SEXUALITÄT SFU-VORLESUNG 2007 Prof. Dr. Alfred Springer Aufriss der Lehrveranstaltung • • • • • • • • • • 1. Allgemeine Einführung 2. Devianztheorie 3. Psychiatrie, Psychoanalyse und Sexualität Abweichung und/ vs. Krankheit 4. Sexuelle/psychosexuelle Entwicklung; Triebtheorien 5. Bisexualität; geschlechtliche Identität; Geschlechtsdysphorie 6. Das Konzept der Paraphilie: Phänomenologie und Interpretation 7. Therapie 8. Normalisierung 9. Kritik und Ausblick Definition von Sexualität Sexualität bezeichnet nicht allein die Aktivitäten und die Lust, die vom Funktionieren des Genitalapparates abhängen, sondern eine ganze Reihe von Erregungen und Aktivitäten, die bereits in der Kindheit bestehen und eine Lust verschaffen, die auch aus der Befriedigung des Bedürfnisses nach Nähe, Intimität und Zärtlichkeit resultiert, also nicht auf die Stillung eines physiologischen Bedürfnisses reduzierbar ist. Sie finden sich als Komponenten in der ´normalen` Form der sexuellen Liebe. Dimensionen der Geschlechtlichkeit • Biologisches Geschlecht: Kerngeschlecht Hormongeschlecht = SEX Soziokulturelle Dimension: = GENDER Namensgebung Attribution Geschlechtsrolle Psychisches Geschlecht: Geschlechtsidentität Entwicklungsmerkmale der Sexualität • • • • • • • das genetische oder Chromosomengeschlecht, das Gonadengeschlecht, das Hormongeschlecht im Fetalstadium, das innere morphologische Geschlecht, das äußere morphologische Geschlecht, das Hypothalamusgeschlecht, das Geschlecht nach Geburtsurkunde und Erziehung, also das Zuweisungsgeschlecht, • das Hormongeschlecht in der Pubertät und ev. • (die Störung der Zeugungsfähigkeit) (MONEY, J., 1969) Geschlechtsrolle – soziale Dimension • Set von Handlungen, Einstellungen und Verhaltensweisen, die gesellschaftlichen geschlechtstypisierten Vorstellungen und Erwartungen entsprechen. Geschlechtsidentität – individuelle Dimension • Komponente der Identität. Das Bewusstsein, einem von zwei Geschlechtern zuzugehören. Dazu gehört auch die Akzeptanz der biologischen Verhältnisse und der Forderungen der Geschlechtsrolle sowie das Verständnis der geschlechtstypisierten Funktion. Normenbezug der Dimensionen der Geschlechtlichkeit • Soziokulturelle Dimension: „Objektive Normen“ Idealnorm (Moralische Kategorie) Durchschnittsnorm (statistische Kategorie) • Psychische Dimension: Subjektive Norm Regeln der Geschlechtlichkeit (Garfinkel) . Es gibt zwei – und nur zwei Geschlechter ( männlich und weiblich ) 2. Das Geschlecht ist unveränderlich ( Wenn du männlich oder weiblich bist, dann warst du es immer und wirst es auch immer bleiben ) 3. Die Geschlechtsorgane bezeichnen essentiell das Geschlecht ( der Mann besitzt einen Penis, die Frau eine Scheide ) 4. Ausnahmen von den beiden Geschlechtern sind nicht ernst zu nehmen. ( Sie sind Scherze, pathologische Bildungen, etc. ) • Es gibt keine Übergänge zwischen den Geschlechtern außer im zeremoniellen Kontext ( Fasching, etc ) • Die Dichotomie männlich – weiblich ist naturgegeben. (Männer und Frauen existieren unabhängig von wissenschaftlichen oder anderen Kriterien dafür ein Mann oder eine Frau zu sein ). • Die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht ist naturgegeben. ( Mann oder Frau sein hängt nicht davon ab, ob irgendjemand darüber entscheidet, was man ist. ) • Jeder Mensch muss nach seinem Geschlecht klassifiziert werden ( Es gibt keinen Fall, dem kein Geschlecht zugeordnet würde) Entwicklung der Regeln • Unser Regelsystem baut auf zwei Einflusssystemen