Die Herausforderung der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland und Italien Dr. Roberto Sala, Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, Universität Erfurt Heute teilen Deutschland und Italien das gemeinsame Schicksal vieler Industriestaaten: Ein bedeutsamer Teil ihrer Bevölkerung stammt aus anderen Ländern. Sie sind also ohne Zweifel Einwanderungsgesellschaften. Lässt sich aber die Lage der Migranten und Migrantinnen in Deutschland und Italien vergleichen? Sind beide Länder den Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft gewachsen? Auf den ersten Blick ist die Antwort einfach: Während Deutschland viele seiner Hausaufgaben gemacht hat, scheint sich Italien in einer höchst problematischen Lage zu befinden. Greifen wir zwei konkrete Aspekte auf: die politischen Debatten über Migration sowie die rechtlichen Rahmenbedingungen von Migration: Das erste Beispiel bezieht sich auf die Instrumentalisierung von Xenophobie in der politischen Arena. Im Frühjahr diesen Jahres fanden in Mailand die Bürgermeisterwahlen statt. Das Popolo della Libertà und die Lega Nord – also die Parteien des rechten Lagers – machten vor allem eine Botschaft stark: Im Falle eines Sieges der Linken werde die Stadt zur Geisel von Fremden. Im Hintergrund standen zum einen die Pläne, eine Moschee zu bauen, zum anderen der Umgang mit den Siedlungen der Romabevölkerung. Der damalige Ministerpräsident Berlusconi warnte die mailändische Bevölkerung vor einer „città islamica“ bzw. einer „zingaropoli“, also einer „islamischen Stadt und einer Zigeunerstadt“. Die Rechnung ging nicht auf, der Kandidat der Linken gewann die Wahl. Aber es war klar geworden, dass zwei große Volksparteien bereit waren, uneingeschränkt Xenophobie zu politischen Zwecken einzusetzen. Es steht außer Frage, dass das Thema Migration auch in Deutschland innerhalb von Wahlkämpfen instrumentalisiert wird, gerade bei Gemeindewahlen. Können Sie sich aber vorstellen, dass Bundeskanzlerin Merkel gegen den Bau der Moschee in Köln hetzt? Nein, rechtspopulistisches Gedankengut ist in dieser Form bei den großen deutschen Volksparteien undenkbar. Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Rechtslage der Migranten. Im Mittelpunkt der politischen Debatten über Migration in Italien stehen die sogenannten „clandestini“, die „Illegalen“. Es handelt sich um Menschen, die ohne gültigen Aufenthaltsstatus in Italien leben. Die „clandestini“ sind – so der Konsens – verantwortlich für unzählige Verbrechen, sie stellen eine sehr ernste Bedrohung für die Sicherheit der Italiener dar. Der irreguläre Aufenthaltsstatus wird auf das persönliche Verhalten 1 der Migranten reduziert, nach dem Motto „sie verstoßen gegen das Gesetz, sie sind Kriminelle“. Das gesamte italienische Einwanderungssystem ist aber in Wirklichkeit auf Irregularität angelegt; man könnte fast sagen, dass Illegalität den institutionellen Weg darstellt, um nach Italien einzuwandern. Auf der einen Seite machen strenge Gesetze es unmöglich, von Anfang an einen gültigen Aufenthaltsstatus zu bekommen. Auf der anderen Seite duldet der Staat – trotz der politischen Hasskampagnen – systematisch die massive Präsenz der „clandestini“ und missachtet die eigenen Gesetze: Regelmäßig finden Legalisierungsaktionen statt, in deren Rahmen Hundertausende von Ausländern die ersehnte Aufenthaltserlaubnis erhalten. Die Problematik illegaler Einwanderer ist auch in Deutschland vorhanden, hat allerdings deutlich geringere Dimensionen, da die Gesetzgebung klare Verhältnisse für Zuwanderung schafft. Neben der unsicheren Rechtslage von Migranten in Italien haben internationale Organisationen außerdem bemängelt, dass italienische Behörden im Umgang mit Asylsuchenden systematisch Menschenrechte verletzten. Wie erklärt sich der hier betonte Unterschied zwischen der Lage von Migranten in Deutschland und Italien? Man könnte zunächst an den Faktor Zeit denken. Italien ist erst seit den 1990er Jahren zum Einwanderungsland geworden, während die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik mittlerweile über ein halbes Jahrhundert hinaus fortwährt. Deutschland