstellbar. In der Psychoanalyse ist Regression ein wichtiges Mittel der Selbsterfahrung und Selbsterkenntnisý (Reddemann, 2004, S.88).
Ohnmacht, Hilflosigkeit, Angst und das damit einhergehende Bedürfnis nach Kontrolle sind zentrale Wirkfaktoren einer traumatischen Erfahrung. Eine zu freie und tiefgehende Regression im therapeutischen Prozess führt nach Reddemann (2001, 2004) zu
Retraumatisierungen, da dadurch diese Wirkmechanismen aktiviert werden und damit
die Angst verstärkt wird und zudem die Abhängigkeit zur Therapeutin, die in diesem
Fall mehr Verantwortung und Aktivität übernehmen muss (vgl. auch Huber, 2004, van
der Kolk et al., 2000a). Um eine gesunde wachstumsfördernde Regression zu ermöglichen bedarf es daher der Eingrenzung (z.B. mit Hilfe einer Distanzierungstechnik wie
die ÿinnere Bühneþ) (ebd.).
4.5
Der Stellenwert der Musiktherapie in der psychotraumatologischen Literatur
In der Psychotraumatologie wird immer wieder darauf hingewiesen, dass eine Therapie
auf der rein verbalen Kommunikationsebene allein nicht ausreicht, um ein Trauma vollständig zu integrieren, sondern ebenso das Einbeziehen der körperlichen und emotionalen Ebene erforderlich ist (Hille, 2002; Huber, 2004, 2005; Reddemann, 2004; van der
Kolk et al., 2000a). Daher sind die körperorientierten Verfahren, insbesondere die Konzentrative Bewegungstherapie [KZB] im Gegensatz zur Musiktherapie inzwischen in
der Traumatherapie etabliert. Zwar wird in der psychotraumatologischen Literatur zur
Traumatherapie auch auf den Nutzen von nonverbalen Therapieformen hingewiesen,
aber Musiktherapie wird nur ganz vereinzelt oder subsummiert unter den Begriffen der
nonverbalen oder erlebnisorientierten Therapieformen erwähnt (vgl. z.B. Reddemann,
2004; Sachsse et al., 2002a; van der Kolk., 2000a). Sie werden dann als ergänzendes
ressourcenorientiertes Verfahren genannt oder die kontraindizierenden Aspekte bezogen
auf diese Therapieformen oder ihre Medien werden sehr plakativ und undifferenziert
angedeutet. Zu den Stichworten ÿMusiktherapieþ und ÿMusikþ konnten nur zwei Aussagen gefunden werden:
Unter ÿMusikþ steht bei Huber (2004) geschrieben, dass man bei der Traumatherapie
mit rituell misshandelten Menschen Folgendes beachten soll: ÿFetzen klassischer Musik
(z.B. Wagner) oder ûGruftiú-Musik lösen Panikattacken ausþ (Huber, 2004, S.171).
Die deutsche Ausgabe des internationalen psychotraumatologischen Standardwerks
ÿTraumatic Stressþ von van der Kolk et al. (2000a) wurde um zwei Beiträge von deutschen Autorinnen erweitert. Das knapp 600 seitige Werk enthält sogar im Stichwortregister das Stichwort ÿMusiktherapieþ. Schlägt man die dazugehörige Seite auf, findet
man es in einem der beiden das Buch ergänzenden deutschen Beiträge (Petzold, Wolf,
Landgrebe, Zorica & Steffan, 2000) und man kann zu dem Stichwort ÿMusiktherapieþ
Folgendes lesen:
ÿDabei sind für die PTBS-Behandlung traditionelle Therapiekonzeptionen obsolet geworden: nicht nur das psychoanalytische Modell des ûErinnerns, Wiederholens, Durcharbeitensú, weil es in seiner Modellbildung und Methodik mit den
vorhandenen Forschungsergebnissen nicht zu vereinbaren ist (Reddemann,
Sachse 1998; Ehlert-Balzer 1999), sondern auch die katharsisorientierten bzw.
erlebnisaktivierenden Modelle sogenannter humanistisch-psychologischer Therapieformen in ihren klassischen Ausrichtungen, z.B. Gestalttherapie (Perls
1969) und Psychodrama (Moreno 1995; Petzold 1982a) þ es sei denn, sie werden nachhaltig erweitert und adaptiert (Butollo et al. 1999). Problematisch sind
auch die an ihnen orientierten kreativen Behandlungsmethoden wie z.B. Formen
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
4 Ansätze und Wege zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
61
der aktiven Musiktherapie (Hegi 1998) oder tiefenpsychologischer Kunsttherapie (Riedl 1997), weil sie in der modelltheoretischen Ausrichtung keinen Anschluß an den psychotraumatologischen Wissenstand haben und sie mit den bei
traumatisierten PatientInnen eingesetzten Behandlungstechniken (vgl. Hegi
1998, 163ff) ein nicht unbeträchtliches Retraumatisierungsrisiko bergený (Petzold et al., 2000, S.459f).
Ich stimme mit der Ansicht von Petzold et al. (2000) überein, dass es nach den heutigen Forschungsergebnissen der Psychotraumatologie notwendig ist von katharsisorientierten psychotherapeutischen Modellen abzusehen und die therapeutischen Methoden
und Konzepte hinsichtlich der Forschungsergebnisse aus der Psychotraumatologie zu
adaptieren. Die Darstellung hier als einzige Aussage zum Thema Musiktherapie erweckt
jedoch den Eindruck, dass die Musiktherapie bisher noch keinen Anschluss an den psychotraumatologischen Wissensstand hat und daher zur Traumatherapie ungeeignet ist.
Von einer Quelle von Hegi (1998)16 und durch das Herausgreifen einer dort beschriebenen musikalischen Technik (dem Wuttrommeln bei einer Frau, die mehrfach sexuell
missbraucht wurde) auf die gesamten musiktherapeutischen Behandlungstechniken mit
ihren unterschiedlichen Therapierichtungen zu schließen ist m.E. sehr undifferenziert
und fragwürdig. Andererseits macht dieses Beispiel deutlich, dass die Musiktherapie
sich in der Psychotraumatologie darstellen muss und aufzeigen muss, ob und wie sie
dabei Erkenntnisse aus der Psychotraumatologie einbezieht bzw. einbeziehen kann.
Meiner Ansicht nach findet in der Musiktherapie bereits eine modellhafte Anbindung an
den psychotraumatologischen Wissensstand statt.
Aufgrund der zunehmenden Bedeutung des Forschungs- und Praxisfeldes der Psychotraumatologie, der fehlenden Präsenz der Musiktherapie in der Psychotraumatologie
und ihrer undifferenzierten Betrachtung, ist es meiner Ansicht nach für die Musiktherapie dringend notwendig sich zu positionieren und aufzuzeigen, welche Rolle die Traumatherapie bisher in der Musiktherapie einnimmt und zukünftig einnehmen kann, welche Indikationen für Musiktherapie als traumazentrierte Psychotherapie sprechen und
worin die Möglichkeiten aber auch Grenzen der Musiktherapie in der Behandlung von
posttraumatischen Symptomen und Störungen liegen und ob es bereits eigene Methoden
zur Behandlung gibt. Diese Fragen werden in den folgenden drei Kapiteln erörtert und
es wird überprüft, was die Musiktherapie bisher zu diesem Themenkomplex, unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus der Psychotraumatologie, beitragen kann.
16
Hegi (1998): ÿÜbergänge zwischen Sprache und Musik. Die Wirkungskomponenten der Musiktherapieþ.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
5
62
Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der
Musiktherapie
»Ich bin ein Musiker, ein Musiker, der im KZ gesessen hat, kein KZler, der auch ein bißchen Musik
macht. Die Lager und die Angst veränderten mein
Leben grundsätzlich, aber die Musik hat geführt,
und sie hat es gut gemacht« Coco Schumann ÿDer
Ghetto-Swingerý S.215
5.1
Die Rolle der Traumatherapie in der Musiktherapie
ÿMusic therapy can play an improtant role in exposing, dealing with, and healing the traumaý (Amir, 2004, S.96).17
Unabhängig von der Wahrnehmung in der psychotraumatologischen Literatur wird Musiktherapie in den letzten 20 Jahren zunehmend in der Traumatherapie eingesetzt (Orth,
2005). Dies liegt zum einen daran, dass Musiktherapie bei der Behandlung psychotraumatischer Störungen und Symptome besonders geeignet ist, die vom Trauma gespaltenen geistigen und körperlichen Ebenen wieder zusammen zu bringen (Austin, 2002).
Zum anderen ist man als Musiktherapeutin in der klinischen Arbeit verstärkt mit Menschen mit komplexen posttraumatischen Störungen konfrontiert, da vermehrt ein Trauma als Ursache von psychischen Störungen überhaupt erkannt wird (siehe Kap. 3.5) und
da insgesamt mehr Menschen mit traumatischen Störungen behandelt werden (z.B. nach
sexuellem Missbrauch, Flüchtlinge mit Traumaerfahrung wie Bürgerkrieg) (Austin,
2002; Orth, 2005; Purdon & Ostertag, 1999). Daraus resultiert ein wachsender Bedarf,
Methoden in diesem Feld zu beschreiben und zu erforschen und therapeutische Kompetenzen zu entwickeln. Dies ist meiner Meinung nach auch notwendig, um die Argumentation unterstreichen zu können, dass Musiktherapie nicht nur als ressourcenorientiertes
Verfahren zur Ergänzung der Traumatherapie verstanden wird, sondern dass die Musiktherapie eigene Methoden für Traumaverarbeitungsprozesse entwickelt hat bzw. bereits
anbietet.
Bisher wurde allerdings vergleichsweise wenig Literatur verfasst, die sich explizit
mit der Musiktherapie im Zusammenhang mit dem psychischem Trauma befasst. Die
wenigen deutschsprachigen Abhandlungen, die das psychische Trauma und die Behandlung mit Musiktherapie näher beschreiben, sind schwer ausfindig zu machen, da sie oft
isoliert voneinander und eher versteckt z.B. in Jahrbüchern oder Jubiläumsschriften von
Einrichtungen veröffentlicht sind (z.B. Birck, Pross & Lansen, 2002; REFUGIO, 1999).
Die meisten dokumentieren Fälle, in denen das spezifisch Musiktherapeutische und der
Methodeneinsatz in der Behandlung einfließen. Die Musiktherapie bei (post)traumatischen Störungen aufgrund von sexuellem Kindesmissbrauch und Vernachlässigung,
überwiegend mit Kindern aber auch Erwachsenen, wird am häufigsten dargestellt. Meist
geht es um die Behandlung komplexer chronischer Traumatisierungen. Der Begriff des
ÿPsychotraumasþ findet in den deutschen Publikationen kaum Erwähnung, aber viele
Autorinnen18 beziehen bereits die Erkenntnisse aus der Psychotraumatologie in ihre
Beschreibungen mit ein.
Auf internationaler Ebene in englischsprachigen Publikationen existieren hingegen
bereits mehrere Publikationen, die sich mit der Musiktherapie als traumazentrierte Psychotherapie mit eigenen Methoden auseinandersetzen (Amir, 2004; Austin, 2002;
17
ûMusiktherapie kann eine wichtige Rolle in der Exposition des Traumas, dem Umgang damit und seiner Heilung spielen.ú (Übers. Verf.)
18
Wenn im weiteren Verlauf der Arbeit von musiktherapeutischen Autorinnen die Rede ist, dann sind die
Autorinnen der für die Arbeit verwendeten musiktherapeutischen Publikationen gemeint, die nach der in
der Einleitung dargestellten Recherchemethode für die vorliegende Arbeit gefunden wurden.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
63
Bergmann, 2002; Montello, 1999; Orth, 2005; Punkanen, 2004). Zudem hat auf internationaler Ebene die gemeinsame methodische Auseinandersetzung und das Zusammentragen von bisher existierenden Methoden und Erkenntnissen im Rahmen von gemeinsamen Publikationen zum Thema begonnen (vgl. z.B. Loewy & Frisch Hara, 2002; Sutton, 2002a; voices online). Im Rahmen einer Konferenz in Belfast im November 2000
fand sich eine internationale Gruppe von Musiktherapeutinnen zusammen, die sich mit
dem Thema psychisches Trauma und Musiktherapie auseinander setzten und deren Ergebnisse im Rahmen eines gemeinsamen Buches veröffentlicht wurden: ÿMusic, music
therapy and trauma.þ (Sutton, 2002a).
Auf der Website der American Music Therapy Association [AMTA] wird außerdem
unter ÿMusic therapy in response to crisis and traumaþ die Musiktherapie bei
(post)traumatischen Störungen schon als eigenes Feld beschrieben (AMTA online). In
Deutschland wird ein zunehmender Bedarf für einen gemeinsamen methodischen Austausch erkannt. Hierfür hat sich im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Musiktherapie im März 2005 der Arbeitskreis ÿMusiktherapie in der Traumatherapieþ gegründet,
der regelmäßig Symposien durchführt, die sich beispielsweise mit den Fragen der Indikationen und Kontraindikationen oder der Interventionen der Musiktherapie in der
Traumabehandlung befassen (transparent print, 2005).
Besucht man die Homepages einzelner Musiktherapeutinnen Deutschlands im Internet, so weisen einige der Therapeutinnen bereits explizit auf ihre Spezialisierung zur
Behandlung traumatischer Störungen hin. Ein Teil von ihnen verfügt zusätzlich über
eine Zertifizierung in einem der bereits etablierten traumazentrierten psychotherapeutischen Verfahren, wie z.B. der PITT nach Reddemann.
Die Literaturrecherche zur vorliegenden Arbeit hat zum Bereich Musiktherapie und
Arbeitslosigkeit und Mobbing sowie über die Musiktherapie mit Tätern von Gewalttaten nichts ergeben. Einige der musiktherapeutischen Praxisfelder, auf die in Kapitel 5.7
(Abb. 16) näher eingegangen wird, sowohl im deutschsprachigen Raum als auch auf
internationaler Ebene, sind im Rahmen von Forschungsprojekten entstanden: Beispielsweise entstand das musiktherapeutische Angebot am Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer [BZFO] in Zusammenarbeit mit der Universität Witten-Herdecke.
Prof. Dr. Decker-Voigt erhielt die Gelegenheit in Zusammenarbeit mit dem Verein
Dunkelziffer e.V. ein musiktherapeutisches Praxisforschungsprojekt des Instituts für
Musiktherapie der Musikhochschule Hamburg mit sexuell traumatisierten Kindern zu
installieren. Auf internationaler Ebene unterstützte z.B. die Organisation War Child die
Errichtung eines kulturellen Begegnungszentrums in Mostar in Bosnien-Herzegowina
(Pavarotti Music Centre), in dem auch für kriegstraumatisierte Kinder Musiktherapie
eingerichtet wurde, die wissenschaftlich begleitet wurde.
Anhand der bisher existierenden Publikationen zur Traumatherapie in der Musiktherapie lässt sich meiner Ansicht nach feststellen, dass die Musiktherapie bereits zur Traumatherapie eingesetzt wird und dass es sich bei der Behandlung psychotraumatischer
Symptome und Syndrome um ein eigenes Praxisfeld der Musiktherapie handelt mit eigenen Indikationen und Methoden. Dabei eignet sich die Musiktherapie sowohl zur
Ressourcenstärkung als auch für ein traumazentriertes psychotherapeutisches Vorgehen
nach dem Phasenmodell. Unabhängig vom Paradigma der jeweiligen Therapierichtungen, wobei der jeweilige Erkenntnishintergrund selten ausführlicher dargestellt wird,
existieren Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen hinsichtlich der Indikation, der
Vorgehensweise und der eingesetzten Methoden. Die Unterschiede in der musiktherapeutischen Arbeit zwischen der internationalen Perspektive und der deutschsprachigen
werden vor allem durch kontextbedingte Einflussgrößen bestimmt, Fragen hinsichtlich
der Indikation und Methodik lassen sich hingegen auf die musiktherapeutische Arbeit in
Deutschland transferieren. Zudem ist auffällig, dass in der für diese Arbeit verwendeten
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
64
englischsprachigen musiktherapeutischen Literatur dem Stellenwert der Musik und des
musikalischen Ausdrucks der Klientinnen/Patientinnen eine zentralere therapeutische
Rolle beigemessen wird als der verbalen Aufarbeitung. Oft werden verschiedene Ansätze und Verstehensmodelle miteinander kombiniert z.B. ein psychoanalytischer Ansatz
mit dem in Kapitel 6.2.2 beschriebenen Music Child aus der Schöpferischen Musiktherapie nach Nordoff und Robbins. Besonders bei den internationalen Musiktherapeutinnen wird die Schöpferische Musiktherapie mit psychodynamischen Ansätzen kombiniert (vgl. z.B. Sutton, 2002a). Die meisten nationalen und internationalen Autorinnen
der für die vorliegende Arbeit verwendeten musiktherapeutischen Publikationen arbeiten überwiegend auf der Grundlage eine psychoanalytisch orientierten und psychodynamischen Therapieverständnisses (z.B. Ahonen-Eerikäinen, 2004; Bergmann, 2002;
Decker-Voigt & Dunkelziffer e.V., 2005; Metzner, 1999; Montello, 1999).
Musiktherapie wird sowohl bei Monotraumata als auch bei komplexen psychotraumatischen Syndromen zur Krisenintervention, zur Traumaakutbehandlung, als traumazentrierte Psychotherapie nach dem Phasenmodell und als ergänzendes ressourcenorientiertes Verfahren eingesetzt.
Musiktherapie in der Traumaakutbehandlung
Die musiktherapeutische Traumaakutbehandlung und Krisenintervention findet derzeit
vorwiegend bei der Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen, medizinischer
Traumatisierungen, bei Geburtstraumata, in der Neurologie und in der Sterbebegleitung
statt. Primäre Therapieziele in diesem Feld sind die Stabilisierung, Begleitung, Ressourcenstärkung und Bewältigung der aktuellen Lebensbedingungen. Hierzu zählen die Behandlungen der körperlichen Verletzungen, die Förderung von Bewältigungsmechanismen und der Einsatz von ressourcenorientierten und erlebnisaktivierenden Verfahren.
Eine Traumabearbeitung ist erst einmal nicht von Bedeutung. Gerade Patientinnen, bei
denen der Tod nicht mehr abwendbar ist, lässt man laut Rykov (2001) lieber mit ungelösten Problemen sterben. Andere (z.B. Menschen mit schweren SchädelHirnverletzung, Frühgeborene und ihre Eltern) sind zunächst gar nicht in der Lage ihr
Unfall- oder Verletzungstrauma zu verarbeiten, sondern es geht primär um die psychische Stabilisierung während der intensivmedizinischen Versorgung.
Da in der vorliegenden Arbeit primär untersucht werden soll, inwieweit sich die Musiktherapie als Traumatherapie im Sinne einer traumazentrierten Psychotherapie (nach
dem Phasenmodell) bereits verortet hat bzw. sich verorten kann, wird die Musiktherapie
bei den ebengenannten Traumaformen nicht weiter untersucht und beschrieben, da der
musiktherapeutische Behandlungsschwerpunkt ein anderer ist. Zur Musiktherapie in der
Neurologie sei z.B. auf Baumann & Gessner (2004) verwiesen, zur Musiktherapie bei
Frühgeborenen und Geburtstraumata auf z.B. Nöcker-Ribaupierre (2003), auch im Bereich der Sterbebegleitung und Palliativmedizin existieren bereits Beschreibungen (z.B.
in der Musiktherapeutischen Umschau; Rykov, 2001). Allerdings sollten Musiktherapeutinnen bei ihrer Arbeit in diesen Feldern trotzdem über traumatheoretisches Wissen
verfügen, da die traumatischen Wirkfaktoren allgegenwärtig sind (Rykov, 2001).
In einzelnen Fällen wird Musiktherapie bisher auch in anderen Feldern zur Krisenintervention und Traumaakutbehandlung angewandt. Herausragendes Beispiel ist das Projekt ÿThe New York City (NYC) Music Therapy Relief Projectþ 19 der AMTA, das in
19
Zu dem Projekt lagen beim Verfassen der vorliegenden Arbeit zwei Quellen vor. Zum einen die Webseite der AMTA und zum anderen ein Bericht von Andrea Frisch Hara (2003). Die Zahlen der beiden
Quellen zum Projekt weichen voneinander ab. Die Verfasserin bezieht sich hier auf die Angaben von
Frisch Hara (2003), da diese Program Field Director des NYC Music Therapy Relief Project ist. Zu dem
Projekt wurde ein Buch von Loewy und Frisch Hara (2002) mit dem Titel ÿCaring for the caregiver: The
use of music therapy in grief and traumaþ veröffentlicht, das während des Verfassens der vorliegenden
Arbeit leider nicht vorlag.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
65
der Zeit vom Oktober 2001 bis Juni 2002, nach den Terroranschlägen auf das World
Trade Center in New York am 11. September 2001, für Kinder und Erwachsene die von
den Auswirkungen dieser Anschläge direkt betroffen waren, im Zentrum New Yorks
implementiert wurde (Frisch Hara, 2003). In dem Projekt waren u.a. 33 Musiktherapeutinnen eingesetzt. Musiktherapie wurde in diesem Projekt angeboten, um Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft zu fördern, um das Gefühl von Basis und Sicherheit zu vermitteln, um die übermannenden Gefühle wie Traurigkeit, Wut, Machtlosigkeit und
Sinnlosigkeit zu unterstützen und um Zuflucht für Schönes und Kreativität zu bieten,
die stärker sind als die Zerstörungen des 11. September (Frisch Hara, 2003)20.
Die vorgestellten Beispiele zeigen, dass sich die Musiktherapie als ressourcenorientiertes Verfahren zur Stabilisierung und Ressourcenstärkung in der Krisenintervention und
Traumaakutbehandlung eignet.
Musiktherapie als traumazentriertes psychotherapeutisches Verfahren nach dem
Phasenmodell
Wie in Kapitel 4.3 beschrieben nimmt bei den psychotherapeutischen Verfahren nach
dem Phasenmodell die eigentliche Traumabearbeitung einen geringeren Anteil in der
Gesamttherapie ein als die Stabilisierung und der Aufbau der Ressourcen. Auch wird
immer wieder betont, dass das Phasenmodell nicht linear zu verstehen ist, sondern die
einzelnen Phasen und Interventionen sich vermischen. Interessanterweise wird beim
Blick anderer Berufsgruppen auf die Musiktherapie gerade dieses Vorgehen bei der
Musiktherapie nicht erkannt, sondern sie wird oft als rein ressourcenorientiertes Verfahren betrachtet (Mitzlaff, 2002; Zharinova-Sanderson, 2002): Dieses Behandlungsverständnis führt dazu, ÿdass Musiktherapie als eine Therapieform missverstanden wird,
die sich ausschließlich mit positiven Erlebnissen und Potenzialen beschäftigt, mit ûangenehmenú Erfahrungen des Lebens vor dem Trauma, mit den sogenannten ûRessourcenú des Patienten21. Besonders dadurch, dass in der Musiktherapie nicht unbedingt über
das Trauma gesprochen wird, sondern nur ûschöne Musikú gespielt wird, scheint es vordergründig keinen direkten Einfluss auf die Bearbeitung der traumatischen Erlebnisse
und ihrer Folgen zu gebenþ (Zharinova-Sanderson, 2002, S.110f). Außenstehende übersehen daher bei der Musiktherapie schnell, dass z.B. neben ästhetischer ÿSchönheitþ
tiefere emotionale Prozesse berührt werden können (Orth 2001). Zharinova-Sanderson
(2002) verweist auf Forschungsergebnisse von van Dijk (2001), dass Traumabearbeitung nicht unbedingt die verbale Bearbeitung der traumatischen Erfahrung bedeuten
muss. Eine Unterscheidung zwischen ÿTraumaarbeitþ und ÿRessourcenarbeitþ zieht
daher künstliche Grenzen, die die Arbeit beschränken können.
Die Entscheidung, ob Musiktherapie als ressourcenorientiertes Verfahren oder zur
Traumabearbeitung angewandt werden kann bzw. bereits wird, hängt meiner Ansicht
nach von verschiedenen Bedingungen ab, z.B. von dem zur Behandlung zur Verfügung
20
Das Projekt enthielt 20 Community Programme, die in Schulen, Seniorenzentren, Gesundheitszentren
und anderen Einrichtungen im New Yorker Stadtgebiet angeboten wurden. Insgesamt wurden über 7000
Musiktherapieeinheiten angeboten. Darunter waren auch Musiktherapieprogramme extra für Helferinnen
und Fürsorgerinnen entwickelt worden, wie z.B. Ärztinnen, Krankenschwestern, Feuerwehr, etc. Angeboten wurden Einzel- und Gruppentherapien (ebd.).
21
Die in der Musiktherapie zu behandelnden Personen werden in der für die vorliegende Arbeit verwendeten musiktherapeutischen Literatur entweder als Klientinnen oder Patientinnen bezeichnet. Um möglichst nah an den Beschreibungen und dem Erkenntnishintergrund der einzelnen Autorinnen zu bleiben,
werden diese Bezeichnungen analog übernommen, so dass je nach Verfasserin mal von Klientinnen und
mal von Patientinnen die Rede ist. Dabei soll noch darauf hingewiesen werden, dass des öfteren die einzelnen Autorinnen innerhalb eines Aufsatzes zwischen Klientinnen und Patientinnen wechseln (vgl. z.B.
Maack, 2004; Montello, 1999; Punkanen, 2004).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
66
stehenden Zeitraum, davon ob die Traumatisierung noch anhält und vom Behandlungskontext (siehe Kap. 5.8). Hält bei der Therapie die Traumatisierung noch an, z.B. durch
sexuelle Gewalt, Vernachlässigung oder Misshandlung, kann keine Traumaexposition
stattfinden. Dann muss sich die Musiktherapie auf andere stabilisierende Ziele in der
Therapie konzentrieren, da Musiktherapie trotzdem positive Effekte auf die Betroffenen
hat, auch wenn sie daheim Misshandlungen erfahren (Ostertag, 2002)
Laut Fischer und Riedesser (2003) sind nach dem bisherigen Forschungsstand der Psychotraumatologie keine der inzwischen existierenden traumazentrierten psychotherapeutischen Verfahren wirksamer oder erfolgreicher als andere. Aufgrund der verschiedenen möglichen psychotherapeutischen Verfahren zur Traumatherapie, muss von den
einzelnen Therapien herausgearbeitet werden, warum und wann sie für die traumazentrierte Psychotherapie geeignet und wirksam sind (ebd.). Da bisher in der für die
vorliegende Arbeit verwendeten musiktherapeutischen Literatur wenig Aussagen zu
einzelnen posttraumatischen Störungsbildern nach den Klassifikationssystemen ICD-10
und DSM-IV und ihrer musiktherapeutische Behandlung getroffen werden, sollen die
bisherigen Erkenntnisse und Gemeinsamkeiten in Anlehnung an Fischer und Riedesser
(2003) bezogen auf eine allgemeine Psychotraumatologie (vgl. Kap. 4.1) herausgearbeitet werden.
5.2
Indikationen und mögliche Kontraindikationen für Musiktherapie
An die Musiktherapie wird immer wieder die Frage herangetragen: ÿWas kann Musiktherapie hier Besonderes leisten?þ (Decker-Voigt, 2005a; Tüpker, 1990). Tüpker (1990)
hält diese Fragestellung nicht für eine tatsächlich methodische und wissenschaftliche
Frage, sondern bewertet sie als sozialpolitische Machtfrage, bei der sich die Musiktherapie rechtfertigen muss, was sie anderen Therapieformen voraus hat. Tüpker (1990)
und auch Decker-Voigt (2005a) betonen, dass Musiktherapie ihre Existenzberechtigung
nicht aus ihrer Besonderheit, sondern aus ihrer Qualität heraus legitimiert, wobei die
Qualität an der Wirksamkeit der Behandlungsmethode unabhängig von den einzelnen
musiktherapeutischen Schulen gemessen werden soll (Decker-Voigt, 2005a; Tüpker,
1990).
Dafür bedarf es einer Indikationsstellung, d.h. der Erfassung der ÿBedingungen und
Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, um musiktherapeutisches Handeln zu begründenþ (Frohne-Hagemann & Pleß-Adamczyk, 2005, S.11). Dabei wird empfohlen,
eine störungsspezifische Indikation zu stellen (Frohne-Hagemann & Pleß-Adamczyk,
2005; Smeijsters, 1999).
Bisher existieren kaum Veröffentlichungen zur Indikation für Musiktherapie mit psychisch traumatisierten Menschen. Im Zuge der vorliegenden Recherche wurde nur eine
Arbeit gefunden, in der die Indikation explizit dargestellt ist. Dabei handelt es sich um
Indikationen aus dem kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich: Frohne-Hagemann
und Pleß-Adamczyk (2005) beschreiben eine störungsspezifische Indikation für die musiktherapeutische Behandlung posttraumatischer Störungen bezogen auf das Klassifikationsschema der ICD-10 (vgl. Klassifikation posttraumatischer Störungen in Kap. 3.2).
Dennoch wird in den anderen für diese Arbeit verwendeten Publikationen zur Musiktherapie mit psychisch traumatisierten Menschen indirekt Bezug auf die Indikation genommen. Dabei werden das Spezifische, das Musiktherapie zur Behandlung von traumatisierten Menschen beitragen kann und welche therapeutischen Funktionen die Musik
dabei haben kann, beschrieben. Diese Indikationen beziehen sich überwiegend nicht auf
einzelne, in Kapitel 3.2 vorgestellte Störungsbilder, sondern auf die Musiktherapie bei
psychischem Trauma allgemein oder bei spezifischen traumatischen SituationsbedinDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
67
gungen (z.B. in der Arbeit mit Flüchtlingen und Folteropfern). Störungsbilder, von denen marginal die Rede ist, sind die PTBS und die Persönlichkeitsstörung.
Auch wenn es sich nicht um störungsspezifische Indikationen nach einzelnen posttraumatischen Störungsbildern der ICD-10 oder dem DSM-IV handelt, so lassen sich
doch Gemeinsamkeiten hinsichtlich psychotraumatischer Symptome und Syndrome
herausfiltern, die den im Abschluss des Kapitels 3.5 dargestellten langfristigen Traumafolgen entsprechen. Für diese Symptome können die therapeutischen Funktionen der
Musik unabhängig vom musiktherapeutischen Ansatz und den eingesetzten Methoden
und Techniken die Indikationsfrage klären (Frohne-Hagemann & Pleß-Adamczyk,
2005). Die Aussagen über die therapeutischen Funktionen der Musik bei diesen Symptomen werden nachfolgend in Anlehnung an die Systematik von Lorz-Zitzmann
(1999) dargestellt:
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
Musik ist ein emotionales Ventil versus stillem Schreien þ symbolische Ebene der Musik
Musik schafft eine Berührungsmöglichkeit mit sich selbst versus Verstummung und Lähmung
Musik ermöglicht ein selbstwertaufbauendes eigenes Gestalten versus zu
tiefstem Unwert-Erleben
Musik ermöglicht das Erproben eines neuen Miteinanders versus
Beziehungsvermeidung
Musik ist ein emotionales Ventil versus stillem Schreien ÿ symbolische Ebene der
Musik
Musik ermöglicht es, Gefühle, die unterdrückt und/oder nicht benannt werden können,
auszudrücken (Bergmann, 2002; Lang & McInerney, 2002; Mitzlaff, 2005a, 2005b;
Montello, 1999; Reimold, 1999; Zharinova-Sanderson, 2002). Musik ist ein Kommunikationsmittel, durch das Menschen Zugang zu traumatischen Erfahrungen bekommen
können und durch das die Inszenierung, Exploration und Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen und Gefühlen in einer symbolischen Form möglich wird (ebd.).
Mit Hilfe der Musik ist zudem ý im Gegensatz zur Sprache - ein Ausdruck von diffusen Atmosphären und von unterdrückten ambivalenten Gefühlszuständen traumatischer
Erfahrungen möglich (Bergmann, 2002; Montello, 1999): Beispielsweise sind meist
nahestehende Personen die Täter bei sexuellem Missbrauch. In den Opfern entstehen
durch deren Taten ambivalente Gefühlszustände gegenüber dem Täter, wie z.B. auf der
einen Seite Liebe und Bedürftigkeit oder der Wunsch nach Zuwendung und auf der anderen Seite Hass, Scham, Ohnmacht, Verzweiflung und Wut in Bezug auf den Täter
(ebd.).
Bei Symptomen von Sprachlosigkeit und Unaussprechlichkeit (z.B. Alexithymie)
von Erlebtem ist das nonverbale Medium Musik besonders geeignet, da der Selbstausdruck auf symbolischer (atmosphärischer) Ebene möglich wird (Bergmann, 2002; Lang
& McInerney, 2002; Mitzlaff, 2005a, 2005b; Reimold, 1999; Zharinova-Sanderson,
2002). Die Musik ermöglicht aber gleichzeitig, die Dinge wenn nötig noch im Unausgesprochenen zu lassen (Lorz-Zitzmann, 1999; Reimold, 1999). Durch die Ausdrucksmöglichkeit auf symbolischer Ebene bietet Musik per se eine Distanzierungs- und Dosierungsmöglichkeit in Bezug auf das traumatische Material. Daher ist nach Dixon
(2002) Musikpsychotherapie bei Flashbacks und Alpträumen besonders geeignet.
Da Klänge auch immer körperlich und auf sämtliche Sinneskanäle wirken, stellen
das Medium Musik und der Klang die vom Trauma gestörte Verbindung zwischen Emotionen und Körper wieder her. Wegen dieser Qualitäten auf symbolischer Ebene ist
nach Sutton (2002b) die Musik so nützlich bei traumatisierten Menschen.
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Gerade in der Arbeit mit traumatisierten Patientinnen, die eine andere Sprache als die
behandelnden Therapeutinnen sprechen (z.B. bei traumatisierten Flüchtlingen) und/oder
deren Ausdrucksfähigkeit zusätzlich durch fehlende Mitteilungsmöglichkeiten verringert ist, ist Musik aufgrund des nonverbalen, symbolischen Mediums besonders geeignet (Mitzlaff, 2005b; Orth, 2005; Reimold, 1999; Zharinova-Sanderson, 2004). Eine
andere Situation, bei der die sprachliche Ausdrucksfähigkeit traumatischer Erfahrungen
beeinträchtigt oder sogar zerstört wurde, sind die frühkindlichen präverbalen
Traumatisierungen.
Besonders solche frühkindlichen (präverbalen) Traumatisierungen benötigen eine
psychotherapeutische Methode, die sich an die präverbalen Wunden und nicht gestillten
Abhängigkeitsbedürfnisse der frühen Kindheit wendet (Austin, 2002). Musik als präverbales Medium ist hierfür besonders geeignet (Austin, 2002; Decker-Voigt, 2005a;
Sutton, 2002b). Dabei handelt es sich um präverbale Klangerfahrungen, durch die früheste bzw. kindliche prä- und postnatale Urerfahrungen erneut erfahren werden können
und die kindliche aber auch spätere Entwicklungsprozesse in Gang setzen können.
Hierbei kann auch auf gute Erfahrungen aus frühester Kindheit, meist präverbale Erfahrungen durch Musik und Lieder zurückgegriffen werden, die einerseits vor dem traumatischen Ergebnis erfahren wurden oder die es neben den schweren Belastungen immer
gegeben hat (Austin, 2002; Decker-Voigt, 2005a; Mitzlaff, 2005a).
Musik schafft eine Berührungsmöglichkeit mit sich selbst versus Verstummung und
Lähmung
Therapie bedeutet mit sich selbst in Berührung zu kommen. Gerade diese Berührungen
sind aufgrund der traumatischen Erfahrungen abgespalten worden. Als Schutzmechanismus sind Verstummung, Erstarren, Lähmung und Nicht-Fühlen entwickelt worden.
Eine Berührung mit sich selbst vermag gerade Musik auf vielfältigen Wegen: Ton ist
Schwingung bzw. Vibration, die rein körperlich auf den Menschen wirkt (Orth, 2001;
Montello, 1999; Sutton, 2002b). Das Spüren einer Schwingung und einer Resonanz
bietet einen möglichen Schritt aus einer Starre heraus (Lorz-Zitzmann, 1999). Sensorische Gefühle (Vibrationen) können genutzt werden um Menschen zu erden und ihnen
zu helfen in die Gegenwart zu kommen und in ihr zu bleiben (Bergmann, 2002; Montello, 1999).
Frank-Schwebel (2002) weist auf die besondere Bedeutung von Klang für die emotionale Entwicklung und für das Selbstgefühl des Menschen hin und bezieht sich dabei
auf die Erkenntnisse von Tomatis22, der auf eine archaische Komponente von Kommunikation hinweist (verbale und nonverbale Kommunikation), die unseren Ausdruck und
die Wahrnehmung des anderen unterstreicht: Die Erfahrung, Klänge zu produzieren und
zu hören impliziert den Ausdruck von tiefen oft unbewussten Beziehungserfahrungen.