auf: moralisch-religiöser Rahmen: Judao-christlich (z.B.: Festschreibung der auf die eigene Gattung begrenzten Sexualität; Fortpflanzungsfunktion; Stigmatisierung von Masturbation und Homosexualität) naturwissenschaftlich-medizinisch: Erkenntnisse und Zuschreibungen aus dem 19. Jahrhundert (z.B.: sexueller Dimorphismus; Perversionslehre; Bedeutung der Fortpflanzung) Foucault: Sexualität und Wahrheit • Foucault ortet Sexualität in einem komplexen Regelsystem. Im Sexualitätsdispositiv verbinden sich Zwecke der Regulierung, Kontrolle und Vereinheitlichung verschiedener Akteurinnen verschiedener Diskurse. In diesem diskursiven Netzwerk überschneiden sich viele Schnüre, Bänder, Stricke und Taue: etwa Medizin, Biologie, Psychologie, Juristerei und Kriminologie, Bevölkerungspolitik. Geschlecht und Abweichung Devianz-Definitionen • Primäre Devianz: Die Abweichung von einer bestimmten Norm. • Sekundäre Devianz: Abweichungsverstärkung als Reaktion auf den gesellschaftliche Respons auf die primäre Devianz in einem FeedbackProzess. Abweichungen • Abweichung von Idealnorm: Überschreitung moralischer Regeln und Vorstellungen • Abweichung von Durchschnittsnorm: Handlung, die von der Mehrheit nicht ausgeübt wird und daher den Täter in eine Minderheitenposition versetzt. Dimensionen der geschlechtsbezogenen „Abweichung“ • • • • Überschreitung körperlicher Bedingungen Abweichung von vorgegebenen Zielen Abweichung von vorgegebenen Regeln Abweichung von den Vorgaben des Sexuellen Dimorphismus Gestalt und Raum der Abweichung • Fantasie • Aktion • Beziehung zwischen hysterischer und perverser Position: Die Hysterie bietet den fantastischen Unterbau für die praktizierte sexuell-perverse Handlung (Mitchell, 2000) Tabu: Inzest und Tötung • In allen bekannten Kulturen und auf allen Stufen der zivilisatorischen Entwicklung bestehen Regeln bezüglich der Geschlechterverhältnisse zwischen den Generationen und insbesondere hinsichtlich sexueller Beziehungen unter Verwandten. Das sogenannte Inzesttabu verbietet in verschiedenen Kulturen sexuelle Beziehungen zwischen nahen Verwandten. Der Missbrauchsdiskurs als Erweiterung des Inzesttabus • Bis in die jüngere Vergangenheit wurde die Überschreitung des Inzesttabus einer andern Kategorie zugeordnet als anderweitige Überschreitungen der Tabuierung sexueller Beziehungen zu Kindern und/oder in anderer Weise Abhängigen. • Der aktuelle Diskurs über „sexuellen Missbrauch“ verwischte diese Differenzierung indem er die Position des Opfers ins Zentrum rückte. Psychiatrie und Sexualität: Pathologisierung 1 Die psychiatrische Theorie und Praxis entwickelte seit ihren Anfängen ein großes Interesse an sexuellen Fragestellungen. Dabei galt das Forschungsinteresse sowohl als krankhaft erscheinenden oder definierten Ausdrucksformen des Geschlechtstriebes wie auch dem Prinzip „Sexualität“ als ätiologischem Faktor. Hinsichtlich der Ätiologie galt das Augenmerk vor allem der Masturbation (Krafft-Ebing), der Pathologie der Gleichgeschlechtlichkeit (Westphal, Hirschfeld) und der pathoplastischen Valenz der weiblichen Sexualität (Krafft-Ebing; Möbius). • Das weibliche Geschlecht galt als „naturnäher“, a priori sexualisiert und der animalischen Sexualität periodisch unterworfen. Die psychischen Verstimmungen, die eventuell jene Perioden begleiten, in denen biologische Geschlechtlichkeit manifestiert wird: Regelblutung, Schwangerschaft, Stillperiode galten als Beleg für die animalische Position des weiblichen