hatte mit anderen Worten mehr Zeit, um sich den Folgen von Migration zu stellen. Dies erklärt meiner Meinung nach einige der Unterschiede zwischen beiden Ländern: zum Beispiel die weiterhin sehr begrenzte, aber zunehmende Präsenz von Menschen mit Migrationshintergrund in der deutschen Politik bzw. deren Mangel in der italienischen Politik. Aber Vieles ist meines Erachtens nicht der zeitlichen Entwicklung, sondern der politischen Kultur geschuldet. Es sind die Defizite der italienischen Demokratie, die für die oben genannten Missstände verantwortlich sind. Das ist die eine Seite. Denn trotz dieser augenscheinlichen Divergenzen teilen Deutschland und Italien zahlreiche Probleme gleichermaßen: In beiden Ländern beziehen Migranten die unteren Plätze der sozialen Skala, vor allem im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt. Diese prekäre Lage wird dabei nicht ausreichend durch effiziente sozialpolitische Maßnahmen bekämpft, sondern durch eine Stigmatisierung von Migration in Medien und Öffentlichkeit sogar verschärft. Die sozioökonomische Schlechterstellung wird durch Deutungsmuster kaschiert, welche eine andersartige „Kultur“ als Hauptproblem der Migranten ausmachen. Dies gilt für Italien, aber eben auch für Deutschland. Das möchte ich hier veranschaulichen. Obwohl die deutschen Volksparteien und die deutschen Medien offene Ausländerfeindlichkeit ablehnen, greifen sie häufig Argumente auf, die 2 unterschwellig Xenophobie und Nationalismus zum Ausdruck bringen. Einige Beispiele. Für das italienische Wort „immigrazione“ gibt es heutzutage im Deutschen zwei Varianten: Einwanderung und Zuwanderung. Der Grund ist einfach. Bis in die 1990er Jahre hinein hat eine Kampfparole der deutschen Politik gelautet: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Diese täuschende Formulierung wurde in den letzten Jahren aufgegeben. Doch wird der Begriff Einwanderung von den meisten Politikern weiterhin gemieden; in der Regel wird das Wort Zuwanderung bevorzugt. Dieser Begriff suggeriert, dass das Ergebnis von Migration einen nur vorübergehenden Aufenthalt darstellen kann: Gewissermaßen wird die Perspektive aus der Gastarbeiterära reproduziert. Dies gilt auch für die Tatsache, dass die Überlegungen zur Aufnahme neuer Migrantinnen und Migranten quasi ausschließlich auf ökonomischen Argumenten basieren: breitere soziale Zusammenhänge bleiben völlig im Hintergrund. Darüber hinaus scheint die Integrationspolitik der letzten Jahre, die die Eingliederung von Migranten zur Chefsache machen soll, nicht unproblematisch zu sein. Das Ziel der Integration wird weiterhin vor allem in engen Zusammenhang mit vermeintlichen kulturellen Unterschieden gebracht, d.h. mangelnde Integration wird als Folge vom individuellen Verhalten der Einwanderer betrachtet. Die strukturellen Probleme der deutschen Gesellschaft bleiben im Schatten, wie zum Beispiel das äußerst selektive und diskriminierende Schulsystem, das selten in der Lage ist, Menschen aus bildungsarmen Schichten tatsächlich Chancengleichheit anzubieten. Die gemeinsamen Probleme von Deutschland und Italien im Umgang mit Migration lassen sich auf einen besonderen Aspekt beziehen. Ich denke an die eklatante Kluft zwischen der öffentlichen Wahrnehmung von Migranten und deren sozialer Realität. In den letzten Jahren sind Migranten und Migrantinnen zur Projektionsfläche von den internationalen Konflikten geworden, die infolge des 11. September 2001 in Gange gekommen sind. Die Zugehörigkeit zum Islam ist in kurzer Zeit als vermeintliche Haupthürde von Integration stilisiert worden. Einwanderer muslimischer Religion sind somit zu Bauernopfern geopolitischer Auseinandersetzungen geworden, die ihrem Alltag fern sind. Diese systematische Stigmatisierung von Religion bedient die xenophoben Ängste der Bevölkerung und ist für Integration weit mehr schädlich, als die vermeintlichen Unterschiede zwischen Islam und Christentum. Denn ein Muslim sieht sich heute in Deutschland und Italien tagtäglich mit dem Vorwurf konfrontiert, er sei ein potentieller Systemfeind – dies ist bei der Joboder Wohnungssuche sowie bei der Selbstfindung