Das deutsche Tarifsystem im internationalen Vergleich: Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen. Franz Traxler Universität Wien Zur Struktur und Entwicklung des deutschen Tarifsystems liegt eine Vielzahl von Untersuchungen vor. Die folgende Betrachtung beschränkt sich darauf, Besonderheiten des deutschen Systems herauszuarbeiten. Die Grundlage dafür bietet der Ländervergleich, der sich hier auf die EU-15 konzentriert. Den Ausgangspunkt für diese Betrachtung bilden Daten zu einigen Grunddimensionen des Tarifsystems, die in Tabelle 1 für den Beginn des neuen Jahrtausends zusammengefasst sind. Zu diesen Grunddimensionen dokumentiert die zweite Spalte in Tabelle 1 je Land die vorherrschende Ebene der Tarifverhandlungen. Unterschieden wird dabei zwischen (unternehmensübergreifenden) Verbandstarifverträgen, die von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden verhandelt werden, und (unternehmens- bzw. betriebsbezogenen) Haustarifverträgen. Als vorherrschend wird in Tabelle 1 jene Verhandlungsebene klassifiziert, die die Mehrheit unter den insgesamt tarifgebundenen Arbeitnehmern abdeckt. Das deutsche Tarifsystem entspricht dem Standard der EU-15: Mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs ist der Verbandstarif die vorherrschende Verhandlungsebene. Die Klassifikation nach Verbands- und Haustarif verbirgt komplexere Sachverhalte. In nahezu allen Ländern mit vorherrschendem Verbandstarif besteht ein Mehrebenensystem, in dessen Rahmen zumeist Verhandlungen auf der Sektor/Branchenebene und der Unternehmens/Betriebsebene stattfinden. In der Mehrzahl der Fälle kam es zur Entwicklung dieses Mehrebenensystems im Zuge „organisierter“ Dezentralisierung, in deren Rahmen die Verbandstarifverträge bestimmte Fragen an die Betriebsparteien zur (näheren) Regelung delegierten. Dieser Prozess organisierter Dezentralisierung begann Mitte der 1980er Jahre mit Rahmenregelungen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit, und setzte sich ab Anfang der 1990er Jahre mit verbandstariflichen Vereinbarungen zur Entgeltflexibilisierung fort (Traxler et al. 2001). Die Entwicklung in Deutschland fügt sich diesem generellen Trend ein. Im Fragen der Arbeitszeit übernahm die deutsche Tarifpolitik eine Vorreiterfunktion in Form der tariflichen Verknüpfung von Arbeitszeitverkürzung und -flexibilisierung. Für die jüngere Entwicklung ist allerdings für Deutschland ein abweichendes Muster bezüglich der Richtung der tariflichen Flexibilisierung erkennbar. Denn seit Mitte der 1990er Jahre werden verstärkt tarifliche 1 Öffnungsklauseln vereinbart, die die Betriebsparteien unter gewissen Voraussetzungen zur Absenkung der verbandstariflichen Standards von Entgelt und Arbeitszeit ermächtigen. Im Unterschied dazu beruht organisierte Dezentralisierung in den anderen Ländern der EU-15 weiterhin wesentlich auf dem Günstigkeitsprinzip, sodass die im Rahmen des Verbandstarifs getroffenen betriebsspezifischen Regelungen die Arbeitnehmer in der Regel besser stellen als der Verbandstarif selbst (Schulten 2005). Eine weitere Besonderheit des deutschen Tarifsystems wird aus dem Ländervergleich der tariflichen Deckungsrate (i.e. der Tarifbindung) ersichtlich, die sich auf den Anteil der tarifgebundenen Arbeitnehmern an den Arbeitnehmern insgesamt bezieht. Mit einer tariflichen Deckungsrate von 67 % bleibt (Gesamt)Deutschland deutlich unter dem ungewogenen Durchschnitt der EU-15, der bei knapp 81% liegt (Tabelle 1). Nur das Vereinigte Königreich und Luxemburg verzeichnen eine geringere Tarifbindung. Ebenso wie das Niveau der Deckungsrate erweist sich auch deren Entwicklung in Deutschland als Ausnahmefall in den EU-15. Diese Diskrepanz ist so enorm, dass der derzeit bestehende Mangel an