Geschlechts. • Sowohl Möbius populäre Schrift „Der physiologische Schwachsinn des Weibes“ , 1890 als auch Krafft-Ebings Beschäftigung mit dem menstruellen Irresein, 1878 und 1902 repräsentieren diese wissenschaftliche Position und damit auch einen wesentlichen Teil der „wissenschaftlichen“ Grundlage für die Mythologien der Dekadenzbewegung und der „Fin de Siecle“ Kultur Psychiatrie und Sexualität: Pathologisierung 2 • Auf diesem Weg entwickelte die Psychiatrische Theorie eine Krankheitslehre der Sexualität und daraus abgeleitete Behandlungsansätze, wurde aber auch zu einer Kontrollmacht im Dienste der gesellschaftlichen und moralischen Regulierung. In der Psychiatrie ist die Verschränkung von idealen Vorstellungen und von der Krankheitstheorie nützlicheren Durchschnittsnormen deutlich zu erkennen. Krafft-Ebing • Hinsichtlich der krankhaften Äußerungen des Geschlechtstriebs wurde im Sinne der „Psychopathia sexualis“von dem Psychiater Krafft-Ebing, der in Graz und in Wien wirkte, ein umfassender Katalog erstellt. Dieses Werk gilt bis heute als Standardwerk und wird immer wieder neu aufgelegt. Dabei spielt offenkundig auch eine Rolle, dass es voyeuristischen Bedürfnissen entgegen kommt. Psychopathia Sexualis Richard von Krafft-Ebing Lustmurder, Necrophilia, Pederasty, Coprophilia, Fetishism, Bestiality, Transvestism and Transexuality, Self-Multilation, Sado-Masochism, Exhibitionism; all these and countless other psychosexual disorders are detailed in the 237 case histories that make up Richard von Krafft-Ebing's legendary Psychopathia Sexualis. Long unavailable, this landmark text in the study of sexual mania and deviation is presented in a new, modern translation highlighting the cases chosen by Krafft-Ebing to appear in the 12th and final edition of the book, the culmination of his life's work compiled shortly before his death. An essential reference book for those interested in the development of medical and psychiatric diagnosis of sexual derangement, the Psychopathia Sexualis will also prove a fascinating document to anyone drawn to the darker side of human sexuality and behaviour. Cases range from Jack the Ripper to the most obscene and extreme instances of perversion known to 19th century psychiatrists and criminologists. Counter-cultural book publishers covering all aspects of 'horror'. From literary fiction in gothic, decadent, erotic, vampire and horror traditions (including HP Lovecraft, Edgar Allan Poe,Marquis de Sade), to non-fiction such as Krafft-Ebing's 'Psychopathia Sexualis' and the biography of 16th century female psychopath Erzsebet Bathory, to genre-based film books covering Hammer films, Freak film, Cannibals and "Cursed" movies such as 'The Exorcist' and 'Rosemary's Baby'. - Creation Books Perversion-alte Definitionen Definitorisch verstand man unter Perversion des Geschlechtstriebes in Anlehnung an Krafft-Ebing jene Äußerungen, die nicht dem Prinzip der Fortpflanzung dienen. Diese Perversion grenzte Krafft-Ebing von der „Perversität“ ab, die durch Handlungen charakterisiert ist, die durch perverse Triebe oder andere Ursachen motiviert sind. Von sexueller Parästhesie wurde gesprochen, wenn die sexuelle Erregung von einem an sich ungeeignet erscheinenden Stimulus ausgeht. Abweichung und Krankheit • In diesem alten Konzept entsprach die Perversität als frei gewählte Stilbildung der Abweichung, die Perversion hingegen wurde als pathologische Bildung, als zwanghaftes Verhalten und dementsprechend