Hörerfahrungen können als nährend, haltend erfahren werden, aber auch als Intrusion
oder Bewusstwerden von Abwesenheit. Die Art und Weise wie jemand Klänge benützt
und produziert gibt Aussage über die emotionalen Bedürfnisse, das Innenleben und Wesen der Patientin, Beziehungen, Übertragungsbeziehungen und (Primär)objektbeziehungen. Der Klang dient dabei als Übertragungsphänomen (ebd.; AhonenEerikäinen, 2004; Sutton, 2002b). Die Variationsmöglichkeit der Musik unterstützt den
traumatisierten Menschen aus der Starre und dem Festhalten herauszukommen (Dixon,
2002).
Viele traumatisierte Menschen, die an chronischer Übererregung leiden, sind sich
nicht bewusst wie das übererregte Nervensystems und Dissoziation ihren natürlichen
Lebensrhythmus verzerren und die Lebenserfahrungen beeinflussen (Montello, 1999).
22
Tomatis, A. A. (1996): ÿDer Klang des Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation ý die Anfänge seelischer Entwicklung.þ Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt.
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5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
69
Musik kann benutzt werden, um die Erregung des hypersensitiven Nervensystems nach
außen zu bringen. Dadurch wird sich die Patientin dieser Dynamiken bewusst und kann
ihre Auswirkungen auf Körper und Geist verstehen, was Voraussetzung für mögliche
Genesung ist.
Nach neueren Erkenntnissen der Gehirnforschung kann Musik zur Heilung von Splittern und Dissoziationen in der Selbststruktur beitragen (Hüther, 2004). Musik kann die
Verteidigungsmechanismen in den höheren kortikalen Funktionen des Gehirns umgehen
und direkt ins limbische System gelangen, wo die Emotionen verarbeitet werden. Bestehende durch eine bestimmte Reaktion ausgelöste Aktivierungsmuster im Gehirn, die
auf Vorerfahrungen beruhen, können durch neue Erfahrungen verändert werden. Durch
ein subjektiv angenehm empfundenes Musikerlebnis (aktiv oder passiv) ÿlässt sich im
Gehirn eine Harmonisierung und Synchronisation der in verschiedenen Regionen generierten neuronalen Aktivitätsmuster erreichen. (...) Je stärker sich dieser Harmonisierungseffekt auch auf die für die Steuerung integrativer Regelsysteme im Körper verantwortlichen subkortikalen Bereiche ausbreitet (limbisches System, Hypothalamus, Hirnstamm), desto effektiver kommt es auch zu einer Rekonstitution bisher (durch Anspannung, Unruhe, Stress) gestörter Funktionen (kardiovaskuläres System, neuroendokrines
System, vegetatives System, Immunsystem)þ (Hüther, 2004, S.20f). Zudem kann Musik
auch die rechtshemisphärischen Hirnregionen stimulieren, die mit Imagination und Gefühlen, besonders dem Gefühl von Trauer verbunden sind, was für die Trauerarbeit in
der Neuorientierungsphase der Traumatherapie von Bedeutung ist.
Oft fehlt die Mitte zwischen den Polen Angst/Panik und unterdrückten Gefühlen und
Taubheit (Montello, 1999). Musik kann innere Spannungszustände auflösen und Harmonisierungseffekte auslösen (Hüther, 2004). Dadurch kann eine Balance und Harmonie in den körperlichen und geistigen Funktionen gefunden werden (Montello, 1999).
Musik ermöglicht ein selbstwertaufbauendes eigenes Gestalten versus zu tiefstem
Unwert-Erleben
Wie bereits dargestellt kann erst die Bearbeitung einer traumatischen Erfahrung erfolgen, wenn auf positive Erfahrungen und Ressourcen zurückgegriffen werden kann (Orth
& Verburgt, 1998). Nach Zharinova-Sanderson (2002) sind Hauptbereiche der musiktherapeutischen Bearbeitung die traumatischen Symptome, die mit Selbstbewusstsein,
Selbstempfinden und der Position des Selbst in Beziehungen zu anderen zu tun haben,
z.B. Angstzustände, aggressive Durchbrüche, sozialer Rückzug, extreme Einsamkeit,
Depression, akutes Misstrauen, Verzweiflung, vermindertes Selbstwertgefühl mit entstehender Gefahr der Suizidalität, Initiativlosigkeit, und Kommunikationsschwierigkeiten. Sich trotz des Gefühls wertlos zu sein und nichts zustande zu bringen auf Töne und
Klänge einzulassen, also auf etwas Lebendiges, ist in der Verarbeitung der Gefühle ein
ganz wesentlicher Schritt, da er eine Bereitschaft darstellt, diesen Zustand zu gestalten
und zu verändern (Lorz-Zitzmann, 1999; Reimold, 1999). Musik stimuliert und aktiviert
den menschlichen Körper und die eigene Wahrnehmung. Man wird aktiv mit positiven
Erfahrungen konfrontiert, die vom Trauma unterdrückt werden (z.B. die Musik, die ich
gespielt habe, hat mir gefallen und gibt Kraft für weitere Schritte) (Bergmann, 2002).
Ähnlich wie imaginative Techniken (wie z.B. der innere sichere Ort), setzt Musik somit
den schrecklichen Erfahrungen und Bildern etwas Positives entgegen (Reimold,
1999)23. Neben dem Gefühl von unendlicher Hilflosigkeit und totalem Ausgeliefertsein,
23
Reimold (1999) berichtet beispielsweise von einer Klientin, die immer wieder die Bordunleier nimmt,
da die schwebenden und harmonischen Klänge für sie von großer Bedeutung sind, da sie sich mit Hilfe
der Leier in der Lage fühle ÿder Schwärze im Kopfþ einem Symptom, in dem sich ihre erlittenen Foltererlebnisse manifestierten etw. wirkungsvolles entgegenzusetzen. Zudem führe sie die entstehende Musik
zurück zu den ÿguten Zeitenþ in ihrem Leben, auch wenn das mitunter traurig sei (vgl. Reimold, 1999,
S.91).
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das z.B. in Alpträumen immer wieder erlebt und erleidet wird, kann man auf symbolischer Ebene zum ersten Mal zum Handeln kommen und Kontrollierbarkeit und Autonomie erfahren.
Da Musik zeitlich begrenzt ist, körperlich und emotional gespürt wird, kann sie eine
starke Ressource sein, um eine Form zu finden, sich den extremen Erfahrungen anzupassen und sie zu regulieren (Sutton, 2002b). Neben der Ausdrucksmöglichkeit von
unangenehmen und negativen Gefühlen können die Musikinstrumente auch dazu verführen herumzuspielen und auch die andere, lebendige und unbeschädigte Seite zu spüren und zum Klingen zu bringen (Reimold, 1999).
Sich selbst durch die Musik wieder handlungsfähig und kreativ zu erleben ist ein
wichtiger Teil im Genesungsprozess, z.B. Musik als menschliche Erfahrung entgegen
menschenunwürdigen Effekten eines Krieges (Amir, 2004; Bergmann, 2002; Sutton,
2002a; Zharinova-Sanderson, 2002). Kreativität ermöglicht einen Zugang zu eigenen
Potentialen und Fähigkeiten und ihre Anerkennung. Nach Frohne-Hagemann (2001)
konfrontiert uns die moderne Ästhetik damit, ÿauch das mit allen Sinnen wahrzunehmen, was hässlich und was emotional absolut unbegreiflich ist. (...) Für MusiktherapeutInnen bedeutet dieser Aspekt der Ästhetik, dass sich ein traumatisierter Mensch nach
dem ersten Schock nicht vom Fühlen abspaltet, sondern dem Leibe die Möglichkeit
gibt, dem Trauma einen musikalischen, d. h. in der Zeit eingebetteten Ausdruck zu ermöglichen, welcher das Leid, die Angst und die Trauer so bindet, dass die Erlebnisse
intersubjektiv geteilt werden und dadurch verarbeitet werden können. D.h. die Präsenz
oder das Erhabene muss eine sinnlich wahrnehmbare ästhetische Form annehmen, und
erst von dieser kann man sich auch emotional distanzierenþ (S.293). Musik als ganzheitlich erfahrbares Medium richtet sich dabei nicht nur auf das Trauma, sondern auf das
ganze Individuum (Amir, 2004; Austin, 2002; Bergmann, 2002; Pavlicevic, 2002; Tyler, 2002; Zharinova-Sanderson, 2002).
Vielen traumatisierten Menschen ist eine Konzentration auf die Gegenwart nicht
mehr möglich. Ihr Leben ist oft ausgefüllt mit Erinnerungen und ÿGeisternþ aus der
Vergangenheit, es verliert an Lebendigkeit und damit auch an Bedeutung (ZharinovaSanderson, 2002). Gedanken an die Zukunft sind nur mit Ängsten und Hoffnungslosigkeit verbunden. Musik ist motivierender und angenehmer, normaler Teil menschlichen
Lebens, ist Spiel, ist gegenwärtig und fokussiert die in der Vergangenheit des Traumas
gefangenen Personen auf das Hier und Jetzt (Bergmann, 2002; Zharinova-Sanderson,
2002).
Historisch betrachtet war Musik stets Teil individueller und kultureller Identität. Musik unterstützt daher auch immer beim (Wieder)aufbau der eigenen Identität und beeinflusst sowohl die persönliche als auch die kulturelle Identität (Bergmann, 2002; Orth,
2005; Zharinova-Sanderson, 2002).
Musik ermöglicht das Erproben eines neuen Miteinanders versus Beziehungsvermeidung
Interaktion ist nicht nur wichtig für die sozialen Beziehungen des Menschen, sondern
der Mensch definiert sich auch selbst darüber und erlangt sein Gefühl für das Selbst
darüber (Dixon, 2002). Wenn die Interaktion durch das Trauma eingeschränkt ist, hat
das weitreichende Konsequenzen, wie Isolation, Einsamkeit und Gefühlsmissverständnisse (ebd.).
Musik diente immer schon als Kommunikationsmittel zwischen den Menschen
(Orth, 2005; Zharinova-Sanderson, 2002). Nach Zharinova-Sanderson (2002) liegt folglich eine der größten therapeutischen Kompetenzen der Musik darin, dass sie zur Kommunikation zwischen Menschen genutzt wird, z.B. bei Störungen der Selbstwahrnehmung. Die Möglichkeit der Musik besteht darin, Menschen zusammenzubringen und
schafft Zusammengehörigkeit und ein Zugehörigkeitsgefühl (Orth, 2005; Pavlicevic,
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2002; Zharinova-Sanderson, 2004). Im Ausloten von Nähe und Distanz innerhalb des
gemeinsamen Spiels ermöglicht sie ein Problembehandeln im selbstbestimmten Gestalten von Beziehungen (Lorz-Zitzmann, 1999; Putzke, 2002).
Wie bereits ausgeführt finden in der Musik menschliche Beziehungsqualitäten erst
mal auf der symbolischen Ebene statt und haben so weniger bedrohliche Ausmaße. Diese Funktion der Musik wird gerade bei schwer traumatisierten Menschen als großer therapeutischer Nutzen beschrieben (Bergmann, 2002; Lang & McInerney, 2002; Mitzlaff,
2005a; Reimold, 1999; Zharinova-Sanderson, 2002). Hemmungen, Kontaktängste, vielleicht auch schon länger eingefahrene Verhaltensweisen können im spielerischen Umgang miteinander überprüft oder sogar versuchsweise revidiert werden. Was dabei erlebt wird, kann wiederum Wege aus der emotionalen Erstarrung und Isolation aufzeigen
(Reimold, 1999).
Die hier dargestellten therapeutischen Funktionen der Musik zeigen welche Rolle die
Musik im Traumaverarbeitungsprozess spielen kann. Im Folgenden soll dargestellt werden, auf was geachtet werden muss, damit Musiktherapie in bestimmten Situationen
keine kontraindizierende Wirkung hat.
Kontraindikationen
Nach bisherigem Erkenntnisstand gibt es für Musiktherapie keine allgemeingültigen
Kontraindikationen bezüglich eines bestimmten posttraumatischen Störungsbildes, da es
sich bei der Behandlung dieser Störungen um einen hochkomplexen Vorgang handelt,
der in Wechselbeziehung zu den anderen therapeutischen Angeboten steht. Zudem sind
Teilbereiche wie die direkte Wirkung von Musik auf den Körper und Stoffwechsel noch
zu wenig erforscht. Dennoch gibt es Situationen und Symptomkonstellationen, in denen
Musiktherapie weniger angebracht ist, nämlich wenn Angst, Stress und Intrusionen
bzw. Retraumatisierungen durch Musik möglicherweise verstärkt werden.
Bezüglich der Wirkung von Musik existieren hierzu verschiedene Sichtweisen: Auf
der einen Seite wird angenommen, dass Musik bzw. bestimmte Parameter der Musik für
manche Menschen eine angstauslösende Wirkung haben und daher Musiktherapie möglicherweise zunächst kontraindiziert ist (Jüchter, 2004; Maack, 2004). Auf der anderen
Seite ist man der Ansicht, dass nicht die Musik selbst, sondern die Assoziationen, die
mit der Musik verbunden werden, zu einer Verstärkung der Symptome führen (Dixon,
2002). Nach Dixon (2002) besitzt das Medium Musik primär eine hohe Variabilität und
Musik selbst hat eigentlich keine Gewalt oder Bedrohlichkeit in sich, sondern die Assoziationen und Gefühle, die damit verbunden werden (z.B. Marschmusik für den Krieg,
Kampflieder oder eine bestimmte Musik, die während der Traumatisierung erklungen
ist) machen sie bedrohlich oder nicht. Musik kann also mit Gewalt und Bedrohung assoziiert werden und wird individuell unterschiedlich in Beziehung gesetzt. Dabei ist
auch die Art und Weise, wie die Musik gespielt wird von Bedeutung (Dixon, 2002).
Laut Maack (2004) reagieren traumatisierte Menschen, für die es schwierig ist, Emotionen und Affekte zu halten, stark auf folgende musikalische Elemente: plötzliche, kurze Klänge (z.B. Trommelschläge), dynamische Veränderungen, Rhythmus, Dissonanzen und harmonische Veränderungen. Daher können Menschen, die Schwierigkeiten
mit Affektregulation haben, bei der Anwendung der Guided Imagery and MusicMethode, mit Imaginationen von unverarbeitetem Trauma, Zerfall symbolischer Imaginationen oder mit bedrohlichen Imaginationen reagieren. Dabei ist außerdem zu beachten, dass im veränderten Bewusstseinszustand alles stärker erscheint als im normalen
Wachbewusstsein (ebd.). Zudem kann nach Jüchter (2004) Dynamik Stress erzeugen
und Stress bedeutet für traumatisierte Menschen existentielle Bedrohung. Aber es gibt
keine Musik ohne Dynamik und ihre Spannungsverhältnisse (ebd.).
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Lorz-Zitzmann (1999) weist daraufhin, dass durch die emotionale Unmittelbarkeit
der Musik im gemeinsamen Spiel eine mit den traumatischen Erlebnissen verknüpfte
bedrohliche Nähe entstehen kann und fordert deshalb eine sensible Handhabung und
den wohldosierten Umgang mit dem Medium. Maack (2004) setzt z.B. rhythmisch akzentuierte Musik erst dann ein, wenn die traumatisierten Patientinnen emotional hinreichend stabilisiert sind und die überwältigende Macht der Flashbacks eingedämmt ist.
Sobald die Flashbacks wieder auftauchen stoppt sie die Musik.
Wie die eben genannten Beispiele zeigen, kann Musik eine angstauslösende Wirkung
haben und die intrusive, retraumatisierende Symptomatik verstärken (FrankBleckwedel, 2000; Jüchter, 2004; Maack, 2004). Traumatische Erlebnisse können wie
in Kapitel 2.4.1 dargestellt zu Veränderungen der Gehirnstrukturen führen. Für den Einsatz von Musik zu therapeutischen Zwecken gilt es diesbezüglich die Erkenntnis aus der
Hirnforschung über die entstehende direkte subkortikale Verbindung zwischen Hörreiz
und Hirnaktivität zu berücksichtigen. Diese bei der Traumatisierung mögliche Verschaltung im Gehirn, bei der eine direkte Verbindung zwischen den im Zwischenhirn gelegenen Neuronen der Hörbahn und der Amygdala fest etabliert wurde, kann laut Rüegg
(2004) zu Übererregtheit und Flashbacks führen. Rüegg (2004) liefert aber auch ein
lerntheoretisches Erklärungsmodell, nach dem durch positive Hörerfahrungen diese
Verschaltungen wieder aufgelöst bzw. verlernt werden können. Darüber hinaus weist
Hüther (2004) auf die salutogenetische Wirkung von Musik im Gehirn und ihre Wirkung zur Stressreduktion hin (vgl. auch unter Indikationen weiter oben). Es bedarf daher meines Erachtens der Überprüfung im Einzelfall, ob Musik bzw. welche Art der
Musik oder Klänge eine angstauslösende und retraumatisierende Wirkung induzieren
bzw. ob Musik zu einer anhaltenden Verschlechterung der genannten Symptomatik
führt und deshalb zunächst von einer Musiktherapie abzusehen ist.
Die Wirkungsforschung in der Musik steckt noch in den Kinderschuhen und sollte, um
eindeutige Aussagen über Kontraindikationen bei psychotraumatischen Syndromen zu
bekommen, neben dem Hinzuziehen der Neurowissenschaften, weiter vorangetrieben
werden. Dies kann meines Erachtens auch dadurch geschehen, dass man die bisherigen
Erfahrungen und Erkenntnisse über Musik in Extremsituationen (z.B. Holocaust) zusammenträgt und sie bezüglich der Wirkung beforscht (siehe Kap. 7.2.3).
Aufgrund der hohen Variationsmöglichkeit von Musik und Klang können diese sich
in der Behandlung von Menschen mit psychotraumatischen Störungen immer zwischen
den beiden Polen der Symptomverstärkung auf der einen Seite und der Symptomreduktion auf der anderen Seite bewegen. Ob es zu einer Verschlechterung oder Verbesserung
der Symptomatik kommt, hängt auch wesentlich von der Gestaltung der eingesetzten
musikalischen Methode und Handhabung der Musik ab (Austin, 2002).
Sorgfältige Handhabung der Musik - dosierter Umgang
In der Therapie von psychisch traumatisierten Menschen bedarf es der Eingrenzung und
Kontrollierbarkeit von Reizen, somit auch der Musik. Nach Hüther (2004) sind die Faktoren für eine beruhigende Wirkung von Musik Vertrautheit, Rhythmus und Ordnung.
Auf der anderen Seite ist aber ein gewisses ÿReinfallenlassenþ notwendig, um bestimmte Klangstrukturen als Musik zu empfinden und damit Stress abbauen zu können (Jüchter, 2004).
Inszenierungen sind oft die einzige Ausdrucksmöglichkeit für das Unaussprechliche
(Metzner, 1999). Musik zur Inszenierung traumatischer Erfahrungen kann verbunden
sein mit einer hohen Affektintensität und grenzüberschreitenden und übermannenden
Qualität (Metzner, 1999; Mitzlaff, 2002). Hierbei bedarf es therapeutischer Interventionen, die vor Affektüberflutung schützen und eine Grundlage für Integration anbieten
(Mitzlaff, 2002). Eine eindeutige Form und Struktur der Musik z.B. in einem Tanz maDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
73
chen die starken Gefühle aushaltbar (Mitzlaff, 2005a). Mitzlaff (2005b) setzt beispielsweise bei Kindern, die ihre traumatischen Erlebnissen in musikalischen Spielszenen
reinszenieren, gezielt Interventionen zur Distanzierung ein, wie z.B. die sprachliche
Formulierung des Geschehens und der Affekte oder führt einen Abbruch des Spiels herbei, um Retraumatisierung zu verhindern.
Beim Einsatz der freien Improvisation in der Therapie begibt man sich nach Metzner
(1999) auf eine Gratwanderung zwischen Retraumatisierung und Behandlung. Die Therapeutin muss aufmerksam für die momentane Gefühlslage der Klientin und die nonverbale Kommunikation sein, um Retraumatisierungen und emotionales Zerfließen zu
verhindern. Eine sensible Handhabung und ein wohldosierter Umgang mit Musik ist
dafür erforderlich. Musik bietet hierfür verschiedene, Grenzen respektierende Formen
und Stufen eines Miteinanders an (Lorz-Zitzmann, 1999; siehe Kap. 6). Mit Hilfe der
Musik ist ein Ausloten von Nähe und Distanz durch gemeinsames Musizieren in einem
geschützten Rahmen möglich (ebd.).
5.3
Psychodiagnostik
Der Aufnahmegrund für eine therapeutische Behandlung, besonders bei erwachsenen
psychiatrischen Patientinnen mit komplexen frühkindlichen Traumatisierungen, ist oft
ein anderer als die psychotraumatische Störung. Hierbei besteht die Gefahr der Retraumatisierung der Klientinnen in der Therapie, wenn die behandelnden Therapeutinnen
die Traumatisierung nicht erkennen oder sogar Aspekte oder Themen z.B. bei sexueller
Gewalt verleugnen (Purdon & Ostertag, 1999), so dass zu Beginn jeder Behandlung
eine ausführliche Psychodiagnostik stehen sollte, die auch immer den Aspekt der Traumatisierung berücksichtigt (vgl. Kap. 3.5).
Es wurde bereits ausgeführt, dass eine diagnostische Momentaufnahme nur einzelne
Aspekte und Konsequenzen einer Traumatisierung aufzeigt (vgl. Kap. 3.4 und 3.5). Eine umfassendere Diagnostik gelingt dagegen durch eine Betrachtung des dynamischen
Verlaufs des psychischen Traumas unter Einbeziehung der zeitlichen Dimension (Mitzlaff, 2002). Hierfür kann man sich laut Mitzlaff (2002) auf das Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung von Fischer und Riedesser (2003) beziehen, das den Moment
der traumatischen Situation, Moment der traumatischen Reaktion (peri- und postexpositorisch) und die Erholung bzw. den traumatischen Prozess (Chronifizierung) beinhaltet
(vgl. Kap. 2.2). ÿDamit entwickeln Fischer und Riedesser ein dynamisches Modell von
Traumatisierung in Analogie zu dem dynamischen Verständnis der neurotischen Symptome der klassischen Psychoanalyse. Dem Kräftespiel zwischen Impuls und Abwehr
im neurotischen Konflikt entsprechen dabei im traumatischen Prozess das labile
Gleichgewicht von Traumaschema und traumakompensatorischem Schemaþ (Mitzlaff,
2002, S. 221).
Die Komplexität eines Traumas erfordert zudem eine mehrperspektivische und integrative Betrachtungsweise. Frohne-Hagemann und Pleß-Adamczyk (2005) haben für
die Kinder- und Jugendlichenmusiktherapie ein mehrperspektivisches diagnostisches
Modell entwickelt, um die verschiedenen Zusammenhänge nicht nur der einzelnen psychologischen Richtungen, sondern auch benachbarter anderer wissenschaftlicher Disziplinen herstellen zu können z.B. zwischen Säuglingsforschung, Entwicklungspsychologie, Tiefenpsychologie, moderner Sozialphilosophie und Soziologie. Da die Musik
sowohl zwischen Personen als auch im Menschen Entwicklungsprozesse anregen kann,
aber auch soziokulturell Erfahrungen von Kindern- und Jugendlichen anspricht, beinhaltet die Musiktherapie nach Frohne-Hagemann und Pleß-Adamczyk (2005) Möglichkeiten tiefenpsychologisch-psychodynamische Richtungen mit sozialpsychologischen
und entwicklungspsychologischen zu verbinden. Die Diagnosen stellen nach diesem
Modell nur Hypothesen dar, die sich im Laufe des Behandlungsprozesses verändern und
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
74
immer wieder verifiziert werden müssen. Frohne-Hagemann und Pleß-Adamczyk
(2005) unterscheiden zwischen den Begriffen Diagnose (ICD-10) als etwas Festgeschriebenes und Diagnostik, als etwas Prozesshaftes, sich Veränderndes (vgl. ebd.,
S.24).
Nach Frohne-Hagemann und Pleß-Adamczyk (2005) sollte man nach einer musiktherapeutischen prozessualen Diagnostik arbeiten, wobei laufend das Beziehungsverhalten
und die Art der Konfliktbewältigung der traumatisierten Person unter Einbeziehung
ihrer Lebens- und Erfahrungswelt und psychischen Struktur erfasst und eingeschätzt
werden muss. Dabei sollte eine Musiktherapeutin sich mit folgenden diagnostischen
Systemen auseinandersetzen, die sich in ihrer Form unterscheiden und hier nur zusammenfassend genannt werden sollen (ausführliche Darstellung bei Frohne-Hagemann &
Pleß-Adamczyk, 2005, S. 25ff):
ICD-10
DSM-III und DSM- IV
OPD (für Erwachsene)
OPD-KJ (für Kinder und Jugendliche)
Evaluierungsinstrument zur Einschätzung von Beziehungsqualitäten (EBQ)
(von Schumacher und Calvet-Kruppa)
Multiaxiales Klassifikationsschema für
psychische Störungen im Kindes- und
Jugendalter nach ICD-10 (WHO)
Diagnostische Klassifikation 0-3 (Zero
to Three)24
(phänomenologisch deskriptive Form
der Diagnostik)
(phänomenologisch deskriptive Form
der Diagnostik)
(psychodynamisch ausgerichtete Diagnostik)
(phänomenologische Diagnostik)
(phänomenologisch deskriptive Form
der Diagnostik)
(phänomenologisch deskriptive Form der Diagnostik
mit Schwerpunkt auf Einbeziehung der Beziehung
zwischen Kind und Bezugsperson)
Abbildung 15: Diagnosesysteme für eine musiktherapeutische prozessuale Diagnostik
(in Anlehnung an Frohne-Hagemann & Pleß-Adamczyk, 2005, S. 25ff)
Das Besondere an der Auseinandersetzung mit den eben dargestellten verschiedenen
diagnostischen Systemen ist, dass somit unterschiedliche Formen der Diagnostik möglich sind, die ein umfangreiches Bild liefern. Aufgrund des mehrperspektivischen, dialektischen und prozesshaften Vorgehens lässt sich meiner Ansicht nach dieses Modell
neben der Arbeit mit traumatisierten Kindern auch auf die Musiktherapie mit traumatisierten Erwachsenen übertragen. Neben den beiden großen Klassifikationssystemen
ICD-10 (Dilling et al., 2005) und DSM-IV (Saß et al., 2003) halte ich für die diagnostische Arbeit einer psychotherapeutischen Behandlung von Menschen mit psychotraumatischen Störungen besonders die Einbeziehung der psychodynamischen Dimension erforderlich, da den meisten Traumakonzepten der Psychotraumatologie als Forschungsund Praxisfeld ein psychodynamisches Erklärungsmodell zugrunde liegt. Der musiktherapeutischen Arbeit dient so ein psychodynamisches Verständnis der psychischen
Traumatisierung als theoretischer Bezugsrahmen. Die Operationalisierte psychodynamische Diagnostik [OPD] beschreibt beispielsweise eine psychodynamisch ausgerichtete
Diagnostik in fünf Achsen unterteilt (Arbeitskreis OPD, 2001)25, wobei die OPD-KJ
(Arbeitskreis OPD-KJ, 2003) speziell die entwicklungspsychologischen Aspekte beachtet (Frohne-Hagemann & Pleß-Adamzcyk, 2005).
24
Bei der Zero to Three (1999) handelt es sich um ein Klassifikationsschema für die (Entwicklungs)Störungen der 0 bis 3 Jährigen.
25
I. Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen, II. Beziehung, III. Konflikt, IV. Struktur und V.
Psychische und psychosomatische Störungen (Arbeitskreis OPD, 2001).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
75
Für die Diagnostik zur Behandlung von psychischen Traumata ist meines Erachtens
von Bedeutung, dass die hier vorgestellte prozessuale Diagnostik auch die traumatischen Schutz- und Risikofaktoren (vgl. Kap. 3.1) einbezieht wodurch eine Einschätzung
der Ressourcen und prognostische Aussagen z.B. bezüglich Bewältigungsmöglichkeiten
möglich werden. Das traumatheoretische Konzept von Fischer und Riedesser (2003) mit
der Einteilung in Traumaschema und traumakompensatorisches Schema kann zusätzlich
hilfreich sein, um zu erfahren wo man sich gerade im Traumaverarbeitungsprozess befindet. Es kann sein, dass in der Diagnostik erkennbar wird, dass die Symptome der
komorbiden Störungen stärker ausgeprägt sind als die der posttraumatischen, so dass
diese zuerst behandelt werden müssen und erst viel später das Trauma. Bezüglich der
Behandlung und der Wahl der Behandlungsmethoden bei Erwachsenen und Kindern gilt
es folgende Besonderheiten zu beachten.
5.4
Besonderheiten der Therapie bei Kindern im Gegensatz zu Erwachsenen
Zwischen der Traumatisierung von Kindern und Erwachsenen gibt es Unterschiede
(siehe auch Kap. 3). Bei der Therapie von Erwachsenen macht es einen großen Unterschied, ob es sich um eine schwere komplexe (frühkindliche) Traumatisierung oder um
eine Monotraumatisierung handelt. In der für die vorliegende Arbeit verwendeten musiktherapeutischen Literatur wird auf dieses Thema nicht speziell eingegangen, aber es
deutet einiges darauf hin, dass sich die meisten Autorinnen auf komplexe (frühkindliche) psychotraumatische Störungen beziehen. Montello (1999) beschreibt bei Erwachsenen, die als Kinder traumatisiert wurden, einen periodischen Wechsel zwischen zwei
gegensätzlichen Bewusstseinszuständen während der Therapie: Dem Intrusions-Zustand
(Überflutung mit Flashbacks und/oder Halluzinationen) und dem eingeschränkten Zustand des Nicht-Fühlen-Könnens (emotionale Taubheit). Das Bemerken dieser beiden
Zustände soll der Therapeutin bei der Wahl ihrer Interventionen helfen. Auch sollte man
bei Erwachsenen versuchen die Hauptabwehrmechanismen, die aktuell überwiegen, zu
erfassen (z.B. Dissoziation oder emotionale Taubheit) (Jüchter, 2004). Wichtig zudem
für die therapeutische Beziehung ist, wie intakt oder zerstört das Ich erscheint und in
welchem Entwicklungsstadium das Trauma begann (Sutton, 2002a).
Kinder, die keine fließende, gegenseitige, intersubjektive emotionale Bindung erfahren
haben, haben ein gering ausgeprägtes Gefühl für die Wertschätzung für sich selbst oder
andere und die Fähigkeit Affekte auszutauschen existiert nicht (Pavlicevic, 2002). Im
gemeinsamen Musizieren (z.B. Improvisieren) mit der Musiktherapeutin können diese
Kinder Beziehungserfahrungen (Geborgenheit, Gewaltfreiheit) machen, die ihnen fehlen. In der Therapie von Kindern kommt dem kindlichen Spiel eine besondere Bedeutung zu, da Kinder bekanntlich in erster Linie durch Spielen lernen und im Spiel ihre
Erlebnisse verarbeiten26. ÿIn unzähligen Wiederholungen sucht das Kind lustvolle Erfahrungen oder kann bedrohliche, traumatische Erlebnisse umgestalten und dadurch
Ängste abbauenþ (Plahl & Koch-Temming, 2005, S.85). In dieser Form des Wiederholens liegt eine gelungene Verarbeitung der gemachten Erfahrungen vor, da eine Umgestaltung möglich ist. In der Musiktherapie gibt es ein Spielen mit und ohne Töne und die
Übergänge zwischen Musikmachen und Spielen sind fließend (ebd.). Schwer traumatisierten Kinder kann zunächst jegliche Fähigkeit zum Spiel abhanden gekommen sein.
Das Trauma scheint sie und all ihre Ausdrucksformen völlig zu beherrschen (Bergmann, 2002; Frank-Bleckwedel, 2000; Mitzlaff, 2002, 2005a; Pavlicevic, 2002; Putzke,
2002; Walsh Stewart & Stewart, 2002). Pavlicevic (2002) stellt zudem fest, dass die
26
Ausführliche Darstellung zur Bedeutung des Spiels für die kindliche Entwicklung siehe Plahl und
Koch-Temming (2005) S.84ff.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
76
Musik dieser Kinder einen sich wiederholenden, wenig flexiblen und wenig wandelbaren Charakter mit wenig Bezug zu anderen z.B. Gruppenmitgliedern zu haben scheint.
Bei psychisch traumatisierten Kindern besteht die Gefahr des sogenannten traumatischen Spiels, worunter das spontane aber zwanghafte Wiederinszenieren des Traumas
im Spiel verstanden wird, in dem die Kinder immer wieder auf die gleiche Weise die
sich aufdrängenden traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen, ohne sie jedoch innerlich verarbeiten zu können, wiederholen (Landolt, 2004; Mitzlaff, 2002, 2005a).
Dieses sich wiederholende Spiel ohne Umgestaltung der Erfahrung erhöht den Leidensdruck und erhält die posttraumatische Symptomatik aufrecht. Die Therapeutin muss in
solchen Situationen intervenieren und das Kind unterstützen, wieder die Kontrolle zu
erlangen (ebd.).
Das traumatische Erlebnis wird im Spiel auf verschiedene Arten wiederbelebt z.B. in
Form von Rollenspielen (Frank-Bleckwedel, 2000; Mitzlaff, 2002; Putzke, 2002). Vom
Kind inszenierte Rollenspiele sagen daher sehr häufig etwas über die Erlebniswelt von
traumatisierten Kindern aus. Sie fungieren als Ausdrucks- und Verarbeitungsmöglichkeit, z.B. Verarbeitung familiärer Beziehungsformen (Putzke, 2002). Im Idealfall ermöglichen sie den Kindern, Distanz zum Geschehen (z.B. durch Verkleiden oder musikalisches Spiel der Rollen) zu wahren, die eigenen Gefühle wahrzunehmen, oder verschiedene Rollen ausprobieren (z.B. Täter- und Opferseite) (Frank-Bleckwedel, 2000;
Mitzlaff, 2002; Putzke, 2002).
Bergmann (2002) weist auf die besondere therapeutische Situation von chronisch
traumatisierten Kindern hin, da diese möglicherweise nie gewöhnliche kindliche Aktivitäten erfahren haben und erst wieder lernen müssen, wie man spielt (vgl. auch Lang &
McInerney, 2002; Mitzlaff & Strehlow, 2005b; Pavlicevic, 2002). Das Anbieten eines
Spielraums ist daher wichtig für die kindliche Entwicklung. Affekte, wie z.B. Trauer,
Wut, Hass können in Musik und Spiel im Sinne einer aktiven Wiederholung erlebt werden, ohne zu überwältigen und es können mit Hilfe der Musik eine bewusste Verknüpfung mit der traumatischen Erfahrung und Abspaltungen hergestellt werden, die dosiert
und beeinflussbar ist (Mitzlaff, 2002). Eine solche Integration des zuvor Abgespaltenen
führt zu einer Überwindung des unbewussten Wirkens von Traumaschema und traumakompensatorischem Schema und erweitert den durch traumatische Erfahrungen verengten Handlungsspielraum (ebd.).
5.5
Therapeutische Beziehung
Die Therapie posttraumatischer Symptome und Störungen stellt spezielle Anforderungen an die Belastbarkeit und fachliche Kompetenz einer Therapeutin (Austin, 2002).
Bergmann (2002) weist darauf hin, dass die verschiedenen interdisziplinären Perspektiven (z.B. neurobiologische Perspektive) auf das Trauma und Traumakonzepte, sich
auch auf den musiktherapeutischen Ansatz auswirken und zudem für die therapeutische
Arbeit wichtige Informationen liefern. Die Kenntnisse theoretischer Grundlagen aus der
Psychotraumatologie und traumazentrierten Psychotherapie machen daher die Behandlung traumatischer Erfahrungen sicherer (Orth, 2005; Punkanen, 2004). Auch die eigene
Psychohygiene ist von Bedeutung, um sekundäre Traumatisierungen der Therapeutin
aber auch Retraumatisierungen der Patientinnen zu vermeiden (Lang, McInerney, Monaghan & Sutton, 2002). Purdon und Ostertag (1999) fordern zudem, dass angehende
Musiktherapeutinnen schon in ihrer Ausbildung vermittelt bekommen müssen, wie man
z.B. die Sicherheit und eine sichere Basis für sich und die Klientinnen erschaffen kann.
Auch rechtliche Informationen, die Einbeziehung von Fallstudien und Praktika in diesem Feld, die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen wie Schulen und Kinderschutzorganisationen gehören dazu. Gerade dadurch, dass viele der in der Therapie beDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
77
handelten Menschen Gewalterfahrungen gemacht haben, sollte auch das Thema ÿMacht
und Kontrolleþ dabei einbezogen und analysiert werden (ebd.).
Die meisten traumarelevanten Symptome und Probleme werden in zwischenmenschlichen Beziehungen deutlich (Amir, 2004), also auch in der therapeutischen Beziehung.
