Robert O. Paxton Anatomie des Faschismus

Werbung
Robert O. Paxton
Anatomie des Faschismus
Robert O. Paxton
Anatomie des Faschismus
Aus dem Englischen von
Dietmar Zimmer
Deutsche Verlags-Anstalt
München
Für Sarah
Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel
The Anatomy of Fascism
bei Alfred A. Knopf, New York
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.
SGS-COC-1940
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier EOS
liefert Salzer, St. Pölten.
1. Auflage
Copyright © 2004 Robert O. Paxton
Copyright © 2006 Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Layout: Boer Verlagsservice, München
Gesetzt aus der Minion Pro
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 10: 3-421-05913-6
ISBN 13: 978-3-421-05913-0
www.dva.de
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Die Erfindung des Faschismus
Bilder des Faschismus . . . . .
Strategien . . . . . . . . . . . .
Wie gehen wir weiter vor? . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
. .




Kapitel 2 Das Entstehen einer faschistischen
Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Der unmittelbare Hintergrund . . . . . . . . . . . . . .
Geistige, kulturelle und emotionale Wurzeln . . . . . .
Langfristige Vorbedingungen . . . . . . . . . . . . . . .
Vorläufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Mitgliederwerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Den Faschismus von seinen Ursprüngen her verstehen
.
.
.
.
.
.






Kapitel 3 Wurzeln schlagen . . . . . . . . . . . . . . . . .

Erfolgreiche Formen des Faschismus . . . . . . . . .
1. Poebene (Italien), 1920–1922 . . . . . . . . . . . . .
2. Schleswig-Holstein (Deutschland), 1928–1933. . . .
Ein erfolgloser Faschismus: Frankreich, 1924–1940 .
Weitere erfolglose Formen von Faschismus . . . . .
Vergleiche und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
. 
. 90
. 
. 
. 
. 
Kapitel 4 Die Übernahme der Macht . . . . . . . . . . . 
Mussolini und der »Marsch auf Rom« . . . . . . . . . .
Hitler und die »Hinterzimmerverschwörung« . . . . .
Was nicht geschah: Wahl, Staatsstreich, Triumph eines
Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Allianzen bilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Was die Faschisten dem Establishment anboten . . . .
Die präfaschistische Krise . . . . . . . . . . . . . . . . .
Revolutionen nach der Machterlangung: Deutschland
und Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vergleiche und Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . .
. . 
. . 
.
.
.
.
.
.
.
.




. . 
. . 
Kapitel 5 An der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 
Das Wesen der faschistischen Herrschaft: »Doppelstaat«
und dynamische Konturlosigkeit . . . . . . . . . . . . . .
Das Tauziehen zwischen Faschisten und Konservativen .
Das Tauziehen zwischen Führer und Partei . . . . . . . .
Das Tauziehen zwischen Partei und Staat . . . . . . . . .
Anpassung, Enthusiasmus, Terror . . . . . . . . . . . . .
Die faschistische »Revolution« . . . . . . . . . . . . . . .
.
.
.
.
.
.






Kapitel 6 Langfristbetrachtung: Radikalisierung
oder Entropie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 
Was treibt Radikalisierung an? . . . . . . . . . . . . . .
Versuch einer Erklärung für den Holocaust . . . . . . .
Radikalisierung in Italien: Innere Ordnung, Äthiopien,
Salò . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Schlussüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . 
. . 
. . 
. . 
Kapitel 7 Andere Zeiten, andere Orte . . . . . . . . . . 
Ist Faschismus heute noch möglich? . . . . . .
Westeuropa seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . .
Osteuropa nach dem Zerfall der Sowjetunion .
Faschismus außerhalb Europas . . . . . . . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.




Kapitel 8 Was ist Faschismus? . . . . . . . . . . . . . . . . 
Interpretationen im Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . 
Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 
Was ist Faschismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 
Bibliografischer Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
vorwort
Vorwort
Viele Jahre lang hielt ich Universitätsvorlesungen über Faschismus,
mal für Studienanfänger, mal für Fortgeschrittene. Je mehr ich über
Faschismus las und je länger ich mit Studierenden darüber diskutierte, desto perplexer wurde ich. Während sich eine Unmenge
brillanter Monografien auf oft erhellende Weise mit besonderen
Aspekten von Mussolinis Italien, Hitlers Deutschland und ähnlichen Themen befassen, schienen mir Bücher über den Faschismus als generisches Phänomen im Vergleich zu den Monografien
oft abstrakt, voller Stereotypen und blutleer.
Dieses Buch ist ein Versuch, die monografische Literatur etwas
mehr in Richtung einer Diskussion über Faschismus im Allgemeinen zu lenken und Faschismus in einer Art und Weise zu präsentieren, die seine Varianten und Komplexitäten berücksichtigt.
Deshalb konzentriere ich mich im Gegensatz zur üblichen Praxis stärker auf die Handlungen der Faschisten als auf ihre Worte.
Ich widme auch den Verbündeten und Komplizen des Faschismus
mehr Zeit als üblich und der Frage, wie faschistische Regimes mit
den Gesellschaften interagierten, die sie zu verändern trachteten.
Dies ist ein Essay, keine Enzyklopädie. Viele Leser werden ihr
eigenes Lieblingsthema hier eher beiläufig behandelt sehen und
weniger detailliert, als sie es sich vielleicht wünschten. Ich hoffe,
dass das, was ich geschrieben habe, sie dennoch zum Weiterlesen
verleiten wird. Dies ist auch der Zweck der Anmerkungen und der
umfangreichen Bibliografie.
Nach all den vielen Jahren, in denen ich mich nun bereits
mit diesem Thema beschäftige, schulde ich mehr Menschen als
gewöhnlich Dank für fachliche und persönliche Hilfe. Die Rockefeller Foundation ermöglichte mir den Entwurf der Kapitel in der
Villa Serbelloni am Comer See, ganz in der Nähe jenes Ortes, wo
italienische Partisanen im April 1945 Mussolini töteten. Die École
des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris, das Istituto Universitario Europeo in Florenz und eine ganze Reihe amerikanischer
9
vorwort
Universitäten erlaubten es mir, einige dieser Ideen in Seminarraum
und Hörsaal zu testen. Eine ganze Generation von Studenten an
der Columbia University in New York stellte meine Interpretationen immer wieder auf den Prüfstand.
Philippe Burrin, Paul Corner, Patrizia Dogliani und Henry
Ashby Turner Jr. begutachteten großzügigerweise eine frühere Version dieser Arbeit. Carol Gluck, Herbert S. Klein und Ken Ruoff
lasen Teile des Manuskripts. Sie alle bewahrten mich vor peinlichen Fehlern, und ich übernahm die meisten ihrer Vorschläge.
Hätte ich sie alle übernommen, wäre das Buch wahrscheinlich besser geworden. Weiterhin danke ich folgenden Personen für Hilfe
der verschiedenen Art: Drue Heinz, Stuart J. Woolf, Stuart Proffitt,
Bruce Lawder, Carlo Moos, Fred Wakeman, Jeffrey Bale, Joel Colton, Stanley Hoffmann, Juan Linz und den Mitarbeitern der Bibliotheken der Columbia University. Für die verbliebenen Fehler trägt
allein der Autor die Verantwortung.
Allen voran jedoch war Sarah Plimpton unerschütterlich mit
ihrer Ermutigung und weise als kritische Leserin.
New York, Februar 2003
Drei Jahre sind nun vergangen, seit das Manuskript für die amerikanische Originalausgabe abgeschlossen wurde. Immer noch setzt
der Präsident der Vereinigten Staaten als Reaktion auf vorgebliche
Bedrohungen der nationalen Sicherheit die Herrschaft des Rechts
außer Kraft. Die europäischen Gesellschaften kämpfen weiterhin
mit der Integration von Immigranten. Eine Studie über den Faschismus als einem Trieb zu maßlosem nationalen Einheits-, Reinheitsund Stärkedenken, der sich langsam aber stetig, Schritt für Schritt,
entwickelt, dürfte auch heute noch nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben.