als „Krankheit“ erfasst. Krafft-Ebing stellte den Leidensdruck seiner KlientInnen eindrucksvoll dar. Pathologisierung als Stigma und Schutz • Sexuelle Abweichler sind gesellschaftlich stigmatisiert. Die Pathologisierung versucht einerseits das Stigma aufzuheben und eine Schutzfunktion zu übernehmen, indem sie den Leidensaspekt der Abweichung beschreibt, andererseits verlagert sie jedoch das Stigma in einen andern Raum. Im schlimmsten Fall sind die entsprechenden Personen dann doppelt stigmatisiert – als „Perverse“ und als „Verrückte“. Die Klassifikation der Psychopathia Sexualis Abweichung hinsichtlich des OBJEKTES Abweichende belebte Objekte: Überschreitung der Grenzen zwischen den Arten/Gattungen: Zoophilie: Tiere als Sexualobjekt Abweichung bezüglich der Partnerschaft: Automonosexualismus (ausschließlichen Selbstbefriedigung) Abweichung hinsichtlich des Geschlecht: Homosexualität Abweichung hinsichtlich des Alter: Pädophilie (die sexuellen Objekte sind im Kindesalter; sie befinden sich noch nicht in der Pubertät) Ephebophilie (die sexuellen Objekte befinden sich bereits in der Pubertät) Gerontophilie (die sexuellen Objekte sind wesentlich älter als es der gesellschaftlichen Konvention entspricht) Unbelebte Objekte bzw. körperliche Teilobjekte: Fetischismus Nekrophilie Abweichung hinsichtlich des TRIEBZIELES Sadismus: Erogener Sadismus; Aggressive Pädophilie;Vergewaltigung; Tötung mit sexueller Motivation Masochismus: Erogener Masochismus und sozialer (moralischer) Masochismus Exhibitionismus: dranghafte Präsentation des Geschlechtsteils Voyeurismus: Drang zum Beobachten sexueller Situationen Abweichung hinsichtlich der geschlechtlichen Identität und Rollenfindung (trans gender syndrome ) Effeminierter männlicher Homosexueller Virago (Männlichkeit imitierende weibliche Homosexuelle) Transvestismus Metatropismus Transsexualismus Anthropologischer Zugang • Alternativ zur klinischen Phänomenologie Krafft-Ebings entwickelte sich in der Psychiatrie ein anthropologischer Zugang, der die sexuellen Phänomene im gesellschaftlichen Kontext untersuchte und einen weniger pathologisierenden Standpunkt wählte. Aktuelle Phänomenologie nach klinischen Gesichtspunkten (DSM; Kockott, 1998) Sexuelle AbweichungIntensitätsstufen • 1. Ein devianter Impuls tritt spontan auf, eventuell in einer Lebenskrise oder gebunden an einen aktuellen Konflikt • 2. Eine deviante Reaktion wird zu einem wiederkehrenden Konfliktlösungsmuster ohne jedoch die sexuelle Einstellung gänzlich zu gestalten. • 3. Fixierung: Stabilisierung der devianten Orientierung. Diese wird bestimmend für den sexuellen Vollzug. • 4. Progrediente Entwicklung-sexuelle Süchtigkeit Fixierte Paraphilie • Stereotypisiertes und ritualisiertes Verhalten. • Objektivierung des Partners/der Partnerin • Orgasmische Befriedigung von den spezifischen Bedingungen der Paraphilie abhängig. Der „gewöhnliche Koitus“ wird als Ersatz erlebt. Perversion und Störung der Geschlechtsidentität • Homosexuelle Stilbildung mit „gender bending“. • Klinischer Transvestismus: Perversion, in der die sexuelle Erregung und der sexuelle Vollzug an das Tragen der Kleidung des andern Geschlechts geknüpft ist. • Transsexualität: Komplexe Persönlichkeitsstörung mit Fokus in der geschlechtlichen Identität. Dissoziation zwischen seelischem Erleben und körperlicher Erscheinung mit Wunsch nach Geschlechtsumwandlung. Die Bedeutung der Psychoanalyse als Sexualwissenschaft RELEVANTE PSYCHOANALYTISCHE KONZEPTE • • • • Psychosexuelle Entwicklung/Triebtheorie Affekttheorie Todestriebtheorie Objektbeziehungstheorie Psychosexuelle Entwicklung Jeder Entwicklungsphase: Der oralen – analen – ersten genitalen – ödipalen oder phallischen Phase entspricht ein Triebziel entsprechen spezifische Ängste Charakterzüge und Gewohnheiten Störungen/Erkrankungen Freud und Sexualität S. Freud untersuchte, inwieweit die kulturelle Sexualmoral pathologisch wirkt: Wie pathogen sind bestimmte gesellschaftlich produzierte Formen der Regulierung der Sexualität? Freud’s Denken ist nicht auf Triebbefriedigung, sondern auf Selbstverwaltung ausgerichtet (selbstkontrollierendes System). Überschusskontrolle, die über Selbstkontrolle hinausgeht, macht krank. Freuds Kritik an Krafft-Ebing und seineTheorie der kulturellen Sexualmoral • Ich habe an diesen –und vielen anderen ähnlich klingenden Lehren - auszusetzen, nicht, dass sie irrthümlich sind, sondern dass sie sich unzulänglich erweisen, die Einzelheiten in der Erscheinung der nervösen Störungen aufzuklären, und dass sie gerade das bedeutsamste der ätiologisch wirksamen Momente ausser Acht lassen. Sieht man von den unbestimmteren Arten „nervös“ zu sein, ab und fasst die eigentlichen Formen des nervösen Krankseins ins Auge, so reduziert sich der schädigende Einfluss der Kultur im wesentlichen auf die schädliche Unterdrückung des Sexuallebens der Kulturvölker (oder Schichten) durch die bei ihnen herrschende „kulturelle“ Sexualmoral. Freud: Gradiva; S.29/30; 1907 • Gerade dasjenige, was zum Mittel der Verdrängung gewählt worden ist, wird der Träger des Wiederkehrenden; in und hintere dem Verdrängenden macht sich endlich siegreich das Verdrängte geltend. Eine bekannte Radierung von Felicien Rops illustriert diese Tatsache an dem vorbildlichen Falle der Verdrängung im Leben der Heiligen und Büßer. • Ein asketischer Mönch hat sich-gewiss vor den Versuchungen der Welt-zum Bild des gekreuzigten Erlösers geflüchtet. Da sinkt dieses Kreuz schattenhaft nieder und strahlend erhebt sich an seiner Stelle, zu seinem Ersatz, das Bild eines üppigen nackten Weibes in der gleichen Situation der Kreuzigung. • Andere Maler von geringerem psychologischen Scharfblick haben in solchen Darstellungen der Veruchung die Sünde frech und triumphierend an irgend eine Stelle neben dem Erlöser am Kreuze gewiesen. Rops allein hat sie den Platz des Erlösers selbst am Kreuze einnehmen lassen; er scheint gewusst zu haben, dass das Verdrängte bei seiner Wiederkehr aus dem Verdrängenden selbst hervortritt. Sexualreform und Tabubruch • Freud: Es ist gar nicht einfach zu übersehen oder darzustellen, welche Folgen für die Kultur diese Behandlung des „peinlichen Erdenrestes“ mit sich gebracht hat, als dessen Kern man die sexuellen und die exkrementellen Funktionen bezeichnen darf. Heben wir nur die eine Folge hervor, die uns hier man nächsten angeht, dass es der Wissenschaft versagt worden ist, sich mit diesen verpönten Seiten des Menschenlebens zu beschäftigen, so dass derjenige, welches diese Dinge studiert, als kaum weniger „unanständig“ gilt, wie wer das Unanständige wirklich tut. • Immerhin Psychoanalyse und Folkoristik haben sich nicht abhalten lassen auch diese Verbote zu übertreten und haben uns dann allerlei lehren können, was für die Kenntnis des Menschen unerläßlich ist……“ Freud: Die Erniedrigung des Liebenslebens • In seinen wichtigen Beiträgen zur „Allgemeinen Erniedrigung des Liebeslebens“ ortete Freud 3 Kerninhalte bzw. Symptome: - Die Erniedrigung des Liebesobjekts - Das Tabu der Virginität - Die Bedingung des „geschädigten Dritten“ Damit bot er eine kritische Betrachtungsweise des „dekadenten Eros“ • Er wies nicht explizit darauf hin, es ist aber evident, dass er damit auch aggressive Aspekte als wesentliche Bedingungen des „neurotischen“ Geschlechtslebens herausarbeitete. Sexualität und Lebensphase Die Sexualität des Kindes Wissensdimension Die Sexualität des Kindes Verhaltensdimension • 1. Lebensjahr: Entdeckung der Genitalien • Ab Ende 2. Lebensjahr absichtliches Spiel mit Genitalien • Autoerotische Betätigung 2.-5./6. Lebensjahr, dann Abnahme. • Mädchen masturbieren weniger als Knaben • Soziosexuelle Handlungen (zumeist Zeigen, Anschauen, Berühren) am stärksten zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr ausgeprägt. (Volbert, 1995) Lebensphase sexuelle Interesse/Aktivität psychosexuelle Krise Somatisierung Kindheit Neugier, Ausloten der IchGrenzen; Anfälligkeit für sex. Stimulation durch Erwachsene Masturbation als Trostfunktion; „Sexualisierung“ und psychopathol. Symptome als Folge sex. Gewalt Symptome als Folge intravaginaler Masturbation (Fremdkörper); Verletzungen durch sex./anale Gewalt; STD Adoleszenz Experimentierfreude; sex. Neigung: Hetero/Homosex. Orientierung; Kontrazeption Diffusion der sex. Identität; „Bin ich normal?“ Sex. Funktionsstörung (Hemmungen) Pilzinfektionen; Vaginitis, STD; Zyklusstörungen; Dysmenorrhoe Reproduktive Phase Genitale Sexualität, Kinderwunsch; Kontrazeption Sex. Funktionsstörung Unerträglichkeit der reprod. Ambivalenz; Unexplained Inferility; Abortus/Interruptio; p.p. maskierte Depression; chronic pelvic pain Klimakterium Genitale Sexualität Indiv. Interpretation d. „funktionslosen Ovar“ (Verlust d. Potenz Fruchtbarkeit) Extrem starke „hot flushes“; Stressinkontinenz; trockene Scheide; Pruritus genitalis Alter Gen. Sexualität Masturbation (Isolation) Indiv. Verarbeitung von Verlusten und sozialer Isolation reakt. Depression Multimorbidität; Behinderungen; Inkontinenz; Vorurteil von der Asexualität des Alters Sexuelle Funktion sei gebunden an reproduktive Funktion Sexuelle Spannung und das Bedürfnis nach Befriedigung sind hoch in der Jugend und würden in Richtung mittleres Lebensalter immer mehr absinken Jugend korreliert mit körperlicher Gesundheit und die physiologischen Veränderungen des Alters werden als Krankheit angesehen Altersbedingte Änderungen der hormonalen Sexualsteuerung und deren Auswirkung auf die Geschlechtsorgane und die sexuelle Reaktion Erkrankungen, die im Alter gehäuft auftreten und das Sexualverhalten beeinflussen Körperliche Erkrankungen (Bewegungs- und Stützapparat, Diabetes, etc.) Medikamente (Beruhigungsmittel, Schlafmittel, Hochdruckmittel, etc.) Psychische Erkrankungen – das Depressionskontinuum Psychosoziale Faktoren, die das Sexualverhalten im Alter beeinflussen Partnersituation Wohnsituation (Pflegeeinrichtung) Sexualität im Alter Vorurteile: Wirklichkeit: Sexualität ist gebunden an Fruchtbarkeit Forschungsergebnisse zum Sexualverhalten im Alter Sexuelle Spannung und Bedürfnisse sind im Alter nicht mehr spürbar Hormonell bedingte körperliche Veränderung Altersbedingte Veränderungen gelten als Krankheit Körperliche und psychosoziale Einflüsse auf das Sexualverhalten Sexuelle Probleme (max. 3 Probleme) Probleme in der Beziehung 85% Keine sexuellen Aktivitäten 41% Partner ist nicht interessiert Mangelnde Gliedsteifigkeit des Partners Gefühlsprobleme in der