In ihr können bedeutungsvolle Momente entstehen, für die die Therapeutin die richtigen
Bedingungen schaffen muss (ebd.). Je nach therapeutischem Ansatz, wird der Fokus auf
beziehungsrelevante Aspekte sowohl zwischen Klientin und Therapeutin als auch zwischen Klientin und Musik, gerichtet (z.B. analytisch orientierter Ansatz: Übertragungsbeziehungen, Objektbeziehungen). Die Therapeutin muss die Beziehung der Patientin
zur Musik verstehen und die Bedeutung, die sie ihr in ihrem Leben zuschreibt (Montello, 1999). Wie die Literatur zur Psychotraumatologie bestätigt auch die für diese Arbeit
verwendete musiktherapeutische Literatur die herausragende Bedeutung der therapeutischen Beziehung für eine gelungene Behandlung (z.B. Amir, 2004; Austin, 2002;
Bergmann, 2002; Frank-Bleckwedel, 2000; Lorz-Zitzmann, 1999; Montello, 1999;
Orth, 2005; Purdon & Ostertag, 1999; Putzke, 2000; Sutton, 2002a). Die in der Musiktherapie bedeutsamen Komponenten der therapeutischen Beziehung werden im Folgenden kurz umrissen (ausführliche Darstellung siehe Kapitel 4.4).
5.5.1
Komponenten der therapeutischen Beziehung
Traumatisierte Menschen müssen immer in der therapeutischen Beziehung austesten
(z.B. durch Angriff auf die Instrumente, Regungslosigkeit oder Verstummen), ob die
Therapeutin das Inszenierte aushalten und überleben kann und den erforderlichen beschützenden Rahmen aufrechterhalten kann und die Kontrolle behält (Sutton 2002b).
Die Therapeutin darf nicht durch das Erfahren der Geschichte zerstört werden, da sie
sonst nicht mehr unterstützend und angemessen reagieren kann und es zur erneuten
Retraumatisierung kommen kann (Amir, 2004; Lang & McInerney, 2002; Sutton,
2002b).
Wie bereits beschrieben, sollte erst mit einer Traumabearbeitung angefangen werden,
wenn eine ausreichend sichere, stabile und vertrauensvolle therapeutische Beziehung
besteht, die durch die Therapeutin geschaffen werden muss (Amir, 2004, Bergmann,
2002; Purdon & Ostertag, 1999; Sutton, 2002a). An dieser Stelle sei noch mal darauf
hingewiesen, dass Therapeutinnen Gefahr laufen ernsthaft zu retraumatisieren, wenn sie
mit dem aufdeckenden Prozess beginnen, bevor eine tiefgehende Basis des Vertrauens
in der therapeutischen Beziehung etabliert wurde (Montello, 1999). In der therapeutischen Beziehung treten analog zu den sich wiederholenden traumatisierenden Erfahrungen immer wieder ähnliche Themen, Beziehungsmuster und Interaktionsprozesse auf
(Amir, 2004; Lorz-Zitzmann, 1999; Walsh Stewart & Stewart, 2002). Das Trauma darf
in der therapeutischen Beziehung nur in einer sicheren und unterstützenden Umgebung
wiederbelebt werden (Amir, 2004).
Sichere, stabile und vertrauensvolle Beziehung
Der Anfang einer Therapie gestaltet sich bei traumatisierten Menschen aufgrund dieser
Beziehungserfahrungen schwierig. Kontakt oder Nähe zur Therapeutin kann oft als bedrohlich erlebt werden und dadurch überlagern Misstrauen und Angst das eigentliche
Bedürfnis nach vertrauensvoller Beziehung (Amir, 2004). Wichtig für das Entstehen
einer vertrauensvollen Beziehung ist, dass die Betroffene selbst entscheidet, wie die
Therapie vor sich geht (Frank-Bleckwedel, 2000). Das Erlebnis einer tragfähigen therapeutischen Beziehung bietet traumatisierten Menschen die Möglichkeit, gemeinsam
neue Formen des Miteinanders zu finden und zu erproben. Verschiedene traumatogene
Faktoren destabilisieren aber diesen Beziehungsaufbau immer wieder (Lang & McInerney, 2002; Tyler, 2002; vgl. Kap. 4.4). Die Therapeutin muss bereit sein diese VerhalDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
78
tensweisen zu ertragen, wenn nötig auch zu begrenzen. Diese Bereitschaft und Fähigkeit
stellt die Grundlage für die Entstehung einer vertrauensvollen Beziehung (LorzZitzmann, 1999; Mitzlaff & Strehlow, 2005b; Zharinova-Sanderson, 2004).
Transparenz und Offenheit
Transparenz und Offenheit sind die Grundlage dafür, dass eine vertrauensvolle Beziehung entstehen kann. Das bedeutet zum einen den therapeutischen Prozess und die Einschätzungen bezüglich der Klientin gegenüber der Klientin transparent zu machen, damit sie die Gelegenheit hat, die Richtung mitzubestimmen. Z.B. dient laut Mitzlaff und
Strehlow (2005b) das einmalige Ansprechen des Aufnahmegrundes zu Beginn der Therapie der Offenheit (allerdings nur, wenn jemand stabil genug erscheint). Zum anderen
gehört dazu die Offenheit gegenüber den traumatisierten Menschen als ganze Personen
und in ihren Widersprüchlichkeiten z.B. durch geduldiges Zuhören ohne Erwartungen,
und die Bereitschaft, sich eventuell auch auf die musikalisch fremde Welt einzulassen
(Reimold, 1999; Sutton, 2002a; Zharinova-Sanderson, 2004). Eine nach außen hin deutlich erkennbare Klarheit über die Gefühle und Standpunkte der Therapeutin kann außerdem wiederum für die betroffenen Menschen den Interaktionsprozess transparent
und einschätzbar machen. Dies gibt in der Beziehung Halt und Orientierung (LorzZitzmann, 1999).
Macht und Kontrolle
Um erneuten Gefühlen wie Ohnmacht und Hilflosigkeit entgegenzuwirken und erneute
invasive Grenzverletzungen zu verhindern bedarf es meiner Meinung nach einer kritischen Selbstreflexion der Therapeutin über Machtverhältnisse in therapeutischen Beziehungen und innerhalb des therapeutischen Settings: Z.B. welche Konsequenzen ergeben
sich daraus für eine Therapeutin und ihre Patientinnen, wenn die Therapeutin immer das
Klavier für sich beansprucht und für die Patientinnen nur andere oftmals wesentlich
kleinere und dynamisch eingeschränktere Instrumente zur Verfügung stehen (Purdon &
Ostertag, 1999). Eine ausführliche Auseinandersetzung zum Thema Macht und Machtmissbrauch in therapeutischen Beziehungen kann bei Hafke (1996) nachgelesen werden.
In der Therapie sollte die Patientin die Kontrolle über die Situation bestmöglich bewahren können. Neben einer weitestgehenden Mitverantwortung ermöglicht auch die
Musik, die Kontrolle behalten zu können (Austin, 2002; Bergmann, 2002; Orth & Verburgt, 1998): Die musikalischen Parameter wie Motiv, Struktur und Form bieten Stabilität und Sicherheit, wenn der Inhalt hochemotional und potentiell unkontrollierbar ist
(Austin, 2002; Orth, 2005). Auch ein klar strukturierter Rahmen (z.B. zeitlich, Wiederholungen) und abgesprochene Kontrollmöglichkeiten wie Stoppzeichen oder die Möglichkeit den Raum zu verlassen tragen dazu bei, Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit zu vermeiden (Jüchter, 2004; Orth & Verburgt, 1998).
Abwehrmechanismen sind wichtig für die Regulation der psychischen Struktur.
Wenn Musik zu Abwehrzwecken genutzt wird oder die Musik abgewehrt wird, sollte
dies auch zunächst toleriert werden und auch gegebenenfalls in bestimmten Situationen
unterstützt werden und im anschließenden Gespräch thematisiert werden (Mitzlaff &
Strehlow, 2005b). Andererseits verhindert dieser Selbstschutzmechanismus die eigene
Entfaltung einschließlich der Fähigkeit mit anderen in Interaktion zu treten und birgt die
Gefahr Gefühle wie Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht zu verstärken. Zudem belebt es
die Täterintrojekte, die wiederum mit massiven Schuld- und Schamgefühlen und eben
mit massiven aggressiven Impulsen einhergehen können (Jüchter, 2004).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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Grenzen und Struktur
Da es sich bei traumatischen Erfahrungen auch oft um eine schwerwiegende Grenzverletzung handelt, ist es für die therapeutische Arbeit notwendig, ein besonderes Augenmerk darauf zu richten (Bergmann, 2002; Frank-Bleckwedel, 2000; Orth & Verburgt,
1998; Tyler, 2002). Für die therapeutische Haltung ist dabei zunächst von Bedeutung,
dass man als Therapeutin die eigenen Grenzen, sowohl der professionellen Kompetenz
als auch der persönlichen Belastbarkeit, weiß und kennt (Frank-Bleckwedel, 2000).
Da traumatisierte Menschen oftmals keine andere als diese Form der Beziehungsgestaltung kennen gelernt haben, sind diese Grenzüberschreitungen bei vielen Menschen,
der Versuch Kontakt und Nähe zur Therapeutin herzustellen (Frank-Bleckwedel, 2000;
Lorz-Zitzmann, 1999). Eine angemessene Reaktion ist hierbei, Grenzen zu setzen, aber
gleichzeitig Alternativen im Zusammensein aufzuzeigen (Lorz-Zitzmann, 1999). Die
Grenzen müssen so gestaltet werden, dass sie, egal was im musikalischen Prozess auftaucht, halten können.
Dies kann außerdem ein Modell für die Entwicklung passender eigener Grenzen
beim Menschen sein. Die Entwicklung eigener Grenzen stellt eine wesentliche Voraussetzung dar, sich gegen übergriffiges und grenzüberschreitendes Handeln zu wehren
(Lorz-Zitzmann, 1999). Orth und Verburgt (1998) weisen darauf hin, dass bei traumatisierten Menschen der Weg von der Struktur zur Freiheit geht. Für das innere und äußere
Chaoserleben der traumatisierten Menschen durch die Fragmentation ist Eingrenzung
notwendige Voraussetzung, Freiheit zu erleben (Bergmann, 2002; Orth & Verburgt,
1998). Es bedarf sehr viel haltgebender und unterstützender Techniken, z.B. eine sichere musikalische Basis durch tonal gebundenes, festgelegtes und somit absehbares musikalisches Begleitungsschema (Austin, 2002; Orth, 2005) oder durch Imagination eines
ÿinneren Beobachtersþ, der bei Improvisationen darauf achtet, dass der improvisierende
Teil am Werk orientiert bleibt (Jüchter, 2004).
5.5.2
Übertragungsbeziehungen, therapeutische Abstinenz und Regression
Bei einem überwiegend psychoanalytisch und psychodynamisch orientierten Therapieverständnis, das die meisten der für diese Arbeit verwendeten Autorinnen haben, spielen
in der therapeutischen Beziehung die Übertragungsbeziehungen, die therapeutische
Abstinenz und das Thema der Regression eine besondere Rolle (z.B. AhonenEerikäinen, 2004; Bergmann, 2002; Decker-Voigt & Dunkelziffer e.V., 2005; Metzner,
1999; Montello, 1999). Dies deckt sich mit den Erkenntnissen und der Praxis der Psychotraumatologie. Diese sind in Kapitel 4.4 ausführlich dargestellt.
Übertragungsbeziehungen
Wie bereits dargestellt, bilden sich die Beziehungsmuster der traumatischen Erfahrungen auch in der therapeutischen Beziehung ab, so dass sich z.B. Täter-OpferBeziehungsmuster in der Therapie inszenieren (Lorz-Zitzmann, 1999; Metzner, 1999;
Mitzlaff & Strehlow, 2003; Montello, 1999; Rogers, 1995; Sutton, 2002a). Diese Beziehungen können sich in Form von Rollenumkehr zeigen, in der die Therapeutin die
Hilflosigkeit und Ohnmacht spürt, oder die Therapeutin wird zu übergriffigen Reaktionen und Verhaltensweisen verleitet (Amir, 2004; Frank-Bleckwedel, 2000; LorzZitzmann, 1999; Mitzlaff & Strehlow, 2005b; Reimold, 1999; Sutton, 2002a). Mitzlaff
und Strehlow (2005b) machen deutlich, dass diese Situationen emotional zwar sehr belastend für die Therapeutin sind, dass sie ihr aber zum Verständnis für das traumatische
Geschehen und für die Integration negativer Affekte hilfreich sein können. Zudem sind
die Betroffenen gegenüber der traumatischen Situation nicht allein ihren Gefühlen ausgeliefert, sondern die Therapeutin fühlt und trägt sie mit (ebd.).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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80
Im Sinne des Verlaufsmodells der Traumatisierung nach Fischer und Riedesser
(2003) lassen sich die Reinszenierungen in den Übertragungsbeziehungen als Teil des
Traumaschemas verstehen und sie stellen einen Versuch dar, die Situation zu lösen (vgl.
auch Mitzlaff, 2002). Hierfür müssen HilfsýIch-Funktionen angeboten werden, um die
traumakompensatorische Tendenz zu unterstützen (z.B. dass auch andere Rollen möglich sind als nur die des Täters und des Opfers) und die starre Täter-Opfer-Konstellation
zu modifizieren. Die Stärkung der traumakompensatorischen Tendenz bietet Schutz vor
Retraumatisierung und ist Voraussetzung für eine direkte Auseinandersetzung mit dem
Trauma (ebd.).
Verletzung der therapeutischen Abstinenz
Je mehr die Klientinnen im Laufe der Therapie mit ihren traumatischen Erfahrungen in
Berührung kommen und sie ihnen bewusst werden, umso mehr ist die Therapeutin involviert (vgl. Kap. 4.4) (vgl. auch Montello, 1999; Rogers, 1995; Sutton, 2002a). Die
Möglichkeit zur Verwicklung ist bereits durch das gemeinsame Musizieren gegeben.
Wenn die Verwicklungen (z.B. die Therapeutin in Rolle der zuschauenden Mutter bei
Inzest) nicht erkannt, sondern weiter ausagiert werden, bergen sie die Gefahr von
Retraumatisierungen und der Verletzung der therapeutischen Abstinenz (Metzner, 1999)
(zur Notwendigkeit der therapeutischen Abstinenz siehe Kap. 4.4). Das Erkennen der
Verwicklungen alleine reicht aber nicht aus, sonst besteht die Gefahr der Vermeidung,
was bei der Patientin zu erneuten Schuldgefühlen und Entwertungen führen würde und
für die Stabilisierung der Persönlichkeit wichtige Gefühlserfahrungen (z.B. in der Verschmelzung) ausklammern würde. Es bedarf daher eines wie in Kapitel 4.4 beschreiben
Verständnisses von Abstinenz. Dabei soll die Therapeutin sich zwar empathisch in die
Patientin und ihre Welt der Objekte einfühlen, jedoch ohne Bewertung (vor allem nicht
der Täter) (Metzner, 1999). Metzner (1999) beschreibt als einen Vorteil der analytisch
orientierten Musiktherapie, dass durch die Trennung von Spielen und Sprechen verschiedene Grade der Verwicklung möglich sind, z.B. bei Verschmelzung, Verführung
oder Übergriffigkeit in der Musik, die sich im Gespräch fortsetzen können, aber nicht
müssen. Die Chance in diesem therapeutischen Ansatz liegt darin, das Interaktionsgeschehen zu differenzieren und zu reflektieren und damit die therapeutische Abstinenz
im oben genannten Sinne zu gewährleisten (ebd.).
Regression
Wie bereits in Kapitel 4.4 beschrieben kommt in psychoanalytisch und psychodynamisch orientierten Therapieansätzen der Regression als heilender Faktor eine wichtige
therapeutische Funktion zu (Frank-Schwebel, 2002). Regression mit ihrem archaischen
Charakter ermöglicht eine Rückkehr zu frühesten präverbalen und pränatalen Beziehungserfahrungen (Mitzlaff, 2002). Zwar wird bei einem traumazentrierten psychotherapeutischen Verfahren empfohlen regressionsfördernde Interventionen zu vermeiden,
wenn die Regression als Ausdruck traumatischer Reinszenierung erscheint (Huber,
2004; Reddemann, 2001, 2004). Das bedeutet aber nicht, dass auf Regression verzichtet
werden soll, vielmehr bedarf es einer Eingrenzung der Regression.
Auch in den verschiedenen musiktherapeutischen Publikationen zur Traumabehandlung wird auf das Thema der Regression eingegangen, was im Folgenden dargestellt
wird (z.B. Amir, 2004; Austin, 2002; Frank-Schwebel, 2002; Mitzlaff, 2002; Montello,
1999; Ostertag, 1999; Punkanen, 2004; Sutton, 2002a).
Ostertag (1999) weist darauf hin, dass das Bedürfnis nach Regression bei frühkindlichen Traumatisierungen besonders ausgeprägt ist. Folglich ist es wichtig für die Arbeit
mit frühkindlichen Traumata, die Therapie so zu gestalten, dass sich die Patientin auf
die frühesten emotionalen Erfahrungen aus der Kindheit einlassen kann (AhonenDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
81
Eerikäinen, 2004; Amir, 2004; Austin, 2002; Frank-Schwebel, 2002; Montello, 1999;
Rogers, 1995).
Kapteina (1996) beschreibt aus der musiktherapeutischen Arbeit mit Patientinnen mit
Suchterkrankungen als Traumafolge, dass er gezielt die regressionsfördernde Qualität
des Musikerlebens einsetzt, damit die Patientinnen in Kontakt zu frühen Traumata
kommen. Die Gefühle von Schmerz, Angst und Wut, die sonst mit Hilfe der Droge umgangen wurden, können jetzt in einer kontrollierbaren Form, der gemeinsamen Improvisation und verbalen Reflexion erlebt, gestaltet, bearbeitet und integriert werden (ebd.).
Nach Frank-Schwebel (2002) ähnelt Musik in regressiven Zuständen der Patientin
der Art und Weise, wie wir als Babys das Leben erfahren, als ein zeitliches Kontinuum
oszillierend zwischen Bewegung, Stille, Spannung und Entspannung. In diesen Zuständen der Regression fungiert Musik als umgebendes Medium und der Klang als Übertragungsphänomen. Lässt eine Therapeutin diese regressiven Zustände im therapeutischen
Prozess zu, können diese Erfahrungen möglich werden (Austin, 2002; Decker-Voigt,
2005a; Ostertag, 1999).
Ostertag (1999) vertritt die therapeutische Haltung, die Patientin im regressiven Prozess nicht zu stören oder sich in das Innenleben der Patientin einzumischen. M. E. fehlt
dabei für die Patientinnen die Kontrollmöglichkeit. Sie sind zu sehr sich selbst überlassen, wodurch sich traumatische Symptome reinszenieren und verstärken können. Daher
erachte ich den Einsatz von kontrollierter und eingegrenzter Regression wie z.B. bei
Austin (2002), Mitzlaff (2005a) und Orth (2005) bei der Behandlung traumatisierter
Menschen für zielführender. Die in Kapitel 6.2.3 dargestellten ÿVocal holding techniquesþ von Diane Austin (2002) stellen m. E. eine effektive Möglichkeit dar, einen
Rahmen für sichere Regression zu schaffen, in der man Zugang zu abgespaltenen oder
unbewussten Gefühlen und Gedanken bekommen kann, sie erfahren, verstehen und
integrieren kann.
Regression kann laut Mitzlaff (2005a) auch als Abwehrmaßnahme (z.B. als Flucht)
gedeutet werden, aber in der Behandlung von traumatisierten Menschen bietet sie die
Möglichkeit auf etwas Beruhigendes und Vertrautes zurückzugreifen, was Voraussetzung für eine Auseinandersetzung mit dem traumatischen Material darstellt.27
5.6
Supervision, Eigentherapie und Psychohygiene der Therapeutin
Zwar gehört es heutzutage zum Standard einer fundierten musikpsychotherapeutischen
Ausbildung, im Rahmen einer Lehrtherapie selbst eine Psychotherapie durchlaufen zu
haben und die praktische Arbeit von Supervision begleiten zu lassen. Aber es ist auffällig, dass in der musiktherapeutischen Literatur zur Arbeit mit traumatisierten Menschen
immer wieder darauf hingewiesen wird, dass die biografische Auseinandersetzung im
Rahmen von Selbsterfahrung und eigener Psychotherapie (Eigentherapie), Supervision
sowie die Psychohygiene der Therapeutin in diesem Feld, sowohl in der Ausbildung als
auch immer wieder während der Arbeit, besonders wichtig sind (Austin, 2002; Lang et
27
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass für eine traumazentrierte Musikpsychotherapie ein Behandlungskonzept entwickelt werden muss, das einen therapeutische Rahmen schafft, der eine Entfaltung
und Eingrenzung der Regression ermöglicht und in dem angemessen auf die Bedürfnisse der Patientin
geantwortet wird und der Retraumatisierung verhindert. Voraussetzung sind klare Grenzen, Konsistenz,
Verlässlichkeit und die Anpassung der Therapeutin an den Entwicklungsstand der Patientin. Zudem muss
das Konzept die verschiedenen traumatischen Wirkfaktoren und Komponenten (siehe Kap. 4.4) der therapeutischen Beziehung, wie Kontrollierbarkeit und Stabilität einbeziehen. Eine solche mögliche Konzeption als Beispiel für ein auf dem psychodynamischen Grundverständnis aufbauenden, aber auch andere
Ansätze integrierenden musiktherapeutischen Konzepts lässt sich bei Walsh Stewart und Stewart (2002)
nachlesen.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
82
al., 2002; Mitzlaff & Strehlow, 2005b; Pourdon & Ostertag, 1999; Rykov, 2001; Sutton,
2002a):
Wie bereits beschrieben, erfahren auch die Therapeutinnen im therapeutischen Prozess bei der Behandlung psychotraumatischer Symptome und Störungen die Auswirkungen des Traumas und werden mit ihrer eigenen Verletzlichkeit konfrontiert (vgl.
Kap. 4.4). Die Gefahr der Verletzlichkeit der Therapeutin wird als besonders hoch in
diesem Praxisfeld angesehen, da sie persönlich mit ihren unbewussten Gefühlen, Fantasien und inneren Zuständen einbezogen ist (Austin, 2002; Mitzlaff & Strehlow, 2005b;
Montello, 1999; Rykov, 2001).
Unabhängig vom therapeutischen Ansatz und der Methode haben die persönliche
Geschichte, Wert- und Normenvorstellungen und Glaubenssysteme und das Verständnis
der Therapeutin von Gewalt und Misshandlung große Auswirkungen auf ihre Arbeit,
besonders bei Menschen mit Gewalterfahrungen. Daher muss sich die Therapeutin mit
den eigenen Verdrängungsmechanismen, Wert- und Normvorstellungen sowie eigenen
Gewalterfahrungen auseinandersetzen (Purdon & Ostertag, 1999; Rykov, 2001).
Indirekte Traumatisierungen kommen immer wieder bei der Therapie psychotraumatischer Symptome vor, was aber nach Purdon und Ostertag (1999) nicht immer Indikator für ungelöste psychische Probleme der Therapeutin sein muss. Persönlicher und
privater Stress der Therapeutin kann diese Umstände zusätzlich verstärken (Austin,
2002; Purdon & Ostertag, 1999).
Laut Austin (2002) haben viele Therapeutinnen, die mit den frühen kindlichen
Traumatisierungen arbeiten, ähnliche traumatische Erfahrungen in der Kindheit gehabt
(sog. Konzept des Wounded Healer (Austin, 2002)). Dies hat den Vorteil, dass man die
Klientinnen besser verstehen kann, birgt aber auch die Gefahr von Überlappungen. Eine
Gefahr besteht darin, dass die Therapeutin die Arbeit mit Klientinnen nutzt, um sich mit
der eigenen Geschichte auseinander zu setzen. Außerdem riskieren Musiktherapeutinnen, die sich ihrer eigenen persönlichen Geschichte von Missbrauch und Misshandlung
nicht bewusst sind, sich den Erfahrungen der Klientin zu verweigern oder sie zu minimalisieren (Austin, 2002).
Aufgrund der gehäuften Konfrontation der Therapeutin mit ihrer eigenen Verletzlichkeit, muss sie sich selbst schützen, um nicht abzustumpfen oder von den vielen Gefühlen übermannt zu werden. Bei der Arbeit mit psychisch traumatisierten Menschen ist
eine stabile Konstitution und emotionale Kraft der Therapeutin notwendig (Lang et al.,
2002). Durch Supervision und Eigentherapie erfährt die Therapeutin Unterstützung und
ist besser gerüstet, um sich zu schützen und die Klientinnen vor Retraumatisierungen zu
bewahren (Austin, 2002; Lang et al., 2002; Mitzlaff & Strehlow, 2005b; Purdon & Ostertag, 1999; Rykov, 2001). Wichtig ist es dabei sich mit der eigenen Biografie auseinander zusetzen, welche frühen Beziehungserfahrungen man gemacht hat bezüglich des
eigenen Urvertrauens, um Überschneidungen mit den eigenen Erfahrungen zu erkennen
(Sutton, 2002b). Da keine Therapie die massiven physischen und psychischen Verluste
im Leben der Patientinnen ausfüllen kann, kann sich die Therapeutin hilflos fühlen
(Mitzlaff & Strehlow, 2005b; Zharinova-Sanderson, 2002). In der Supervision wird
daran gearbeitet, zu akzeptieren, dass man nicht immer helfen kann. Besonders in den
Phasen der Verstrickung verschafft Supervision die Möglichkeit zu Überblick und Distanzierung (Mitzlaff & Strehlow, 2005b).
Neben einer persönlichen Auseinandersetzung mit den Themen in Supervision und
Eigentherapie können noch Fortbildungen von Fachleuten hilfreich sein (z.B. von Einrichtungen zur Gewaltprävention) (Frank-Bleckwedel, 2000; Purdon & Ostertag, 1999).
Nach Tyler (2002) bekommen durch die Trennung durch Pausen und Ferien bei der
Behandlung sowohl die Therapeutin als auch die Patientin den nötigen Abstand.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
83
Für die Supervisorin, die die Arbeit mit psychisch traumatisierten Menschen begleitet, ist nach Ansicht von Lang et al. (2002) die Objektivität der Supervisorin essentiell,
da sich auch in der Supervision die traumatischen Erfahrungen reinszenieren können
und zudem die persönliche Geschichte der Therapeutin auftauchen kann (Lang et al.,
2002). Folglich benötigt auch die Supervisorin eigene Sicherheitsmassnahmen um mit
den tertiären Traumatisierungen umgehen zu können. Die Supervisorin sollte sich auch
mit theoretischen Abhandlungen aus der Traumaforschung auseinandersetzen und auch
andere traumatherapeutische Verfahren kennen, um sich besser abgrenzen zu können.
Das Gleiche gilt m. E. auch für die Eigentherapie.
5.7
Praxisfelder
Aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Erkenntnisse und Ergebnisse aus der Psychotraumatologie werden die Praxisfelder für die Musiktherapie von psychisch traumatisierten Menschen zunehmen. Bereits jetzt wird man in den meisten musiktherapeutischen Praxisfeldern hierzulande immer wieder mit traumatisierten Menschen konfrontiert, aber bisher existieren wenige Einrichtungen, die sich explizit mit der Behandlung
traumatisierter Menschen befassen und spezielle Konzepte dafür entwickeln. Ein zentrales Arbeitsfeld stellt derzeit der klinisch psychiatrische und psychosomatische Bereich
dar. Wie in Kapitel 3.3 schon dargestellt und auch von Musiktherapeutinnen aus der
Praxis bestätigt, liegen dort einem großen Teil der Störungen (frühkindliche) Traumata
zugrunde (Austin, 2002; Metzner 1999; Montello, 1999; Orth, 2005; Punkanen, 2004).
Inzwischen wurden an manchen psychiatrischen Kliniken schon eigene Behandlungskonzepte entwickelt und spezielle Stationen oder Einrichtungen eingerichtet, in denen
auch Musiktherapie Bestandteil ist (z.B. Orth, 2005).
Traumatisierte Menschen begegnen einer Musiktherapeutin nicht nur im klinischen
Kontext, sondern auch in zahlreichen anderen sozialen Einrichtungen. Nachfolgend
werden die Arbeitsfelder und Hauptdiagnosen, die in den einzelnen Publikationen genannt werden, in einer Abbildung (16) zusammenfassend dargestellt (wobei die Fragezeichen bedeuten, dass keine Aussagen zu dem Praxisfeld gemacht wurden):
Praxisfeld
Psychiatrische Klinik
Traumatisierung bzw.
Diagnosen
Land
Autorinnen
u.a. PTBS
Deutschland
Jüchter (2004)
Persönlichkeitsstörungen
Deutschland
Maack (2004)
Suchterkrankungen
Deutschland
Kapteina (1996)
Erwachsene, die als Kinder
sexuelle Gewalterfahrungen
gemacht haben
Deutschland
Metzner (1999)
traumatisierte Flüchtlinge
Holland
z.B. Orth (2001)
Erwachsene mit Kindheitstraumata
Finnland
Ahonen-Eerikäinen (2004)
Erwachsene mit Kindheitstraumata
Amerika
Montello (1999)
Sexuell traumatisierte Jugendliche
Deutschland
Lorz-Zitzmann (1999)
Deutschland
Reitz (2002)
Finnland
Punkanen (2004)
Rehabilitationseinrichtung
Gynäkologische Rehabi- Frauen mit sexuellen Traumatilitation
sierungen
Drogenrehabilitation
Suchterkrankungen, denen eine
frühkindliche Traumatisierung
zu Grunde liegen
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
Zentrum für Essstörungen
?
?
Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer Berlin
(BZFO)
Magersüchtige Frauen mit frühkindlichen Traumatisierungen
Erwachsene, die als Kinder
sexuelle Gewalterfahrungen
gemacht haben
Erwachsene mit Kindheitstraumata (wie Vernachlässigung,
sexuelle Gewalterfahrungen und
frühe Bindungsstörungen)
Flüchtlinge und Folteropfer
(vorwiegend Erwachsene aber
auch Kinder)
84
Israel
Frank-Schwebel (2002)
Israel
Amir (2004)
Amerika
Austin (2002)
Deutschland
Zharinova-Sanderson
(2002; 2004)
REFUGIO München
Flüchtlinge und Folteropfer
(vorwiegend Erwachsene aber
auch Kinder)
Deutschland
Reimold (1999)
Medical Foundation for the Care
of Victims of Torture
?
Folteropfer
England
Dixon (2002)
Witwen von Opfern von Krieg
und Terroranschlägen
Holocaustüberlebende
sekundär traumatisierte erwachsene Kinder von Holocaustüberlebenden
Flüchtlinge und Folteropfer
Israel
Amir (1998)
Kanada
Israel
Rykov (2001)
Schulberg (1997)
Deutschland
Zharinova-Sanderson
(2004)
Burt (1995)
Jüdisches Hospiz
?
Community Music Therapy
National Center for PostTraumatic Stress Disorder
Pavarotti Music Centre (Nachkriegsumfeld)
Beratungsstelle bei Dunkelziffer
e.V.
Childrenús Aid Society
The NYC Music Therapy Relief
Project
Schule über die Musikschule
Vietnam Veteranen
Amerika
kriegstraumatisierte Kinder
BosnienHerzegowina
Deutschland
traumatisierte Kinder (vorwiegend sexueller Missbrauch aber
auch zusätzlich Vernachlässigung und andere Gewalterfahrungen)
traumatisierte Kinder (vorwieKanada
gend sexueller Missbrauch aber
auch Vernachlässigung und
andere Gewalterfahrungen)
traumatisierte Erwachsene und Amerika
Kinder, Angehörige, Überlebende, Helferinnen der Terroranschläge vom 11. September
2001 in New York
durch Kampfhundattacke trauDeutschland
matisierte Kinder
Sprachheilschule
sexuell traumatisiertes Kind
Integrative Hortgruppe
vorwiegend sexuell traumatisier- Deutschland
te Kinder
Sonderschule
vorwiegend sexuell traumatisierte Kinder
traumatisierte Kinder mit
frühkindlichen Traumatisierungen, Bindungsstörungen
frühkindliche Traumatisierung,
Bindungsstörung und Vernachlässigung
sexuell traumatisierte Kinder
für Musiktherapeutinnen, die mit
kriegstraumatisierten Kindern
arbeiten
Krankenhaus mit AIDS- und
Hospizstation
?
?
(Telefon)Supervision
Deutschland
Bergmann (2002);
Lang und McInerney (2002)
z.B. Decker-Voigt und
Dunkelziffer e.V. (2005)
oder z.B.
Mitzlaff (2005a);
Strehlow (2005)
Ostertag (2002)
Frisch Hara (2003)
Mitzlaff (2002, 2005b)
Marnach (2002)
Frank-Bleckwedel (2000)
Großbritannien Tyler (2002)
Südafrika
Pavlicevic (2002)
Irland
Walsh Stewart und Stewart
(2002)
Deutschland
Putzke (2002)
Großbritannien Lang et al. (2002)
BosnienHerzegowina
Abbildung 16: Musiktherapeutische Praxisfelder für die Behandlung traumatisierter Menschen, zu denen
publiziert wurde (Die Fragezeichen bedeuten: keine Aussage zu dem Praxisfeld)
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
85
Gerade in Deutschland aber auch international fällt eine deutliche Gewichtung der
musiktherapeutischen Praxisfelder auf, wobei der Kinderbereich und frühkindliche
Traumata insbesondere der sexuelle Kindesmissbrauch und Vernachlässigung besonders
häufig dargestellt werden. Im psychiatrischen Kontext wird vielfach die Therapie von
Erwachsenen beschrieben, die als Kinder chronisch traumatisiert wurden. Bei Flüchtlingen und Folteropfern wird die Musiktherapie mit Kindern wiederum weniger beschrieben.
Nicht nur bei der musiktherapeutischen Tätigkeit in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen wird man aufgrund der Häufigkeit wahrscheinlich im Laufe seiner
Arbeit mit dem Thema frühkindliche Traumata wie z.B. sexueller Kindesmissbrauch
und Vernachlässigung konfrontiert werden, sondern auch in anderen Einrichtungen der
Kinder- und Jugendhilfe, wie beispielsweise in Heimen oder Kindertagesstätten, Schulen bzw. Horten, sowie vermutlich auch in der freien Praxis, auch wenn hierzu bisher
nicht publiziert wurde.
Musiktherapie in der Behandlung von traumatisierten Menschen findet derzeit in sehr
unterschiedlichen Praxisfeldern und Behandlungskontexten statt. In den meisten der für
die vorliegende Arbeit hinzugezogenen musiktherapeutischen Publikationen misst man
dem Kontext bei der Behandlung traumatisierter Menschen und seinen Auswirkungen
für die zu behandelnden und an der Behandlung beteiligten Personen eine besondere
Bedeutung bei (z.B. Decker-Voigt, 2005a; Sutton, 2002a).
5.8
Behandlungskontext
Traumata sind immer eingebettet in den Kontext, in dem sie stattfinden bzw. nachhallen, aber auch die Behandlung der traumatisierten Personen ist kontextbedingt. Der
Kontext beeinflusst das Wechselspiel der inneren und äußeren Situationsfaktoren auch
noch nach dem eigentlichen traumatischen Ereignis und damit auch die Ausprägung
bzw. Behandlungsmöglichkeiten von traumabedingten psychischen Störungen. Zudem
sind die institutionellen Rahmenbedingungen ausschlaggebend dafür, ob überhaupt eine
Traumapsychotherapie nach dem Phasenmodell möglich ist.
Institutionelle Rahmenbedingungen
Die institutionellen Rahmenbedingungen bestimmen das musiktherapeutische Setting
und den therapeutischen Prozess und darüber hinaus den zur Verfügung stehenden Therapiezeitraum. Die zur Verfügung stehende Therapiezeit und -dauer sind meiner Meinung nach wiederum ausschlaggebend für eine Traumabehandlung im Sinne einer
Traumabearbeitung nach dem Phasenmodell, da es gerade bei schweren chronischen
Traumata länger dauert, bis die vertrauensvolle Basis für die Traumabearbeitung geschaffen ist.
Aufgrund der Erfahrung psychisch traumatisierter Menschen von Kontrollverlust und
Vertrauensbruch, sind die konsistenten Rahmenbedingungen der Therapie für sie besonders wichtig, z.B. das Einhalten verabredeter Zeiten und ein strukturierter Ablauf.
Zu den institutionellen Rahmenbedingungen gehören außerdem, ob man als Therapeutin in einer ambulanten oder stationären, einer klinischen oder pädagogischen Einrichtung arbeitet, die Konzeption der Einrichtung, ihre therapeutischen Vorgaben für die
Musiktherapie sowie welche Räumlichkeiten und Instrumente zur Verfügung stehen.
