Ermutigungspraxis für Schule und Familie Ursula Kühne Ich kann kein Englisch Eine Schülerin kommt ins Gymnasium. Schon am ersten Tag teilt Sie ihrem neuen Englischlehrer mit, dass sie kein Englisch kann. Der Lehrer in der Sekundarschule hatte sie als hoffnungslosen Fall eingestuft. Der Englischlehrer gibt ihr zur Antwort: „Gib mir die Chance, dich kennen zu lernen, dann sprechen wir wieder darüber“. Die Schülerin ist erstaunt, dass der Lehrer ihr eine Chance geben möchte. Tatsächlich hat die Schülerin grosse Mühe mit Schreiben. Sie macht viele Grammatik-, Syntax- und Orthographiefehler. Sie hat jedoch gute Ideen, wertvolle Gedanken und spricht einigermassen verständlich. Die private Logik der Schülerin: Sie braucht sich keine Mühe zu geben, sie muss sich nicht anstrengen, sie hat sich selber schon aufgegeben. Es hat ja doch keinen Zweck. Sie teilt dem Lehrer mit, dass nichts von ihr zu erwarten ist und weist damit jede Erwartung an sie in diesem Fach zurück. Die Reaktion der Lehrkraft: Der Lehrer baut nicht auf ein Vorurteil auf. Er will sich seine eigene Meinung zu dieser Schülerin machen. Er gibt ihr die Möglichkeit, ihr eigenes Bild von sich zu überdenken. Was tut der Lehrer? Der Lehrer macht mit der Schülerin ab, dass sie den Satz: „ich kann kein Englisch“ mit dem Satz „ich kann ein wenig Englisch“ ersetzt. Dies sowohl in Gedanken als auch in Worten. Die Schülerin ist einverstanden, es zu probieren. Jedes Mal, wenn die Schülerin eine gute Idee hat, nimmt der Lehrer diese Idee auf. Nach einer Prüfung liest der Lehrer der Klasse die gelungenen Sätze und Gedanken der einzelnen Schüler und Schülerinnen vor. So werden auch die guten Beiträge dieser Schülerin erwähnt und das stärkt ihr Selbstbewusstsein in der Gruppe. Die anderen sehen, dass sie etwas kann. Wie entwickelt sich die Schülerin? Sie bekommt mehr Mut, sich auch im Fach Englisch etwas zuzutrauen. Sie kommt mit einer positiven Einstellung in die Stunden und beteiligt sich am Unterricht, denn sie fühlt sich von ihrem Lehrer angenommen. Sie gibt trotz vieler Fehler nicht auf und verbessert sich langsam, aber merklich. Schluss der Geschichte: Sie wurde nie eine Starschülerin, denn ihre Sprachbegabung lag in Grenzen. Ihre Noten bewegten sich zwischen 3.5 und 4.5, doch sie hat gelernt, aus ihren Möglichkeiten das Beste zu machen und damit zufrieden zu sein. Sie ging immer gerne in den Englischunterricht und schrieb in die Maturazeitung: „Das Beste, was mir an dieser Schule passiert ist, ist mein Englischlehrer“. Fazit: Die Ermutigung, die sie in diesem Schulfach erlebt hat, hat ihren Lebensmut gestärkt und ihr gezeigt, dass man etwas erreichen kann, wenn man an sich glaubt und daran arbeitet, negative Vorstellungen und Festlegungen los zu lassen. Dazu verholfen hat ihr die positive Einstellung einer einzigen Person, die trotz allem an sie geglaubt hat und ihr eine Chance geben wollte.