Beziehung Partner ist zu alt/ krank Keine nicht-sexuellen Berührungen, keine Zärtlichkeiten Kein Austausch von Mitteilungen über Sexualität Schmerzhafter Geschlechtsverkehr Nicht ausreichendes Vorspiel Zu viel/ zu oft sexuelle Aktivitäten 19% 15% 6% 2% 17% 7% 7% 4% 2% Voraussetzungen gelebter Sexualität in der Altersperiode • Die Koppelung von Sexualität und Reproduktion nicht als gegeben hinzunehmen • Altersbedingte somatische und psychosoziale Verhältnisse in Diagnose und Therapie berücksichtigen • Ein Spektrum von sexuellen Befriedigungsmöglichkeiten akzeptieren (zB mutuelle Masturbation) und die individuelle Würde respektieren Sexuelle Dysfunktion Definition der Funktionsstörung Unter einer Funktionsstörung versteht man eine am Ausführungsorgan, also am Geschlechtsapparat manifest werdende zentrale Hemmung. Dabei muss eine normale Funktionseinschränkung (z.B. allgemeine geistige, körperliche Erschöpfung) von stärkerer Hemmung abgegrenzt werden. Wenn die Funktion ungewöhnlich abgeändert ist oder gar eine neue Leistung vollbracht wird (z.B. Muskelkontraktion beim Vaginismus), dann handelt es sich um ein Symptom. Der sexuelle Reaktionsablauf Orgasmuskurven ÜBERSICHT ÜBER FUNKTIONSSTÖRUNGEN Funktionsstörung Inhalt der Störung Stationen der Hemmung Appetenzstörung Subjektive Empfindung, selten oder gar kein Bedürfnis nach sexuellen Kontakt Die Abweichung von der Einleitung (psychisches Unlustgefühl, subjektiv als „ich bin nicht erregbar“ empfunden). Unerregbarkeit Das subjektive Gefühl, Das Ausbleiben der psychonicht Erregbar zu sein, physischen Vorbereitung meist mit Appetenz- (Lubrikation durch Transudat) störung kombiniert. Vaginismus Unwillkürliche Kontraktion Vorbeugen durch der Beckenboden- „Sicherheitsmassnahmen“ muskulation und der Adduktoren, welche ein Einführen des Penis unmöglich macht. Übersicht über Funktionsstörung – Fortsetzung Funktionsstörung Inhalt der Störung Stationen der Hemmung Dyspareunie Schmerzhafter Störung im Ablauf Koitus des Vorganges (ohne organisches „Unterbrechung durch Substrat) Angst“ Anorgasmie Das subjektive Gefühl, keinen lustvoll Höhepunkt zu erleben Das Unvermögen, den Orgasmus zu empfinden. Sexuelle Dysfunktion des Mannes • Erektionsstörung total/partiell primär/sekundär • Ejakulationsstörung: verfrüht (Präcox) verzögert (Retardata) fehlend (Deficiens) Orgasmusstörung Klassifikation sexueller Funktionsstörungen des Mannes (nach DSM – IV; ICD-10) Störungen mit verminderter sexueller Appetenz (302.71 bzw. F52.0) Hauptmerkmal ist ein Mangel oder Fehlen sexueller Phantasien und sexuellen Verlangens. Störungen mit Sexueller Aversion (302.79 bzw. F52.10) Aversion gegenüber oder Vermeidung genitalen Kontakts mit einem Sexualpartner bei bestehendem Leidensdruck des Betroffenen oder dessen Lebenspartners. Erektionsstörungen beim Mann (302.72 bzw. F52.2) Anhaltende oder wiederkehrende Unabhängigkeit, eine adäquate Erektion zu erreichen oder bis zur Beendigung der sexuellen Aktivität aufrechtzuerhalten. Fortsetzung - Klassifikation sexueller Funktionsstörungen des Mannes (nach DSM – IV; ICD-10) Männliche Orgasmusstörungen (302.74 bzw. F52.3) Anhaltende oder wiederkehrende Verzögerung oder ein Fehlen des Orgasmus nach einer normalen sexuellen Entwicklung. Ejaculatio praecox (302.75 bzw. F52.4) Anhaltendes oder wiederkehrendes Einsetzen des Organismus und der Ejakulation bereits bei minimaler Stimulierung vor, bei oder kurz nach der Penetration und bevor die Person es wünscht. Formen