Der institutionelle Rahmen beeinflusst darüber hinaus z.B. auch die Zusammenarbeit
mit Angehörigen bzw. Eltern und im Team. Für die Therapie stellt sich zusammenfassend die Frage, welchen institutionellen Bedingungen man sich stellen muss und inwieweit man sich im Einzelfall diesen Gegebenheiten fügen muss oder welche EinDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
86
flussmöglichkeiten der Therapeutin für Veränderungen zur Verfügung stehen. Bezüglich der Konzeption einer Einrichtung sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass in
ihr auch festgelegt ist, ob überhaupt ein einzeltherapeutisches Setting möglich ist oder
nur Gruppentherapien angeboten werden und wie sich die Gruppenzusammensetzung
bzw. -größe gestaltet.
Das Verständnis von einzelnen traumatischen Ereignissen und der Umgang damit ist
eng mit dem sozialen, politischen und kulturellen Kontext verbunden und darin besonders mit unseren Wert- und Normvorstellungen und Glaubenssystemen. Daher ist es für
eine adäquate und nicht retraumatisierende Behandlung wichtig diese Bezüge kritisch
zu reflektieren, um z.B. Verhaltensweisen (eigene und die der Patientin) erkennen und
verstehen zu können (Purdon & Ostertag, 1999). Auch wenn es sich bei manchen der
nachfolgenden Bedingungen um den spezifischen Kontext traumatischer Geschehnisse
handelt, der sich nicht eins zu eins auf die Musiktherapie in Deutschland übertragen
lässt, geben sie meiner Meinung nach Anlass zu einer Betrachtung und Reflexion, da
hierzulande Menschen therapeutisch behandelt werden, die solche Kontexterfahrungen
gemacht haben, und sich darüber hinaus die Mechanismen auch auf andere Bereiche
übertragen lassen.
5.8.1
Die Bedeutung des sozialen, politischen und kulturellen Kontextes für die
Therapie
Sozialer und politischer Kontext
Der gesellschaftliche Umgang mit Gewalt, die Politisierung der Therapeutin und/oder
der traumatisierten Person, sowie soziale und familiäre Situationen beeinflussen die
Therapeutin und die Behandlung:
Gesellschaftlicher Umgang mit Gewalt
Der gesellschaftliche Umgang mit Gewalt birgt die Gefahr, dass die Therapeutin eine
indirekte Unterstützerin der Gewalt wird: Wie bereits erwähnt, ist es deshalb für eine
erfolgreiche Therapie unerlässlich die eigenen Wert- und Normvorstellungen bezüglich
einzelner traumatischer Situationen zu überprüfen, da z.B. Musiktherapeutinnen Teil
eines sozialen Systems sein können, das Gewalt verschweigt oder verharmlost oder Opfer beschuldigt (Purdon & Ostertag, 1999; Schulberg, 1997). Daher sollte man sich mit
der eigenen und auch der gesellschaftlichen Toleranz bezüglich Gewalt auseinandersetzen und Mechanismen erkennen, die einen zur indirekten Unterstützerin der Gewalt
machen (Austin, 2002; Schulberg, 1997, Smyth, 2002). Dazu gehört meines Erachtens
auch die Betrachtung, was einzelne Begriffsverwendungen implizieren könnten, ob sie
beispielsweise ein traumatisches Ereignis verharmlosen wie z.B. das unterschiedliche
Begriffsverständnis des Missbrauchsbegriffs28.
Hierbei können zudem verschiedene Mechanismen der kollektiven Gewalt die Therapeutin und ihre Arbeit beeinflussen: Kollektive Gewalt als ein institutionalisiertes Phänomen, das von der Gesellschaft akzeptiert wird (wie Armut, fehlende Sicherheit und
politische Gewalt) kann durch fehlende Stabilität, Verharmlosung, ein Klima von Aggression und Feindseligkeit sowie Verfolgung die Behandlung erschweren oder unmöglich machen (Pavlicevic, 2002).
28
vgl. hierzu: Metzner (1999), Petersen (2005) und Wirtz (2001)
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
87
Politisierung der Therapeutin und/oder traumatisierten Person
Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen: Smyth (2002b) macht auf Konsequenzen für die
therapeutische Arbeit in gespaltenen Gesellschaften aufmerksam, in denen sich z.B.
unterschiedliche Bevölkerungsgruppen aus ethnischen oder religiösen Gründen bekriegen. Beispielsweise wird man als Musiktherapeutin nach Bracefield (2002) bestimmten
Gruppierungen zugeordnet (z.B. einer religiösen Glaubensgemeinschaft), was sich auf
die therapeutische Beziehung auswirkt, z.B. indem das Misstrauen verstärkt wird.
Benutzung von Opfern für politische Propaganda: Opfer von politischer Gewalt
werden häufig von öffentlicher Seite politisiert und zu Propagandazwecken benutzt
(Pavlicevic, 2002; Schulberg, 1997; Smyth, 2002). Trauer und Leid haben dann eine
politische Funktion. Folglich darf es den Betroffenen gar nicht emotional besser gehen.
Ihre Identität definiert sich nur noch durch Trauer und Verlust. Dieses Politikum wirkt
sich auch auf die Therapie, Behandlungsmöglichkeiten und Behandelbarkeit der Betroffen aus (ebd.). Eine solche Identität kann oft über Jahrezehnte bestehen bleiben. Schulberg (1997) beschreibt z.B., wie Ähnliches nach dem zweiten Weltkrieg und teilweise
bis heute den Juden passierte.
Smyth (2002) vertritt die Ansicht, dass unter diesen Umständen Therapie kein neutraler
professioneller Akt ist. Es besteht die Gefahr, dass man als Therapeutin schnell Mitvollzieherin der Polarisierung oder des Opfertums wird, wobei Opfertum verbunden wird
mit Hilflosigkeit, Schweigen und Abhängigkeit (Schulberg, 1997; Smyth, 2002). Um
dies zu verhindern sollte Therapie nach Auffassung von Smyth (2002) einen Beitrag
leisten, das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl aufzubauen. Dies ist ihrer Ansicht
nach möglich, indem man als Therapeutin in der Therapie die Aufmerksamkeit auf subjektive und intrapersonelle Prozesse der Patientin richtet und weg von dem externen
Feind (Smyth, 2002; vgl. auch: Dixon, 2002; Pavlicevic, 2002).
Soziale und familiäre Situationen
Politische Gewalt im Sinne von Krieg, Nachkriegssituation oder Folter existiert hierzulande derzeit nicht. Hier spielen vor allem die sozialen und familiären Situationen eine
Rolle. Unsichere Lebensbedingungen (z.B. zu Aufenthaltsstatus, Arbeitslosigkeit, Armut und laufende juristische Verfahren (siehe auch Kap. 7.2.1)) gefährden die Stabilisierung und bergen die Gefahr zu retraumatisieren (Mitzlaff & Strehlow, 2005b; Reimold, 1999; Zharinova-Sanderson, 2002). Ebenso beeinflussen die individuelle Lebensgeschichte und die sozialen Bindungen der Patientin (aber auch der Therapeutin) die
Behandlung, z.B. Kindheitserfahrungen, Freunde, Familie, Bildungsgrad, sprachliche
Ausdrucksmöglichkeit, ÿsoziale Schichtþ, finanzielle Voraussetzungen für die Therapie
(vgl. Kap. 3.1). Daher ist es bei psychotraumatischen Störungen auch immer erforderlich das direkte Umfeld der Betroffenen einzubeziehen z.B. Familienangehörige, um
einerseits eine sekundäre Traumatisierung des Umfeldes zu verhindern und um sie andererseits als Unterstützung bzw. zur weiteren Abklärung einzubeziehen.
Kultureller Kontext
Die kulturelle Dimension der Musik und der kulturelle Hintergrund der Patientin und
Therapeutin beeinflussen das therapeutische Handeln und Geschehen:
Kulturelle Dimension der Musik
Smyth (2002) macht bewusst, dass gerade in gewaltsam gespaltenen Gesellschaften, in
denen die nationale Identität und Souveränität bekämpft wird, nichts neutral sein kann
und man sich die soziale, politische und kulturelle Dimension des Mediums Musik im
besonderen Maße vor Augen halten muss (siehe auch Kap. 7.2). Auch Musik ist in dieDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
88
sem Fall keine neutrale Sprache, sondern ihre Form, bestimmte Lieder, Stücke, etc. sind
kontextbezogen und haben kulturelle Bedeutung. Selbst die Musikinstrumente haben
ethnische und kulturelle Identitäten und werden politisch assoziiert. Musik kann dadurch den gespaltenen und polarisierten Kontext verstärken. Andererseits gibt Kultur
Halt und Sicherheit und stärkt die eigene Identität (Orth, 2001). Musik kann die Menschen wieder zusammenzubringen (Orth, 2001, 2005; Smyth, 2002). Musik hat folglich
in einem solchen Kontext nicht nur therapeutischen Wert für die Arbeit mit Traumatisierten, sondern sie eröffnet neue Wege und Perspektiven z.B. im Rahmen von speziellen Projekten die Menschen wieder zusammenzubringen und eine neue gemeinsame
Basis zu erschaffen (siehe auch Community Music Therapy im folgenden Kapitel).
Kultureller Hintergrund der Patientin und Therapeutin
Auch Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu einer multikulturellen Gesellschaft entwickelt, so dass nicht nur in der Arbeit mit Flüchtlingen und Folteropfern, sondern in allen Bereichen sowohl bei den Therapeutinnen als auch bei den
zu behandelnden Menschen verschiedene kulturelle Hintergründe aufeinandertreffen,
die den therapeutischen Prozess beeinflussen. In den einzelnen Kulturen gibt ein unterschiedliches Verständnis von Krankheit und dem Umgang mit Gefühlen (Orth, 2001,
2004). Selbst die Art wie sich Störungen manifestieren ist kulturell bedingt. Allerdings
können die Hauptsyndrome und ýsymptome laut Orth und Verburgt (1998) in westliche
psychiatrische Konzepte übertragen werden. Auch die Toleranz von Gewalt hat unterschiedliche kulturelle Traditionen (Purdon & Ostertag, 1999). Des weiteren gibt es bezüglich der geschlechtsspezifischen Rollen unterschiedliche Rollenverständnisse (Zharinova-Sanderson, 2002).
Es wirkt sich darüber hinaus auf die Behandlung aus, ob man als Therapeutin aus
dem gleichen kulturellen Kontext der Patientin kommt oder nicht, ob man selbst z.B.
die Gewalt im Land miterlebt hat oder nicht. Unterschiedliche kulturelle Identitäten
zwischen Therapeutin und Patientin können das Misstrauen bezüglich der traumatischen
Erfahrung in der therapeutischen Beziehung verstärken (Lang & McInerney, 2002; Rykov, 2001; Sutton, 2002b).
Aufgrund der engen Verbindung von traumatischen Ereignissen mit dem sozialen, politischen und kulturellen Kontext auch während der Behandlung (z.B. Stabilisierung
durch stabiles soziales Umfeld) stellt sich die Frage, welche Behandlungskonzepte für
psychotraumatische Störungen geeignet sind. Eine Einbeziehung dieser Kontextbedingungen in den therapeutischen Behandlungsansatz und eine Adaption der Therapiekonzepte an diese sind daher notwendig (Orth & Verburgt, 1998). Dies erfolgt bereits in
vielen der beschriebenen musiktherapeutischen Praxisfeldern. Ein theoretisches und
praktisches Modell, das im besonderen Maße die sozialen und kulturellen Faktoren berücksichtigt, stellt Community Music Therapy dar. Hier wird neben diesen Faktoren
noch dem Einfluss von institutionellen und biografischen Kontextbedingungen (auch
der Therapeutin) auf die musiktherapeutische Praxis und Forschung eine besondere
Aufmerksamkeit gewidmet (Ansdell, 2002).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
89
5.8.2
Community29 Music Therapy
Community Music Therapy ist ein kontextbasierendes und musikzentriertes, theoretisches und praktisches Therapiemodell, das die sozialen und kulturellen Faktoren besonders hervorhebt (Ansdell, 2002). Im Folgenden soll schwerpunktmäßig auf die Bedeutung für die Behandlung traumatisierter Menschen eingegangen werden30. Bei der musiktherapeutischen Behandlung traumatisierter Menschen auf Grundlage eines Community-Music-Therapy-Konzeptes müssen meiner Ansicht nach neben den sozialen und
kulturellen Einflussfaktoren noch die politischen Faktoren einbezogen werden. Eine
genauere Betrachtung der in Kapitel 5.7 beschriebenen musiktherapeutischen Praxisfelder ergibt, dass bereits häufig sehr alltagsnahe und auf kontextuelle Besonderheiten zugeschnittene Einrichtungen und Behandlungskonzepte entwickelt wurden. Meiner Ansicht nach arbeiten und forschen viele der musiktherapeutischen Autorinnen in diesem
Feld bereits nach dem Modell der Community Music Therapy, auch wenn es nicht explizit so bezeichnet wird.
Exemplarisch sollen dies zwei Praxisfelder aufzeigen. Auf internationaler Ebene
stellt m. E. das von der Hilfsorganisation War Child und Luciano Pavarotti gegründete
Pavarotti Music Centre in Mostar in Bosnien-Herzegowina ein solches Projekt dar. Ziel
des Projektes ist es, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen zusammenkommen können, kostenfrei gemeinsam Musik machen und hören können. Damit soll zwischen den
ethnischen Gruppierungen eine Versöhnung stattfinden und den Kriegskindern eine
friedliche Zukunft ermöglicht werden. Daneben gibt es Beratungsangebote und Musiktherapie. 1998 eröffnete dort die erste musiktherapeutische Abteilung. Behandelt werden vor allem Kinder, die eine große Bandbreite verschiedener traumaspezifischer
Schwierigkeiten haben und solche, die zudem verschiedene geistige und körperliche
Behinderungen und Entwicklungsstörungen bzw. beides zusammen haben. Es werden
Einzel- und Gruppentherapien angeboten, daneben gibt es noch die Möglichkeit an verschiedenen Musikprojekten, die vom Pavarotti Music Centre angeboten werden, teilzunehmen. Die musiktherapeutische Abteilung fungiert auch als Unterstützungs- und Beratungszentrum bei musiktherapeutischen Fragen (vgl. Bergmann, 2002; Lang &
McInerney, 2002).
Sehr differenziert wird von Bergmann (2002) und Lang und McInerney (2002) die
Bedeutung des sozialen, politischen und kulturellen Kontexts betrachtet. Bei ihrer Arbeit im Pavarotti Music Centre nennen Lang und McInerney (2002) als Hauptkennzeichen, die ihre musiktherapeutische Arbeit beeinflussen: die Arbeit mit einer Übersetzerin, den kulturellen Hintergrund der Übersetzerin, den kulturellen Hintergrund der Musiktherapeutinnen, das Profil der Einrichtung (Pavarotti Music Centre), die Auswirkungen der Nachkriegsgesellschaft.
Auch in Deutschland lassen sich Community-Music-Therapy-Konzepte in die Behandlungskonzepte bei psychotraumatischen Symptomen integrieren. Gerade bei der Musiktherapie von Menschen aus anderen Kulturkreisen, wie z.B. bei Flüchtlingen und Folteropfern, spielt das stabile soziale Umfeld eine besondere Rolle zur Stabilisierung (vgl.
Kap. 7.2.1). Dabei tragen Integration und Akzeptanz in der Gastgesellschaft - die auch
als wichtige Ziele für die Community Music Therapy genannt werden - zur sozialen
Stabilisierung bei. Neben der individuellen Behandlung kann Musiktherapie hierbei
29
Für den Begriff ÿCommunityþ fällt es schwer eine deutsche Entsprechung zu finden, da er in der englischen Sprache Unterschiedliches bedeuten kann. Das deutsche Wort Gemeinde trifft nicht den ganzen
Begriffsumfang. Aufgrund dessen wird in der deutschen Terminologie der Begriff Community Music
Therapy übernommen.
30
Zur Entstehung und Beschreibung des Modells vgl. Pavlicevic & Ansdell (2004):
ÿCommunity music therapyþ; vgl. auch Ansdell (2002)
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
90
genutzt werden, um die Brücken zwischen Flüchtlingen und Gastgesellschaften zu bauen. Musik bietet dafür ein wertvolles Medium zur Verständigung zwischen den Kulturen und um zu Akzeptanz und Integration beizutragen (Orth, 1998, 2001, 2005; Zharinova-Sanderson, 2004).
Zharinova-Sanderson (2004) hat daher ihre therapeutische Arbeit am Berliner Zentrum für Folteropfer im Hinblick auf den Community-Music-Therapy-Aspekt beschrieben (vgl. Zharinova-Sanderson, 2004). Eine Form der Verbindungs- und Integrationsmöglichkeiten stellen in der Community Music Therapy Performances dar. Durch ein
solches gemeinsames musikalisches Projekt können die Zugehörigkeitsgefühle und das
Selbstwertgefühl wiederaufgebaut werden. Zudem wird die ganze Person und nicht der
ÿtraumatisierte Flüchtlingþ (als die Opferrolle) wahrgenommen. Aufführungen bzw.
Performances können aber auch auf einzelne Personen Druck ausüben und die Anspannung erhöhen. Man sollte sich nach Ansicht von Zharinova-Sanderson (2004) dessen
bewusst sein und individuell zusammen mit den Betroffenen entscheiden, ob das Mitmachen sinnvoll und hilfreich ist (Zharinova-Sanderson, 2004).
Nach Zharinova-Sanderson (2004) sollten die Therapeutinnen, die nach einem
Community-Music-Therapy-Konzept arbeiten, daher für verschiedene therapeutische
Gelegenheiten, die Musik bieten kann, offen sein, auch wenn es bedeutet, dass man z.B.
im Rahmen der Performancevorbereitung die Sicherheit des gewöhnlichen therapeutischen Raumes und Konzepts verlässt. Das gemeinsame Musikmachen gehört besonders
in nicht-westlichen Kulturen zur kulturellen Identität und dient der Begegnung und dem
Teilen mit anderen Menschen. Die Einzeltherapie wird zunächst als grundlegende Voraussetzung gesehen, um eine sichere und vertrauensvolle Basis zu schaffen. Darüber
hinaus müssen Räume und Setting der Art des Musikmachens der jeweiligen Kultur
angepasst werden, da sonst im unnatürlichen einzeltherapeutischen Rahmen wichtige
kulturell musikalische Ressourcen der Patientinnen verloren gehen könnten. In ihrer
Performance erfahren die Betroffenen eine Wertschätzung und ein Verständnis ihrer
Kultur, was wiederum das Selbstwertgefühl aufbaut (ebd.)
Eine wesentliche Frage der Community-Music-Therapy-Konzepte ist, ob die Musiktherapeutinnen, die auch die traumazentrierte Psychotherapie durchführen und den
Traumaverarbeitungsprozess begleiten, die Performanceaufgabe übernehmen sollen
oder nicht. Meiner Ansicht nach sollten die beiden Bereiche eher personell getrennt
sein, da sonst wie von Zharinova-Sanderson (2004) beschrieben, die Sicherheit und der
Schutz des therapeutischen Rahmens nicht mehr gewährleistet ist und es zu Rollenvermischungen auf der Seite der Therapeutin kommt. Auch die therapeutische Haltung
ändert sich dadurch und ist z.B. mit einer bestimmten Erwartungshaltung an eine gelungene Aufführung verbunden. Dies wird verstärkt, wenn die Musiktherapeutinnen mit
ihren Patientinnen z.B. in einer klinischen Einrichtung zu Repräsentationszwecken benutzt werden, wobei die Therapeutin für Feierlichkeiten oder wenn die Presse oder
Sponsoren zu Besuch kommen, eine Aufführung vorbereiten soll. Da die Profilierung
der Einrichtung im Vordergrund steht, kann der Schutzraum und die Autonomie der
Patientinnen verletzt werden.
Für die Übernahme der Leitung einer Performance durch die behandelnde
Musiktherapeutin spricht zwar das Argument eines ganzheitlichen Therapieansatzes, um
einen Menschen nicht aufs Trauma reduzieren und für eine direkte Alltagsintegration zu
sorgen. Aber gerade für die Alltagsintegration ist es m. E. bedeutsam, dass
Berufsgruppen, die mehr für eine solche Arbeit ausgebildet sind (z.B.
Musikpädagoginnen, Kulturpädagoginnen, Sozialpädagoginnen, etc.), diese Aufgabe
übernehmen.
Wenn es um Traumaintegration und Neuorientierung geht, kann eine Performance
am Ende der Therapie einen wichtigen und weiterführenden Schritt in den Alltag darstellen. Meiner Meinung nach kann unter bestimmten Bedingungen eventuell auch die
Therapeutin die Performance übernehmen, zumal viele Musiktherapeutinnen über entDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
91
sprechende zusätzliche berufliche Qualifikationen verfügen, wenn die traumazentrierte
psychotherapeutische Behandlung abgeschlossen ist und es zu einer Rollenveränderung
seitens der Therapeutin kommen kann oder wenn die gesamte Musiktherapie im Rahmen eines rein ressourcenorientierten therapeutischen Angebots stattfindet. Egal ob von
der Therapeutin oder einer anderen Berufsgruppe durchgeführt, bedarf es nach meiner
Auffassung einer klaren Definition von solchen Performances als Alltagsintegrationsprojekte mit eher pädagogischen bzw. sozialtherapeutischen Zielsetzungen, um den ungeschützten Umgang zu vermeiden.
REFUGIO München bietet bereits ein solches ganzheitliches Behandlungs- und Integrationskonzept an, bei dem die Behandlung und weiterführende Integrationsprojekte voneinander getrennt sind. Im Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und
Folteropfer erfolgt die traumazentrierte Behandlung (REFUGIO München, 1999; REFUGIO online). Darüber hinaus wurde ein eigenständiges Integrationsprojekt für
Flüchtlingskinder installiert - die REFUGIO Kunstwerkstatt für Flüchtlingskinder - das
die Aufgaben der Integration, Akzeptanz und Performances inne hat. Die REFUGIO
Kunstwerkstatt betreut Flüchtlingskinder vor Ort in ihren Unterkünften und bietet dort
verschiedene künstlerische Projekte an, wie z.B. verschiedene Musik- und Tanzgruppen, bildnerisches Gestalten, Theater, etc., die auch zur Aufführung gebracht werden.
Diese Projekte werden überwiegend von Pädagoginnen und Künstlerinnen durchgeführt
(REFUGIO Kunstwerkstatt online).
5.8.3
Einzel- oder Gruppentherapie
Insgesamt gibt es bisher wenig Aussagen zur Indikation für Einzel- oder Gruppentherapie bei der musiktherapeutischen Behandlung psychotraumatischer Störungen. In einer
großen stationären klinischen Institution wird es wahrscheinlich eher möglich sein die
beiden Möglichkeiten Einzel- und Gruppentherapien flexibel anzubieten und nach Indikationsstellung zu entscheiden, welche davon angebracht ist. In einer pädagogischen
Einrichtung dagegen besteht vielleicht das musiktherapeutische Angebot nur in Form
von Gruppentherapien. Außerdem entscheidet die Gruppenzusammensetzung, ýgröße
und ýkontinuität darüber, welche Themen in der Therapie Raum bekommen können.
Auch wenn bisher kaum explizit Aussagen zur Indikation in musiktherapeutischen Publikationen getroffen werden, so lässt sich daraus erkennen, dass eine Kombination von
beiden für eine erfolgreiche Therapie und eine flexible Handhabung in den einzelnen
Therapiephasen als wirkungsvoll angenommen werden (z.B. Frank-Bleckwedel, 2000;
Putzke, 2002; Sutton, 2002a).
Hierfür gilt es die Faktoren zu betrachten, wann eine Gruppentherapie förderlich sein
könnte und wann eher hinderlich. Wie in anderen traumazentrierten psychotherapeutischen Verfahren werden Gruppentherapien als ressourcenorientiertes Angebot in der
Stabilisierungsphase und nach der Traumaexposition zur Traumaintegration und zur
Neuorientierung empfohlen (Orth & Verburgt, 1998). Orth und Verburgt (1998) vertreten die Ansicht, dass Gruppenmusiktherapie die Sicherheit zur Traumabearbeitung nicht
gewährleistet (vgl. auch Schulberg, 1997). Schulberg (1997) beschreibt den Einsatz von
Guided Imagery and Music in Gruppen mit Erwachsenen, die als Kinder von Holocaustüberlebenden sekundär traumatisiert wurden. Die Gruppensitzungen sollen dabei
die Teilnehmerinnen für die eigene Geschichte sensibilisieren und zu Erinnerungen anstoßen, aber die Traumabearbeitung sollte im Rahmen einer Einzeltherapie erfolgen
(z.B. Orth & Verburgt, 1998). Für viele traumatisierte Patientinnen wirkt die Konfrontation mit Lautstärke und lebhafter Interaktion von anderen Gruppenmitgliedern zunächst
angstauslösend und führt zu emotionaler Überflutung und verstärkt das Vermeidungsverhalten bzw. retraumatisiert (Orth, 2005). Daher sollte Einzeltherapie am Anfang der
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
92
Behandlung stehen, um die Voraussetzungen für Ich-stärkende Aktivitäten und ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen zu schaffen (ebd.). Später kann ein Wechsel in eine
Gruppentherapie förderlich sein, um den Betroffenen eine soziale Anbindung und
Rückmeldung für ihr Verhalten zu ermöglichen (Lang & McInerney, 2002; Mitzlaff &
Strehlow, 2005b; Orth, 2001, 2005; Zharinova-Sanderson, 2004).
Musiktherapie in Gruppen fördert die soziale Interaktion, das Zusammengehörigkeitsgefühl und den sprachlichen Kontakt und stimuliert die Kommunikation (Orth,
2001, 2005; Zharinova-Sanderson, 2002, 2004). Die Teilnehmerinnen sind somit leichter aus der traumabedingten sozialen Isolation und Selbstbezogenheit zu führen. In der
Gruppe kann man konstruktive und positive Erfahrungen machen. Die Ich-stärkenden
Aktivitäten regen wiederum die Eigeninitiative an und zeigen, dass man sein eigenes
Leben beeinflussen kann (ebd.). Zudem kann man in der Gruppe verschiedene Rollenerfahrungen machen (z.B. führende Position) und flexiblere Handlungsweisen kennen
lernen (Pavlicevic, 2002).
5.8.4
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Da bei einer traumatischen Erfahrung die biologische, psychische und soziale Balance
gestört worden ist, sollte jede Therapie diese Balance wiederherstellen. Dafür bedarf es
der Beteiligung und Zusammenarbeit der einzelnen Disziplinen sowie der Kombination
von medizinisch-biologischen, psychologischen, psychotherapeutischen und sozialen
Interventionen (Orth & Verburgt, 1998; Orth, 2001; siehe auch Kap. 4.1).
Hinsichtlich der Teamarbeit bemerkt Pavlicevic (2002), dass es oft die Musiktherapie
ist, die im Team bei gefühlsmäßiger Übermannung der Mitarbeiterinnen auf die Ressourcen im Personal hinweist. Ähnliches stellen auch Lang und McInerney (2002) bei
ihrer Arbeit mit Kriegstraumatisierten fest. Mitzlaff (2005b) weist auf Schwierigkeiten
der Integration eines therapeutischen Angebots in ein pädagogisches Umfeld (z.B.
Schule) oder in Projekte hin. Dabei machte sie die Erfahrung, dass es bei der Frage der
Schweigepflicht und Gestaltung der Teamarbeit eindeutiger Regelungen und Absprachen unter allen Beteiligten bedarf. Da die Musiktherapie im Team häufig als Entlastungsangebot und nicht zur Traumabearbeitung wahrgenommen wird, betont Mitzlaff
(2005b) die Notwendigkeit, immer wieder Aufklärungsarbeit für die Musiktherapie zu
betreiben und zu vermitteln, was die Musiktherapie für diese Klientel zu bieten hat und
für wen sie geeignet ist. Dabei bezieht sie auch die Aufklärung des Teams über die Erkenntnisse aus der Psychotraumatologie mit ein (ebd.).
Besonders bei sexuellem Missbrauch und bei noch anhaltenden Traumatisierungen wie
Misshandlungen oder Vernachlässigung wird dem Helferinnensystem eine besondere
Rolle zuteil (Frank-Bleckwedel, 2000; Purdon & Ostertag, 1999), da sich einerseits Dissoziation und Spaltung auch auf das behandelnde Team übertragen, andererseits ist es
erforderlich bei Missbrauchsverdacht an einem Strang zu ziehen und gemeinsam das
weitere Vorgehen zu planen (Purdon & Ostertag, 1999). ÿWichtig ist dabei die richtige
Balance zwischen Offenheit (vor allem nach innen) und Wahrung der Intimsphäre der
Betroffenen (vor allem nach außen). Offenheit nach innen bedeutet, daß die Helferinnen
auf der Informationsebene möglichst sachlich kommunizieren. Wünschenswert ist es,
daß in einer Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens auch Unsicherheiten und negative Gefühle geäußert werden können: Das bildet im Helferinnensystem einen Gegenpol
zur Situation des Kindes, das von seinem Peiniger zur Geheimhaltung verpflichtet wirdþ
(Frank-Bleckwedel, 2000; S.39f).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
5 Die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen in der Musiktherapie
93
Wie bereits dargestellt soll in der Musiktherapie mit traumatisierten Menschen eine individuelle Diagnostik und Behandlungsplanung stattfinden, auf die im Einzelfall die
musiktherapeutischen Methoden abgestimmt und angewandt werden. Diese Methoden
hängen von der Entstehung und Art der Traumatisierung und der zu behandelnden
Symptomatik ab. Bei der Aufarbeitung der musiktherapeutischen Literatur zu diesem
Thema hat sich herausgestellt, dass bereits einige spezielle musiktherapeutische Methoden für die Arbeit mit traumatisierten Menschen entwickelt bzw. beschrieben wurden,
die in den jeweiligen therapeutischen Ansatz bzw. die jeweilige therapeutische Richtung
eingebettet sind. Die Methoden sind natürlich geprägt von der zugrundeliegenden psychotherapeutischen Richtung, wie z.B. tiefenpsychologisch orientiert. Wie bereits ausgeführt lässt sich bei den meisten ein zugrundeliegendes psychoanalytisches bzw. psychodynamisches Paradigma erkennen. Zudem fließen meist entwicklungspsychologische Konzepte mit ein. Im Folgenden sollen die genannten Methoden beschrieben und
systematisiert werden. Ähnlich wie in Kapitel 4 werden die Methoden häufiger allgemein auf die Behandlung traumatisierter Menschen oder auf traumatische Symptome
bezogen beschrieben als auf einzelne Störungsbilder, also auf die allgemeine Psychotraumatologie.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
6
94
Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
Orth (2005) und Austin (2002) weisen darauf hin, dass die meisten der musiktherapeutischen Methoden, die bisher beschrieben wurden, vorwiegend aus der Behandlung traumatisierter Kriegsveteranen und Kriegsopfer sowie der Opfer von Misshandlung oder
sexuellem Missbrauch hervorgehen. Die Methoden werden in den unterschiedlichen
Phasen der traumazentrierten Musikpsychotherapie eingesetzt und machen auch eine
Traumaexposition möglich.
Die musiktherapeutische Methode wird hier in Anlehnung an Plahl und KochTemming (2005) verstanden als eine bestimmte Art des Handelns zur Behandlung und
zur diagnostischen Abklärung. Methoden, die in einzelne Handlungsschritte unterteilt
werden, die wiederum in einer festgelegten Reihenfolge erfolgen, sollen als Verfahren
bezeichnet werden. Grundsätzlich lassen sich nach dem Methodensystem der Musiktherapie von Schwabe (1996) die musiktherapeutischen Handlungsmodelle ausgehend vom
musikalischen Handlungsaspekt in die zwei Hauptgruppen Rezeptive und Aktive Musiktherapie unterteilen.
6.1
Rezeptive Musiktherapie
Nach Orth (2001) gewährleisten rezeptive musiktherapeutische Methoden in der Behandlung traumatisierter Menschen einen Weg, um Gefühle anzuregen und sie zu kontrollieren. Das Gemeinsame der in diesem Kapitel vorgestellten rezeptiven musiktherapeutischen Methoden31 und Verfahren scheint meiner Ansicht nach zu sein, dass sie mit
verschiedenen Bewusstseinsebenen arbeiten und diese zusammenbringen, was für die
Verarbeitung traumatischer Erfahrungen von zentraler Bedeutung ist. Folgende rezeptive Methoden werden beschrieben:
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
Einsatz von Musikaufnahmen zur Unterstützung von Sicherheit und Entspannung
Einsatz von Musikaufnahmen als Zugang zu traumarelevanten Themen
Malen nach Musik
Klangtrance
Einsatz von Musikaufnahmen zur Unterstützung von Sicherheit und Entspannung
Wenn man in der Therapie mit Symptomen wie Intrusion und Erregungszuständen konfrontiert ist, sollte der Fokus der Therapie auf der emotionalen Stressreduktion und der
Reduzierung des Erregungs- und Angstniveaus liegen sowie auf der Kanalisierung oder
Umleitung der aktuellen Emotionen durch den Einsatz von hilfreichen Ventilen (wie
z.B. Entspannung oder Ablenkung). Hierzu wird das Hören von entspannungsfördernden Musikaufnahmen und die Anleitung zur Entspannung als hilfreich beschrieben
(Austin, 2002; Orth, 2005; Punkanen, 2004). Man kann sich beispielsweise von den
Klientinnen Lieblingsmusik mitbringen lassen und diese zur Entspannung und Beruhigung anhören (Austin, 2002; Orth, 2005). Diese Musik kann auch nach Maack (2004)
als Übergangsobjekt fungieren, wenn sich die Patientin sehr abhängig von der Therapeutin fühlt und sie Mühe hat, sich ohne Hilfe der Therapeutin zu beruhigen.
Gemeinsam mit der Therapeutin kann zudem eine Musik zusammengestellt, ausgesucht oder improvisiert werden, die den Patientinnen sowohl in der Therapie als auch
im Alltag, den imaginativen inneren sicheren Ort ergänzen kann. Die Musik kann auch
31
Die vorgestellten rezeptiven Methoden und Verfahren beziehen sich hauptsächlich auf die Autorinnen,
die diese Methoden vorstellen, daher werden auch nur deren Quellen bei der Beschreibung zitiert.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
95
allein als innerer sicherer Ort dienen (vgl. z.B. Maack, 2004; Orth, 2001, 2005; Punkanen, 2004). Orth (2001) beschreibt, dass Flüchtlinge bei ihrer Flucht oft eine ihrer Kassetten oder CDs retten konnten. Diese Musik ist ihnen häufig sehr wertvoll und bietet
daher einen guten Start, um über Hintergründe und Erfahrungen der Flüchtlinge zu
sprechen, des weiteren stellt sie eine hilfreiche Zufluchtsmöglichkeit dar (ebd.).
Einsatz von Musikaufnahmen als Zugang zu traumarelevanten Themen
Musikaufnahmen der Klientinnen können in einer traumzentrierten Therapie dazu genutzt werden, um Zugang zu bedeutsamen, traumarelevanten Themen zu bekommen. In
der Arbeit mit Jugendlichen erhält man beispielsweise laut Mitzlaff und Strehlow
(2005b) durch die von den Jugendlichen mitgebrachte Musik Zugang zu wichtigen
Themen wie Gewalt, Aggression, Brutalität, Angst. Mit Einsatz von Musikaufnahmen
als Zugang zu bedeutsamen Themen ist aber nicht gemeint, Musik einzusetzen, die bei
einer Traumatisierung erklungen ist, da sie zu einer Verschlimmerung der Symptomatik
und Retraumatisierung führen würde (Maack, 2004).
Gerade beim Einsatz rezeptiver musiktherapeutischer Verfahren lassen psychoanalytisch orientierte Therapeutinnen oft zur Musik oder danach die Klientinnen ihre auftauchenden Bilder, Assoziationen und Gefühle beschreiben. Ahonen-Eerikäinen (2004)
beschreibt die so entstanden imaginativen Bilder (sog. musically elicited images) als
einzigartige Quelle klinischer Daten und als Zusammenfassung der Ideen und Gefühle
der Klientinnen. Diese Bilder können im Kurzzeitgedächtnis existierende Repräsentationen darstellen. Die Klientin kann dazu assoziieren und Aussagen machen. Ähnlich wie
Träume beinhalten diese zur Musik entstehenden imaginativen Bilder auditive, kinästhetische und visuelle Elemente. Die Bilder kann man als manifestes Bild bezeichnen, hinter dem sich eine kompliziertere Substruktur von Gedanken, die ihren Ursprung
im latenten Bild haben, verbirgt. Nach dem Musikhören (oder gemeinsamen Improvisieren) übersetzen die Therapeutin und die Klientin während des Gesprächs und durch
freie Assoziation den Primärprozess und das durch die Musik provozierte manifeste
Bild in sekundärprozesshafte latente Gedanken und integrieren es in das Leben der
Klientin. Hierfür kann nach Ahonen-Eerikäinen (2004) eine große Auswahl an Musik
zum Anhören benutzt werden.