New York, Januar 2006
10
einleitung
KAPITEL 1
Einleitung
Die Erfindung des Faschismus
Der Faschismus war die bedeutendste politische Innovation des
zwanzigsten Jahrhunderts und die Ursache vieler seiner Leiden. Die
anderen Hauptströmungen der modernen politischen Kultur des
Westens – Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus – erreichten
alle ihre reife Form bereits zwischen dem späten achtzehnten und
der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Der Faschismus dagegen
blieb bis in die 1890er Jahre ungedacht. Friedrich Engels war 1895
im Vorwort für seine neue Ausgabe von Karl Marx’ Die Klassenkämpfe in Frankreich noch eindeutig der Ansicht, eine Verbreiterung
der Wählerschaft würde unausweichlich zu mehr Stimmen für die
Linke führen. Sowohl die Zeit als auch die schiere Masse der Wähler seien auf der Seite der Sozialisten. »Geht das so voran, so erobern
wir bis Ende des Jahrhunderts den größeren Teil der Mittelschichten
der Gesellschaft, Kleinbürger wie Kleinbauern, und wachsen aus zu
der entscheidenden Macht im Lande, vor der alle andern Mächte
sich beugen müssen, sie mögen wollen oder nicht.« Die Konservativen, so schrieb Engels, hätten bemerkt, dass die Zeit gegen sie
arbeite. »Wir, die ›Revolutionäre‹, die ›Umstürzler‹, wir gedeihen
weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen
und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen,
gehen zugrunde an dem von ihnen selbstgeschaffenen gesetzlichen
Zustand […], während wir bei dieser Gesetzlichkeit pralle Muskeln
und rote Backen bekommen und aussehen wie das ewige Leben.«1
Während Engels also erwartete, dass die Gegner der Linken einen
Präventivschlag vorbereiteten, konnte er sich 1895 noch nicht vorstellen, dass ein solcher die Zustimmung der Massen finden könnte.
Eine Diktatur gegen die Linke unter der begeisterten Zustimmung
der Bevölkerung – das war genau die unerwartete Kombination, die
dem Faschismus nur eine kurze Generation später gelingen sollte.
11
Einleitung
Es gab nur wenige Anzeichen der Vorwarnung. Eines kam von
einem wissbegierigen jungen französischen Aristokraten, Alexis de Tocqueville (1805–1859). Obwohl Tocqueville bei seiner
Reise durch die Vereinigten Staaten von Amerika 1831 so vieles zu
bewundern fand, war er doch irritiert über die Macht der Mehrheit
in einer Demokratie, die über sozialen Druck Konformität erzwingen konnte, und das auch noch in Abwesenheit einer unabhängigen sozialen Elite.
Diese Art von Druck, durch welchen demokratische Völker
bedroht werden, wird nichts von dem ähneln, was jemals in
der Welt da gewesen ist; unsere Zeitgenossen dürften kein Bild
davon in ihrem Gedächtnis finden. Ich selbst suche vergebens
nach einem Ausdruck für die Idee, die ich für mich selbst bilde
und die es enthält; die alten Wörter Despotismus und Tyrannei
sind ungeeignet. Das Ding ist neu, deshalb muss ich versuchen,
es zu definieren, denn benennen kann ich es nicht.2
Eine andere Vorahnung hatte, sozusagen um fünf Minuten vor
zwölf, ein französischer Ingenieur, der auch als Sozialphilosoph
tätig war, Georges Sorel. 1908 kritisierte Sorel Marx, weil dieser
nicht bemerkt habe, dass »eine Revolution, die in Zeiten des Niedergangs stattfindet, eine Rückkehr in die Vergangenheit oder gar
die soziale Konservierung zu ihrem Ideal erklären« könne.3
Das Wort Faschismus4 hat seine Wurzeln im italienischen fascio,
Rutenbündel. Es stammt aus dem lateinischen fasces, jener von
einem Bündel hölzerner Ruten umschlossenen Axt, die bei öffentlichen Aufzügen zum Zeichen der Macht und der Einheit des
Staates vor dem Magistrat von Rom hergetragen wurde. Vor 1914
wurde die Symbolik der fasces gewöhnlich von der Linken verwendet. Marianne, das Symbol der französischen Republik, wurde im