der erektiven Impotenz primäre Störung: TOTALE IMPOTENZ OHNE ERKENNBARE SOMATISCHE GRUNDSTÖRUNG SEKUNDÄRE VERLAUFSFORMEN EXOGEN - SITUATIVE IMPOTENZ INTERAKTIVE STÖRUNG / BEZIEHUNGSKRISE Ursachen sexueller Funktionsstörungen 1. Störungen der Entwicklungsmerkmale der Sexualität (s. oben) 2. organischen Faktoren wie Erkrankungen Endokrine Erkrankungen z.B. Diabetes, Psychiatrische Erkrankungen ( Major Depression, Erkrankungen d. schizophrenen Formenkreises) oder die Einnahme von Medikamenten: Psychopharmaka, Blutdrucksenkende Substanzen) 3. Die folgenden miteinander interagierende Bereiche oder Problemkreise sind an der Entstehung der psychogenen Funktionsstörung beteiligt * Sozio-kulturelle Faktoren; * Der Interaktionsstil (die Kommunikation in der Partnerbeziehung); * Die Psychodynamik des einzelnen. Fortsetzung ÄTIOLOGIE SEXUELLER FUNKTIONSSTORUNGEN PSYCHOSOZIALE FAKTOREN Interagierende Konfliktbereiche: - Soziokulturelle Faktoren (Wohnverhältnisse, Arbeitssituation, ethnische Zugehörigkeit, religiöse Bindung, Erziehung, Traumen, etc) - Interaktionelle Faktoren (Partner/Herkunftsfamilie) - Psychodynamische Faktoren ( Selbstwertregulierung, Autonomie, Reaktionsbildungen: Scham, Ekel, etc) M. Springer-Kremser, 2000 Psychodynamische ätiologische Faktoren 1. Mangelndes Urvertrauen 2. Probleme bei der Regulierung von NäheDistanz 3. Übersteigertes Kontrollbedürfnis 4. Reaktionsbildung wie Ekel, Scham 5. Mangelnde Ablösung von der Herkunftsfamilie ENDOPSYCHISCH BEDINGTE IMPOTENZ - INNERER KONFLIKT - HEMMUNG - GESTÖRTES KÖRPERGEFÜHL - GESTÖRTE SEXUELLE SOZIALISOLATION - APPETENZSTÖRUNG - AUFGRUND EINER SEXUELLEN DEVIATION FUNKTIONSSTÖRUNGEN BEI PSYCHIATRISCHEN ERKRANKUNGEN - NEUROTISCHE ENTWICKLUNGEN - EXOGENE REAKTIONSTYPEN - DEPRESSION; AFFEKTIVE ERKRANKUNGEN - PSYCHOSEN – WAHNKRANKHEITEN - PARAPHILIE - SUCHTEN UND SUBSTANZMISSBRAUCH PHARMAKOGENE – ev. IATROGENE FORM ARZNEIMITTEL, DIE POTENZHEMMEND WIRKEN KÖNNEN: 1) PSYCHOPHARMAKA - NEUROLEPTIKA - ANTIDEPRESSIVA - TRANQUILIZER - STIMULANTIEN 2) KREISLAUFAKTIVE SUBSTANZEN 3) ULCUS-SCHUTZPRÄPARATE 4) HORMONPRÄPARATE SSRI- EROTISCHES EMPFINDEN UND SEXUALVERHALTEN (NACH BARNAS/MODELL et al.) LIBIDO: FLUOXETIN SERTRALIN PAROXETIN GESTEIGERT GESENKT GESENKT ERREGUNG: HERABGESETZT ZEIT BIS ZUM ORGASMUS: VERLÄNGERT DAUER DES ORGASMUS: HERABGESETZT INTENSITÄT DES ORGASMUS: HERABGESETZT THERAPEUTISCHE VORSTELLUNGEN UND MÖGLICHKEITEN 1) Psychotherapie - auf die Bedingungen des Einzelfalles abgestimmt: Einzeltherapie vs. Paartherapie Analytisch orientierte Verfahren Verhaltensmodifikation Hypnotische und katathyme Verfahren ……………………… Fortsetzung – therapeutische Vorstellungen und Möglichkeiten: 2) Medikamentöse Behandlung: SCART - Technik Viagra Aphrodisiaka mit durchblutungsfördender Wirkung (Yohimbin - Typ) Bei entsprechender Indikation Hormonsubstitution Derzeit wird die Möglichkeit des Einsatzes von Apomorphin geprüft VIAGRA IN DER PSYCHOTHERAPIE 1. KEIN DIREKT SEXUELL STIMULIERENDES PRÄPARAT – DAHER - NICHT INDIZIERT um dysfunktionelle Partnerbeziehung, insbesondere sexuelle Inkompabilitäten zu sanieren 2. NICHT indiziert bei psychotischen Patienten AUCH NICHT BEI Depression bei MDK 3. NICHT indiziert bei Alkoholismus und Suchten VIAGRA IN DER PSYCHOTHERAPIE 4. NICHT indiziert bei schweren APPETENZSTÖRUNGEN 5. NICHT INDIZIERT BEI NEUROTISCHER STÖRUNG, DIE SCHAM ALS LEITSYMPTOM AUFWEIST 6. FRAGLICHLICH INDIZIERT BEI DYSFUNKTIONEN BEI DENEN ANAMNESTISCH DIE HEMMUNG ÜBERWIEGT