Malen nach Musik
Malen zur oder im Anschluss an das Musikhören wird von einigen Therapeutinnen zur
Ergänzung der Therapie eingesetzt und es werden hierzu keine speziellen Methoden
beschrieben (Ahonen-Eerikäinen, 2004, Marnach, 2002; Ostertag, 2002). Malen zur
Musik kann vielmehr der Ergänzung des klinischen Datenmaterials dienen (AhonenEerikäinen, 2004) oder der Verarbeitung der auftauchenden Erfahrungen (Schulberg,
1997). Die durch die Musik auftauchenden Bilder und Assoziationen können durch Malen verbildlicht werden und als manifester Bestandteil dienen, um dann durch gemeinsame Interpretation dieser Bilder die latenten Themen zu finden (Ahonen-Eerikäinen,
2004).
Schulberg (1997) beschreibt die Möglichkeit in der Gruppenmusiktherapie mit sekundär traumatisierten Kindern von Holocaustüberlebenden nach der Guided Imagery
and Music-Methode (siehe nächstes Kapitel), die auftauchenden Erfahrungen durch
Malen von Mandalas zu verarbeiten. Dadurch wird die musikalische Erfahrung intensiviert und zum Abschluss gebracht und zudem eine weitere Verbindung zwischen innerer und äußerer Realität hergestellt. Auch andere Methoden kreativer Aufarbeitung als
dauerhafter Ausdruck wie z.B. Arbeiten mit Ton oder anderen Materialien, Collagen,
Tagebuch schreiben oder andere visuelle oder literarische Kunstformen können hierfür
eingesetzt werden und sind hilfreich für den Prozess. Schulberg (1997) vertritt die Ansicht, dass man mit Hilfe dieser Formen des Ausdrucks mit mehr Gefühlen, BewusstDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
96
sein und Einblicken in Berührung kommt, als wenn man nur über die Erfahrungen und
Themen reden würde.
Klangtrance
Rittner und Hess (1996) definieren Klangtrance als eine Sonderform der rezeptiven Musiktherapie, bei der durch Musik gezielt Trancezustände induziert und therapeutisch
aufgearbeitet werden. Bei Klangtrance handelt es sich um eine Methode, die innerhalb
verschiedener therapeutischer Kontexte angewandt werden kann und die eingebettet in
eine tragfähige Therapeutin-Patientin-Beziehung stattfindet. Rittner und Hess (1996)
vertreten die Ansicht, dass sich Klangtrance besonders für Patientinnen mit sogenannten
frühen Störungen wie Psychosen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen,
Suchtstörungen, aber auch bei der Verarbeitung von psychischen Traumata durch
Unfälle, Katastrophen, Folterung oder sexuellen Missbrauch eignet.
Die Autorinnen unterscheiden zwei Verfahren: Zum einen die traditionelle Methode,
d.h. die Trance wird mit Hilfe bestimmter von der Therapeutin gespielter Instrumente
induziert und gesteuert. Hierbei handelt es sich um archaische Instrumente wie Monochord, Tampura, Didgeridoo, Obertonflöte, Schwirrholz, Schamanentrommel, Gongtrommel, Klangschalen oder Gongs, die in meditativer Technik von der Therapeutin
gespielt werden. Die Spieltechnik und der Einsatz zu therapeutischen Zwecken setzt
eine langjährige meditative Spielpraxis voraus. Die Trancearbeit kann auch durch den
Einsatz der menschlichen Stimme und Atmung erfolgen. Das zweite Verfahren beinhaltet die Klangwiedergabe durch Tonträger.
Es wird zwar beschrieben, dass Klangtrance bei der Behandlung traumatisierter
Menschen besonders geeignet sein soll, aber nicht welche Rolle sie für die Behandlung
traumatisierter Menschen spielt. Zudem ist meines Erachtens ein kontrollierter und dosierter Umgang mit dem traumatischen Material bei diesem Vorgehen nicht möglich
und die Gefahr der Retraumatisierung sehr hoch.
Neben den eben genannten Methoden werden noch folgende rezeptive Verfahren beschrieben: Guided Imagery and Music und Physioacoustic Method. Der Einsatz von
Guided Imagery and Music [GIM] als rezeptives musiktherapeutisches Verfahren zur
Traumatherapie kann bereits auf zahlreiche Erfahrungen mit unterschiedlichen traumatisierten Gruppen zurückblicken, beispielsweise auf die Behandlung von Holocaustüberlebenden, von Vietnamveteranen und Kriegstraumatisierten (Blake, 1994; Orth, 2005;
Schulberg, 1997). Im folgenden Kapitel soll auf die Besonderheiten für den traumazentrierten therapeutischen Einsatz dieses Verfahrens eingegangen werden. Für eine
ausführliche Darstellung der GIM-Methode siehe beispielsweise Frohne-Hagemann
(2004).
6.1.1
Guided Imagery and Music (GIM)
Gemäß Orth (2005) wird GIM oft verwendet um schwere posttraumatische Störungen
zu behandeln. Durch Imagination wird die Klientin befähigt ihre Angst und das traumatische Erlebnis der Vergangenheit zu identifizieren. GIM zielt nicht darauf ab Symptome zu behandeln oder zu heilen, sondern die Klientin erhält eine Möglichkeit die Aufmerksamkeit und den Fokus auf innere Prozesse zu richten und Probleme zu identifizieren und die Gefühle wiederzubeleben (Maack, 2004; Orth, 2005; Schulberg, 1997).
Laut Schulberg (1997) handelt es sich um einen musikzentrierten Übertragungsprozess, der einem Einzelnen oder einer Gruppe erlaubt, sich um überwältigende Erfahrungen zu kümmern, die in einem sicheren Rahmen von der Musik zur Verfügung gestellt
werden. GIM beinhaltet bewusstes Zuhören zu speziell ausgewählter (meist klassisch
westlicher) Musik in einem sehr entspannten, traumähnlichen Zustand. Die KombinatiDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
97
on von Entspannung und Musik kann Imaginationen (Gefühle, Gedanken, Tagträume,
Bilder, Erinnerungen, körperliche Empfindungen, sensorische Bilder und Reaktionen,
etc.) ins Bewusstsein rufen, die die Grundlage dieser Therapieform bilden (Maack,
2004; Schulberg, 1997). In der Behandlung von traumatisierten Menschen wird GIM als
einzeltherapeutisches (z.B. Maack, 2004)32 und als gruppentherapeutisches Verfahren
(z.B. Schulberg, 1997) angewandt. Laut Maack (2004) erlauben es die musikalischen
Parameter wie Dynamik, Rhythmus, Tonhöhe und Tempo Zugang zu und Austausch
zwischen den verschiedenen Ebenen des Bewusstseins zu bekommen und zu interagieren (Maack, 2004). Musik fungiert dabei außerdem als Container, der stark genug ist die
Erfahrungen, die sie evoziert zu halten (Schulberg, 1997). Gemäß Maack (2004) besteht
eine GIM-Sitzung aus vier Teilen:
1.
2.
3.
4.
Vorgespräch
Entspannungsphase: Entspannungsübung, 1-3 Minuten, ohne Musik
Musikhörphase: Musikhören ca. 30-50 Minuten
Nachgespräch
Maack (2004) hat GIM zu einem Verfahren für die traumazentrierte Psychotherapie
für Patientinnen mit Persönlichkeitsstörungen, denen frühkindliche chronische Traumatisierungen zugrunde liegen adaptiert, das sie mit der PITT nach Reddemann kombiniert. Dieses Verfahren soll im Folgenden zusammengefasst dargestellt werden (vgl.
hierzu Maack, 2004):
GIM eignet sich laut Maack (2004) sowohl für ressourcenorientierte Arbeit als auch
zur Traumabearbeitung. Maack (2004) weist darauf hin, dass eine aufdeckende Arbeit
nach dem Phasenmodell meist nur bei Patientinnen mit mehr Ich-Stärke und in späteren
Phasen der Therapie möglich sein kann. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass für viele
Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung eine aufdeckende Therapie vielleicht nie
möglich sein wird, sondern dass es bei einer Stabilisierung bleibt. Für die Therapie
traumatisierter Patientinnen unterscheidet Maack (2004) zwischen drei Patientinnengruppen, wobei sich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe im Laufe der Therapie durchaus
ändern kann:
1. Patientinnen mit wenig Komorbidität und viel Ich-Stärke
Aufdeckendes Arbeiten und Traumaexposition ist nach kurzer Zeit möglich.
2. Patientinnen mit beachtlicher Komorbidität, weniger Ich-Stärke und stärkerer
anhaltender Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung
Die Patientinnen sind im Vergleich zur ersten Gruppe instabiler und brauchen
daher in der Therapie mehr Stabilität und die Therapie dauert länger. Der Fokus
liegt mehr auf Bewältigungsstrategien und das Arbeiten im Hier und Jetzt. Zudem findet ein Wechsel zwischen aufdeckender und unterstützender Arbeit statt.
3. Patientinnen mit sehr starker und/oder chronischer PTBS-Symptomatik, starker
Ich-Schwäche und/oder starker Komorbidität
Bei dieser Patientinnengruppe bleibt die Therapie meist auf ressourcenorientierte
Arbeit und Hilfe im Alltagsleben begrenzt.
Die Entscheidung für den Fokus der Therapie hängt also von der Ich-Stärke der Patientinnen ab. Maack (2004) begründet dies damit, dass Menschen mit wenig Ich- Stärke
häufig Schwierigkeiten haben, Abwehrmanöver33 zu entwickeln, was zu Verschlechte32
Maack verwendet in ihrer 2004 veröffentlichten Abhandlung unter dem Titel ÿRezeptive Musiktherapie
als Psychotherapie für Menschen mit Persönlichkeitsstörungenþ manchmal den Begriff der Klientin und
manchmal den der Patientin, beide werden in der vorliegenden Arbeit analog übernommen.
33
Abwehrmanöver entwickeln sich während der GIM-Sitzung aus emotionalen Reaktionen auf die Musik. Sie zielen darauf ab, eine Ich-Fragmentierung zu verhindern und dienen dazu, tiefgehende Emotionen
und stressauslösende und bedrohliche Situationen zu halten und auszuhalten (Maack, 2004).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
98
rungen und zu Retraumatisierungen der Patientinnen führen kann. Um diesem entgegenzuwirken empfiehlt sie eine Veränderung der GIM-Sitzung in folgenden Punkten:
ÿ
Sitzungsfrequenz
Je weniger Ich-Stärke vorhanden ist, desto mehr Zeit sollte für Gespräche vorgesehen werden, in denen das aktive Material, das in den GIM-Sitzungen zutage
gekommen ist, integriert wird. Daher sollte durch das Angebot von wenigen
GIM-Sitzungen und die Anbindung an eine Gesprächspsychotherapie oder an
eine andere künstlerische Therapie (inklusive aktive Musiktherapie) die GIMSitzungsfrequenz reduziert werden. Durch aktive Musiktherapie oder andere
künstlerische Therapien können beispielsweise die bedrohlichen Emotionen ausgedrückt werden.
ÿ
Musik
Reduktion des musikalischen Angebots einer Sitzung: Durch den Einsatz von
weniger Musikstücken kommt weniger Material an die Oberfläche.
Musikauswahl: Auswahl von Musik, die keine starken Veränderungen (z.B.
starkes Anschwellen oder Abschwellen der Lautstärke, plötzlicher Wechsel der
Instrumentation oder der Tonart, unklare Rhythmen usw.) aufweist und viel
Struktur bietet.
ÿ
therapeutische Begleitung
Direktiveres Vorgehen während der Musikphase als in herkömmlichen GIMSitzungen. Dadurch können Abwehrmanöver entwickelt werden oder Flashbacks
unterbrochen werden (z.B. durch Unterbrechung der Musik bei Flashbacks).
Als ressourcenorientierte Methode dient GIM der Ich-Stärkung sowie der Stärkung
von Abwehrmanövern und unterstützt die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. In
einer späteren Traumabearbeitungsphase können diese Ressourcen außerdem als Sicherheit dienen. Um die Möglichkeit der Kontrollierbarkeit für die Patientinnen möglichst groß zu halten, wird bei komplexen posttraumatischen Syndromen eine bestimmte
Ressource in Absprache zwischen Patientin und Therapeutin zum Thema der Sitzung
gemacht. Für mögliche Themen bezieht sich Maack (2004) auf imaginative Techniken
von Reddemann (2001) aus deren Buch ÿImagination als heilsame Kraftþ (z.B. Schaffen
eines inneren sicheren Ortes, Kontaktaufnahme zu inneren Helferinnen). Die Musikphase kann außerdem jeder Zeit unterbrochen werden. Maack (2004) hat die Erfahrung
gemacht, dass durch den Einsatz von Musik der innere sichere Ort den Patientinnen
lebendiger und klarer wird, und dass sie emotional mehr beteiligt sind, als wenn sie sich
ihren sicheren Ort ohne Musik visualisieren würden. Bei schwer traumatisierten Menschen kommt möglicherweise nur diese Musik über einen langen Zeitraum zum Einsatz
auch im Alltag, damit sie sich selber beruhigen. Je mehr Ich-Stärke vorhanden ist, umso
eher können laut Maack (2004) die traditionellen GIM-Musikprogramme genutzt werden.
Maack (2004) beschreibt, dass mit nicht traumatisierten Patientinnen sehr intensiv
am Übertragungsgeschehen zur Therapeutin gearbeitet wird und Regression in der
Beziehung zur Therapeutin dabei üblich ist. Wie Reddemann (2001, 2004) vertritt sie
aber die Auffassung, dass Regression in der Beziehung zur Therapeutin bei
traumatisierten Patientinnen nicht gefördert werden sollte. Auch die bei GIM sonst
üblichen Übertragungsverzerrungen werden sofort benannt und abgebaut. Es bestünde
ansonsten eine Gefahr von Täter-Opfer-Verstrickungen, Revictimisierung oder
Idealisierung der Therapeutin.
Für den Einsatz von GIM als traumazentrierte Therapie nach dem Phasenmodell hat
Maack (2004) für die genannte Patientinnengruppe das folgende Modell adaptiert. Nach
der Herstellung des Arbeitsbündnisses gestaltet sich der Ablauf folgendermaßen, wobei
die Stabilisierung nach jeder Traumakonfrontation wiederholt wird:
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
99
ÿ
Stabilisierungsphase
Distanzierungstechniken aus anderen traumatherapeutischen Verfahren werden hinzugenommen und geübt z.B. aus PITT nach Reddemann (2001). Bevor sie mit belastendem Material ausprobiert werden, werden diese Techniken erst mit nicht belastendem Material geübt und ohne Musik.
Einbeziehung des Körpers mit Körperübungen z.B. Qi Gong.
ÿ
Traumakonfrontationsphase
Ein traumatisches Ereignis als Thema wird im Rahmen eines strukturierten
Settings gezielt ausgewählt, beschrieben und betrachtet (Einsatz von Distanzierungstechniken mit der Möglichkeit die Konfrontation zu stoppen). Hierbei wird Musik eingesetzt , die in der Regel weder extrem sicher und beruhigend, noch besonders aufrüttelnd ist. Maack (2004) empfiehlt an dieser
Stelle Stücke aus zwei speziellen GIM-Programmen. Außerdem hängt die
Musikauswahl von der einzelnen Patientin ab. Das Besondere an der Musik
in dieser Phase ist, dass sie bei der Traumakonfrontation unterstützend und
evozierend wirken soll. Zudem soll sie nach Maack (2004) auch distanzierend wirken, weil sie dadurch ein Element in die traumatischen Imaginationen hineinbringt, das beim ursprünglichen Trauma nicht anwesend war, und
das die Patientin daran erinnern kann, dass das Trauma nicht jetzt passiert.34
ÿ
Trauern und Neuorientierung
Maack (2004) weist darauf hin, dass sich diese Phase wenig von allgemeiner
traditioneller Psychotherapie unterscheidet und dass bei ausreichender IchStärke GIM auf herkömmliche Art genutzt wird. An die Traumakonfrontation kann sich eine Arbeit mit dem inneren Kind oder Täterintrojekten anschließen.
Laut Maack (2004) ist die Voraussetzung für die traumazentrierte Therapie mit GIM,
dass man die Fähigkeit zu symbolischem Denken hat und zwischen symbolischem Denken und äußerer Realität unterscheiden kann.
Das in diesem Kapitel beschriebene therapeutische Vorgehen ist laut Maack (2004)
kontraindiziert bei traumatisierten Menschen, bei denen bereits zu Beginn der Therapie
eine leichte Entspannung Flashbacks auslöst. Weiterhin ist GIM kontraindiziert bei Alkohol- oder Drogenabhängigkeit vor oder während des Entzugs. Nach dem Entzug kann
GIM angewandt werden. Musik, die während der traumatischen Erfahrung gespielt
wurde ist zu vermeiden (vgl. Maack, 2004).
Aus kulturellen Gründen ist nach Ansicht von Orth (2005) der Einsatz von GIM bei
der Arbeit mit Flüchtlings- und Folteropfern nicht immer praktikabel, da es sich schwierig gestaltet die passende Musik für den emotionalen Zustand und die Bedürfnisse der
Klientinnen zu finden, da der Einsatz von klassischer Musik von der Sozialisation abhängt. Menschen aus einem anderen Kulturkreis haben aufgrund ihrer anderen Sozialisation ein anderes Verständnis für Funktionen von Musik (vgl. hierzu Kap. 5.8.1 und
7.2.1).
34
Ziele der Traumakonfrontation mit GIM sind laut Maack (2004): Übertragung traumatischer Imaginationen in symbolische Imaginationen; Die traumatischen Erfahrungen können eingeordnet werden, Affekte zugeordnet und (durch gleichzeitiges Sehen, Fühlen, Spüren und Erzählen der Erfahrungen) integriert
werden, was zur Auflösung von Intrusionen führen kann;
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
100
6.1.2
Physioacoustic Method
Bei dem im Folgenden dargestellten musiktherapeutischen Verfahren in der Drogenrehabilitation nach Punkanen (2004) handelt es sich um ein Verfahren, bei dem traumazentrierte psychotherapeutische Techniken mit dem Hören von Musik kombiniert eingesetzt werden. Zudem soll die körperliche Ebene wegen des Körpergedächtnisses der
traumatischen Erinnerungen einbezogen werden und daher wird neben dem Musikhören
auch ein Klangtherapiestuhl oder eine Klangtherapiematratze (Physioacoustic Method)
eingesetzt, die den Körper mit Klangwellen niedriger Frequenz stimulieren. Ziel dieses
Verfahrens ist es den drogensüchtigen Menschen einen sicheren Zugang zu den traumatischen Körpererinnerungen zu ermöglichen, die Bearbeitung des traumatischen Materials sicherer zu machen und die traumatische Erfahrung ins explizite Gedächtnis zu integrieren.
Punkanen (2004) geht bei seiner klinisch musiktherapeutischen Arbeit in der Drogenrehabilitation von Menschen mit langjähriger Drogenerfahrung davon aus, dass sie
oft traumatische Erfahrungen in ihrer Vergangenheit hatten, wie z.B. Vernachlässigung,
körperliche und sexuelle Gewalterfahrungen, Bindungsstörungen, schlechte Trips, etc..
Drogen werden dabei als Weg mit dem Trauma umzugehen verstanden. Den Auswirkungen der traumatischen Erfahrungen legt Punkanen (2004) das Konzept der traumatischen Körpererinnerungen (body memories) von van der Kolk zugrunde (vgl. Kap.
2.4.2), nämlich, dass die traumatischen Erfahrungen auch im Körper verankert sind und
mit verschiedenen sensorischen Stimuli angeregt werden können.
Die eingesetzte rezeptive musiktherapeutische Behandlungsmethode setzt sich aus
drei verschiedenen Elementen zusammen: einem Klangtherapiestuhl kombiniert mit
Musikhören und begleitet durch die Therapeutin und einem anschließend folgenden
therapeutischen Gespräch. Die Kombination der Physioacoustic Method und das gleichzeitige Hören von Musik bietet nach Punkanen (2004) den Klientinnen eine holistische
Erfahrung, die sowohl körperliche Gefühle als auch mental Gefühle, Gedanken, Bilder
und Erinnerungen weckt und stimuliert. Die auftauchenden Bilder, Gerüche, Klänge
und Körpergefühle sind begleitet von unregulierten diffusen Affekten und unzusammenhängenden Erfahrungen. Damit die Klientin nicht von ihren Gefühlen übermannt
wird, muss die Therapeutin ihr helfen diese zu kontrollieren. Dazu setzt Punkanen
(2004) verschiedene imaginative Techniken aus anderen traumazentrierten Psychotherapieverfahren ein:
ÿ
Ankertechnik aus dem NLP
Als Anker wird eine beobachtbare Ressource aus dem Leben der Klientin (z.B.
positive Erinnerungen, Personen, Orte, Objekte, Aktivitäten, auch Musik gewählt). Ein guter Anker (z.B. ein Lied oder Musikstück) ist einer, der der Klientin sowohl körperlich als auch emotional ein Gefühl gibt von Sicherheit, Unterstützung und Wohlbefinden,. Diese Musik wird von der Klientin zusammen mit
der Therapeutin angehört. Dabei führt die Therapeutin verbal die durch die Musik auftauchenden positiven Gefühle, Gedanken und Bilder.
Wenn in der Traumabearbeitungsphase die Anspannung und Erregtheit in der
Therapie zu hoch werden, kann die Therapeutin die Bearbeitung unterbrechen
und diese Ankermusik einsetzen, mit deren Hilfe die Klientin sich wieder beruhigen und stabilisieren kann.
ÿ
Innerer sicherer Ort
Zum imaginativen inneren sicheren Ort suchen die Therapeutin und Klientin
gemeinsam eine passende Musik. Zudem wird dabei die Physioacoustic Method
mit langsamen tiefen Frequenzen von 30-40 Hz eingesetzt, um der Klientin zu
helfen an ihrem sicheren Ort ruhiger zu werden und zu entspannen.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
101
ÿ
Körperwahrnehmungsübungen
Mit Hilfe von Körperwahrnehmungsübungen soll das eigene Körpergefühl der
Klientin und die eigen Körperwahrnehmung gefördert werden.
Aus der Beschreibung des Verfahrens von Punkanen (2004) lässt sich nicht erkennen,
ob er seine Klientinnen damit während oder nach dem Drogenentzug behandelt. Auch
geht nicht hervor, zu welcher Zeit mit der Traumabearbeitung begonnen wird und wie
diese sich inhaltlich gestaltet. Meiner Ansicht nach sollte bei der Methode überprüft
werden, ob man ohne den Klangtherapiestuhl zum gleichen Ergebnis kommt.
6.2
Aktive Musiktherapie
Aktive Musiktherapie bietet traumatisierten Menschen Möglichkeiten und Wege, Gefühle auszudrücken und dysfunktionale Kognitionen zu verändern (Orth, 2001).
6.2.1
Musikalische Improvisation
Musikalische Improvisation kann im Traumaverarbeitungsprozess nach dem Phasenmodell viele verschiedene Funktionen einnehmen:
Gerade in der Anfangsphase einer Therapie kann die Improvisation zur diagnostischen Abklärung dienen. Sie ermöglicht der Therapeutin Aussagen über die Person,
Lebendigkeit, Compliance, Flexibilität, Ressourcen, Bewältigungsmechanismen etc. zu
erhalten (Austin, 2002; Montello, 1999; Orth & Verburgt, 1998).
In Phasen der Stabilisierung unterstützt die musikalische Improvisation die Patientinnen, sich zu entspannen und sich ablenken zu können und sie unterstützt die IchStärkung und musikalische Form des Ausdrucks (Orth & Verburgt, 1998). Hierbei muss
man sich der Möglichkeit der Musik zur kathartischen Entladung bewusst sein.
Während der Traumabearbeitung können musikalische Improvisationen verborgenes
und unbewusstes Material hervorbringen, der Patientin bewusst werden und bearbeitet
werden (Amir, 2004; Ostertag, 1999; Sutton, 2002a). Die Form der Bearbeitung des
traumatischen Materials in der Musiktherapie hängt von der jeweils zugrundeliegenden
therapeutischen Richtung ab. Die eingesetzten Improvisationstechniken werden entsprechend adaptiert, was anhand der Vorgehensweise von Amir (2004) einer Vertreterin
eines psychoanalytisch orientierten Ansatzes veranschaulicht werden soll:
Durch den Einsatz bestimmter improvisatorischer Techniken ermutigt die Therapeutin die Klientin in unbewusste Regionen zu gehen und diese zu erkunden (z.B. durch
assoziative Improvisationen). Die hierfür eingesetzten psychoanalytischen musikalischen Techniken sind nach Amir (2004) Improvisieren zu einem bestimmten Titel/Thema, das Lesen eines Buchs während der Improvisation (womit der Fokus auf das
Lesen und nicht auf die Improvisation gelenkt wird), kurze projektive Improvisationen
und musikalische Lebensgeschichten (ÿMy Life Storyþ). Die Improvisation weckt Bilder des Traumas und exposiert sie. Das in der Improvisation Auftauchende kann anschließend verbal aufgearbeitet werden. Durch das Erzählen des Traumas und durch das
Fühlen des damit verbundenen Schmerzes sowie die Erfahrung das Trauma verbal und
musikalisch durcharbeiten zu können übertragen sich die traumatischen Erinnerungen
langsam in gesündere Erinnerungen. Später nimmt die Improvisation die Rolle der
Traumaverarbeitung ein und heilt die traumatische Wunde (vgl. Amir, 2004).
Wie bereits beschrieben begibt man sich laut Metzner (1999) bei musikalischen Improvisationen wegen der Retraumatisierungsgefahr auf eine Gratwanderung (Kap. 5.2):
Grundsätzlich erlauben musikalische Improvisationen kathartische Erfahrungen bei
starken schmerzhaften Gefühlen, aber bei dieser Form der kathartischen Entladung
würde bei traumatisierten Menschen die Gefahr des Verlusts der Selbstkontrolle bestehen (Orth, 2001). Zudem werden laut Mitzlaff und Strehlow (2005b) gleichzeitige ImDiplomarbeit von Regina Weiß:
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6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
102
provisationen bei der Arbeit mit traumatisierten Menschen oft als bedrohlich empfunden. Es bedarf daher wie in Kapitel 5.2 dargestellt einer sorgfältigen Handhabung und
eines dosierten Umgangs mit freier Improvisation.
Beispielsweise bietet musikalische Struktur hierfür einen sicheren Rahmen, in dem
die Klientin ausprobieren und sich selbst ausdrücken kann, z.B. dialogische Spielformen, bekannte Lieder oder eine einfache sich wiederholende musikalische Grundstruktur (Austin, 2002; Orth, 2001; Reimold 1999; Zharinova-Sanderson 2002). Instrumentalunterricht kann zudem als sichere Basis dienen und Vertrauen schaffen (Orth2001,
2005; Reimold, 1999).
Um das Retraumatisierungsrisiko in der freien Improvisation zur Stabilisierung von
PTBS-Patientinnen im Rahmen eines klinischen Gruppensettings einzudämmen, hat
Jüchter (2004) folgende Regeln für die Therapeutin formuliert:
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
Homogene Gruppe mit maximal 6 Patientinnen
Zeitliche Begrenzung des musikalischen Werkes (gefühlte 5 Min.)
Interventionstechniken: STOPP-Regel (z.B. Stopp bei Flashbacks); Erlaubnis hinaus zu gehen (möglichst wieder kommen, sonst auf Station melden)
Mit Patientinnen deutlich die Werksorientierung (ÿgemeinsames Werkþ) besprechen, keine dissoziative Entfernung vom Werk zulassen, bei dissoziativen Entfernungen sollte die Improvisation unterbrochen werden
Die Therapeutin soll sich in der musikalischen Beziehung zur Verfügung
stellen, musikalisch präsent sein, metrisch-tonal deutlich und musikalisch
fraimen und containen
Affektregulation: keine Sforzatos (Gong-Verbot o.ä.)
Affektregulation durch musikalische Intervention: Plötzliche, aus dem musikalischen Kontext nicht zu erwartende Spitzen erahnen und durch Gestaltung eines Übergangs abfangen
In der Nachbesprechung am Werk orientiert bleiben; keine Schilderungen
traumatischen Materials zulassen. (vgl. Jüchter, 2004, o. S.)
6.2.2
Improvisation und Gespräch
Je nach zugrundeliegendem musiktherapeutischen Ansatz, unterscheidet sich die Sichtweise und der Stellenwert bezüglich musikalischer Improvisationen mit Gespräch in der
Musiktherapie. Wie bereits dargestellt liegt den meisten für die Arbeit verwendeten
Publikationen ein psychodynamisches Verständnis zugrunde und dieses wird auf internationaler Ebene mit dem Music Child der Schöpferischen Musiktherapie nach Nordoff
und Robbins kombiniert. Bei psychodynamischen Ansätzen wird dem Gespräch eine
größere Bedeutung für den therapeutischen Prozess zugemessen als in der Schöpferischen Musiktherapie.
Nach Metzner (1999) als Vertreterin eines psychoanalytisch orientierten Therapieansatzes kommt gerade bei Inzesterfahrungen dem Wechsel von musikalischem Spielen
und Sprechen eine besondere Bedeutung zu, da sich das Sprechverbot als wesentlicher
Bestandteil von Inzesterfahrungen inszenieren kann, wenn über das in der musikalischen Interaktion Erlebte nicht gesprochen werden kann. Auch Strehlow (2005) weist
auf die besondere Bedeutung der verbalen Einordnung des in der Musik gemeinsam
Erlebten hin: Neben dem aktiven Musikmachen führen ÿWiederfinden oder Neuentwickeln von passenden Worten oder Bildern zur Beschreibung von Erlebten zu einer größeren Distanz von belastenden Situationenþ (Strehlow, 2005, S.15) und der Handlungsspielraum kann sich dadurch vergrößern. Wie in der psychoanalytischen Musiktherapie
üblich, wird auch auf die Therapie von traumatisierten Erwachsenen und Kindern das
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
103
Konzept der freien Assoziation von Freud auf die musikalische Improvisation und die
musiktherapeutische Beziehung übertragen (z.B. Ahonen-Eerikäinen, 2004; Austin,
2002; Metzner, 1999; Mitzlaff & Strehlow, 2005b; Montello, 1999).
Das Konzept der freien Assoziation
Bilder, die nicht dem Bewusstsein zugänglich sind, können in der Improvisation auftauchen und dienen als Material zur Traumarekonstruktion (Ahonen-Eerikäinen, 2004).
Solche Bilder können Ausdruck unterdrückter Konflikte sein und sind in der Übertragungsbeziehung wahrnehmbar. Diese Bilder repräsentieren eine direkte Botschaft aus
dem Unbewussten. Die Therapeutin hilft der Klientin oder einer Gruppe durch Interpretation, Deutung und Verstehen diesen Bildern einen Sinn zu geben (Ahonen-Eerikäinen,
2004). In der Therapie werden die Klientin oder die Gruppe angeregt, sich in die Welt
der Musik zu begeben und die Aspekte zu explorieren, die die Musik aus ihren unbewussten Gedanken hervorbringt. Wie Träume geben diese Bilder und ihre latenten Assoziationen Auskunft über die Klientin, ihre Gegenwart und Vergangenheit, Fantasie
und Realität, Lebenssituation sowie den Therapieprozess und Integrationsprozess. Der
Zugang zu schwer erreichbarem unbewussten Material ist besonders wichtig für die
Traumarekonstruktion von komplexen Traumatisierungen aus der präverbalen Zeit, die
hauptsächlich von sensorischen Erinnerungen geprägt sind. Ich- und Über-IchFunktionen werden deutlich und archaische Ich-Zustände und Traumata können
zugänglich werden (Ahonen-Eerikäinen, 2004).
Mitzlaff (2002; 2005a, 2005b) und Strehlow (2005) übertragen das Konzept der freien Assoziation auf die Musiktherapie mit traumatisierten Kindern. Die freie musikalische Improvisation und analog zur analytischen Kindertherapie das freie Spiel werden
hierbei anstelle der freien Assoziation eingesetzt. Man geht hierbei davon aus, dass
spielend mitgeteilt wird, was nicht in Worte gefasst werden kann. Die sich in der Therapie zeigenden und entstehenden musikalischen Interaktionen, Spielszenen, auch
Zeichnungen und verbalen Äußerungen, sollen nach dem Prinzip des szenischen Verstehens nach Lorenzer verstanden werden, wobei die Versprachlichung in Form von
Deutungen erfolgt (ebd.). Bezogen auf die therapeutische Arbeit mit traumatisierten
Kindern geht Mitzlaff (2002) davon aus, dass bei einer solchen Vorgehensweise im
Rahmen der Therapie gerade das Unverarbeitete und Noch-Nicht-Integrierbare einer
traumatischen Erfahrung sich zeigen kann und man das spontan auftauchende Material
aufgreift. Musikalische Improvisationen bieten eine Möglichkeit zur Reinszenierung
oder zum symbolischen Ausdruck dieser Erfahrungen. Die Therapeutin versucht im
Anschluss daran durch sprachliche Formulierung oder symbolische Form das Verstandene neu zur Verfügung zu stellen (Mitzlaff, 2005a). Die Benennung dieser Gefühle
kann nach Mitzlaff (2002) einen wichtigen Schritt zur Integration der abgespaltenen
Persönlichkeitsanteile darstellen, wobei nicht nur Sprache sondern auch Musik und szenisches Spiel diese resymbolisierende Funktion haben können.
Mitzlaff (2005b) beschreibt, dass sie von Außen manchmal mit Ungeduld und Zweifeln an diesem Verfahren konfrontiert wurde, wenn das traumatische Ereignis zu lange
ausgespart wurde. Jedoch machte sie die Erfahrung, dass die Kinder schon zu der für sie
passenden Zeit das Trauma einbringen. "Die musikalische Gestaltung ist ein erster
Schritt, bis das Geschehen schließlich auch in Worte gefasst werden kann. Häufig findet
sich als Zwischenschritt zwischen musikalischer Inszenierung und sprachlicher Benennung eine symbolische Darstellung im szenischen Spiel. In fast allen Therapien zeigte
sich eine Tendenz zu abnehmendem Musikanteil. Dies lässt sich damit begründen, dass
die entsprechende Thematik mit der Zeit immer besser in Worte gefasst werden konnte"
(Mitzlaff & Strehlow, 2005b, S. 205).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
104
Bezogen auf den Stellenwert von Musik und Sprache wird bei der Schöpferischen Musiktherapie im Gegensatz zur analytisch orientierten Musiktherapie der Prozess des improvisierten Musizierens zwischen der Therapeutin und der Patientin als therapeutisch
betrachtet und der verbalen Aufarbeitung wird weniger Bedeutung beigemessen (z.B.
Pavlicevic, 2002; Sutton, 2002a; Tyler, 2002; Zharinova-Sanderson, 2002).
Das Konzept des Music Child
Das Konzept des Music Child stammt ursprünglich aus der Schöpferischen Musiktherapie von Paul Nordoff und Clive Robbins und wurde seither weiterentwickelt:
ÿDieser musiktherapeutische Ansatz geht davon aus, dass jeder Mensch unabhängig vom Ausmaß seiner psychischen, physischen oder geistigen Behinderung,
vom Alter, sozialen Status, von seiner Ausbildung etc. eine innere angeborene
Musikalität besitzt; der sogenannte ûMusikmenschú (...) steht mit der inneren
Welt des Menschen in enger Verbindung. Auch wenn jemand ein zerstörerisches
Trauma erlebt hat, das seine innere Welt erschüttert hat, kann man durch Zuhören seiner gespielten Musik einen Kontakt mit seinem Musikmenschen finden,
der ûkrankeú sowie ûgesundeú Anteile des Menschen in sich enthält. Solcher Kontakt mit diesem ûMusikmenschenú und ein Aufbau der Beziehung zu ihm macht es
möglich, den Menschen als Ganzes zu verstehen, zu bestätigen und zu akzeptieren, seine Fähigkeiten weiter zu entfalten und ihn aus der Isolation seiner
Krankheit zu führený (Zharinova-Sanderson, 2002, S.108).
Der Musikmensch (Music Child) wird als ein Teil in jedem von uns beschrieben, der
lebendig, heilsam und kreativ ist (Sutton, 2002a). Die Basis der musikalischen Improvisation sind die musikalischen Äußerungen der Patientin (Zharinova-Sanderson, 2002).
Die Therapeutin greift das Spiel der Patientin auf und dadurch findet eine Begegnung
statt. Die Therapeutin versucht die Patientin beim Spielen zu unterstützen, der musikalischen Qualität ihres Spielens zu entsprechen und ein Gleichgewicht in der Rollenverteilung zu finden. Dafür setzt die Therapeutin passende musikalische Gestaltungsprozesse
ein und versucht die Patientin einzuladen, ihr Spiel zu erweitern und weiterzuentwickeln. In diesem dialogischen Prozess entsteht die therapeutische Beziehung (das wichtigste therapeutische Medium), welche den Prozess der Selbstwahrnehmung, Selbstgestaltung und Selbstrealisierung der Patientin beeinflusst (Sutton, 2002a; ZharinovaSanderson, 2002).