neunzehnten Jahrhundert als Trägerin eines Rutenbündels zum
Zeichen der republikanischen Solidarität gegen ihre Feinde aus
Aristokratie und Klerus dargestellt.5 Fasces finden sich auch an prominenter Stelle in Christopher Wrens (1664–1669 gebautem) Sheldonian Theatre der Universität Oxford. Auch am Lincoln Memorial
12
einleitung
in Washington (1922) und auf der 1932 geprägten 25-Cent-Münze
der USA sind sie zu finden.6
Italienische Revolutionäre verwendeten den Begriff fascio,
»Bund«, im späten neunzehnten Jahrhundert zum Ausdruck der
gegenseitigen Solidarität. Die sizilianischen Landarbeiter, die
sich 1893/94 gegen ihre Grundherren auflehnten, nannten sich
selbst Fasci Siciliani. Als Ende 1914 eine Gruppe von Linksnationalisten, zu denen bald der aus der Sozialistischen Partei ausgestoßene Benito Mussolini hinzukam,7 versuchte, Italien im Ersten
Weltkrieg auf die Seite der Alliierten zu bringen, wählten sie einen
Namen, der sowohl für die Entschlossenheit ihrer Kampagne als
auch für ihre gegenseitige Solidarität stehen sollte: Sie nannten sich
Fascio Rivoluzionario d’Azione Intervenista (»Revolutionärer Bund
zur Interventionistischen Aktion«).8 Am Ende des Krieges prägte
Mussolini den Begriff fascismo zur Beschreibung der Geisteshaltung seiner kleinen Gruppe nationalistischer Ex-Soldaten und
kriegsbefürwortenden Revolutionären aus den Reihen der Syndikalisten,9 die sich um ihn versammelt hatten. Selbst damals besaß
Mussolini also kein Monopol auf den Begriff fascio, der auch weiterhin bei Gruppen von Aktivisten verschiedener politischer Couleur in allgemeinem Gebrauch blieb.10
Offiziell wurde der italienische Faschismus (il Fascismo) am
Sonntag, den 23. März 1919 in Mailand begründet. An diesem
Morgen trafen sich etwas mehr als einhundert Personen,11 darunter Kriegsveteranen, Syndikalisten, die den Krieg unterstützt hatten, und Intellektuelle aus der Bewegung des futurismo12 sowie
einige Reporter und Neugierige im Sitzungssaal der Mailänder
Industrie- und Handelskammer, von dem aus man die Piazza San
Sepolcro überblicken konnte, um »dem Sozialismus den Krieg
zu erklären … denn er hat sich dem Nationalismus entgegengestellt«13. Hier nannte Mussolini seine Bewegung erstmals Fasci di
combattimento, frei übersetzt also etwa »Kampfbund«.
Das Programm der Faschisten, veröffentlicht zwei Monate später, war eine kuriose Mischung aus Veteranenpatriotismus und
radikalem sozialem Experiment, eine Art »nationaler Sozialismus«.
Auf der nationalen Seite forderte es die Erfüllung der expansionis13
Einleitung
tischen Ziele Italiens auf dem Balkan und im Mittelmeerraum,
die nur wenige Monate zuvor auf der Pariser Friedenskonferenz
gestoppt worden waren. Auf der radikalen Seite stand die Forderung nach dem Frauenwahlrecht, dem Wahlrecht mit achtzehn
Jahren, der Abschaffung des Oberhauses, der Einberufung einer
verfassungsgebenden Versammlung für Italien (vermutlich ohne
Monarchie), dem Acht-Stunden-Arbeitstag, Arbeiter-Mitbestimmung beim »technischen Management der Industrie«, der »Teilenteignung aller Arten von Reichtum« durch eine hohe und progressive Kapitalsteuer, der Einziehung gewisser Kirchenbesitztümer
und der Konfiszierung von 85 Prozent der Kriegsgewinne.14
Mussolinis Bewegung beschränkte sich nicht auf Nationalismus und Angriffe auf Eigentum. Es dürstete sie nach gewaltsamer Aktion, und sie war geprägt von Intellektuellenfeindlichkeit,
Ablehnung von Kompromissen und der Verachtung der etablierten Gesellschaft, alles typische Haltungen jener drei Gruppen, die
die Mehrzahl ihrer ersten Anhänger ausmachten – demobilisierte
Kriegsveteranen, kriegsbefürwortende Syndikalisten und Intellektuelle des futurismo.
