Warum das Leben hassenswert ist (Die Literaturen-Kolumne, Folge 2) Zu den bedrückendsten Pflichten meines Lebens als Schriftsteller deutscher Sprache gehörte die Reise nach Italien. Voll Verachtung für den Tunnel der Guidebooks, die vom Abenteuer bloß den Namen übriglassen - Marco Polo, Travel Survival Kit oder Lonely Planet - quälte ich mich zur Vorbereitung über einen Berg literarischer Zeugnisse wie einst Goethe über den Brenner. Auf der südlichen Seite der Alpen angekommen, stellte ich entgeistert fest: Italien ist wirklich so berückend, wie alle deutschen Dichter - Vorläufer im eigentlichen Sinne des Wortes - behauptet haben. Natürlich, als Italiener hätte allein das Kopftuch meines Ministerpräsidenten genügt, mich in den Vesuv zu stürzen, aber das Glück des Italien-Urlaubers besteht schließlich wesentlich darin, kein Italiener zu sein. Schlimm für einen Schriftsteller, wenn er die Welt so schön vorfindet. Noch schlimmer aber, wenn sie bereits bis in die Pofalte und unter die Stiefelspitze dichterisch vermessen worden ist. Was blieb für meinen armen Laptop übrig, den ich in Erwartung mythisch durchtränkter Inspirationen von Piazza zu Piazza trug? Sollte ich den deutschen Feuilletons einen Aufsatz aus der Toskana mailen, der nur bestätigte, daß Italien unvergleichlich sei und herrlich und nicht zuletzt die Zitronen meines ökologisch bewirtschafteten Agroturismo köstlich (das genau ist ja das Ermüdende an den Berichten deutscher Italienreisender – daß die Beglückung so allgemein ist in ihren Attributen)? Wäre auch das Niveau der Feuilletons so tief gesunken, daß sie sogar meinen Text abgedruckt hätten – allein, mir als Leser hätte der beste italienische Kaffee nicht geschmeckt, wäre ich morgens damit belästigt worden, was ich als Autor über meine allzu gelungene Italienreise geschrieben hätte. Es war zum Verzweifeln. Es war richtig schön. Schrecklich. Aber dann bescherte mir Italien doch eine Erfahrung, die die deutsche Italienliteratur in ihren Entzückensüberbietungen offenbar vollständig ignoriert hat: die Rückkehr. Nichts weniger als ein literarhistorischer Skandal ist es, daß kein deutscher Dichter das Elend aufgedeckt zu haben scheint, das einen nach der Italienreise in Deutschland niederschmetternder erwartet denn je. Daß von Goethe nichts zu erwarten war, nun gut („Auch ich in Arkadien!“, heißt es im Untertitel seiner Aufzeichnungen, das sagt schon alles – mehr hätte mich interessiert: „Auch ich zurück in Thüringen!“ oder, unerbittlicher noch: „Auch ich im Badezimmer!“); aber doch wenigstens von Heine, dem Schwarzseher, dem Durchdringer – wenigstens Heine hätte auf den Schrecken aller Italienreisen, nämlich ihr Ende in Deutschland, hinweisen müssen. Nichts dergleichen. Abschied, ja, davon spricht er in seinen Reisebildern, der gibt Anlaß, in Melancholie zu schwelgen, aber ich spreche nicht von Melancholie, sondern von der nackten Verzweiflung, vor einen Kleiderschrank zu treten, der von den Spuren eines raschen, beseelten Aufbruchs zu reinigen ist. Nietzsche? Wendet sich in Italien von Schopenhauer ab, bekehrt sich öffentlich zur Lebensbejahung, schreibt Briefe an Cosima Wagner, die vor Beseelung triefen. Unerträglich. Mit den Späteren ist es kaum anders, Hofmansthal, Rilke, Hesse, alles Schwärmer. Wieso hat Kafka es nie nach Arkadien geschafft, wieso nicht Büchner oder Kleist? Da muß das italienische Fremdenverkehrsamt davor gewesen sein, kein Visum für Unerbittliche, Unbestechliche, Uneinlullbare. Zusätzlich zu allem Übel begingen wir den schlimmen Fehler, ausgerechnet von Venedig abzufliegen, der allen Reisegruppen zum Trotz leider immer noch bezauberndsten Stadt der Welt (bezaubernd, entzückend, herrlich, wunderschön – ich kann es selbst schon nicht mehr hören). Von der Schlange, die sich vor der Kasse des Selbstbedienungsrestaurants am Flughafen Leonardo da Vinci gebildet hatte, möchte ich gar nicht sprechen, und auch nicht davon, daß die deutsche Billigfluggesellschaft uns dreieinhalb Stunden, bis kurz vor Mitternacht, in der Abflughalle warten ließen, ohne Geld übrig zu haben für eine Ansage oder Personal, um sich wenigstens im Flugzeug für die Verspätung zu entschuldigen. Auch daß mir das Klatschen der Mitreisenden bei der Landung meinen Platz inmitten des Massentourismus ins Bewußtsein hämmerte, war harmlos gegen den Anblick, der sich mir bot, als ich den Koffer voller Italienliteratur alle Treppen hinaufgeschleppt hatte: die Wohnungstür. Anderen Leuten mag der Anblick der eigenen Tür gleichgültig sein; Psychopathen und Esoteriker mögen sogar von Verheißung schwafeln und von neuem Leben. Ich selbst hasse Türen. Türen sind qua Natur heimtückisch. Man steht davor und denkt sich, es könnte anders sein dahinter – besser als draußen oder mindestens nicht ganz so schlimm wie befürchtet -, nur um jedesmal neu enttäuscht zu werden und wieder rauzugehen, um vor einer neuen Tür zu landen, die sich erneut an kein Versprechen hält. Ich habe die Türen durchschaut. Ich weiß, wie es dahinter aussieht. Und dennoch kann ich ihnen so wenig entrinnen wie den klatschenden Mitreisenden im Billigflieger nach Köln. Und keine Tür gibt es, die so schamlos ihre Macht ausnutzt wie die eigene, weiß sie doch, daß man zu ihr immer wird zurückkehren wie das Jojo zum Finger. Im Alltag werde ich damit fertig. Ohne mit der Wimper zu zucken, stecke ich den Schlüssel ins Schloß, und auf springt das alte Leben, ohne daß ich davonrenne. Zurück aus Italien jedoch setzten die Mechanismen des Lebenserhalts aus, die mich sonst über jede Schwelle – sogar über die eigene – tragen, und ich verstand, warum kein Werk der deutschen Italienliteratur so gut ist wie der Tod in Venedig. © Navid Kermani