streng vergleichbaren Zeitreihendaten durchaus vernachlässigbar ist. Die verfügbaren Daten des IAB Panels für die alte Bundesrepublik weisen darauf hin, dass die Tarifbindung der Beschäftigten von Mitte der 1990er Jahre bis zum Anfang des neuen Jahrtausends um mehr als 12 Prozentpunkte schrumpfte. Im Gegensatz dazu war die Entwicklung über denselben Zeitraum in den übrigen EU-15 mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs durch Stabilität der Tarifbindung auf generell hohem Niveau gekennzeichnet. Im Vereinigten Königreich stabilisierte sie sich auf niedrigem Niveau. Nachdem die Deckungsrate von Anfang der 1980er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre massiv um 35 Prozentpunkte abgenommen hatte (Traxler et al. 2001), ging sie in der Folge bis 2000/2001 nur noch um einen Prozentpunkt zurück. Aus komparativer Perspektive bezieht sich eine weitere Grunddimension des Tarifsystems auf die Frage, wie im Falle eines bestehenden Verbandstarifs mit „Außenseitern“ unter den Arbeitgebern verfahren wird, die nicht dem kontrahierenden Arbeitgeberverband angehören. In vielen Ländern besteht das Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung, kraft dessen die zuständigen Behörden unter bestimmten Voraussetzungen solche Außenseiter in die Tarifbindung formell eingliedern können. Nicht in allen Ländern ist dieses Rechtsinstitut kodifiziert. Wenn es besteht, ist es aus naheliegenden Gründen nur dann von grundsätzlicher Relevanz, wenn in dem betreffenden Land der Verbandstarifvertrag vorherrscht. Die Länder, in denen die Allgemeinverbindlicherklärung implementierbar ist, unterscheiden sich durchaus in Ausmaß ihrer tatsächlichen Anwendung. Eine Klassifikation der praktischen Bedeutung 2 der Allgemeinverbindlicherklärung in den EU-15 enthält die Spalte 4 in Tabelle 1. In Deutschland wird von der Möglichkeit, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, kaum Gebrauch gemacht. Der Anteil der Arbeitnehmer, die nur durch Allgemeinverbindlicherklärung der Geltung eines Tarifvertrags unterstehen, an den tarifgebundenen Arbeitnehmern liegt unter 1 Prozent, sodass Deutschland in die Gruppe der Länder ohne praktische Relevanz dieses Rechtsinstituts einzuordnen ist. In den übrigen Ländern, die dieser Gruppe zugehören, gibt es keine rechtliche Verankerung der Allgemeinverbindlicherklärung. Im letzten Jahrzehnt verzeichnete Deutschland einen merklichen Rückgang in der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen (Kirsch 2003), entgegen dem generellen Trend einer Bedeutungszunahme dieses Rechtsinstituts in den EU-15. Dies gilt auch in rechtspolitischer Hinsicht. So wurden z. B. in Finnland die Zugangsvoraussetzungen zur Allgemeinverbindlicherklärung durch den Gesetzgeber erleichtert. In dieser abweichenden Entwicklung in der Handhabung der Allgemeinverbindlicherklärung liegt eine wichtige Ursache für den starken Rückgang der Tarifbindung in Deutschland. Aus komparativer Perspektive gibt es nur zwei Wege zu einem hohen Niveau der Tarifbindung (Traxler et al. 2001): - Zum einen ist dies ein sehr hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad, der den Rückgriff auf Allgemeinverbindlicherklärung entbehrlich macht. Dies entspricht der Situation der skandinavischen Länder (Tabelle 1). - Der zweite Weg besteht in der regelmäßigen und umfassenden Allgemeinverbindlicherklärung, die ein hohes Niveau der Tarifbindung unabhängig vom gewerkschaftlichen Organisationsgrad sichert. Dies ist charakteristisch für die Mehrzahl der kontinentaleuropäischen EU-15. Die umfassende Anwendung der Allgemeinverbindlicherklärung entfaltet eine doppelt positive Wirkung auf die Tarifbindung. Sie weitet einerseits direkt die Tarifbindung aus. Nachhaltiger und daher noch wichtiger