Mussolini, selbst ein Kriegsveteran, der sich seiner vierzig Verwundungen rühmte,15 hoffte, als Veteranenführer ein politisches
Comeback zu erreichen. Ein harter Kern seiner Anhänger stammte
von den Arditi, ausgewählten Kommando-Einheiten mit Fronterfahrung, die sich zur Herrschaft über das Land, das sie gerettet
hatten, berufen fühlten.
Die kriegsbefürwortenden Syndikalisten waren während der
Auseinandersetzungen um den Kriegseintritt Italiens im Mai 1915
Mussolinis engste Verbündete gewesen. Vor dem Ersten Weltkrieg
war die Gewerkschaftsbewegung in Europa der wichtigste Rivale
des parlamentarischen Sozialismus. Während die meisten Sozialisten bis 1914 in Parteien organisiert waren, die sich um Parlamentssitze bemühten, waren die Gewerkschaften in ihren eigenen
Organisationen verwurzelt. So arbeiteten die parlamentarischen
Sozialisten für einzelne Reformen und warteten ansonsten auf
die historische Entwicklung, die nach den Vorhersagen von Marx
den Kapitalismus überwinden würden; derweil glaubten die Syn14
einleitung
dikalisten – verbittert über die Kompromisse, die die parlamentarische Arbeit erforderte und in der Annahme, die meisten Sozialisten setzten ohnehin eher auf eine graduelle Evolution –, sie
selbst könnten den Kapitalismus durch die Kraft allein ihres Willens zu Fall bringen. Indem sie sich eher auf ihr endgültiges revolutionäres Ziel als auf die kleinteiligen Arbeitsplatzprobleme jedes
einzelnen Berufszweiges konzentrieren würden, glaubten die Vertreter jener Gewerkschaftsrichtung des »revolutionären Syndikalismus«, »eine Großgewerkschaft« bilden und dann den Kapitalismus
in einem Schlag mit einem großen Generalstreik aus den Angeln
heben zu können. Nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus
würden dann die in ihren Gewerkschaften organisierten Arbeiter
als einzige funktionierende Produktionseinheiten übrig bleiben
und in einer freien, kollektivistischen Gesellschaft ihre Austauschbeziehungen pflegen.16 Während sich alle italienischen parlamentarischen Sozialisten und die meisten italienischen Gewerkschafter
vehement gegen einen Eintritt Italiens in den Krieg aussprachen,
kamen spätestens im Mai 1915 einige Heißsporne um Mussolini zu
dem Schluss, dass ein Kriegseintritt Italien weiter in Richtung einer
sozialen Revolution bewegen würde, als wenn es neutral bliebe.
Nun waren auch sie »nationale Syndikalisten« geworden.17
Die dritte Mitgliedergruppe von Mussolinis erster Faschistenbewegung bildeten junge antibürgerliche Intellektuelle und Ästheten wie die Futuristen. Die Futuristen waren eine lockere Verbindung von Künstlern und Schriftstellern, die sich die Thesen von
Filippo Tomaso Marinettis Manifest des Futurismus zu Eigen machten, das erstmals 1909 in Paris veröffentlicht worden war. Marinettis Anhänger verschmähten das kulturelle Erbe der Vergangenheit,
wie es in Museen und Bibliotheken zur Schau gestellt wurde, und
lobten die befreienden und belebenden Qualitäten von Geschwindigkeit und Gewalt. »Ein dahinrasendes Automobil […] ist schöner
als die Nike von Samothrake.«18 1914 gierten sie nach dem Abenteuer des Krieges, und 1919 folgten sie auch Mussolini.