Pavlicevic (2002) sieht im Music Child ein hilfreiches Konzept für die Musiktherapie
mit traumatisierten Menschen, in dem die Wertschätzung und der ganzheitliche Fokus
auf der Person liegt. Gerade bei traumatisierten Menschen läuft man laut Lang und McInerney (2002) Gefahr den eigentlich vielschichtigen Menschen auf einen Ausschnitt,
nämlich den des ÿTraumatisiertenþ, zu reduzieren. Um dies zu vermeiden sollte man mit
dem therapeutisch arbeiten, was vom Menschen kommt und sich nicht auf aufdeckende
Arbeit beschränken, da es ihn ansonsten nur auf den ÿÜberlebendenþ oder das ÿOpferþ
begrenzt (Austin, 2002; Lang & McInerney, 2002; Pavlicevic, 2002; Tyler, 2002; Zharinova-Sanderson, 2002).
Im Gegensatz zu anderen musiktherapeutischen Ansätzen wird in der Schöpferischen
Musiktherapie der Sprache für therapeutische Veränderung nicht so viel Bedeutung beigemessen und daher wird die verbale Bearbeitung dieser musikalischen Ereignisse nicht
als therapeutisches Medium für therapeutische Veränderung verstanden. Sprache stellt
eine Brücke zu neuen tieferen Prozessen in der Musik dar, beispielsweise kann man sich
bei der Arbeit mit Flüchtlingen die Texte fremdsprachiger Lieder von den Patientinnen
erklären lassen (Zharinova-Sanderson, 2002).
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105
6.2.3
Stimmimprovisationen
Die Erfahrung, seine eigene Stimmung selbst beeinflussen zu können, ist nach Austin
(2002) und Orth (2005) im allgemeinen ein wertvoller Beitrag zur Gesundheit traumatisierter Klientinnen. Das gemeinsame Singen wird in jeder Kultur mit einem gemeinsamen Teilen, Freude, Liebe und Zusammengehörigkeit verbunden (Amir, 1998; Orth,
2005; Zharinova-Sanderson, 2004). Besonders wenn man mit Menschen aus anderen
Kulturkreisen musiktherapeutisch arbeitet, kommt dem Singen eine besondere Rolle zu,
weil dort oft Singen und Tanzen den musikalischen Ausdruck dominiert, eine spezielle
Bedeutung für die kulturelle Identität einnimmt und das Instrumentalspiel als Begleitung eher eine untergeordnete Rolle spielt (vgl. hierzu Amir, 1998; vgl. auch Rykov,
2001).
Bedeutung des Einsatzes von Liedern und Liedtexten
Amir (1998) weist beispielsweise auf die Bedeutung jüdischer Lieder in der Geschichte
Israels hin, die eng verbunden sind mit der traditionellen jüdischen Kultur und dem
Aufbau eines eigenen Staates Israel. Traditionelle Lieder sind zudem oft auch mit Politik verknüpft und der textliche aber auch nonverbale Inhalt der Lieder kann z.B. nationale Einheit, wichtige historische Ereignisse, Orte und Landschaften beschreiben (ebd.).
Die Bedeutung der Texte und traditioneller Lieder kann therapeutisch genutzt werden,
um sich auf aktuelle Probleme der Klientinnen zu beziehen (Orth, 2001; Reimold,
1999). Die Lieder stimulieren die Klientinnen auf den Text zu reagieren, aber auch die
Musik selbst fördert den Ausdruck von Gedanken, Gefühlen, die mit dem Lied assoziiert werden (Orth, 2005). Laut Amir (1998) können Lieder bei der Therapie traumatisierter Menschen, wenn es um die Bearbeitung persönlicher Themen geht, eine bedeutungsvolle und kraftspendende Rolle spielen:
Bezogen auf die stabilisierenden Phasen und zu Beginn einer Therapie können nach
Putzke (2002) Lieder als Intermediärobjekt für den Aufbau einer tragfähigen Beziehung
eingesetzt werden. Die Kommunikation zwischen der Therapeutin und der Klientin findet dann mit Hilfe eines Liedes statt und ist dadurch weniger angstauslösend, die Angst
kann noch weiter reduziert werden, wenn man zunächst der Klientin vertraute und bekannte Lieder zur Verfügung stellt (Orth, 2005; Reimold, 1999). Ein mögliches Vorgehen könnte sich folgendermaßen gestalten: Die Therapeutin lädt die Klientin zum gemeinsamen Singen von der Klientin vertrauten Liedern ein. Im Anschluss daran kann
ein Gespräch stattfinden, das Bezug auf die Themen des Liedes nimmt. Gefühle können
danach verbal aufgearbeitet werden, in dem über die Texte gesprochen wird und Fragen
über die musikalische Erfahrung gestellt werden (ebd.).
Der Einsatz von Liedern wird in den Phasen der Traumabearbeitung und besonders
in den Phasen der Neuorientierung, wenn es um die Betrauerung des Geschehenen und
die Erkenntnis das Geschehene überlebt zu haben geht, als besonders nützlich beschrieben, da mit Hilfe der Lieder einerseits der Ausdruck der Emotionen wie Trauer aber
anderseits auch von motivierenden Texten wie z.B. Friede und Freiheit möglich ist (Amir, 1998; Orth, 2005; Orth & Verburgt, 1998). Beim Auftauchen traumatischen Materials in der Musik werden außerdem Liedtexte als effektiv beschrieben, um die Erinnerungen an traumatische Erfahrungen zu strukturieren und die Anspannung zu reduzieren
(Austin, 2002; Orth, 2001, 2005). Auch das Verfassen eigener Liedtexte zu bekannten
Melodien und im Laufe des therapeutischen Prozesses immer wieder Neuschreiben der
Texte kann nach Ansicht von Orth (2001, 2005) Spannung reduzieren. Im Laufe der
Zeit kann sich dann zudem durch die Textveränderungen die emotionale Qualität der
Lieder von einer negativen in eine positive verändern.
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Nach Austin (2002) haben Interpretation und Betrachtung psychischer Konflikte bei
Erwachsenen, die als Kinder traumatisiert wurden, zunächst solange einen geringen
therapeutischen Wert, bis die Verbindung zwischen dem Selbst und den anderen wiederaufgebaut wurde und die Fähigkeit der Klientinnen für Beziehung wiederhergestellt
wurde. Improvisiertes Singen scheint ihrer Ansicht nach ideal geeignet zu sein für die
Erlangung solcher Ziele. Zudem stellt die Stimme besonders bei präverbalen Traumatisierungen eine erste Quelle für die Verbindung zwischen Mutter und Kind dar. Für den
therapeutischen Einsatz der Stimme hat Austin (2002) musikalische Techniken (sog.
Vocal holding techniques) für die traumazentrierte Therapie von Menschen mit frühkindlichen Traumatisierungen entwickelt:
Vocal holding techniques
Die hier vorgestellten Vocal holding techniques wurden von Austin (2002) speziell für
die Behandlung von Erwachsenen entwickelt, die als Kinder durch Vernachlässigung,
Misshandlung, sexuellen Missbrauch und unangemessene elterliche Reaktionen frühkindliche Traumatisierungen erfahren haben. Hierbei sind die zerstörenden Effekte der
traumatischen Erfahrung auf Körper, Geist und Seele, wie Dissoziation, Vermeidung,
Intrusion, emotionale Taubheit, etc. beobachtbar. Neben den Übertragungsbeziehungen
zeigen sich laut Austin (2002) die Symptome auch in der Stimme, Musik, in der Instrumentenwahl und im instrumentalen Ausdruck der Patientinnen.
Austin (2002) gibt zu bedenken, dass ein zu spontanes und unvorhersehbares Spiel
auf traumatisierte Menschen chaotisch und unkontrollierbar wirken kann. Daher muss
die Therapeutin zu Beginn der Therapie einen konsistenten stabilen musikalischen
Rahmen schaffen, damit ein improvisiertes Singen in der Klientin-TherapeutinBeziehung möglich wird und sich Fähigkeiten zur sozialen Interaktion und Kommunikation entwickeln können.
Dem Aspekt des Verstummens und der Sprachlosigkeit als Folge des Traumas und
seine Auswirkung auf die menschliche Stimme wird bei dieser Methode besondere Aufmerksamkeit geschenkt: Viele traumatisierte Menschen können nach Ansicht von Austin (2002) nur überleben, wenn sie die eigene Stimme strafen. Die Kombination von
improvisiertem Singen und verbaler Verarbeitung versteht Austin (2002) als effektiven
Weg die ungelösten Kindheitstraumata zu bearbeiten. Vokale Interaktionen in Klängen,
Liedern und später in Sprache sind für die kindliche Entwicklung von Bedeutung. Austin (2002) vertritt die Ansicht, dass der Prozess der Wiederentdeckung der eigenen
Stimme und des Singens den Körper belebt und sich dadurch physiologisch auswirkt.
Dies erleichtert den Atemfluss, reduziert die Herzfrequenz und beruhigt das Nervensystem und führt zur Entspannung, die die Erregungszustände reduzieren kann. Durch Atmung kann man außerdem auch Gefühle steuern, da Singen auch eine neuromuskuläre
Aktivität ist, die wiederum mit emotionalen und psychologischen Reaktionen verbunden ist. Die Vibrationen des Singens regen das Vegetativum an. Diese internen Vibrationen lösen laut Austin (2002) körperliche Blockaden und geben dem Körper Vitalität
und Fluss zurück und sind besonders hilfreich bei traumatisierten Menschen, die die
traumatische Erfahrung durch Gefühlstaubheit halten. Singen berührt zwar die traumatischen Erfahrungen und die damit einhergehenden Gefühle, aber schafft gleichzeitig eine
andere, nicht retraumatisierende Form dafür. Die Struktur in Liedern und vokalen Improvisationen stützt dabei die schwache innere psychische Struktur, hilft starke Emotionen auszuhalten und gibt Sicherheit, sich auszudrücken.
Im Gegensatz zum Jazz, wählt Austin (2002) eine kleine überschaubare harmonische
Form mit wenigen harmonischen Änderungen an einem Klavier oder Keyboard (bzw.
Clavinova). Passend zur Situation der Klientin handelt es sich um eine Akkordkombination von meist nur zwei Akkorden, die mit Rockrhythmen kombiniert werden. Dadurch
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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wird der Klientin ein konsistenter und stabiler musikalischer Rahmen geboten, der es
der Klientin ermöglicht darüber improvisiert zu singen. Diese Technik unterstützt eine
Verbindung zu sich selbst und anderen und fördert eine kontrollierte therapeutische
Regression in unbewusste Gefühle, Gedanken und Assoziationen. Diese unbewussten
Erfahrungen sind direkt mit Teilen des Selbst verbunden, die abgespalten sind und
durch das traumatische Ereignis verdrängt werden. Die Begrenzung auf zwei Akkorde
gibt Sicherheit, Halt und Vorhersehbarkeit und ermöglicht es der Patientin, die Kontrolle zu behalten und diese vielleicht auch ein bisschen zu lockern, in den Körper zu gehen
und ermöglicht es das spontane Selbst auftauchen zu lassen. Austin (2002) weist darauf
hin, dass die Einfachheit der Musik in hypnotischer Wiederholung zu einem tranceartigen Zustand führt, der den Zugang zum Unbewussten erleichtert. Die Klientin kann auf
diese Weise Erfahrungen erkunden, wie z.B. Freiheit, Kreativität, Bilder, Stimmungen
und Gefühle, die dennoch durch die klare Form gehalten werden.
Austin (2002) betont, dass diese Techniken nicht als allgemeingültiges Rezept zu
verstehen sind, sondern es bedarf im individuellen Fall der Überprüfung, ob sie geeignet
sind. Die Techniken orientieren sich musikalisch an der Stimmungslage der Klientin
und werden nicht rigide eingesetzt und variieren daher z.B. in Dynamik, Tempo, etc..
Der Prozess ihres Einsatzes in der Therapie wird als Vocal holding process bezeichnet.
Austin (2002) unterscheidet hierbei vier verschiedene Phasen, die auch wesentliche
Entwicklungsphasen der frühen Mutter-Kind-Beziehung abbilden und hat dafür entsprechende Techniken entwickelt:
ÿ
unisono
Die Klientin kann durch das gemeinsame Singen gleicher Töne mit der Therapeutin eine symbiotische Beziehungserfahrung machen, die besonders wichtig
ist für Menschen, die eine solche emotionale, präsente, verlässliche, ruhige Mutterbeziehung nicht erfahren haben.
ÿ
harmonising
Zusammen singen in einem gemeinsamen harmonischen Gerüst gibt der Klientin
die Möglichkeit, sich in Beziehung zur aber doch auch schon getrennt von der
Therapeutin zu erleben.
ÿ
mirroring
Die Klientin singt ihre eigene Melodie und die Therapeutin antwortet, indem sie
die gesungene Phrase oder Worte der Klientin wiederholt. Mirroring ist besonders nützlich, wenn die Patientin auf der Suche nach der eigenen Stimme ist und
dabei Unterstützung braucht oder wenn neue Teile der Persönlichkeit auftauchen, gehört und akzeptiert werden müssen.
ÿ
grounding
Beim grounding spielt die Therapeutin Akkorde auf dem Klavier und singt die
Grundtöne der Begleitung als Basis für die freie Vokalimprovisation der Klientin und die Klientin improvisiert darüber und kann jederzeit zur musikalischen
Basis zurückkehren. Austin (2002) vergleicht diese Technik mit dem typischen
Interaktionsmuster zwischen einer Mutter und ihrem Kind (state of separation
and individuation = Phase der Trennung und Individuation), wenn das Kind anfängt die Umwelt zu erkunden und sich dabei von der Mutter wegbewegt. Im Idealfall bleibt die Mutter mit dem Kind im Kontakt und unterstützt es bei seinen
Erkundigungen ansonsten würde das Kind einen Objektverlust assoziieren.
Mit Hilfe dieser Techniken gelangt man laut Austin (2002) zu einer vertrauensvollen
und stabilen therapeutischen Basis auf der die Technik des free associative singing
möglich wird:
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
108
Free associative singing erfolgt, wenn Worte im vocal holding Prozess dazukommen
können. Die Form des free associative singing vergleicht Austin (2002) mit Freuds
Technik der freien Assoziation, um mit unbewussten Bildern, Gedanken, Gefühlen und
Assoziationen in Berührung zu kommen, nur dass die Klientin bei dieser Technik singt,
anstatt zu sprechen und die Therapeutin singt auch und macht aktive verbale und musikalische Intervention (z.B. gibt sie der stimmlichen Entfaltung der Klientin Halt). Die
Therapeutin beginnt im Gesang zu fragen und zu interpretieren. In dieser Form der improvisatorischen Dyade werden die Übertragungsbeziehungen komplexer und die
Klientin erfährt zudem, dass die Therapeutin nicht nur gute Mutter, sondern auch in
anderen Rollen ein gutes Objekt (Figuren der interpersonellen und intrapsychischen
Welt) ist. Beim free associative singing werden auch wieder die Techniken des mirroring, harmonising, grounding und unisono eingesetzt, wodurch ein sicherer Rahmen
geschaffen wird. Eine weitere Technik beim free associative singing bezeichnet Austin
(2002) als ÿalter egoþ, die die musikalische Version des ÿDoublingþ im Psychodrama
(nach Moreno) darstellt: Die Therapeutin singt dabei als innere Stimme in der ersten
Person (ÿIch...þ) und somit wird Gefühlen und Gedanken der Klientin eine Stimme gegeben, die sie möglicherweise nicht zum Ausdruck bringen kann, gerade wenn es um
Integration und Spaltung geht. Diese Technik fasst die fehlenden Gefühle in Worte.
Die Vocal holding techniques werden laut Austin (2002) in der Musikpsychotherapie
unterschiedlich eingesetzt: Bei Klientinnen, die ängstlich sind, aber gerne improvisieren
würden, erklärt Austin (2002) den Klientinnen vorab die Methode. Außerdem gibt es
der Klientin Halt, Sicherheit und Kontrolle, wenn sie den Rhythmus, das Tongeschlecht
und den Klang des Clavinovas für die gemeinsame Improvisation selbst bestimmen
darf. Vor dem Singen leitet die Therapeutin eine gemeinsame Atemübung an, damit die
Atmung tiefer wird und die Klientin sich entspannen kann. Anschließend erfolgt ein
gemeinsames Einstimmen, in dem sich die Therapeutin mit Klang, Dynamik, Art des
Klavierspiels, etc. an die Stimmungslage der Klientin anpassen kann. Nach der Vokalimprovisation erfolgt eine verbale Aufarbeitung.
Austin (2002) integriert die Vocal holding techniques in einen psychodynamischen
Ansatz. Die positiven Übertragungsbeziehungen sind dabei wichtig, um die Entwicklungsblockaden wieder zu lösen. Austin (2002) erwähnt außerdem, dass sie auch andere
musiktherapeutische Methoden bei der Therapie von traumatisierten Menschen einsetzt,
die sie aber nicht näher beschreibt.
Orth (2005) macht darauf aufmerksam, dass die Vocal holding techniques von Austin
auch die Sprache in die Improvisation integrieren. Somit werden mit Hilfe dieser Techniken Bewegung, Sprache und Ausdruck integriert. Die Techniken schaffen zudem die
Möglichkeit einer sicheren therapeutischen Regression, in der schrittweise Zugang zu
dissoziativen und/oder unbewussten Gefühlen, Erinnerungen und Situationen erfahren,
verstanden und integriert werden können (Orth, 2005).
M. E. muss man sich bei den Vocal holding techniques bezüglich der Auswirkung
von Tiefenatmung auf psychotraumatische Symptome und den Körper gut auskennen,
um dabei nicht zu retraumatisieren. Die Körpertherapeutin Fuckert weist beispielsweise
in ihrem Aufsatz zur Körpertherapie bei traumatisierten Menschen von 2002 darauf hin,
dass eine Tiefenatmung erst nach ausreichender Stabilisierung und Integration therapeutisch sinnvoll und auch notwendig ist, da es sonst zu Retraumatisierungen kommt und
der Körper mit zusätzlicher Abpanzerung reagiert. Sie begründet dies damit, dass wenn
ohne eine gleichzeitige Bearbeitung des Kopfbereichs eine Tiefenatmung forciert wird,
sich der Druck im Kopfbereich erhöht und die Desintegration und Dissoziation dadurch
verstärkt werden.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
109
Zum Einsatz der Stimme ergab die Literaturrecherche neben den Vocal holding techniques von Austin (2002) hinsichtlich der für die traumazentrierte Therapie entwickelten
musiktherapeutischen Verfahren noch ein weiteres: Sound Work nach Mastnak (2000)
soll daher der Vollständigkeit halber an dieser Stelle genannt werden, aber es ist m. E.
bezogen auf die traumatheoretischen Grundlagen zu wenig differenziert, da beispielsweise nicht klar wird, welche Traumatisierungen oder posttraumatischen Störungen mit
dieser Methode behandelt werden und in welchem Behandlungskontext. Auch werden
keine Bezüge zu Erkenntnissen aus der Psychotraumatologie geknüpft und gleiche Begriffe für verschiedene Dinge verwendet. Außerdem wird der stabile und sichere therapeutische Rahmen außer Acht gelassen. Darüber hinaus wird nicht darauf eingegangen,
was das Traumaspezifische an diesem Verfahren ist. Besonders kritisch zu würdigen ist,
dass dabei keine kontrollierte Annäherung an das traumatische Material in einem sicheren und geschützten Rahmen und keine kontrollierte Traumabearbeitung erfolgt. Vielmehr handelt es sich um eine eher spirituell ausgerichtete therapeutische Gruppenselbsterfahrung mit musik- und körperbezogenen Übungen, in der die einzelnen Patientinnen im Sinne einer unvorhersehbaren kathartischen Entladung jederzeit mit ihren
traumatischen Erfahrungen in Berührung kommen können und sogar sollen, da in der
Therapie ein simuliertes Wiedererleben der traumatischen Erfahrung erfolgen soll
(Mastnak, 2000). M. E. führen ein 1:1 Wiedererleben des traumatischen Erlebnisses
ohne Dosierungs- und Distanzierungsmöglichkeiten und die eingesetzten musikalischen
Übungen zu Flashbacks und Retraumatisierungen, da es sich um Übungen in einer
Gruppe mit Einsatz der eigenen Stimme und engem Körperkontakt handelt, die ein großes Vertrauen in sich, die anderen und die Situation voraussetzen. Zudem bedarf die
Arbeit mit dem Körper und körperorientierten Techniken besonderer Achtsamkeit und
Kenntnis über körperliche Retraumatisierungsgefahren.
6.3
Traumazentrierte Musikpsychotherapie mit kombinierten Methoden rezeptiver und aktiver Musiktherapie
Die in den Kapiteln 6.1 und 6.2 beschriebenen Methoden und Verfahren der aktiven und
rezeptiven Musiktherapie werden bereits in der traumazentrierten Musikpsychotherapie
eingesetzt. Wie in Kapitel 4 ausgeführt, eignet sich nicht jede Methode oder jedes
Verfahren zu jeder Phase der Traumatherapie.
Orth (2005) setzt zur Behandlung schwer traumatisierter Flüchtlinge vorwiegend vier
Methoden ein, die darauf abzielen, in einem größtmöglichen Rahmen von Sicherheit
und Kontrolle, die Autonomie, Ausdrucksfähigkeit und das Selbstbewusstsein zu fördern und einen kontrollierbaren und dosierbaren Zugang zu traumatischen Erfahrungen
zu ermöglichen. Sie bieten die Möglichkeit sowohl ressourcenorientiert als auch bei der
Traumabearbeitung eingesetzt zu werden.
Vier Methoden zur Behandlung schwer traumatisierter Flüchtlinge nach Orth (2005)
1. Aufnahme einer eigenen Entspannungsmusik
ÿ
Auswahl und Aufnahme der Entspannungsmusik auf einen Tonträger
Im Rahmen des therapeutischen Prozesses kann die Therapeutin zusammen mit
der Klientin Aufnahmen mit angenehmen und entspannenden Musikstücken zusammenstellen und anhören, die die Klientin anschließend nach Hause nehmen
kann, um sie dann zur Selbstberuhigung bei Schlaflosigkeit oder Anspannung
anzuhören. Mit Hilfe der Aufnahme erfährt die Klientin die Möglichkeit zur
Selbstkontrolle und Gefühlsmodifikation.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
110
ÿ
Aufnahme einer gemeinsam improvisierten Entspannungsmusik
Statt bekannte Musikstücke aufzunehmen, kann man auch gemeinsam eine Entspannungsmusik improvisieren und aufnehmen. Hierbei kann die Klientin selber
auswählen, was am besten ihren Wünschen und Bedürfnissen entspricht. Vorteil
der gemeinsamen Suchprozesse ist, dass dadurch Nähe zwischen Therapeutin
und Klientin entsteht und zudem ein Kontakt zum individuellen biografischen
und kulturellen Hintergrund der Klientin hergestellt werden kann. Häufig werden nach Orth (2005) dafür Instrumente ausgewählt, deren Klang als entspannend empfunden wird. Die Methode der gemeinsam improvisierten Entspannungsmusik kann laut Orth (2005) auch in einer Therapiegruppe eingesetzt werden: Hierbei ist diejenige, für die die Musik aufgenommen wird, die Komponistin bzw. Dirigentin, die die anderen Gruppenmitglieder anleitet, hinsichtlich
Tempo und Dynamik etc.. Vorteil dieser Methode in einer Gruppe ist, dass man
aufeinander achtet, dass sich der Fokus auf das gemeinsame Spiel richtet.
2. Das Erlernen eines Instrumentes und es gemeinsam mit jemand anderem zu spielen,
bietet einen sicheren und kontrollierten Weg mit Gefühlen und Gefühlsausdruck in
Berührung zu kommen.
Orth (2005) führt an, dass in der musiktherapeutischen Behandlung immer wieder
erwartet wird, dort ein Musikinstrument zu lernen. Die Therapie mit traumatisierten
Menschen damit zu beginnen, kann hilfreich sein, um Angstzustände zu reduzieren
und zu einem musikalischen Ausdruck zu kommen. Die Fokussierung des Instruments lenkt von den traumabeherrschenden Gefühlen und Gedanken ab und schafft
Sicherheit und Kontrolle. Erst aufbauend auf dieser Basis ist ein musikalischer Ausdruck von Gefühlen möglich.
3. Musikalische Aufnahmen als Selbstausdruck
Wie bei der Aufnahme der Entspannungsmusik kann auch die eigene Geschichte
musikalisch zum Ausdruck gebracht und auf Tonträger aufgenommen werden. Bei
dieser Methode wird weniger mit Improvisation gearbeitet, sondern in der Therapie
werden gemeinsam die Geschichte oder wichtige Themen der Klientin erarbeitet
und anschließend aufgenommen. Für viele Klientinnen wird es nach Orth (2005) als
Entlastung erlebt, wenn sie ihren nahestehenden Personen zum besseren Verständnis
ihrer Situation und Zustandes eine dieser Aufnahmen vorspielen können.
Auch diese Methode kann nach dem gleichen Vorgehen wie die erste in einer Gruppe angewandt werden. Dazu kann die Therapeutin die Gruppe stützend mit einem
Akkordschema begleiten und sich z.B. dynamisch und rhythmisch an die Stimmung
der Dirigentin anpassen, um die Improvisation zu vereinfachen.
4. Gedanken und Gefühle durch freie (Stimm)Improvisationen über ein musikalisches
Akkordschema ausdrücken
Im Sinne der Vocal holding techniques nach Austin.
Behandlungsverfahren nach Montello (1999)
Montello (1999) hat ein psychodynamisches Behandlungskonzept zur Behandlung
traumatisierter Menschen entwickelt, bei dem die Musik das therapeutische Handwerkszeug in der Behandlung nach dem Dreiphasenmodell darstellt und in den einzelnen Stadien jeweils anders verwendet wird:
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
111
Stabilisierungsphase
Montello (1999) ermutigt seine Patientinnen Musikaufnahmen, die ihnen zur Zeit bedeutungsvoll sind mitzubringen. Diese Aufnahmen werden von der Patientin und Therapeutin gemeinsam in der Therapie angehört und die Reaktionen darauf ausgetauscht.
Anschließend sucht die Therapeutin ein Stück aus, das sie für den therapeutischen Prozess der Klientin für relevant hält. Traumatisierte Menschen können hierdurch erfahren,
dass sie gehört und verstanden werden. Wenn eine Klientin zu ängstlich und angespannt
ist während der Therapiestunde, erfolgt eine musikalische Entspannungsübung, damit
sie sich wieder zentrieren und sicher fühlen kann. Montello (1999) macht gewöhnlich
eine Aufnahme von den musikalisch begleiteten Entspannungsübungen für die Klientin
daheim. Die Aufnahme kann Halt geben und stabilisieren, wenn Flashbacks oder traumatische Erinnerungen außerhalb der Therapie im Alltag auftauchen. Nach Montello
(1999) sind zu Beginn der Stabilisierungsphase die Klientinnen oft noch nicht bereit,
sich auf musikalische Improvisationen einzulassen. Er ermutigt daher seine Patientinnen
zu spielerischen musikalischen Interaktionen, wie z.B. ein vertrautes Lied zusammen zu
singen, oder die Instrumente auszuprobieren, mit Klängen und Rhythmen zu experimentieren, ohne zu erwarten, dass die Klientin in bestimmte emotionale Zustände versinkt.
Traumabearbeitungsphase
Montello (1999) setzt oft musikalische Improvisationen während dieser Phase ein, um
die ÿtotenþ dissoziierten Teile des Selbst, die verdeckten traumabezogenen Gefühle, die
psychosomatischen Symptome und/oder Schmerzen zu explorieren. Dabei musiziert
und improvisiert er meist mit der Klientin und verwendet stützende, spiegelnde und
auch, wenn nötig, führende Techniken. Zudem setzt er GIM und andere, nicht näher
beschriebene, musikalische Techniken ein, um einen Zugang zu den abgespaltenen Gefühlen und Erinnerungen herstellen zu können. Im Umgang mit Trauer, dem Verlust der
Unschuld und der idealisierten Familie, stellt nach Montello (1999) Singen eine besonders effektive Technik dar. In Stimmimprovisationen bietet er mit Stimme und Klavier
einen klanglichen Untergrund. Dabei kann die Klientin Schmerz und Verzweiflung spüren und externalisieren sowohl tonlich als auch in Worten. Das gemeinsame Singen von
emotionsgeladenen Liedern kann in der Bearbeitungsphase kathartisch wirken, ist aber
gleichzeitig kontrollierbar.
Integrationsphase
Montello (1999) weist darauf hin, dass das Schreiben von Liedern in dieser Phase sehr
effektiv sein kann und den Klientinnen helfen kann, das zersplitterte Selbst wiederaufzubauen. Durch das Schreiben von Liedtexten kann die Klientin ihre Geschichte singen
und dabei die rationalen und emotionalen Seiten der Persönlichkeit integrieren. Die
Klientin realisiert z.B., dass sie überlebt hat und neben Bitterkeit, Ärger und Groll, können Gefühle von Hoffnung auftauchen. In der freien Improvisation können zudem die
Klientin und die Therapeutin Alternativen zur Opferrolle explorieren, z.B. den Täter,
den Saboteur, etc. Dies kann den Klientinnen helfen, abgespaltene Teile des Selbst zu
akzeptieren und zu integrieren und damit wird ihnen eine Neuorientierung als ganzes
Individuum im alltäglichen Leben möglich (vgl. Montello, 1999).
Die bisher beschriebenen musiktherapeutischen Methoden und Verfahren zur traumazentrierten Behandlung machen meiner Ansicht nach deutlich, dass ein dosierter, kontrollierter und strukturierter Umgang mit Musik indiziert ist, um die Anspannung, Hilflosigkeit und Gefahr der Retraumatisierung einzugrenzen, z.B. mit Hilfe strukturierter
Stimmimprovisationen und dem Einsatz von Liedtexten. Zudem lässt sich aus den bisherigen Methoden ableiten, dass durch sie bereits eine Verknüpfung von verschiedenen
Bewusstseinsebenen erfolgt, die nach der Psychotraumatologie für eine erfolgreiche
Behandlung dieser Menschen notwendig ist. Zudem scheint der Transfer in den Alltag
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
6 Methoden der Musiktherapie psychisch traumatisierter Menschen
112
eine besonderer Bedeutung zu haben, da sehr häufig der Einsatz von Musikaufnahmen
für zu Hause beschrieben wird. Meiner Ansicht nach werden daneben häufig Methoden
mit dem Einsatz der Stimme (über ein überschaubares Akkordschema) beschrieben, da
durch sie die Verknüpfung zwischen körperlicher und emotionaler Ebene erfolgen kann.
Für einen erfolgreichen Traumaverarbeitungsprozess bedarf es meiner Meinung nach
der Kombination und Adaption von verschiedenen Methoden und Verfahren sowie ihrer
Integration in den entsprechenden Therapieansatz. M. E. stellen dabei für eine traumazentrierte Musikpsychotherapie folgende Voraussetzungen nach Jüchter (2004) die
Grundlage für die Methodenwahl dar:
ÿ
Es müssen Möglichkeiten geschaffen werden, dem Auftreten von somatosensorischen Rückblendeerinnerungen (Flashbacks) gegenzusteuern und sie
begrenzen zu können.
ÿ
Es müssen Möglichkeiten zur Selbstregulation angestoßen werden, um aus
hoher emotionaler und vegetativer Erregung (Hyperarousal) oder Zuständen
von dumpfem Desinteresse oder der Handlungsunfähigkeit (numbing, freezing) bewusst herauskommen zu können und dabei eigene Kompetenz und
Eigensteuerung erleben zu können.
ÿ
Bei der Traumakonfrontation müssen Möglichkeiten geschaffen werden,
bewusst im Hier und Jetzt in traumatische Erinnerungen hineinzugehen, sie
in der Dosierung zu steuern und sie einer Verarbeitung mit symbolischen
Funktionen bis hin zur Sprache zugänglich zu machen, um sie damit ins autobiografische Gedächtnis integrieren zu können.
ÿ
Es müssen dadurch Möglichkeiten geschaffen werden, der unbewussten
Wiederholung traumatisierender Beziehungsgestaltung entgegenzuwirken
und damit neuartige oder an alte Ressourcen anknüpfende Beziehungs- und
Handlungserfahrungen zu erleben. (vgl. Jüchter, 2004, o. S.)
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
7 Ausgewählte Praxisfelder der speziellen Psychotraumatologie und ihre Bedeutung für die Musiktherapie
7
113
Ausgewählte Praxisfelder der speziellen Psychotraumatologie
und ihre Bedeutung für die Musiktherapie
Fischer und Riedesser (2003) unterscheiden wie bereits dargestellt zwischen der allgemeinen und der speziellen Psychotraumatologie (vgl. Kap. 4.1). Bisher wurde die Musiktherapie bezogen auf die allgemeine Psychotraumatologie dargestellt. Bezogen auf
den Behandlungskontext und die Praxisfelder sollen abschließend die Gemeinsamkeiten
hinsichtlich der Besonderheiten und typischen Aspekte bei einzelnen Traumaformen,
also der speziellen Psychotraumatologie, beschrieben werden. Dabei handelt es sich um
sich wiederholende gemeinsame Themen, die in der Musiktherapie bei einzelnen Traumaformen auftauchen. Genauso wie in Kapitel 5 finden auch im folgenden nur die
Traumaformen Erwähnung, zu denen in der für die vorliegende Arbeit verwendeten
Literatur Aussagen getroffen wurden. Über traumazentrierte Musiktherapie z.B. bei
Mobbing, Arbeitslosigkeit, lebensbedrohlichen Erkrankungen, Unfällen ergab die Recherche keine Ergebnisse.
Die Traumatisierungen durch Misshandlung, Vernachlässigung und sexuelle Gewalt
werden meist gemeinsam genannt (vgl.: Amir, 2004; Mitzlaff & Strehlow, 2005b; Montello, 1999; Purdon & Ostertag, 1999). Besonders bei Erwachsenen wird sexuelle Gewalt, Vernachlässigung und Misshandlung in einem Atemzug genannt, was aber nicht
bedeutet, dass sexuelle Gewalt nur in Familien stattfindet, in denen auch die anderen
Handlungen stattfinden. Sexuelle Gewalt ist auch nicht auf eine bestimmte soziale
Schicht fixiert (Mitzlaff & Strehlow, 2005b). Da in den Veröffentlichungen das Hauptaugenmerk auf den sexuellen Traumatisierungen liegt, soll dieses Praxisfeld im Folgenden näher beschrieben werden.
7.1
Traumatisierung aufgrund sexueller Gewalt
Wenn man sich mit dem Thema Musiktherapie und Trauma auseinandersetzt, so fällt
auf, dass die meisten Aufsätze aus dem deutschsprachigen Raum, von Beschreibungen
des musiktherapeutischen Arbeitens bei sexuellem Missbrauch handeln. Gründe hierfür
könnten in der relativen Häufigkeit des Vorkommens des sexuellen Missbrauchs liegen
(Amir, 2004; Orth, 2005). Laut Amir (2004) ist sexuelle Gewalt weltweit das häufigste
traumatische Ereignis, unabhängig von Gesellschaft und Kultur.
Tüpker (1990, 1996) betont die absolute Notwendigkeit, dass jede, die therapeutisch
mit Menschen arbeitet, für das Thema des sexuellen Missbrauchs aufmerksam sein
muss. Sie begründet dieses Muss mit der Häufigkeit und Verdecktheit des sexuellen
Missbrauchs (Tüpker, 1990). Außerdem vertritt sie (Tüpker, 1996) ebenso wie Purdon
und Ostertag (1999) die Ansicht, dass man als Therapeutin eine spezielle therapeutische
Kompetenz für den Umgang mit sexuell missbrauchten Menschen entwickeln muss, um
Behandlungsfehler und weitere Schädigungen der Betroffenen zu vermeiden. Sehr häufig ist der Aufnahmegrund für eine Therapie nicht die Gewalterfahrung, sondern eine
andere Störung, besonders bei Erwachsenen, die aufgrund der frühkindlichen schweren
Traumatisierung komplexe posttraumatische Syndrome entwickelten (FrankBleckwedel, 2000; Lorz-Zitzmann, 1999; Putzke, 2002; Tüpker, 1990). Dabei hängt es
von der Therapeutin ab, inwieweit sie überhaupt die Möglichkeit einer sexuellen Gewalterfahrung in ihrem Denken in Betracht zieht (Lorz-Zitzmann, 1999; Purdon & Ostertag, 1999).