junger Menschen nicht gerade behilflich. Viele kommentierten die Thesen von Thilo Sarrazin mit der Anmerkung, er habe den Mut zu sagen, was die meisten denken – und ich fürchte, das stimmt. Aber wenn die deutsche Gesellschaft tatsächlich 3 völkisch gefärbte, beinahe eugenetisch ausgerichtete Ideen, wie diese von Sarrazin vertreten worden sind, gutheißt, dann sind die demokratischen Grundsätze der Bundesrepublik gefährdet. Die Ermordung von Ausländern durch rechtsextreme Terroristen liefert hierfür einen traurigen Beweis. Mit Blick auf die Stigmatisierung des Islams lässt sich anmerken, dass die Kluft zwischen Stereotypen und Wirklichkeit auch „positive Vorurteile“ betrifft, die im Prinzip nicht weniger problematisch sind als negative. Dies wird gerade am Fall der Italiener in Deutschland deutlich, die die zweitstärkste ausländische Bevölkerungsgruppe in der Bundesrepublik darstellen. In den 1960er Jahren hatten die italienischen Migranten den Ruf der gefährlichen „Gastarbeiter“. Heute gelten sie jedoch als perfekt integriert, sogar als Vertreter eines beneidenswerten Lebensstils. Viele Deutsche stellen sich vor, dass eine Vielzahl der italienischen „Gastarbeiter“ durch den Wechsel in die Gastronomie ihre Lebenssituation verbessert hat. Der Aufstieg vom Fließbandarbeiter zum Restaurantbesitzer stellt in der öffentlichen Imagination ein Paradebeispiel gelungener Integration dar. Allerding besteht die sichtbare Nische der italienischen Gastronomen nur selten aus ehemaligen Arbeitsmigranten; die meisten Restaurantbesitzer sind als Kleinunternehmer gekommen. Die echten italienischen Arbeitsmigranten sowie die zweite und dritte Generation haben den sozialen Aufstieg selten geschafft und leiden häufig unter gravierenden Problemen. Den Fachleuten ist beispielsweise bekannt, dass Kinder italienischer Herkunft besonders schlecht im Schulsystem abschneiden. Aber das „positive Vorurteil“ der gelungenen Integration führt dazu, dass die Schwierigkeiten der Italiener schlicht kein Politikum darstellen; folglich werden diesen Schwierigkeiten nicht mit umfassenden sozialpolitischen Maßnahmen begegnet. Vor wenigen Jahren hatte sich die deutsche Presse kurz an die sozialen Probleme der Menschen italienischer Herkunft erinnert. Es war das Jahr 2007, als die kalabrische Mafia das Blutbad von Duisburg verursachte. Der Spiegel veröffentlichte einen großen Artikel, in dem argumentiert wurde, dass die italienischen Migranten einen fruchtbaren Nährboden für die Mafia in Deutschland darstellen; dies gehe auf die Tatsache zurück, dass die Nachfahren der italienischen Gastarbeiter in der deutschen Gesellschaft schlecht integriert seien und weiterhin eine archaische und sippenhafte Kultur verkörpern würden. Von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist die These, dass die italienisch-stämmige Bevölkerung ein Sprungbrett für die Mafia in der Bundesrepublik darstellt, unhaltbar. Die Mafia prosperiert besonders gut in den neuen Bundesländern, die nicht Ziel der italienischen Arbeitsmigration gewesen sind. Aber unter dem Eindruck des medialen Echos der Duisburg-Morde ließ sich das Argument des Spiegels gut verkaufen. Schnell vergaßen der Spiegel sowie die breite deutsche Öffentlichkeit, dass die italienischen Migranten überhaupt soziale 4 Schwierigkeiten haben. Die Lüge der perfekt gelungen Integration der Italiener kann also unbehelligt weiter leben. Damit komme ich komme zum Schluss. Die vielleicht schwierigste Herausforderung der Einwanderungsgesellschaft – in Deutschland sowie in Italien – besteht darin, sich von den polarisierenden Deutungsmustern zu verabschieden. Denn das Meiste, was über Migration gesagt wird, bedient die Ängste und die Identitätssuche der Bevölkerung ohne Migrationserfahrung. Die Menschen, die sich als „Einheimische“ betrachten, fühlen sich darin bestätigt, dass sie Teil der Gesellschaft sind. Der Zusammenhang der eigentlichen Gesellschaft als Ganzes wird aber gefährdet. Vielleicht sind die Zeiten dafür reif, dass Deutschland und Italien damit anfangen, nationale Zugehörigkeit nicht mehr als primäres Bestimmungsmerkmal von Individuen zu nutzen. 5