ist ihr indirekter Effekt der Stärkung der Arbeitgeberverbände, indem sie einen Anreiz für die Unternehmen setzt, die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband zu erwerben und aufrechtzuerhalten. Statistisch-komparative Analysen zeigen, dass dieser Anreiz signifikant sowohl auf große als auch auf kleine Unternehmen wirkt (Traxler et al. 2007). Große Unternehmen sehen sich zur Mitgliedschaft veranlasst, weil sie die Tarifpolitik, die sie in jedem Fall bindet, mitgestalten wollen. Kleine Unternehmen brauchen Service- und Beratungsleistungen im Zusammenhang mit der 3 Umsetzung der Tarifvertragsnormen, die von den Arbeitgeberverbänden für sie bereitgestellt werden. Vor diesem Hintergrund wird ein weiteres Spezifikum der Entwicklung in Deutschland verständlich: der starke Rückgang des Organisationsgrads der Arbeitgeberverbände. Es ist davon auszugehen, dass deren Organisationsgrad (gemessen an den Beschäftigten) im Laufe des letzten Jahrzehnts etwa im Ausmaß des Rückgangs der Deckungsrate des Flächentarifs in der Privatwirtschaft (d.h. um etwa 12 Prozentpunkte in den früheren Bundesländern) abnahm. Damit hebt sich Deutschland von der Mehrzahl der Länder mit vorherrschendem Verbandstarifvertrag ab, für deren Arbeitgeberverbände sich eine weitgehende Stabilität des Organisationsgrads auf hohem Niveau konstatieren lässt. Insofern ist die Krise des deutschen Tarifsystems nicht zuletzt eine Krise seiner Arbeitgeberverbände. Sie umfasst drei wesentliche Komponenten: Die dezidierte Ablehnung der Allgemeinverbindlicherklärung der BDA und ihrer wichtigsten Mitgliedsverbände. Sie steht im Gegensatz zur Haltung der Arbeitgeberverbände in den anderen Ländern, die die mitgliederstabilisierende Wirkung dieses Rechtsinstituts durchaus zu schätzen wissen. Eine weitere Komponente ist die funktionale Spezialisierung der deutschen Unternehmerverbände in „reine“ Arbeitgeberverbände und „reine“ Wirtschaftsverbände. Im Gegensatz dazu sind in den übrigen EU-15 Universalverbände Standard. Aus naheliegenden Gründen verfügen Universalverbände über ein breiteres Spektrum an Anreizen zur Rekrutierung und Integration von Mitgliedern. Dies impliziert, dass häufig Unternehmen Universalverbänden nicht wegen deren tariflicher Funktion, sondern wegen deren wirtschaftsverbandlichen Funktion beitreten (Traxler/Huemer 2007). Ungeachtet dessen sind sie dann aber auch vermittels der Tarifabschlüsse des Universalverbandes tarifgebunden. Eine dritte Komponente ist die Einführung der spezifischen Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT). In keinem anderen Land der EU-15 versuchen die Arbeitgeberverbände ihre Attraktivität für (potentielle) Mitglieder dadurch zu steigern, dass sie ihnen den Ausstieg aus dem Tarifsystem anbieten. Langfristig ist OT vermutlich auch selbstdestruktiv, da die Anreizwirkung der OT- Mitgliedschaft (nämlich die Service- und Beratungsleistungen des Verbandes) an die Reichweite und Regelungskraft des Flächentarifs rückgekoppelt ist. Zusammenfassend lassen sich daher aus international vergleichender Sicht zwei ebenso gewichtige wie spezifische Faktoren der Krise des deutschen Tarifsystems ausmachen: - Zum einen ist dies der Mangel an staatlichen Organisierungs- und Regulierungshilfen, den die Tarifparteien selbst durch den Verzicht auf die Allgemeinverbindlicherklärung wesentlich (mit)verursachen. 4 - Der zweite Faktor ergibt sich aus der besonderen Konfiguration des deutschen Systems der Unternehmerverbände. Sie umfasst in interessenpolitischer Hinsicht die Ablehnung der Allgemeinverbindlicherklärung; in funktionaler Hinsicht die Aufspaltung des Systems in "reine" Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände; und in organisationspolitischer Hinsicht die Zuflucht zu OT. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass auch andere Faktoren zur Krise des deutschen Tarifsystems beitragen, wie z.B. der Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads. Dessen Rückgang ist aber kein deutsches Spezifikum sondern Ausdruck eines generellen Trends, der die Tarifsysteme in nahezu allen Ländern unter Druck setzt. Dieser Druck ist allerdings in Deutschland ungleich größer als in den übrigen EU-15. Denn in Deutschland bewirkt er nicht nur eine Erosion der Tarifstandards, sondern auch der Tarifinstitutionen, namentlich in Form des Verfalls der Tarifbindung. Dass vergleichbare Erosionstendenzen der Tarifinstitutionen in den anderen Ländern nicht zu beobachten sind, lässt den Schluss zu, dass sie auf die beiden oben beschriebenen Faktoren zurückzuführen sind. 5 Tabelle 1 Basisdaten zu den nationalen Arbeitsbeziehungen in der Europäischen Union, 2000-2001 Belgien Dänemark Deutschland Finnland Frankreich Griechenland Irland Italien Luxemburg Niederlande Österreich Portugal Schweden Spanien Vereinigtes Königreich EU-15 ** Vorherrschender Tarifliche Gewerkschaftlicher AllgemeinTarifvertrags- Deckungsrate* Organisationsgrad verbindlichtypus (Tarifbindung) erklärung*** VTV 96 55.8 2 VTV 83 73.8 0 VTV 67 23.5 0 1 VTV 81 71.2 2 VTV 90-95 9.7 2 2 VTV n.v. 26.7 1 VTV n.v. 35.9 0 VTV n.v. 34.8 2 VTV 59 33.5 1 VTV 88 22.5 2 VTV 98 35.7 2 VTV 87 24.0 2 VTV 91-94 78.0 0 VTV 86 14.92 2 HTV 36 30.7 0 VTV 80.5 38.1 - VTV = Verbandskollektivvertrag; HTV = Haus- bzw. Unternehmenskollektivvertrag, 1996, 2 1 = = 1999, * Anteil der Arbeitnehmer unter Geltung eines Kollektivvertrages in % der Gesamtzahl der Arbeitnehmer, ** Ungewichteter Länderdurchschnitt aus den verfügbaren Daten (Lettland 20%; für die Länder mit Intervallschätzungen wurde jeweils der Intervalldurchschnitt für die Berechnung des Länderdurchschnitts herangezogen), *** Inklusive vergleichbarer Mechanismen; 0 = nicht existent/ unbedeutend, 1 = begrenzte Bedeutung, 2 = generelle Praxis; n.v. = nicht verfügbar Daten zur Deckungsrate und zum Organisationsgrad sind standardisiert (i.e. ohne nichterwerbstätige Gewerkschaftsmitglieder (außer Portugal), und korrigiert für Arbeitnehmer außerhalb des Tarifrechts (ausgenommen Deutschland und Vereinigtes Königreich). Datenquellen: Traxler/Behrens (2002); Carley (2002), Visser (2004), Franz Traxler Datensatz, IST (2001) 6 Literatur Carley, M. (2002) "Industrial relations in the EU Member States and candidate countries", European Industrial Relations Observatory On-line, Ref: TN0207104F. IST (Institut des Sciences du Travail) (2001) "Collective Agreement Extension Mechanisms in EU Member Countries", Catholic University of Louvain: Typescript. Kirsch, J. (2003) Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen – ein Instrument in der Krise, WSI Mitteilungen, 56: 405-412. Schulten, T (2005) Change in national collective bargaining systems since 1990, European Industrial Relations Observatory On-line, Ref: TN053102S Traxler, F./Behrens, M. (2002) "Collective bargaining coverage and extension procedures", European Industrial Relations Observatory On-line, Ref: TN0212102S. Traxler, F./Blaschke, S./Kittel, B. (2001) National Labour Relations in Internationalized Markets, Oxford: Oxford University Press. Traxler, F./Brandl, B./Pernicka, S. (2007) "Business Associability, Activities and Governance: Crossnational Findings", in Traxler, F./ Huemer, G. (2007). Traxler, F./Huemer, G. (2007) The Handbook of Business Interest Associations, Firm Size and Governance. A Comparative Analytical Approach, London and New York: Routledge, im Erscheinen. Visser, J. (2004) "Patterns and Variations in European Industrial Relations", in European Commission (2004). 7