Angesichts der genannten unspezifischen Verhaltenssymptomatik und Verdecktheit
des sexuellen Missbrauchs in der Therapie stellt sich die Frage, ob dennoch typische
Aspekte existieren, die in der musiktherapeutischen Tätigkeit deutlich werden und Hinweise auf einen möglichen sexuellen Missbrauch liefern könnten. Einige solcher AspekDiplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
7 Ausgewählte Praxisfelder der speziellen Psychotraumatologie und ihre Bedeutung für die Musiktherapie
114
te und Besonderheiten, die im zwischenmenschlichen Kontakt und der therapeutischen
Interaktion sichtbar und spürbar werden können, werden im Folgenden dargestellt. Dabei handelt es sich um Besonderheiten, die besonders für die therapeutische Beziehung
von Bedeutung sind:
Gefühle und Erlebniswelt
Hinsichtlich der Gefühlswelt gibt es bei sexuell traumatisierten Menschen Gemeinsamkeiten. Scham- und Schuldgefühle gehören zu den wesentlichen Emotionen bei sexuellem Missbrauch (Strehlow, 2005)35. Scham- und Schuldgefühle in Form von Täterintrojekten, aber auch dafür, dass einem so etwas wiederfahren ist. Die Grenzen und der
Körperaspekt der eigenen Identität der betroffenen Menschen sind durch die sexuelle
Gewalterfahrung im besonderen Maße verletzt worden (Strehlow, 2005). Die Triebfeder
der Erwachsenen bei sexuellem Kindesmissbrauch sind nicht nur sexuelle Bedürfnisse,
sondern auch Bedürfnisse nach Macht, Kontrolle, Nähe, Zuwendung oder Intimität
(Lorz-Zitzmann, 1999; Strehlow, 2005). Dies kann zu enormen Gefühlsambivalenzen
führen, die zusammen mit den entstehenden Loyalitätskonflikten und der auferlegten
Geheimhaltung einen massiven inneren Druck aufbauen (Lorz-Zitzmann, 1999). Neben
der emotionalen Taubheit und Schuld- und Schamgefühlen herrscht das Gefühl für das
weitere Leben ruiniert, beschmutzt oder beschädigt zu sein und die zentralen Gefühle,
die in Folge eines Missbrauchs entstehen und in Therapien durch Übertragungen spürbar werden, sind: Wut, Ärger, Trauer, Frustration, Angst, Ekel, Abscheu, Wertlosigkeit,
Schuld, Hilflosigkeit und Ohnmacht (Amir, 2004).
Beziehungserfahrungen
Die Erlebnisse der Grenzverletzungen fließen automatisch in die Beziehungserfahrungen, also z.B. auch gegenüber der Therapeutin, ein (Lorz-Zitzmann, 1999). Bei sexuellem Missbrauch durch ein Familienmitglied wird der Wunsch nach emotionaler Nähe
und Geborgenheit zu einer familiären Bezugsperson durch die sexuellen Übergriffe zutiefst missbraucht (Strehlow, 2002). Aufgrund dieser Beziehungserfahrungen gibt es
Menschen, die sich daraufhin von ihrer Umwelt isolieren und einpanzern und daher in
der Interaktion mit Entwertung, Rückzug und Misstrauen oder mit Ängstlichkeit reagieren (Amir, 2004; Decker-Voigt & Dunkelziffer e.V., 2005). Andere dagegen zeigen ein
auffallend sexualisiertes Verhalten, da sie erfahren haben, dass Anerkennung, Nähe und
Zuwendung nur über ein sich sexuell zur Verfügung stellen möglich ist (Amir, 2004;
AWMF, 2000; Decker-Voigt & Dunkelziffer e.V., 2005; Lorz-Zitzmann, 1999).
Geheimnis und Unklarheit
Wie schon in Kapitel 4.4 dargestellt, stellt Geheimnis einen Schlüsselbegriff beim Thema der sexuellen Gewalterfahrung besonders bei sexuellen Traumatisierungen in der
Kindheit dar (Amir, 2004; Metzner, 1999; Montello, 1999). Dabei hat oft die Dissoziation die bewusste Erinnerung an die Erfahrungen verdrängt (meist in Form einer dissoziativen Amnesie).
Außerdem bestehen Unklarheiten z.B. darüber, was genau passiert ist und über die
Anzahl der sexuellen Handlungen (Mitzlaff & Strehlow, 2005b). Einen wesentlichen
Grund für die Unklarheiten sehen Mitzlaff und Strehlow (2005b) in dem Druck zur Geheimhaltung, da die Täter den Kindern vermitteln, dass ihre gemeinsame Beziehung
etwas ganz Besonderes ist, die nur sie zueinander haben, und dass das Geschehene ihr
kleines Geheimnis ist, das niemand anderes erfahren darf. Die Verpflichtung zur Geheimhaltung verurteilt z.B. das Kind zur Sprach-, Wehr- und Hilflosigkeit (Petersen,
35
vgl. auch die Darstellung des Schamdilemmas bei Strehlow (2005) S.79ff
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
7 Ausgewählte Praxisfelder der speziellen Psychotraumatologie und ihre Bedeutung für die Musiktherapie
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2005). Die Unklarheiten und Zweifel müssen in der Therapie von der Therapeutin ausgehalten werden, auch wenn dies oft schwer zu ertragen ist. Ein zu frühes Urteil birgt
die Gefahr, dass polarisiert und Unpassendes ausgeblendet wird (Mitzlaff & Strehlow,
2005b).
Das Verdrängen der sexuellen Gewalterfahrung bei sexuell traumatisierten Menschen ist eine Form der Gewöhnung und Überlebensstrategie, um eine bedrohliche Person oder Situation in eine weniger bedrohliche zu verwandeln und es schafft damit wiederum ein Geheimnis (Amir, 2004). Das Geheimnis wird auch nach Beendigung der
Missbrauchssituationen, meist unbewusst, durch Dissoziation aufrechterhalten.
Wenn ein Missbrauchsverdacht besteht und die Missbrauchssituation noch anhält
und die betreffende Person ihr Geheimnis unter der Bedingung der Verschwiegenheit
der Therapeutin anvertrauen möchte, macht die Therapeutin sich zur Mitwissenden und
Unterstützenden der Missbrauchssituation (Lorz-Zitzmann, 1999). Zudem können sich
im Team ähnliche Folgesymptome abbilden, wie sie die Betroffenen in ihrer sozialen
Umgebung erfahren. Daher ist es wichtig, den traumatisierten Personen mitzuteilen,
dass man sich mit einer Kollegin zu diesem Thema austauscht. Dies kann ein Modell
dafür sein, dass man das Schweigen brechen kann und aus dem nur durch Schweigen
funktionierenden Interaktionskreislauf der Missbrauchssituation aussteigen kann (ebd.).
Von Kunsttherapeutinnen wird beschrieben, dass die von den Kindern gemalten Bilder in der Phase der Aufdeckung eines sexuellen Missbrauchs zur sozialarbeiterischen
und juristischen Abklärung verwendet werden (Decker-Voigt, 2005b). Nach DeckerVoigt (2005b) kann und soll die Musik wegen ihrer Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit der spezifischen Symbolsprache, die sich entwicklungspsychologisch anders ausprägt und anders reift als die des Zeichnens und Malens, in der Phase der Aufdeckung
des sexuellen Missbrauchs keine Rolle spielen.
Bearbeitung sexueller Traumatisierungen in der therapeutischen Beziehung
Bei einem offenkundigen sexuellen Missbrauch muss man im konkreten therapeutischen Umgang unterscheiden, ob es sich um eine vergangene Traumatisierung handelt,
oder ob sich die Betroffenen noch aktuell in der Situation des sexuellen Missbrauchs
befinden. Letzteres wirft die behandlungstechnische Frage auf, wie der Missbrauch beendet werden kann. Zunächst ist es wichtig - vor allem bei Verdacht auf einen sexuellen
Missbrauch -, Ruhe zu bewahren und nicht überstürzt zu handeln (AWMF, 2000;
Frank-Bleckwedel, 2000). Meist dauern die Missbrauchssituationen schon länger an und
eine nicht hinreichend vorbereitete Intervention könnte größeren Schaden anrichten als
Hilfe bringen (AWMF, 2000). Aufgrund fehlender Kenntnisse der Dynamik von sexuellem Missbrauch sowie des methodischen Umgangs damit wird in diesem Zusammenhang vor einer weiteren Traumatisierung durch das Umfeld gewarnt (AWMF, 2000;
Frank-Bleckwedel, 2000; Lorz-Zitzmann, 1999; Tüpker, 1996). Die einzelnen Handlungsschritte, wie man anhaltenden sexuellen Missbrauch aufdecken und mit der Situation verfahren kann, zeigen AWMF (2000) und Frank-Bleckwedel (2000) oder können
über Kontakte zu Beratungsstellen wie Wildwasser e.V. erfahren werden.
Meiner Ansicht nach stellen die folgenden Wünsche aus einer Wunschliste von Betroffenen an Therapeutinnen, die Wirtz (2001) in einer Untersuchung erfragt hat, die
wesentlichen Grundanforderungen an die Therapeutinnen für die Gestaltung der therapeutischen Beziehung dar:
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
7 Ausgewählte Praxisfelder der speziellen Psychotraumatologie und ihre Bedeutung für die Musiktherapie
ÿ
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ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
116
daß ich ernst genommen werde mit meinen Erlebnissen;
daß sie mir dabei helfen, Unsagbares auszudrücken;
daß mir Verantwortung und Entscheidungsfreiheit überlassen bleibt;
daß sie mich nie ungefragt berühren;
daß der Inzest nicht bagatellisiert wird;
daß sie nicht nur auf Verbalisieren fixiert sind, sondern mich zu kreativem Ausdruck ermuntern;
daß sie mich nicht fallen lassen, auch wenn ich unendlich viel Zeit brauche;
daß meine Therapeutinnen sexuelle Ausbeutung verstehen;
(vgl. Wirtz, 2001, S.195)
Es ist erforderlich, in die therapeutische Arbeit mit sexuell traumatisierten Kindern den
Familienkontext einzubeziehen, auch wenn die Täter sexueller Gewalt aus dem Familienkreis stammen (Montello, 1999). Zum einen beeinflussen die Familiendynamik und
-struktur das Stattfinden der sexuellen Gewalt, zum anderen beeinflussen sie das Behandlungsgeschehen (Mitzlaff & Strehlow, 2005b). Mitzlaff und Strehlow (2005b)
kommen zu dem Ergebnis, dass sexuelle Gewalt daher kein isoliertes Geschehen darstellt und oft noch in der Familie andere Probleme, wie Vernachlässigung, Alkohol-,
Drogenabhängigkeit, Misshandlungen, körperliche oder psychische Erkrankungen der
Eltern vorliegen. Bei aufgeklärten Missbrauchsfällen ergeben sich oft zusätzliche Belastungen durch neben der Therapie stattfindende Strafprozesse, Scheidungs- und Umgangsrechtsverfahren. Zur Familiendynamik gehört auch das Thema der transgenerationellen Weitergabe von sexuellen Gewalterfahrungen, die beispielsweise dazu führen,
dass Therapien abgebrochen werden, wenn Mütter durch die Behandlung des Kindes
mit eigenen unverarbeiteten Traumaerfahrungen in Berührung kommen (ebd.).
Bezogen auf die Familiendynamik und Therapie geht Metzner (1999) davon aus,
dass Dyade und Triade von Natur aus Grundformen intersubjektiver Beziehungen in der
Kernfamilie sind: Sie empfiehlt daher für die musiktherapeutische Arbeit mit Inzestüberlebenden ein Setting, in dem eine weibliche Therapeutin und ein männlicher CoTherapeut oder umgekehrt zusammen arbeiten. Dies lässt sich v.a. im Rahmen einer
Gruppentherapie realisieren. Bezogen auf die Themen wie Grenzverletzungen und Übergriffigkeiten in einer solchen therapeutischen Beziehungskonstellation, weist Metzner (1999) auf die Bedeutung der Abstinenz in der Triade hin, in der jede/-r der beiden
für sich und seine Beziehung zur Patientin verantwortlich ist und sich nicht in die Beziehung des anderen einmischen darf, damit sie wirken kann als Teil der Triade, sich
aber darauf beziehen muss. In dieser Dreierkonstellation kann sich die gestörte VaterMutter-Kind-Triade reinszenieren (Metzner, 1999).
Als Therapeutin sollte man sich der geschlechtsspezifischen Übertragungsauslöser
bei sexuellem Missbrauch bewusst sein (Metzner, 1999). Der Aspekt der Grenzverletzung spielt hierbei eine tragende Rolle. Grenzverletzungen bei männlichen Therapeuten
entstehen, wenn sie sich vom sexualisierten, verführerischen Verhalten verwickeln lassen. Bei weiblichen Therapeutinnen besteht eher die Gefahr, sich mit dem Opfer zu identifizieren, den Täter zu entwerten und in die Rolle der Retterin zu verfallen (ebd.).
Sich mit eigenen sexuellen Gewalterfahrungen auseinander zu setzen ist meist eine
Aufgabe von vielen Jahren. Eine Therapie stellt dabei oft nur einen kurzen Abschnitt
dieses Weges dar (Lorz-Zitzmann, 1999). Bezüglich der Therapiedauer geben Mitzlaff
& Strehlow (2005b) an, dass sie bei der ambulanten Therapie in einer Beratungsstelle
für schwer sexuell traumatisierten Kindern für diese Kinder die Erfahrung gemacht haben, dass eine mehrjährige (zwei bis drei Jahre) traumazentrierte Therapie von ca. 100
Stunden die besten Ergebnisse erzielt. Die Traumatisierungen waren besonders schwer,
da es sich um innerfamiliäre Sexualstraftaten drehte und zudem bei den Kindern noch
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
7 Ausgewählte Praxisfelder der speziellen Psychotraumatologie und ihre Bedeutung für die Musiktherapie
117
weitere schwierige soziale und familiäre Verhältnisse vorlagen. Bei einmaligen außerfamiliären Sexualstraftaten kam es zu deutlich kürzeren Therapieverläufen (ebd.).
Bisher lässt sich weder nachweisen, dass Musiktherapie bei sexuellem Missbrauch
kontraindiziert ist, noch dass es ein geeigneteres therapeutisches Verfahren als andere
darstellt (Tüpker, 1996). Zu diesem Thema ergab die Recherche zwei Aussagen aus der
Musiktherapie mit sexuell traumatisierten Kindern und Jugendlichen: Frank-Bleckwedel
(2000) vertritt die Ansicht, dass Musik nicht zu jedem Zeitpunkt und nicht in jeder Musiktherapie mit sexuell Traumatisierten das geeignete Medium ist, da sie häufig zu Beginn einer Therapie, bevor eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung entstanden
ist, bei jugendlichen Mädchen Widerstände und Ablehnung gegen die Arbeit mit Musik
erlebt hat. Diese Widerstände ermöglichen den Betroffenen eine Wahrung der eigenen
Grenzen. Besteht eine Therapeutin trotzdem auf den Einsatz von rezeptiver oder aktiver
Musik, werden diese Widerstände von ihr nicht akzeptiert und sie setzt sich über den
Selbstschutz der Klientinnen hinweg und retraumatisiert sie dadurch möglicherweise
(vgl. Frank-Bleckwedel, 2000). Auch Lorz-Zitzmann (1999) berichtet von der Ablehnung der Musik durch Jugendliche in ihren Therapien. Sie sieht darin ein Abbild der
inneren Situation der Jugendlichen, das sich auf die Therapeutin übertragen hat. Sie
berichtet z.B., dass bei ihr durch die Ablehnung ihres musiktherapeutischen Angebots
Gefühle wie ÿ...gar nichts zu können, nicht kompetent genug und der Aufgabe nicht
gewachsen zu sein...þ (Lorz-Zitzmann, 1999, S.78) hervorgerufen wurden. Die durch
den sexuellen Missbrauch ausgelösten Gefühle wie Wertlosigkeit, Schuld und Scham
sowie nichts ausrichten oder verändern zu können wurden also an die Therapeutin weitergegeben. Im Gegensatz zu Frank-Bleckwedel macht sie dennoch ein musikalisches
Angebot bei Jugendlichen, auch wenn diese die Musik ablehnen. Sie ist der Ansicht,
dass ÿwenn die Jugendlichen allerdings spüren, dass sie Aggression und Destruktivität
in die Beziehung einbringen können, der Therapeut sie und sich aber weiterhin wertschätzt, können sie Entwürfe für eine eigene Wertschätzung wagenþ (Lorz-Zitzmann,
1999, S.78f).
7.2
Traumatisierung aufgrund politischer Gewalt
Die Therapie von Opfern politischer Gewalt nimmt auch deutschlandweit zu. Bei der
Musiktherapie von Opfern politischer Gewalt existieren Gemeinsamkeiten hinsichtlich
bestimmter psychosozialer Faktoren, die die Musiktherapie mit diesen Menschen beeinflussen: Sprachverständigungsschwierigkeiten, die Anwesenheit einer Übersetzerin und
der kulturelle Hintergrund der Therapeutin.36
Sprachverständigungsschwierigkeiten
In der Musiktherapie mit Menschen aus anderen Ländern kommt es häufig aufgrund
fehlender Sprachkenntnisse zu Sprachverständigungsschwierigkeiten. Nicht immer
müssen Sprachverständigungsschwierigkeiten laut Orth (2005) in der Therapie hinderlich sein, da sie der Klientin ein zusätzliches Gefühl von Sicherheit bieten können: Gerade weil die Therapeutin die Worte nicht versteht, fällt es den Betroffenen leichter,
über das Musikmachen z.B. Singen ihre Gedanken und Gefühle in ihrer Muttersprache
auszudrücken. Nach der musikalischen Aktion können sie dann darüber entscheiden, ob
sie zu dem Gespielten schweigen möchten oder versuchen das zum Ausdruck Gekom36
Diese psychosozialen Belastungsfaktoren decken sich größtenteils mit den therapeutischen Besonderheiten, die Özkan (2002) im Rahmen der Psychotraumatologie bei der Arbeit mit Migrantinnen beschreibt.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
7 Ausgewählte Praxisfelder der speziellen Psychotraumatologie und ihre Bedeutung für die Musiktherapie
118
mene auf andere Weise zu vermitteln. Musiktherapie als nonverbale Therapieform ermöglicht zudem einen unmittelbaren Kontakt mit Patientinnen über die Musik herzustellen, d.h. die verbale Bearbeitung der traumatischen Erlebnisse ist in der Musiktherapie zunächst nicht unbedingt zwingend notwendig (Bergmann, 2002; Orth, 2005; Zharinova-Sanderson, 2004)
Bei Sprachverständigungsschwierigkeiten kann daher nach Dixon (2002) ein Therapieansatz sinnvoll sein, bei dem im therapeutischen Prozess nicht über das Gespielte
gesprochen wird (vgl. auch Zharinova-Sanderson, 2004). Dabei sagt die nonverbale
Kommunikation oft mehr aus über Symptome und Reaktionen (z.B. Lachen, Körpersprache und ýhaltung, Anspannung oder Entspannung, Bewegung, etc.) als die verbale
(Orth & Verburgt, 1998).
Für eine traumazentrierte Musikpsychotherapie bedarf es aber bei Sprachschwierigkeiten einer Übersetzerin in der Therapie, da hierfür ein verbaler Austausch notwendig
ist (Reimold, 1999; Zharinova-Sanderson, 2002).
Anwesenheit einer Übersetzerin
Für verbale Kommunikation mit traumatisierten Menschen ist es nach Lang und McInerney (2002) wesentlich, dass die Klientinnen sofort und richtig verstanden werden.
Die Therapie mit einer Übersetzerin verändert aber die therapeutische Eins-zu-EinsSituation und Dynamik (Bergmann, 2002; Lang & McInerney, 2002; Reimold, 1999;
Zharinova-Sanderson, 2002, 2004). Dabei kann es zu unterschiedlichen Reaktionen der
Klientinnen auf die Übersetzerin kommen: z.B. unsicher und befremdlich, weil sie nicht
in die musikalische Aktivität und therapeutische Aktivität miteinbezogen ist; andere
nutzen die Übersetzerin als eine Ausfluchtsmöglichkeit, wenn der Kontakt zur Therapeutin zu intensiv wird. Auch kommt es vor, dass die Übersetzerin durch Übertragung
in eine Elternrolle oder andere relevante Rollen gesteckt wird (ebd.).
Der kulturelle Hintergrund der Übersetzerin beeinflusst zudem die therapeutische
Beziehung. Beispielsweise kann es sein, wenn die Übersetzerin aus dem gleichen Kulturkreis kommt wie die Patientin, dass die Therapeutin in eine Außenseiterposition gesteckt wird, da sich die beiden z.B. gegenüber der Therapeutin solidarisieren (Zharinova-Sanderson, 2004). Es kann darüber hinaus vorkommen, dass die Patientinnen aus
einem politisch und/oder kulturell sehr zersplitterten Land kommen. Hier kann sich eine
Konstellation ergeben, dass die Patientin einer anderen ethnischen Gruppe angehört als
die Übersetzerin. Dabei können verschiedene Probleme auftreten (z.B. dass in der Übersetzerin eine Spionin vom gegnerischen Lager gesehen wird, oder dass ihre Anwesenheit triggert und Flashbacks auslöst, etc.) (Lang & McInerney, 2002). Auch bezogen auf
die Musik bestehen eventuell aufgrund unterschiedlicher ethnischer Kontexte unterschiedliche Vorstellungen. Aufgrund der Dynamiken, die durch die Anwesenheit einer
Übersetzerin entstehen, bedarf es einer sorgsamen Planung. Lang et al. (2002) empfehlen eine offene Kommunikation zwischen Therapeutin und Übersetzerin und eine gemeinsame an die Therapie anschließende Reflexion der Gefühle der Übersetzerin in
gezeigten Situationen, da auch die Übersetzerin traumatisiert werden kann bzw. retraumatisiert werden kann, wenn sie selbst ebenfalls den traumatischen Erfahrungen ausgesetzt war.
7.2.1
Flüchtlinge und Folteropfer
Bei der Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen und Folteropfern hat man es oft als Therapeutin mit einer großen Bandbreite hinsichtlich des Alters, der Kultur, Nation, Erziehung und Schweregrad der Traumatisierung zu tun (Orth, 2001, 2005; Reimold, 1999;
Zharinova-Sanderson, 2004). Alle sind Überlebende von Folter und/oder politischer
Unterdrückung. In der Musiktherapie mit traumatisierten Flüchtlingen überwiegt in der
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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7 Ausgewählte Praxisfelder der speziellen Psychotraumatologie und ihre Bedeutung für die Musiktherapie
119
therapeutischen Beziehung das Gefühl von Stress und Anspannung im besonderem Maße aufgrund anhaltender destabilisierender Faktoren (stressinduzierender Aspekte) ihrer
momentanen Situation (Orth, 2001, 2005; Reimold, 1999; Zharinova-Sanderson, 2002,
2004). Weitere therapeutische Besonderheiten in der Musiktherapie mit traumatisierten
Flüchtlingen stellen die sozialen und kulturellen Aspekte und Unterschiede des Musikmachens dar.
Stressinduzierende Aspekte in der Musiktherapie mit traumatisierten Flüchtlingen
und Folteropfern
Orth (2001) weist darauf hin, dass Traumatisierung und Heimatlosigkeit verheerende
und paralysierende Auswirkungen auf das emotionale Leben der Betroffenen haben.
Flüchtlinge und Folteropfer sind zudem häufig vor unterdrückenden Regimen geflohen.
Meist leiden sie an traumatischen Folgen ihrer politischen Gewalterfahrungen und haben zudem oft ihre Familien und Heimat zurücklassen müssen bzw. verloren (Dixon,
2002). Wenn diese Menschen in Therapie kommen, sind zunächst meist die traumatischen Erfahrungen, wie die der Folter, nicht die größten Sorgen, sondern die aktuellen
Lebensbedingungen im Exil (Dixon, 2002; Orth, 2005; Zharinova-Sanderson, 2004):
Der unsichere Aufenthaltsstatus, fehlendes Geld, wenig Sprachkenntnisse, fehlende
Erlaubnis zu arbeiten und sich frei zu bewegen, die Angst vor Fremdenhass und Rechtsradikalismus sowie die Bürokratie des Gastlandes erhöhen die Anspannung und wirken
destabilisierend (Dixon, 2002; Zharinova-Sanderson, 2004). Zudem ermöglicht gemäß
Zharinova-Sanderson (2004) der Flüchtlingsstatus wenig Hilfe von Gesundheits- und
sozialen Diensten. Es fehlt an Kohäsion in der sozialen Struktur. Weiteres Problem
hierzulande ist, dass Flüchtlinge oft unwillkommene Fremde sind, gerade in der momentanen Zeit, in der sich der Staat in schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen befindet (Zharinova-Sanderson, 2004). Diese Faktoren erschweren eine Akzeptanz und Integration zusätzlich und verstärken zudem die traumatogene Isolation
und die fehlende soziale Stabilisierung der Betroffenen.
Wie bereits in Kapitel 5.2 beschrieben kann der Einsatz von Musik die Anspannung
und die Gefahr der Retraumatisierung ansteigen lassen, da die Musik nicht nur, wie allgemein bei traumatisierten Menschen, intensive Gefühle, Erinnerungen und Assoziationen hervorrufen kann, sondern oft selbst in direkter Verbindung mit der traumatischen
Erfahrung steht (z.B. Trommelwirbel lösen Erinnerungen an die Trommelwirbel bei der
Exekution einer verwandten Person aus (Orth, 2005)). Viele Klientinnen haben Schwierigkeiten im Umgang mit Lautstärke, da sie mit Kriegs- oder Folterbedingungen assoziiert werden, aber auch wegen der scheinbaren Unkontrollierbarkeit der ÿfreienþ Improvisation (Orth, 2001, 2005; Reimold, 1999; Zharinova-Sanderson, 2002). Die Therapeutinnen sollten deshalb eine besondere Aufmerksamkeit auf die Musik richten.
Aufgrund der während der Behandlung oft andauernden psychosozialen Belastungsfaktoren, ist die Verfassung der zu Behandelnden großen Schwankungen unterworfen und
man muss in der Therapie ständig stabilisieren, so dass die Therapie meist in der Stabilisierungsphase bleibt (Reimold, 1999; Orth, 2005; Zharinova-Sanderson, 2002). ÿViele
andere Probleme und Symptome können nicht oder nur indirekt durch Musiktherapie
behandelt werden (soziale Probleme im Exil, physische Beschwerden)þ (ZharinovaSanderson, 2002, S.109). Aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten der Musiktherapie in solchen sozialen Situationen helfen zu können stellt sich nach ZharinovaSanderson (2002) die Frage, wie viel Einfluss die positiven Entwicklungen in den Therapien überhaupt auf das reale Leben haben? Es hat den Anschein, dass positive Erfahrungen nur im geschützten, sicheren Rahmen der Therapie möglich sind. Wegen der
ständigen Unsicherheiten des Lebens im Exil gibt es jedoch dafür wenig Kontinuität in
den Therapien. Es kann schwierig sein, an die Therapiesitzung der vorangegangenen
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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7 Ausgewählte Praxisfelder der speziellen Psychotraumatologie und ihre Bedeutung für die Musiktherapie
120
Woche anzuknüpfen. Musiktherapie ist dennoch nützlich zur Stabilisierung, da mit Hilfe der Musik das Angebot einer Beziehung besteht, die Halt und Sicherheit geben kann.
Zudem bietet sie einen sicheren und verlässlichen Ort zu dem man kommen und sich
ausdrücken und entfalten kann. Die Therapeutin kann dafür sorgen, dass man sich gehört und akzeptiert fühlt. Viele der Patientinnen haben vergessen, was eine unterstützende Beziehung ist, wie man sie führt, daran arbeitet, Ideen initiiert, anderen zuhört,
Verantwortung trägt, Wünsche entwickelt, Vertrauen hat. Musiktherapie aktiviert in der
Beziehung diese Bereiche und trägt somit zum Wohlergehen dieser Menschen bei (Zharinova-Sanderson, 2002).
Aufgrund der schwankenden Stabilität stellt ein Hauptziel in der Therapie von traumatisierten Flüchtlingen neben der Stabilisierung die Integration in die Gastgesellschaft
dar (siehe auch Community Music Therapy in Kapitel 5.8.2). Der Integrationsprozess
ist zudem erforderlich, um eine stabile soziale Basis für eine mögliche Traumabearbeitung zu schaffen und weitere Retraumatisierungen zu verhindern (Zharinova-Sanderson,
2002). Hierbei spielt die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung von Musik eine
große Rolle.
Bedeutung der sozialen und kulturellen Aspekte und Unterschiede des Musikmachens
ÿFor example, I found that African refugees sing, dance and improvise considerably easier than refugees from western cultures. In Mid-African countries music seems to be integral part of life and it is more important as an expression of
emotions and feelings than as an artistic form. In comparison with our Western
culture, there are often major differences in function, perception and interpretation of music and the way people express themselves in musicý (Orth, 2005,
S.4).37
Die Wahrnehmung, Interpretation, Art und Weise des musikalischen Ausdrucks ist kulturell bedingt (Orth, 2005; Reimold, 1999; Zharinova-Sanderson, 2002). Die Therapeutin eines westeuropäischen Kontextes wird in den dortigen Konzepten und Vorstellungen über Musik und Beziehungen geschult, die andere Kulturen anders sehen. Bei der
musiktherapeutischen Praxis mit Menschen anderer Kulturen ist daher die Therapeutin
gefordert, sich die Kenntnisse über die Musiktradition und Kultur der Patientinnen anzueignen, z.B. sich mit dem Einsatz von nicht westlichen Instrumenten und Musik, den
unterschiedlichen Sichtweisen, wie zusammen musiziert wird, sowie mit den Auswirkungen der ausgewählten Musik auf die Klientinnen auseinander zu setzen (Orth, 2005).
Dieses Wissen kann man auf verschiedenen Wegen erwerben: Orth (2005) weist daraufhin, dass man im Internet inzwischen fast alle Arten von Musik erhalten kann. Es
empfiehlt sich außerdem, die Klientinnen anzuregen eigene Musik mitzubringen, was es
der Therapeutin erleichtert, sich in deren Musikkultur hineinzuversetzen (Reimold,
1999; Orth, 2005; Zharinova-Sanderson, 2002). Entsprechend der kulturellen Verschiedenheit bezogen auf die Art und Weise, wie musiziert wird, sind auch die dazugehörigen Musikinstrumente verschieden. Neben der leichten Spielbarkeit und dem Angebot
von unterschiedlichen Klangqualitäten bedarf es auch einer besondern Zusammenstellung des Instrumentariums mit Instrumenten aus verschiedenen Kulturkreisen, so dass
37
ûBeispielsweise singen, tanzen und improvisieren afrikanische Flüchtlinge m. E. beträchtlich leichter
als Flüchtlinge aus westlichen Kulturen. In zentralafrikanischen Ländern scheint Musik ein integraler Teil
des Lebens zu sein und ist als Ausdruck für Emotionen und Gefühle wichtiger als eine künstlerische
Form. Im Vergleich zu unserer westlichen Kultur gibt es häufig große Unterschiede in Funktion, Wahrnehmung und Interpretation der Musik und in der Weise, wie sich Menschen selbst in der Musik ausdrücken.ú (Übers. Verf.)
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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7 Ausgewählte Praxisfelder der speziellen Psychotraumatologie und ihre Bedeutung für die Musiktherapie
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die Klientinnen in der (internationalen) Klangvielfalt Vertrautes wiederentdecken können (Reimold, 1999; Orth, 2001; Zharinova-Sanderson, 2002).
Eine Therapeutin in diesem Arbeitsfeld muss auch bereit sein zu tanzen und Tänze
kennen, da in vielen Kulturen eine direkte Verbindung zwischen Musikmachen und
Tanzen besteht (z.B. Zharinova-Sanderson, 2004).
Gefühle wie Trauer, Angst, Ärger, Freude, Stolz und Scham sind universal, aber die
Art wie mit ihnen umgegangen wird, ob sie z.B. unterdrückt oder ausgedrückt werden
ist kulturell bedingt (Orth, 2001, 2005; Orth & Verburgt, 1998; Reimold, 1999; Zharinova-Sanderson, 2002). Dies wirkt sich auch auf die therapeutische Interaktion, die gemeinsame Improvisation sowie auf den Umgang mit Gefühlen aus. Beispielsweise improvisieren laut Orth (2005) Zentralafrikanerinnen öfters in Frage-Antwort-Form (weitere Beispiele sind dem Zitat von Orth (2005) zu Beginn dieses Abschnitts zu entnehmen). Das Musikhören und Musizieren der eigenen vertrauten Musik gibt Halt und Sicherheit (Orth, 2001, 2005; Reimold, 1999; Zharinova-Sanderson, 2002, 2004). Darüber
hinaus kann durch die kulturellen Unterschiede der Lernprozess in Gruppen bereichert
werden, z.B. wenn jede Teilnehmerin eine andere Art von persönlichen und musikalischen Erfahrungen, Überzeugungen, Alter, Kultur, Ausbildung und traumatischen Erlebnissen mitbringt (Zharinova-Sanderson, 2002).
All diese vorgestellten kulturellen Besonderheiten erfordern ein spezielles transkulturelles Setting (Orth & Verburgt, 1998; vgl. auch Orth, 2001), bei dem die Wahl der Techniken und therapeutischen Methoden durch kulturelle Charakteristiken festgelegt werden und man sich auf die verschiedenen kulturellen Besonderheiten (nicht nur musikbezogen) und die flüchtlingsbezogenen Probleme spezialisiert.
Singen von traditionellen Liedern
Nach Orth (2005) ist es auffällig, dass traumatisierte Flüchtlinge oft über ihr Leid singen können, aber es fällt ihnen schwer darüber zu sprechen. Wenn die instrumentale
Begleitung des Gesanges oder auch des Gesprochenem einen nahen Bezug zu den
Stimmungen und Bedürfnissen der Klientin hat, empfinden die Klientinnen dies als sichere und einladende Plattform, um ihre Gefühle auszudrücken (Orth, 2005; siehe Kap.
6.2.3).
In der Therapie mit traumatisierten Flüchtlingen stellt traditionelle Musik eine Brücke zu gesunden Anteilen des Selbst dar. Strukturierte traditionelle Lieder sind oft die
ersten musikalischen Äußerungen der Patientinnen und der Anfang der gemeinsamen
musikalischen Explorationen (Zharinova-Sanderson, 2002). In nicht-westlichen Kulturen ist das Singen stärker traditionell verankert als in westlichen und wird als authentisch und in Verbindung mit der eigenen Identität empfunden (ebd.).
Wenn Patientinnen traditionelle Lieder singen, ist es schwer den Charakter oder die
besondere Atmosphäre des Singens authentisch und musikalisch passend mitzugestalten
(Zharinova-Sanderson, 2004). Aufmerksames Zuhören kann stattdessen eine Form der
Verbindung zur Patientin herstellen und ist somit nach Zharinova-Sanderson (2004)
wichtiger für den Aufbau der therapeutischen Beziehung als eine stilistisch unpassende
Begleitung. In einer anschließenden verbalen Aufarbeitung kann man außerdem die
Texte erfragen und versuchen sie zu lernen. Die Patientinnen können darüber hinaus die
Erfahrung machen, dass ihr ÿfremderþ Kontext durch Zuhören und Anerkennung einen
neuen Kontext erfährt (ebd., Orth, 2005). Beim Singen tauchen positive Erinnerungen
und Gedanken aus der eigenen Heimat auf, die oftmals mit der Therapeutin geteilt werden wollen. Bei fehlenden sprachlichen Kenntnissen können die atmosphärischen Bilder
und Erinnerungen mit Hilfe von Gesten und Zeichnungen mitgeteilt werden. Die therapeutische Akzeptanz und Bestätigung des Singens als Identitätssymbol beeinflusst und
vertieft also die therapeutische Beziehung (ebd.).
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Ist die therapeutische Beziehung sicher und vertrauensvoll genug, kann in der Therapie vom intensiven Einsatz traditioneller Musik zu einer freieren musikalischen Exploration übergegangen werden (Reimold, 1999; Zharinova-Sanderson, 2002). Dies ist
wichtig, da die traditionelle Musik auch das Verlusterleben immer wieder beleben kann
und dadurch die Heimwehgefühle verstärkt (Zharinova-Sanderson, 2002).
7.2.2
Kriegstraumatisierte38
Solange der Krieg andauert beinhaltet eine Kriegssituation einen chronisch traumatisierenden Zustand, in dem es neben den Kampfhandlungen um den Kampf des täglichen
Überlebens geht (Bergmann, 2002). Krieg wirkt sich auch immer auf die sozioökonomischen Bedingungen aus: z.B. Armut, fehlende Arbeit und Verlust z.B. der Eltern und
Familienangehörigen. Besonders wenn die Kampfhandlungen beendet sind, werden die
psychischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Auswirkungen deutlich. In der
Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist von Bedeutung, dass Eltern den Kindern in
dieser extremen Situation den notwendigen Schutz und Halt und die Fürsorge nicht geben können, was bei den Eltern ein Gefühl von Hilflosigkeit und Schuldgefühlen erzeugt (Bergmann, 2002; Lang & McInerney, 2002). Die traumatischen Auswirkungen
des Krieges werden noch zusätzlich verstärkt und addieren sich, wenn bei den Betroffenen davor bereits psychische Störungen vorlagen (ebd.). Bergmann (2002) weist darauf
hin, dass durch Kriegserfahrungen das Selbst- und Weltbild, das Bild von anderen sowie die Hoffnung und der Glaube an die Zukunft zerstört werden.
