Das geschlossene Dorf – Renaissance einer Sozialform? Call for papers für die Sektionsveranstaltung der Sektion Land- und Agrarsoziologie im Rahmen des 38. KONGRESSES DER DEUTSCHEN GESELLSCHAFT FÜR SOZIOLOGIE vom 26.09.2016 bis zum 30.09.2016 an der Universität Bamberg. Es gab einmal eine Zeit, da in der Soziologie die Krise der Land- und Agrarsoziologie verhandelt wurde. Ihr schienen ihr originärer Forschungsgegenstand – die Landwirtschaft und der ländliche Raum – sowie zentrale analytische Konzepte – der landwirtschaftliche Betrieb und das Dorf – verlorengegangen. Deren soziale Relevanz habe sich, so der Befund, in einem Maße verringert, dass sich damit eine „eigenständige soziologische Teildisziplin kaum mehr begründen“ lasse (Barlösius 1995). Zwei Jahrzehnte später ist ein neues sozialwissenschaftliches Erkenntnisinteresse an ländlichen Lebensverhältnissen im Allgemeinen und am Dorf als Lebens- und Sozialform im Besonderen zu verzeichnen. Ein sozialwissenschaftlich ausgerichtetes Handbuch „Dorf“ ist kurz vor dem Erscheinen. Empirisch lässt sich eine neue Ländlichkeit beobachten, in der Dörflichkeit eng mit Vorstellungen des „guten Lebens“ verknüpft wird. Wie es scheint, besteht dabei auch eine starke Sehnsucht, in den Schutzraum der vermeintlich geschlossenen, kleinen Dorfwelt zurückzukehren. Zugleich ist eine an Bedeutung gewinnende gesellschaftliche Praxis beobachtbar, das Dorf neu zu erfinden und geschlossene, als „dörflich“ empfundene Lebenswelten neu herzustellen. Auch die Sozialwissenschaften scheinen an der Rekonstruktion erneuerter Dörflichkeiten Gefallen zu finden und in dieser eine große gesellschaftliche Relevanz wieder zu entdecken. Die im Anschluss an das Konferenzthema zu stellende Frage ist: Was hat sich verändert? Sind die wissenschaftlichen Zugänge andere oder haben sich die zu beobachtenden Phänomene derart gewandelt, dass frühere sozialwissenschaftlichen Diagnosen nicht mehr gültig sind? Diese hatten postuliert, dass die oft als statisch und in sich als geschlossen aufgefasste, „traditionelle“ Lebenswelt des Dorfes einem Urbanisierungsprozess unterworfen sei, der die ländliche Bevölkerung „mobilisiert“, der dörflichen Gemeinschaft entreißt und in die moderne Welt vergesellschaftet. Widersprechen die neuen Phänomene diesen Beschreibungen? Beobachten wir reflexive soziale Prozesse oder die letzten Widerstandsbemühungen einer Gesellschaft, die ihre Dörfer verloren hat und deren Verlust romantisierend beklagt? Diesen Fragen möchten wir in der Sektionsveranstaltung nachgehen. Dazu lassen sich verschiedene Perspektiven betrachten. • Aus rein relationaler Perspektive lassen sich Fragen des Verhältnisses der sozialen Ordnung der Gesellschaft zum geografischen Raum und zur ‚Natur‘ herstellen. In der Landsoziologie wurde eine solche Perspektive schon früh mit dem Begriff der StadtLand-Beziehungen, die auch als ein Kontinuum aufgefasst wurden, beschrieben. Demnach gäbe es keine schroffe Trennung zwischen „primär agrarischen und primär industriellen Räumen, sondern vielmehr ein agrarisch-industrielles Gemenge (…) auch was die soziologischen Konsequenzen betrifft“ (Kötter 1958). In neuerer soziologischer Sprache sind ländliche Regionen hybride Räume, in denen externe und lokale Akteure 1 • • • • darum ringen, die Entwicklungspfade zu bestimmen, und Dörfer Orte, an denen sich diese Vernetzungen manifestieren (Woods 2007). Aus Sicht der Sozialstrukturanalyse ist zu fragen: Wer ist das Dorf heute? Inwieweit hat die fundamentale Transformation des ländlichen Raumes neue soziale Akteure, Milieus und Arrangements (z.B. in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse) auf dem Dorfe ermöglicht, die andere Vorstellungen vom ländlichen Leben thematisieren, die nur zu oft mit überkommenen Vorstellungen in Konflikt stehen? Fragen nach dem Konfliktfeld Dorf schließen sich hier unmittelbar an. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung stehen die Landwirtschaft und andere Formen der Ressourcennutzung (z. B. die Jagd), die früher sowohl wirtschaftlich als auch kulturell das Dorfleben bestimmt haben und heute vielfach gar nicht als Teil oder oft nur noch als Bedrohung des guten Lebens auf dem Lande empfunden werden. Doch auch die klassischen soziologischen Fragen nach dem Dazugehören und Nicht-Dazugehören, nach Etablierten und Außenseitern oder nach Teilgesellschaften in der anhaltend beschworenen Dorf„gemeinschaft“ sind zu stellen. Die Dorfforschung hat immer schon den Versuch unternommen, die realtypischen Differenzierungen dörflicher Siedlungen konzeptionell zu fassen. Liest man Kötter (1958) Ausführungen zu dieser Frage aus heutiger Sicht, dann fällt auf, dass die dörflichen Typen insbesondere durch den Anteil der bäuerlichen Bevölkerung und die Agrarverfassung geprägt wurde. Gerade wenn man als Konsens annehmen kann, dass dies heute nicht mehr der Fall ist, fehlt es an fundierten sozialstrukturellen Analysen und Typisierungen des Dorfes heute. Im Zuge des „constructivist turn“ haben vielmehr Analysen zum „Dorf in den Köpfen“ der Menschen, in den Bildern und der Sprache der Menschen Konjunktur. In der älteren Landsoziologie war eine Vorstellung eines „cultural lags“ sehr prominent, demnach sich Denkweisen und Lebenspraktiken auf dem Dorfe erst mit zeitlicher Verzögerung zu den materiellen Bedingungen ändern. Heute, so der Eindruck, scheinen sich die Vorstellungen vom Dorf und dem geografischen Ort zu entkoppeln. Diese und andere Fragen möchten wir in dieser Arbeitsgruppe thematisieren. Abstracts mit max. 2500 Zeichen können bis spätestens 15.04.2016 per E-mail an die Adresse [email protected] eingereicht werden. Annett Steinführer, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Institut für Ländliche Räume, Braunschweig Tanja Mölders, Leibniz Universität Hannover, gender_archland, Hannover Lutz Laschewski, Hanseatic Institute for Entrepreneurship and Regional Development an der Universität Rostock, Rostock Rosemarie Siebert, Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung, Institut für Sozioökonomie, Müncheberg Literatur Barlösius, Eva, 1995: Worüber forscht die deutsche Agrarsoziologie? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 47: S. 319 - 388. Kötter, Herbert, 1958: Landbevölkerung im sozialen Wandel ein Beitrag zur ländlichen Soziologie. Düsseldorf: Diederichs. Woods, Michael, 2007: Engaging the global countryside: globalization, hybridity and the reconstitution of rural place. Progress in Human Geography 31: S. 485-507. 2