nationalismus (12 f)

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Hagen Schulze: »Staatsnationen und Kulturnationen« {
00.04.62
• Entstehungsgeschichte der europäischen Nationen ist eine Geschichte von lauter Sonderwegen → Identitäten
jeder einzelnen nationalen Gemeinschaft beruhen auf einigen individuellen bestimmenden Voraussetzungen
(räumliche und historische Entfernung zur einstigen Zivilisation Rom; Anteil an der Nachfolge des karolingischen Reiches; Nähe zum Papsttum; Verdichtung der Zivilisation [Handel, Städte, Kommunikation]; staatlicher Ausbau; geographische Lage)
Nationsbildung in England:
• frühe und dauerhafte Herausbild. einer gemeinsamen Identität: geschlossener geographischer Raum (Insel)
mit klar definierten Grenzen erleichterte das Zusammenwachsen → 1. Druck des keltischen Gürtels (Irland,
Schottland, Wales) stärkte den Zusammenhalt Englands (bis Wales 1536 und Schottland 1603 in Personalunion bzw. 1707 staatsrechtl. mit England vereint wurden → Ver. Königr. von GB), 2. rasche Durchsetzung
der königlichen Autorität seit 1066 durch einheitliches königliches Recht, 3. Kampf um das englische Festlandserbe mit Frankreich
• kulturelle Integration:
a) durch gemeinsame Sprache: Vereinheitlichung der englischen Sprache und Entwicklung eines geschlossenen
Sprachraums durch 1. den Hundertjährigen Krieg (Offiziere mußten die Sprache der Langbogenschützen aus
dem Volk sprechen), 2. die wirtschaftliche Bedeutung der Städte (Kaufleute sprachen englisch, und Städte
waren im Parlament vertreten), 3. die Kronkanzlei (sorgte für Entstehung einer einheitlichen Verkehrssprache), 4. die Bibelübersetzung (vom Ende des 14. Jh. durch John Wiclif), 5. die Einführung von Druckerpressen seit 1480 (Ermöglichung der Renaissanceliteratur und massenhafte Verbreitung von Flugblättern), 6. die
einheitliche Nationalsprache in den Gottesdiensten (seit 1549)
b) durch gemeinsame Religion: Einheitlichkeit der Konfession (in gemeinsamer Gegnerschaft zum römischen
Katholizismus) → Reformation führte zur Etablierung der Hochkirche und Anglisierung der Kirchensprache
(auf der Grundlage der Bibelübersetzung Wiclifs, der gegen die Papstkirche und die Transsubstantiationsleh-
re [= »Wesens-verwandlung« → Verwandlung der Substanz von Wein und Brot in Leib und Blut Christi]
war). Nationales Selbstbewußtsein und Religion waren unmittelbar vermischt: Maria Tudor (1516-1558) versuchte Rekatholisierung und heiratete Phillip II. von Spanien → Feindbild Spanien entstand. In der Revolution von 1642-1649 dann entfaltete der Puritanismus, der England als das auserwählte Volk Gottes verstand,
seine national einigende Kraft → Entstehung des Sendungsbewußtseins Englands (bis zum Imperialismus
hin)
c) durch gemeinsames Geschichtsbild: Bewußtsein der gemeinsamen Herkunft wurde gefördert durch 1. Nationalgeschichtsschreibung (Geschichte Englands war Hauptthema der englischen Historiker) und 2. Verarbeitung der Nationalgeschichtsschreibung in der Dichtung (Shakespeare) → Entstehung eines volkstümlichen
Nationalbewußtseins
⇒ seit dem 16. Jh. gab es eine englische Kulturnation, mit gemeinsamer Sprache, Religion und Geschichtsbild. Hilfreich dafür war 1. die geographische Isolation, die das Zusammenwachsen förderte,
und 2. die gesellschaftliche Durchlässigkeit (Mobilität zwischen Hochadel, Landadel und Bürgertum),
die zur kulturellen Vereinheitlichung beitrug
• staatliche Integration:
a) Konzentration der Königsherrschaft: Könige hatten seit 1066 keine großflächige Lehen an den Hochadel
vergeben → König war größter Grundherr im Land, dadurch konnten sein Herrschaftsanspruch und seine
Rechtsordnung schnell ausgedehnt werden - es entstanden keine Stammesherzogtümer. Durch die Behördenreform (von Thomas Cromwell i.A. Heinrichs VIII.) wurde der Herrschaftsapparat vereinheitlicht ⇒ König
war Herrscher des englischen Volkes, nicht nur Haupt einer Adelspartei
b) König war Oberhaupt der Kirche (seit Reformation) → Einheit von Staat und Kirche
c) Parlament → partikularistische Interessen des Landes wurden hier gebündelt und fanden zum Gemeinwohl
zusammen
⇒ politische Institutionen Krone und Parlament schufen die englische Staatsnation, welche Rahmen und
Voraussetzung der Kulturnation war (die ihrerseits die Staatsnation legitimierte und festigte)