Auswirkungen einer Nachkriegsgesellschaft
Nach dem Krieg befinden sich die Menschen in der Situation, sich den neuen Lebensbedingungen anzupassen und sie zu akzeptieren und auch sich als Personen zu akzeptieren, die sie nach einer solchen Erfahrung geworden sind (Lang & McInerney, 2002).
Das vom Krieg geprägte Umfeld ist nach Lang und McInerney (2002) sehr physisch
aufgrund seiner Mischung aus Zerstörung und Aufbau sowie z.B. der Existenz von
Landminen. Wenn man als Therapeutin von außen, ohne den Krieg miterlebt zu haben,
in eine solche Nachkriegssituation kommt wird man nach Lang und McInerney (2002)
als internationale Außenseiterin betrachtet und nicht als Therapeutin, sondern z.B. als
Mitglied der Friedenstruppe, was das Misstrauen zusätzlich verstärken kann.
Lang et al. (2002) beschreiben folgende traumaspezifische Auswirkungen auf die
musiktherapeutische Arbeit mit kriegstraumatisierten Menschen:
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
ÿ
ÿa ûwall of soundú (i.e. continuous and very loud playing)
extreme difficulty in tolerating quietness or silence
difficulty in staying in the room
dissociation
acting out the ûinvaderú or invader armyý (Lang et al., 2002, S. 223).
ûMauer aus Klang (z.B. kontinuierliches und sehr lautes Spiel), extreme Schwierigkeiten, Ruhe und Stille auszuhalten, Schwierigkeiten im Raum zu bleiben, Dissoziation,
Ausagieren des Eindringlings oder der einfallenden Armee.ú (Übers. Verf.)
38
Das folgende Kapitel bezieht sich auf kriegstraumatisierte Zivilisten. Über die Musiktherapie mit traumatisierten Soldaten wurden bei der Recherche für die vorliegende Arbeit zwei Aufsätze gefunden, wobei
der eine (Burt, J. W. (1995): ÿDistant thunder: Drumming with vietnam veteransþ) keine traumatherapeutischen Besonderheiten beschreibt und der andere (Blake, R. L. (1994): ÿVietnam veterans with posttraumatic stress disorder: Findings from a music and imagery projectþ) aufgrund seines Erscheinungsjahres
vor 1995 nicht mitberücksichtigt wird (siehe Eingrenzung der Recherche auf die Erscheinungsjahre ab
1995 Kap. 1).
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Stille - Mauer aus Klang39
Lang und McInerney (2002) und Bergmann (2002) haben bei ihrer therapeutischen Arbeit die Erfahrung gemacht, dass oft eine Mauer aus Klang produziert wird, die man
scheinbar nicht durchdringen kann und die wie ein Selbstschutzmechanismus der Betroffenen wirkt, der keine Veränderung zulässt. Stille bedeutet Spannung (z.B. Stille
zwischen zwei Granateneinschlägen) und ist für viele nach dem Krieg nicht auszuhalten, weshalb sich die Menschen ständig mit Klängen und Geräuschen (z.B. Radios) umgeben. Die Stille wird daher auch in der Musiktherapie als bedrohlich empfunden und
deshalb wird oft eine Mauer aus Klang (wall of sound) produziert (z.B. durch sehr lautes und pausenloses Spiel, Unfähigkeit still zu sitzen wenn es ruhig ist, oder belanglose
Unterhaltungen zur Überbrückung) (Bergmann, 2002; Lang et al., 2002; Orth, 2005).
Nach Lang und McInerney (2002) und Bergmann (2002) bedeutet dies für die therapeutische Beziehung, dass die Therapeutin einerseits dieses Spiel aushalten können
muss, andererseits nicht in den Spielsog hineingezogen werden darf, sondern diesem ein
lebendiges Spiel entgegensetzen soll, da die Gefahr besteht, dass sich der Mensch sonst
in seinen traumatischen Wiederholungen festfährt und dadurch retraumatisiert wird. Die
Therapeutin muss hierfür die Impulse geben. In der Musiktherapie kann beispielsweise
erfahren werden, leiser zu spielen oder mal Pausen zu machen und diese auszuhalten,
ohne die Kontrolle zu verlieren. Durch das Entstehen von Gefühlen der Hoffnung in der
Therapie, kann der Glaube an sich Selbst, in die Welt und die Zukunft wiederhergestellt
werden (ebd.).
7.2.3
Holocaust
Holocaust wird als eine Traumaform in der speziellen Psychotraumatologie genannt und
beschrieben (Fischer & Riedesser, 2003; Landolt, 2004; Streeck-Fischer et al., 2001b).
Bezüglich Musiktherapie mit Holocaustüberlebenden ergab die Recherche zwei Abhandlungen (vgl. Abb. 16 in Kap. 5.7) (Rykov, 2001; Schulberg, 1997). Das Thema
Holocaust habe ich an dieser Stelle in die Arbeit mitaufgenommen, da es deutlich
macht, welche Auswirkungen der Kontext auf die Musik haben kann und welche therapeutische aber auch vernichtende Kraft Musik in menschlichen Extremsituationen haben kann. Man kann dabei Erkenntnisse zur Wirkung und Funktionen von Musik und
zur Bedeutung von Musik bei traumatischen Erlebnissen und ihrer Beziehung zu
menschlichen Gefühlen erhalten. Daher ist eine differenzierte Betrachtung und Erforschung des Mediums Musik von enormer Bedeutung für die Musiktherapie. Auch die
Psychotraumatologie hat wesentliche ihrer Erkenntnisse aus der Beforschung des Holocaust gewonnen.
Bezüglich der Musik im Holocaust existiert zahlreiches Material in Archiven verschiedener KZ-Gedenkstätten. Inzwischen haben Wissenschaftlerinnen anderer Disziplinen angefangen die Musik im Holocaust zu erforschen, zusammenzutragen und zu
bibliographieren: vgl. z.B. Kuna (1993): ÿMusik an der Grenze des Lebensþ vgl. auch
Fackler (2000): ÿ»Des Lagers Stimme« - Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in
den Konzentrationslagern 1933 bis 1936þ. Darüber hinaus existieren zahlreiche (Auto)Biografien von Musikerinnen und Musikern dieser Zeit z.B. Lasker-Wallfisch (2005)
oder Schumann (2005). In der Musiktherapie setzte sich bereits Moreno (2001) mit dieser Thematik auseinander. Im Folgenden soll kurz umrissen werden, warum meines
Erachtens anhand der Musik im Holocaust die Wirkung der Musik in Extremsituationen
weiter beforscht werden sollte: Beim Holocaust handelt es sich um eine exemplarische
Darstellung unvorstellbarer Grausamkeiten menschlicher Gewalt aus der Vergangen39
Diese Mauer aus Klang wird übrigens auch bei der Musiktherapie mit Flüchtlingen und Folteropfern
beobachtet z.B. bei Orth (2005).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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124
heit. Leider sind diese wie der Balkankrieg der 1990er Jahre oder auch der anhaltende
Bürgerkrieg in Somalia zeigen aktueller denn je:
ÿMusik wurde von den Tätern oft auf so widersinnige und abwegige Art und
Weise eingesetzt, daß grundlegende Fragen nach tieferem Sinn und Bedeutung
von Musik beziehungsweise nach ihrer Beziehung zu menschlichen Emotionen
unausweichlich sindý (Moreno, 2001, S. 103).
Musik in Extremsituationen weist zahlreiche Widersprüchlichkeiten und Gesichter
auf. Zur Zeit des Holocaust erklang Musik in den Konzentrationslagern sowohl zur Unterhaltung und emotionalen Unterstützung als auch zur Vernichtung. Während die SS
die Lagerhäftlinge vernichtete, sollten Häftlinge zur Unterhaltung Musik spielen und
zwar Musik, die eigentlich mit Leben und Glücklichsein in Verbindung steht. Während
Häftlinge gefoltert wurden, wurden sie dabei zur Verstärkung der Qual und Folter gezwungen z.B. Liebesarien oder Lieder zu singen (Beispiele siehe Fackler, 2000; Kuna,
1993; Moreno, 2001). Man wusste damals intuitiv, dass Musik mit etwas Schönem und
Angenehmen verbunden wird und verstärkte damit die Qualen der Opfer (Moreno,
2001). Der Jazzgitarrist Coco Schumann musste z.B. auf der Gitarre an der Todesrampe
in Auschwitz ÿLa Palomaþ spielen (Schumann, 2005). Gegen Ende des II. Weltkrieges
wurde in den KZs unterhaltende Musik mit trostspendender Wirkung zur Täuschung,
Zerstreuung und Ablenkung eingesetzt. Damit sollte die geplante Vernichtung der restlichen Gefangenen überspielt und ein Aufstand verhindert werden (Kuna, 1993). Nach
Moreno (2001) wurde hierfür gefühlvolle und nicht aufhetzende Musik eingesetzt. Zudem ließen die Täter für sich Musik zur Unterhaltung spielen. Dies taten sie auch bei
ihrer Arbeit, wie z.B. Ärzte bei ihren Menschenversuchen.
Auf der anderen Seite diente die Musik (z.B. das Singen), die an das Leben erinnerte,
dem Überleben der Häftlinge. Musik gab den Lagerinsassen Hoffnung, Trost und spendete Mut und stärkte die Zusammengehörigkeit und Identität. (Fackler, 2000; Kuna,
1993; Moreno, 2001). Musik half dadurch dem geistigen und physischen Überleben
(z.B. wurden auch im KZ klassische Werke von inhaftierten Komponisten komponiert),
hatte also auch nach Moreno (2001) in diesen Extremsituationen therapeutische Wirkung. Laut Moreno (2001) übernahm die Musik nicht nur für die Opfer sondern auch
für Täter eine bedeutsame, sogar therapeutische Rolle.
Die Erfahrungen aus dem Holocaust zeigen einen Widerspruch zu Theorien auf, in denen die humanisierende Wirkung von Musik dargestellt wird. Beispielsweise ließen die
Täter sich zur Entspannung Musik vorspielen, jedoch regte diese kein Mitgefühl in ihnen an. Moreno (2001) stellt hierfür eine Hypothese auf, dass die angenehme Musik
eventuell die Verdrängung verstärkte und dazu führte, dass die Aufmerksamkeit der
Täter von der Wirklichkeit weggelenkt wurde, so dass die Täter auch keine Bedenken
hatten, die Musiker zu ermorden, wenn diese ihrer Ansicht nach ausgedient hatten. Zudem gab es Musiker auf der Täterseite, deren musikalische Lebenserfahrung sie nicht
von ihren Gräueltaten abhielt. Eine mögliche Erklärung für solche Widersprüchlichkeiten kann daher in der Dissoziation liegen:
ÿMusik mag zwar menschliche Gefühle erreichen und ansprechen, dies aber nur
in einem Umfeld, in dem sie gezielt mit aufmerksamen Zuhörern zu diesem Zweck
eingesetzt wird, wie zum Beispiel in einem musiktherapeutischen Kontext. Durch
Mißbrauch der positiven Potentiale von Musik im Holocaust wurden diese Normen
zunichte gemacht. Durch diese Erfahrungen wurde weiterhin deutlich, daß musikinduzierte menschliche Emotionen bequem in Schubladen abgelegt werden und Gefühl
und Nostalgie dabei ohne Schwierigkeit neben Verdrängung und Gleichgültigkeit
gegenüber dem Leiden anderer bestehen könnený (Moreno, 2001, S.109).
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
7 Ausgewählte Praxisfelder der speziellen Psychotraumatologie und ihre Bedeutung für die Musiktherapie
125
Wenn man ausgehend vom Beispiel Holocaust die widersprüchliche Kraft von Musik
weiter erforscht erhält man m. E. weitere Erkenntnisse über die Möglichkeiten und
Grenzen der Musiktherapie bei traumatisierten Menschen. Außerdem sollte man nicht
nur den Holocaust, sondern auch die Wirkung der Musik bezogen auf aktuellere traumatische Ereignisse erforschen.
Die in diesem Kapitel dargestellten Praxisfelder der speziellen Psychotraumatologie
zeigen, dass neben vielen Gemeinsamkeiten in der therapeutischen Behandlung traumatisierter Menschen (siehe Kap. 3-6) - die bereits von den einzelnen Autorinnen in ihren
Darstellungen und Untersuchungen beachtet werden-, die jeweilige vorangegangene
traumatische Situation spezifische Kenntnisse erfordert und man sich daher für die Praxis entsprechende Kompetenzen bezogen auf die einzelnen Traumaformen erarbeiten
muss. Deshalb sollte man m. E. bei der musiktherapeutischen Darstellung dieser Praxisfelder in Zukunft noch mehr diese Aspekte und Erkenntnisse einbeziehen.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
8 Fazit und Ausblick
8
126
Fazit und Ausblick
Die Psychotraumatologie entwickelte sich in den vergangenen Jahrzehnten als eigenes
interdisziplinäres Forschungs- und Praxisfeld. Dabei spielt die Musiktherapie bisher nur
eine untergeordnete Rolle (nur als ressourcenorientiertes ergänzendendes Therapieverfahren). Dem entgegen steht, dass umgekehrt in der Musiktherapie schon relativ viel mit
traumatisierten Menschen gearbeitet wird und wirksame Behandlungsmöglichkeiten für
die meisten Symptome und Syndrome bei psychischen Störungen aufgrund von Traumaerfahrungen zur Verfügung stehen. Diese sind allerdings noch relativ wenig systematisch zusammengeführt und beforscht. Da die Arbeit mit traumatisierten Menschen in
psychiatrischen, aber auch pädagogischen Einrichtungen zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist es wichtig, die Musiktherapie in diesem Arbeitsfeld weiter zu entwickeln.
Ebenso bedeutsam ist es, den Stellenwert und die hohe Wirksamkeit der Musiktherapie
in der Behandlung traumatisierter Menschen, die in der vorliegenden Arbeit gezeigt
wurden, in breiteren Fachkreisen bekannt zu machen, um mit der Musiktherapie einen
adäquaten Platz innerhalb der Psychotraumatologie einzunehmen.
Perspektiven für die Musiktherapie zur Behandlung psychisch traumatisierter Menschen
Es lässt sich feststellen, dass bei der musiktherapeutischen Arbeit mit psychisch traumatisierten Menschen bereits eine methodische Auseinandersetzung auf der Basis psychotraumatologischer Konzepte, sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene
begonnen hat, die zeigt, dass Gemeinsamkeiten in den Konzepten bestehen. Noch wird
diese methodische Auseinandersetzung allerdings relativ isoliert geführt und sollte meiner Meinung nach im öffentlichen und systematischen Austausch zusammengeführt
werden.
Es werden darüber hinaus bereits zahlreiche ressourcenorientierte musiktherapeutische Methoden und einige musiktherapeutische Verfahren für die Stabilisierungsphase
und Traumaexposition dargestellt. Die Traumaintegration wird jedoch meist nur am
Rande erwähnt. Meiner Ansicht nach fehlen weitere Aussagen, wie die Traumintegration genau erfolgen kann, wann sie erreicht ist und wie sie in der bzw. mit Hilfe der Musiktherapie erreicht werden kann.
Es ist außerdem auffällig, dass in den Publikationen meist Aussagen über Therapiedauer und ýerfolg zur traumazentrierten Behandlung fehlen, was übrigens nicht nur auf
die Musiktherapie zutrifft, sondern allgemein auch auf die Psychotraumatologie. Meines
Erachtens sollte dies jedoch differenzierter dargestellt werden, um vergleichen zu können, wann welches Verfahren sich am besten eignet. Dabei wäre zudem wichtig sowohl
zwischen den einzelnen psychotraumatischen Symptomen und Syndromen (allgemeine
Psychotraumatologie) als auch bezogen auf die einzelnen traumatischen Situationskonstellationen (spezielle Psychotraumatologie) zu unterscheiden.
Zusammenfassendes Ziel dieser differenzierten Betrachtung muss sein, die Bedingungen zu erfassen, wann und mit welchen Methoden Musiktherapie in der Traumatherapie ein geeignetes Verfahren darstellt. Wegen der zunehmenden integrativen und interdisziplinären Arbeitsweise in diesem Arbeitsfeld, erachte ich es außerdem für notwendig, auch die Indikationsfrage in Verbindung mit bestehenden Diagnoserichtlinien
und Traumakonzeptionen zu bringen.
Mitzlaff und Strehlow (2005b) weisen darauf hin, dass in der traumazentrierten Musiktherapie Themen wie die Bedeutung von Symbolen, die Erforschung zentraler Affekte wie z.B. Schuld, Scham und Ekel, sowie das Thema Gruppentherapie beforscht werden könnten. Decker-Voigt & Dunkelziffer e. V. (2005) haben im Rahmen ihres Forschungsprojektes zum sexuellen Missbrauch bereits ein Protokollierungsinstrument
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
8 Fazit und Ausblick
127
entwickelt. Damit wurde insbesondere auch die Rolle der Musik im therapeutischen
Prozess untersucht.
In Bezug auf die Indikation für Musiktherapie ist die weitere Erforschung der Wirkung und Funktion des Mediums von großer Bedeutung, da die Musik unmittelbar körperliche und emotionale Auswirkungen hat. Hierbei sind besonders die neurobiologischen Erkenntnisse interessant, z.B. die von den Neurowissenschaften beschriebenen
Auswirkungen traumatischer Erlebnisse über das Gehör auf das Gehirn. Man könnte
auch untersuchen, wie sich umgekehrt Einschränkungen und Verzerrungen der Wahrnehmung durch Traumata auf die Sinneskanäle wie die Ohren auswirken.
Die Rolle und Wirkung von Musik bezogen auf traumatische Situationen und deren
Verarbeitung kann außerdem anhand von historischen Quellen zum Holocaust untersucht werden, da hierzu sehr viel Material vorliegt.
Damit ein ganzheitlicher und alltagsnaher Therapieansatz möglich wird, müssen neben dem stationär klinischen Setting entsprechende Behandlungskonzepte entwickelt
werden, die das soziale Netzwerk und die Alltagsintegration sowie den Kontext miteinbeziehen. Wie bereits in Kapitel 5.8.2 beschrieben, eignen sich meiner Ansicht nach
hierfür besonders Community-Music-Therapy-Konzepte. Da die Community-MusicTherapy-Konzepte sich im angelsächsischen Raum auf dem Hintergrund anderer Gesundheits- und Wohlfahrtssysteme entwickelt haben, bedarf es der Adaption an unser
Gesundheits- und Sozialsystem. Dies könnte z.B. durch eine Angliederung der musiktherapeutischen Behandlung an bestehende gemeindenahe Behandlungs- und Versorgungskonzepte bzw. soziale Netzwerkmodelle erfolgen, wie z.B. den Gemeindepsychiatrischen Verbund oder andere Casemanagement-Konzepte. Eine Entkoppelung der
Musiktherapie vom stationär klinischen Setting wirft aber immer die Frage der Finanzierung auf. Meiner Ansicht nach ist hierfür die weitere Entwicklung von gemeindenahen Behandlungszentren nötig, ähnlich der in Deutschland bereits bestehenden Behandlungszentren für Flüchtlinge und Folteropfer.
Neben der Weiterentwicklung von Behandlungskonzepten der traumazentrierten
Psychotherapie nach dem Phasenmodell der Psychotraumatologie stellt sich die Frage,
inwieweit sich die Musiktherapie in der Traumaakutbehandlung und Krisenintervention
sowie im präventiven Bereich weiter verorten kann. Das New York City Music Therapy
Relief Project, das direkt im Anschluss an die Terroranschläge vom 11. September 2001
vor Ort installiert wurde (vgl. Kap. 5.1), zeigt, dass Musiktherapie zur Krisenintervention als ressourcenorientiertes, ergänzendes Verfahren geeignet ist.
Darüber hinaus sollte man sich Gedanken machen, inwieweit in dem Feld der Psychotraumatologie eine präventive Arbeit möglich ist. Die Chance der Musiktherapie im
präventiven Bereich liegt meiner Meinung nach weniger in personenzentrierten Einzeltherapien, sondern eher in ressourcenstärkenden Gruppentherapieprojekten. Beispielsweise im Rahmen von alltagsnahen und integrativen Gewaltprävention- und Aufklärungsprojekten, wie es sich z.B. die Stiftung MUSIKUZ (MUSIk, die KUnst des Zusammenlebens) zur Aufgabe gemacht hat (MUSIKUZ online). Beispielsweise führte
MUSIKUZ das Gewaltpräventionsprojekt ÿBeats statt Schlägeþ in Zusammenarbeit mit
Lehrerinnen und anderen Berufsgruppen an allgemeinbildenden Schulen durch (ebd.).
Verortung der Musiktherapie in der Psychotraumatologie
Für eine Anerkennung der Musiktherapie für die Behandlung psychisch traumatisierter
Menschen bei anderen Disziplinen, Kostenträgern und Einrichtungen, sollte die Musiktherapie als psychotherapeutisches Verfahren in der Psychotraumatologie verortet werden. Dabei kann es hilfreich sein, sich anhand der Kriterien des von Fischer und Riedesser (2003) erarbeiteten Anforderungsprofils zu orientieren (siehe Abb. 14 in Kap. 4.3.4),
um einheitliche Standards zu haben, die eine Vergleichbarkeit innerhalb der Musiktherapie, aber auch mit anderen psychotherapeutischen Verfahren ermöglichen. Hierfür ist
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
8 Fazit und Ausblick
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eine Ausdifferenzierung und systematische Aufbereitung der bisherigen Erkenntnisse
und die Entwicklung sowie Ausarbeitung von Behandlungskonzepten notwendig. Beispielsweise sollte neben der symptombezogenen Vorgehensweise und Diagnostik, der
Versuch unternommen werden, die störungsspezifische Ebene einzubeziehen, auch
wenn die momentanen Störungsbilder der psychiatrischen Nomenklatur reformbedürftig
sind.
Eine weitere Ausdifferenzierung sollte durch ausführlichere Analysen der traumatischen Situationskonstellationen bzw. anhand der in Kap. 3.1 dargestellten Merkmale der
traumatischen Situation erfolgen, z.B. ob es sich um eine Monotraumatisierung handelt,
wie komplex die traumatische Symptomatik ist, inwieweit die Symptome mit dem aktuellen Lebenskontext verwoben sind oder ob z.B. noch andere psychische Störungen
vorliegen, etc.. Die Erkenntnisse der Psychotraumatologie unterstützen dabei die Bestätigung der Aussagen: Beispielsweise verstehen Huber (2004, 2005) und Reddemann
(2001, 2004), wie bereits beschrieben, als zentrales Therapieziel über die Traumaexposition zur Traumasynthese zu gelangen, das das Zusammenführen von Wort, Bild, Affekt und Körpersensation, die Umwandlung einer unkontrollierbaren in eine kontrollierbare Stressreaktion, die Integration von Unsagbarem ins verbale Wachbewusstsein
durch Oszillieren zwischen der Vergangenheit und dem Hier und Jetzt beinhaltet, das in
der Musiktherapie meiner Ansicht nach per se gegeben ist.
Aufgrund der untergeordneten Rolle der Musiktherapie in der Psychotraumatologie
muss sie sich und ihre Erkenntnisse offensiv in die Diskussion einbringen, z.B. durch
Veröffentlichungen in psychotraumatologischen Fachzeitschriften und Präsentationen
auf psychotraumatologischen Symposien.
Selbstverständnis der Therapeutin
Die Beschäftigung mit traumatisierten Menschen stellt die noch oft in der Psychiatrie
herrschenden klaren und z.T. bevormundenden Positionen Patientin-Therapeutin in besonderem Maße in Frage. Zum einen weil die psychischen Symptome und Störungen
aufgrund von Traumaerfahrungen nicht als Krankheit sondern als Abwehr- und Überlebensstrategien zu betrachten sind, um mit den schrecklichen Erfahrungen überhaupt
leben zu können. Und zum anderen, weil nur durch eine Stärkung des Selbstwertgefühls
und durch eine von der Patientin mitbestimmte Vorgehensweise eine therapeutische
Behandlung ohne Retraumatisierungen der Therapeutin möglich ist.
Aufgrund der Komplexität des Themas, der Gefahr der Retraumatisierungen, der besonderen Bedeutung des Behandlungskontextes und nicht zuletzt der starken emotionalen Belastung der Therapeutin bei der Behandlung traumatisierter Menschen, ist meiner
Ansicht nach eine Spezialisierung für dieses Arbeitsfeld unabdingbar. Es müsste untersucht werden, ob es dabei für Musiktherapeutinnen sinnvoll ist, zusätzliche Techniken
aus anderen traumazentrierten psychotherapeutischen Verfahren z.B. EMDR-Techniken
anzuwenden und sich auf diese Therapieverfahren zu spezialisieren.
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
9 Zusammenfassung
9
129
Zusammenfassung
Die Psychotraumatologie stellt heutzutage ein eigenes wachsendes Forschungs- und
Praxisfeld mit eigenen Behandlungsmethoden und Störungsbildern dar. Dabei handelt
es sich aufgrund der Vielschichtigkeit des Phänomens des psychischen Traumas um ein
komplexes Feld mit verschiedenen Erklärungsmodellen, in dem eine Orientierung
schwer fällt. Die derzeitige Psychotraumatologie ist besonders von einem psychodynamischen Paradigma geprägt. Eine traumatische Erfahrung ist kein isoliertes Geschehen
und die Entwicklung psychotraumatischer Symptome und Störungen hängt von verschiedenen kontextbezogenen Faktoren ab, die sich wechselseitig bedingen und den
traumatischen Prozess bilden. Traumatische Situationskonstellationen und die Reaktionen auf traumatische Erfahrungen sind vielfältig und führen zu einem großen Spektrum
unterschiedlicher wechselnder Zustände und Symptome, so dass eine Gefahr von Fehldiagnosen und falschen Therapien besteht. Dennoch bestehen Gemeinsamkeiten hinsichtlich der möglichen Reaktionen und im Verlauf des traumatischen Prozesses, die es
in einer ausführlichen und individuellen Diagnose zu erfassen gilt. Da die derzeitig gültigen Diagnosekriterien in der ICD-10 und dem DSM-IV bezüglich ihrer Einordnung
und Beschreibung problematisch sind, ist ihre Weiterentwicklung und Erweiterung im
Rahmen einer genauen und umfassenden Kategorie für psychotraumatische Syndrome
notwendig. Besonders für anhaltende Traumatisierungen und chronische komplexe psychotraumatische Störungen fehlen derzeit entsprechende Klassifikationen.
Bezüglich der Behandlung psychotraumatischer Störungen und Syndrome gibt es nicht
die Traumatherapie, sondern es haben sich verschiedene Verfahren und Ansätze entwickelt, wobei unabhängig von den therapeutischen Richtungen Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Vorgehens bestehen. Aufgrund der Auswirkungen der traumatischen Erfahrungen auf die psychische, soziale und körperliche Ebene, werden diese verschiedenen Ebenen in die Behandlung integriert. Unterschieden wird zwischen der Traumaakutbehandlung und der Behandlung traumatischer Langzeitfolgen.
Eine traumatische Erfahrung kann nicht ungeschehen gemacht werden, daher ist das
Ziel der Behandlung, die Betroffenen zu unterstützen diese Erfahrung als Teil ihres Lebens in ihre Lebensgeschichte zu integrieren. Aufgrund der besonderen Bedeutung des
Kontextes soll die Behandlung möglichst alltagsnah erfolgen.
Für die psychotherapeutische Behandlung traumatischer Langzeitfolgen wurden und
werden innerhalb der psychotherapeutischen Richtungen spezielle traumazentrierte Behandlungskonzepte und Methoden entwickelt. Hierbei findet eine modelltheoretische
Anbindung an den aktuellen psychotraumatologischen Wissenstand statt. Aufgrund des
hohen Retraumatisierungsrisikos, hat sich das Phasenmodell (mit meist drei Phasen) zur
psychotherapeutischen Behandlung durchgesetzt. Eine direkte Bearbeitung des traumatischen Materials ist nicht zwingend erforderlich und erfolgt nur bei ausreichender Stabilisierung.
Nach dem derzeitigen Forschungsstand existieren keine Ergebnisse darüber, dass eines der bereits etablierten Verfahren zur traumazentrierten Psychotherapie geeigneter
oder wirksamer ist als andere. Damit sich ein psychotherapeutisches Verfahren in der
Psychotraumatologie etablieren kann, muss es seine Wirksamkeit publik machen und
den Kriterien des Anforderungsprofils dieser Wissenschaft entsprechen.
Im Zuge der allgemeinen Entwicklung der Psychotraumatologie zum eigenen, sich erweiternden Forschungs- und Praxisfeld, gewinnt die traumazentrierte Psychotherapie
zunehmend für die Musiktherapie an Bedeutung. Bisher führt die Musiktherapie als
traumazentrierte Psychotherapie im Rahmen der Psychotraumatologie noch ein Schattendasein. Eine Untersuchung der bisherigen musiktherapeutischen Veröffentlichungen
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
9 Zusammenfassung
130
zeigt aber, dass die traumazentrierte Psychotherapie in der Musiktherapie sehr wohl
eine Rolle spielt und dass bereits national und international dazu veröffentlicht wird.
Eine genauere Betrachtung der Indikationen macht deutlich, dass die Musiktherapie
schon aufgrund ihres Mediums zur Traumatherapie besonders geeignet ist, da es in der
Traumabehandlung vor allem um die Stärkung von Ressourcen und den Ausdruck von
Unaussprechbarem und Gefühlen geht. Darüber hinaus schafft die Musik die Verbindung zwischen der unbewussten Gefühlsebene mit der bewussten Ebene. Damit der
Einsatz von Musik nicht kontraindizierend wirkt, bedarf es der Abklärung im Einzelfall
und eines sorgfältigen und dosierten Umganges mit Musik, der eine Kontrollierbarkeit
für die Betroffenen ermöglicht. Für die musiktherapeutische Diagnostik gibt es bereits
bestehende mehrperspektivisch-prozessuale Ansätze, die den integrativen und mehrperspektivischen Anforderungen der Psychotraumatologie entsprechen.
Bei der psychotherapeutischen Behandlung traumatisierter Menschen spielt die therapeutische Beziehung aufgrund der traumabezogenen Wirkfaktoren in den Übertragungsbeziehungen eine besondere Rolle, wodurch im besonderen Maße der Schutz der
Therapeutin, aber auch der Patientinnen gefährdet ist.
Sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene ist das Spektrum der musiktherapeutischen Praxisfelder - besonders bei Traumatisierungen durch Gewalterfahrungen nicht nur im klinischen Kontext groß. Es wird deutlich, dass man derzeit als Musiktherapeutin in jedem Arbeitsfeld mit psychischen Traumatisierungen in unterschiedlicher
Ausprägung in Berührung kommt.
Die Erfahrungen der Therapeutinnen zeigen, dass bei der Behandlung psychisch
traumatisierter Menschen dem Behandlungskontext ý besonders dem sozialen, politischen und kulturellen Kontext - eine besondere Bedeutung zukommt, da er sich auf die
traumatischen Reaktionen, die Stabilisierung und Traumabearbeitung auswirkt. Für die
musiktherapeutische Behandlung traumatisierter Menschen sind Community-MusicTherapy-Konzepte besonders geeignet, da sie diesen Kontext besonders berücksichtigen. Aus den bisherigen Erkenntnissen geht hervor, dass die Musiktherapie wegen ihres
Mediums sowohl als ressourcenorientiertes Verfahren als auch zur traumazentrierten
Psychotherapie nach dem Phasenmodell geeignet und wirksam ist. Die bisherigen musiktherapeutischen Konzepte dafür sind hauptsächlich von einem psychodynamischen
Paradigma geprägt.
Zur traumazentrierten Musikpsychotherapie sind bereits sowohl rezeptive als auch aktive musiktherapeutische Methoden und Verfahren vorhanden. Dabei fällt auf, dass bei
diesen Methoden eine sehr strukturierte Handhabung der Musik und häufig der Einsatz
der Stimme (über ein überschaubares Akkordschema) vorkommen. Zudem zeichnen sie
sich dadurch aus, dass sie die verschiedenen Bewusstseinsebenen ansprechen und zusammenbringen, auf denen die traumatischen Erfahrungen abgespeichert wurden. Bei
der bisherigen Methodenentwicklung und -auseinandersetzung der Musiktherapie erfolgt bereits eine Anbindung an den psychotraumatologischen Wissenstand und der für
die Entwicklung traumatischer Erfahrungen wichtige Kontext wird ausführlich einbezogen.
Da die Behandlung einzelner Traumaformen spezifische Kenntnisse erfordert, bedarf
es neben der modelltheoretischen Anbindung an die allgemeine Psychotraumatologie
auch der Betrachtung und Erforschung auf der Ebene der speziellen Psychotraumatologie. Bezogen auf sexuelle und politische Gewalterfahrungen lassen sich dafür bereits
Erkenntnisse gewinnen. Die einzelnen Beschreibungen und Erkenntnisse sind aber sowohl bezüglich der speziellen als auch der allgemeinen Psychotraumatologie noch sehr
isoliert voneinander, wenig systematisch zusammengeführt und beforscht sowie für die
Öffentlichkeit schwer zugänglich. Dies sollte im Rahmen von gemeinsamen öffentlichen Auseinandersetzungen, Forschungsprojekten und Publikationen sowohl innerhalb
Diplomarbeit von Regina Weiß:
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9 Zusammenfassung
131
der Musiktherapie als auch bei ihrer Darstellung in anderen Disziplinen verstärkt erfolgen.
Es zeichnet sich zunehmend eine Entwicklung ab, dass der Begriff der seelischen
Störung wahrscheinlich aufgrund der neueren Erkenntnisse der Psychotraumatologie
neu diskutiert und betrachtet wird. Diese Entwicklung birgt die Chance für die Musiktherapie, die Handlungsfelder für Musiktherapeutinnen zu erweitern. Aufgrund der bisher untergeordneten Rolle der Musiktherapie in der Psychotraumatologie, muss die Musiktherapie auf sich aufmerksam machen und sich aktiv an dieser Entwicklung beteiligen. Hierfür bedarf es neben der weiteren Erforschung der Traumatherapie in der Musiktherapie sowohl einer gemeinsamen Verortung der Musiktherapie in der Psychotraumatologie als auch der systematischen Ausdifferenzierung und Zusammenführung der Traumatherapie in der Musiktherapie.
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ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
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Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
Anhang
142
Anhang
Abkürzungen
AMTA
BZFO
DIS
DGMT
DDNOS
DSM
EMDR
EMI
ICD
GIM
KZB
MPTT
NLP
OPD
OPD-KJ
PFP
PITT
PKS
PTBS
PTSD
PTT
TP
American Music Therapy Association
Berliner Zentrum für Flüchtlinge und Folteropfer
Dissoziative Identitätsstörung
Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie
nicht näher bezeichnete dissoziative Störungen
Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen
Eye Movement Desensitization and Reprocessing
Eye Movement Integration
Internationale Klassifikation psychischer Störungen
Guided Imagery and Music
Konzentrative Bewegungstherapie
Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie
Neurolinguistisches Programmieren
Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik
Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik für Kinder und
Jugendliche
Psychotraumatologisch fundierte Psychotherapie
Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie
Polizeiliche Kriminalstatistik
Posttraumatische Belastungsstörung
Posttraumatic Stress Disorder
Psychodynamische Traumatherapie
Traumatischer Prozess
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
Anhang
143
Abbildungen
Abb. 1:
Abb. 2:
Abb. 3:
Abb. 4:
Abb. 5:
Abb. 6:
Abb. 7:
Abb. 8:
Abb. 9:
Abb. 10:
Abb. 11:
Abb. 12:
Abb. 13:
Abb. 14:
Abb. 15:
Abb. 16:
Zusammenfassung der Gewaltformen bezogen auf Gewalthandlungen
Psychophysiologisches Modell der Traumatisierungserfahrung
Formen alltäglicher und pathologischer Dissoziation
Faktoren besonders schwerer Traumareaktionen
Syndromales Störungsbild der PTBS
Komplexe traumatische Belastungsstörung
Zusammenfassung der komplexen Traumasymptome
Die fragmentierte Speicherung traumatischer Erinnerungen
Gelungene Traumaintegration
Stabilisierung durch Dissoziation und Spaltung
Zusammenfassung Stabilisierungsphase
Zusammenfassung Traumabearbeitungsphase
Zusammenfassung Traumaintegrationsphase
Anforderungsprofil der psychotraumatologisch fundierten Psychotherapie
(PFT)
Diagnosesysteme für eine musiktherapeutische prozessuale Diagnostik
Musiktherapeutische Praxisfelder für die Behandlung traumatisierter
Menschen, zu denen publiziert wurde
Diplomarbeit von Regina Weiß:
ÿTrauma und Musiktherapie þ Ansätze und Wege in der (musik)therapeutischen Behandlung psychisch traumatisierter Menschený
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