Worum es geht Frank A. Meyer - Publizist - Was erleben wir gerade in der Türkei? Wir? Die Frage ist zu präzisieren: Was erleben die Menschen in der Türkei? Und auch dies bedarf der klärenden Eingrenzung: Was erleben die Menschen in der Türkei, die anders denken, als Erdogan es will? Letzteres wissen wir genau: Sie leben in Angst um ihre Existenz. Sie werden aus ihren Arbeitsstellen in Erziehung, Kultur, Medien, Wissenschaft, Armee, Polizei und Justiz gejagt. Sie werden verhaftet. Sie werden auch gefoltert. Seit dem gescheiterten Juliputsch lebt die Türkei im Ausnahmezustand, der den Staatspräsidenten zum absoluten Herrscher erhebt. Erdogan genügt das allerdings nicht, denn es ist eben nur ein Ausnahmezustand. Er möchte daraus den Normalzustand machen. Mit einem Referendum, das seine Alleinherrschaft auf Dauer legitimiert. Die Türkei ist auf dem Weg von der Einschränkung der Demokratie und des Rechtsstaates durch den Ausnahmezustand hin zur Abschaffung der Demokratie und des Rechtsstaates. Erdogans Referendum ist ein Ermächtigungsgesetz. Erdogans Ziel ist die Diktatur. Erdogans Diktatur bedeutet Herrschaft des Islam. Die Wahlkampfauftritte von Mitgliedern der türkischen Regierung im Ausland dienen diesem Projekt totalitärer Islamisierung. Eine Nation auf dem Weg zu westlicher Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die noch vor wenigen Jahren als Europas Partner galt, der man gar den EU-Beitritt in Aussicht stellte, soll nun einer religiös-hermetischen Herrschaft unterworfen werden. Die Reden von Erdogans Abgesandten sind reine Agitation gegen alles, was den Europäern lieb und teuer ist: die offene Gesellschaft mit ihrer Meinungsfreiheit, die Garantie ebendieser Freiheit durch das Recht, die Gleichheit der Geschlechter, die Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger in einer angstfreien politischen Kultur – die Demokratie. Das muss wissen, wer darüber entscheidet, ob türkische Minister in demokratischen Ländern Europas Wahlkampfveranstaltungen durchführen dürfen, auf denen sie für Erdogans Ermächtigungsgesetz werben – Auftritte, die der Hetze dienen gegen alle andersdenkenden Türken, die sich in den europäischen Demokratien heimisch fühlen – als Demokraten fühlen. Das muss auch der Schweizer Bundesrat wissen, insbesondere der Schweizer Aussenminister. Wahrscheinlich weiss er es. Wenn nicht, lässt sich seine Wissenslücke mühelos schliessen. Zeitunglesen genügt. Angenommen, dem Entscheid, die Propagandisten Erdogans in der Schweiz reden zu lassen, liege das Wissen um die Realität in der Türkei zugrunde: Ist dieser Entscheid angesichts der türkischen Tragödie zu rechtfertigen? Ja, er ist richtig. Nationen pflegen Partnerschaften mit Staaten unterschiedlichster Systeme. Auch mit Autokratien, Despotien, Theokratien und Diktaturen. Nationen haben Interessen, die sie gerne mit Wortgirlanden wie beispielsweise «freundschaftliche Beziehungen» schmücken. Auch die Beziehungen der Schweiz mit der Türkei sind geprägt von Interessen. Einem türkischen Regierungsmitglied in der Schweiz das Wort zu verbieten, würde die Havarie dieser Beziehungen bedeuten. Doch das schweizerische Aussenministerium beschränkt sich nicht darauf, neutral zu bleiben gegenüber den Sendboten des Alleinherrschers Erdogan. Es bietet ihnen an, bei der Suche nach Auftrittsorten behilflich zu sein und die Veranstaltungen zu sichern. Ist diese Hilfe im Rahmen der Wahrung schweizerischer Interessen zu rechtfertigen? Nein, denn es handelt sich um eilfertige Liebedienerei. Das schweizerische Aussenministerium rutscht vor Erdogan auf den Knien – ein unwürdiger Anblick! Nicht zuletzt bedeutet der Kniefall von Bern einen Affront gegenüber dem deutschen Nachbarn: Despot Erdogan wirft Deutschland Nazimethoden vor, weil seine Wahlkampftournee auf den Widerstand deutscher Bürger und Behörden stösst. Deutschland Naziland? Die Schweiz Freundesland? Ein unerträgliches Signal. Vor allem ein fatal falsches Signal an die Türken in Deutschland und der Schweiz: Die Demokraten unter ihnen werden desavouiert, Erdogans Anhänger hingegen ermutigt, ihre antidemokratische Überzeugung ungehemmt zu pflegen und zu verkünden. Was wäre das richtige Signal gegenüber der türkischen Diaspora? Ganz einfach: Wer die islamische Diktatur will, die mit dem Referendum angestrebt wird, der soll diesen diktatorischen Staat auch zu seinem Wohnsitz machen. Publiziert am 12.03.2017 | Aktualisiert um 09:43 Uhr