Hagen Schulze: »Staatsnationen und Kulturnationen« |
00.04.62
Nationsbildung in Deutschland:
• Deutsches Reich war »undeutlich«: 1. keine klar definierten geographischen Grenzen, 2. Vielzahl an europäischen Nachbarn, 3. kein Machtzentrum (Hauptstadt)
• kulturelle Integration:
a) durch Aufkommen eines Nationalmythos: Ende des 15. Jh. wiederentdeckte »Germania« des Tacitus führte
zur Identifikation mit der taciteischen Idealgestalt der Germanen, die als Vorfahren der deutschen angesehen
wurden → allerdings: Nationalmythos blieb schwach, weil der Dauerhaftigkeit verleihende politischstaatliche Rahmen fehlte und die deutschen Gelehrten fast ausnahmslos in lateinischer Sprache schrieben
b) durch gemeinsame Sprache: Bibelübersetzung Luthers machte das sächsisch-meißnische Kanzleideutsch zur
Nationalsprache. Nach der Spaltung des Dreißigjährigen Krieges entstehen Sprachgesellschaften zur Pflege
der deutschen Sprache überwiegend in protestantantischen Ländern → Bibelübersetzung war Maßstab für die
protestantisch-deutsche Literatur. Im 18. Jh. bildete sich eine neue gesellschaftliche Schicht → Bildungsbürgertum (übten ihren Beruf nicht dank ihres Standes, sondern aufgrund ihrer akademischen Bildung aus; v.a.
höhere Beamtenschaft) ⇒ erfuhren ihre nationale Identität in der bewußten Abgrenzung von der französischen Kulturhegemonie und Sprache an den deutschen Fürstenhöfenm → deutsche Dialekte und Mundarten
wuchsen zu einer gemeinsamen Sprache »deutscher Hochkultur« zusammen
⇒ es entstand eine deutsche Kulturnation auf Reichsebene, die allerdings nicht die Festigkeit hatte wie in
Frankreich oder England, weil sie sich nicht innerhalb einer gefestigten Staatsnation entfalten und sich
an ihr anlehnen konnte,
aber: c) keine gemeinsame Konfession: Konfessionelle Spaltung nach der Reformation → Protestantismus war
Sache der Landeskirchen und der Landesherrsch. (»cuius regio, eius religio«)
• staatliche Entwicklung:
- Universalitätsanspruch des Reiches wirkte der staatlichen Nationsbildung entgegen → deutsche Nation als
politisch handelnde Gemeinschaft der deutschen Fürsten war ein Oppositionsbegriff gegen die universalen
Gewalten von Kaiser und Papst
- Stärkung der Territorialstaaten v.a. seit dem Dreißigjährigen Krieg → Westfälischer Frieden von 1648
stärkte Hoheitsrechte der Landesfürsten und schwächte Zentralstaatlichkeit des Reiches
⇒ 2 staatliche Nationsebenen:
1. Territorialnationen (= souveräne Fürstentümer)
2. »deutsche Nation« in Form der Reichsstände gegenüber dem Kaiser
⇒ in Deutschland Kulturnation auf Reichsebene, darunter viele kleine Staatsnationen in Form der
Fürstentümer
• es lassen sich 3 unterschiedlich gestaltete Regionen in Europa unterscheiden:
1. Westeuropa (England, Frankreich, Spanien):
− Staatsnation entfaltete sich im Zusammenhang mit der kulturellen Integration → feste staatliche Institutionen schufen einheitlich zusammenhängende Nation, innerhalb derer sich eine kulturelle Gemeinschaft ausbildete, die ihrerseits die staatlichen Institutionen legitimierte und festigte
(Identifikation mit den politischen Institutionen und der Führung, v.a. in England, wo der König Oberhaupt der Kirche war)
(- in Frankreich allerdings vollzog sich die Nationsbildung in einem etwas längeren Prozeß, wegen der großen bürokratischen und rechtlichen
Unterschiede und der geringen gesellschaftlichen Mobilität [= gesellschaftliche Durchlässigkeit zischen Hochadel, niederem Adel und Bürgertum])
2. Mitteleuropa (Deutschland, Italien):
− staatlicher Partikularismus verhindert Ausbildung einer Staatsnation → einzig ein übergreifender kultureller Rahmen entsteht ⇒ 2 Nationsebenen: Kulturnation auf Reichsebene, darunter viele kleine souveräne Staatsnationen
(- allerdings Unterschiede zischen Deutschland und Italien: in Italien Rom als geistiges Zentrum ↔ in Deutschland kein Zentrum; in Italien klar
definierte geographische Grenzen ↔ in Deutschland keine fest umrissene Außengrenze; in Italien konfessionelle Einheit ↔ in Deutschland nach
der Reformation konfessionelle Spaltung)
3. Osteuropa (Habsburg, Russisches Reich, Osmanisches Reich):
− »transnationale Großreiche« unterdrücken die individuellen nationalen Kulturen
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