Eine weitere intellektuelle Strömung, die Rekruten für Mussolini
bereitstellte, bestand aus Kritikern der als billig empfundenen Kompromisse des italienischen Parlamentarismus, die von einem »zwei15
Einleitung
ten Risorgimento« träumten.19 Das erste Risorgimento hatte ihrer
Ansicht nach Italien in den Händen einer kleinen Oligarchie belassen, deren seelenlose politische Taktierereien dem kulturellen Prestige und den Großmachtansprüchen Italiens unwürdig seien. Sie
meinten, es sei Zeit, die »Nationale Revolution« zu vollenden und
Italien einen neuen Status zu verschaffen – mit einer energischen
Führerschaft, einem motivierten Bürgertum und einer vereinten
Nationalgesellschaft, die es auch verdiene. Viele der Befürworter
eines »zweiten Risorgimento« schrieben für die Florenzer Kulturzeitschrift La Voce, die auch der junge Mussolini abonniert hatte
und mit deren Herausgeber, Giovanni Prezzolini, er einen Schriftwechsel führte. Nach dem Krieg verlieh die Zustimmung dieser
Gruppe zur wachsenden faschistischen Bewegung auch unter Nationalisten der Mittelklasse Ansehen und wachsende Akzeptanz für
das Ziel einer radikalen »nationalen Revolution«.20
Am 15. April 1915, kurz nach der Gründung der faschistischen
Bewegung an der Piazza San Sepolcro, stürmte eine Gruppe von
Freunden Mussolinis, darunter Marinetti und der Chef der Arditi,
Ferruccio Vecchi, die Mailänder Büros der sozialistischen Tageszeitung Avanti, deren Chefredakteur von 1912 bis 1914 Mussolini
selbst gewesen war. Sie zertrümmerten Druckerpressen und die
übrige Einrichtung. Dabei wurden vier Personen getötet, darunter
ein Soldat, und 39 verwundet.21 Der italienische Faschismus brach
also mit einem Gewaltakt in die Geschichte ein – sowohl gegen
den Sozialismus als auch gegen das bürgerliche Rechtssystem, im
Namen eines behaupteten höheren nationalen Gutes.
Der Faschismus erhielt seinen Namen in Italien und machte dort
auch seine ersten Schritte. Mussolini war jedoch kein einzelgängerischer Abenteurer. Auch anderswo im Europa der Nachkriegszeit entstanden ähnliche Bewegungen unabhängig von Mussolinis
Faschismus, die ebenfalls die gleiche Mixtur aus Nationalismus,
Antikapitalismus, Voluntarismus und aktiver Gewaltanwendung
gegen erklärte Feinde – sowohl aus dem Bürgertum als auch aus
dem sozialistischen Lager – propagierten. (Mit diesem weiten Feld
früher Formen des Faschismus werde ich mich ausführlicher in
Kapitel 2 beschäftigen.)
16
einleitung
Etwas mehr als drei Jahre nach ihrem Gründungstreffen an der
Piazza San Sepolcro war Mussolinis faschistische Bewegung in Italien an der Macht. Elf Jahre später übernahm eine andere faschistische Partei die Macht in Deutschland.22 Und schon bald dröhnten
überall in Europa ehrgeizige Diktatoren und marschierende Verbände, die sich auf dem gleichen Weg zur Macht glaubten wie Mussolini und Hitler. Wiederum sechs Jahre später hatte Hitler Europa
in einen Krieg gestürzt, der schließlich einen Großteil der Welt
in seinen Strudel zog. Bis zu seinem Ende musste die Menschheit
nicht nur die üblichen Barbareien eines Krieges ertragen, durch
Technik und wilde Leidenschaft auf ein nie dagewesenes Maß vergrößert, sondern auch den Versuch, durch industriellen Massenmord ein gesamtes Volk, seine Kultur und sogar die Erinnerung
daran auszulöschen.
Bei Mussolini, Ex-Schullehrer, Bohemien und Autor zweitklassiger Romane, einem früheren sozialistischen Redner und Chefredakteur, und bei Hitler, einem früheren Obergefreiten und
erfolglosen Kunststudenten, vermuteten viele gebildete und empfindsame Menschen einfach, »eine Barbarenhorde […] habe in
der Nation ihre Zelte aufgeschlagen«23. Der Schriftsteller Thomas
Mann notierte am 27. März 1933, zwei Monate, nachdem Hitler
Reichskanzler geworden war, in seinem Tagebuch, der »Abschaum
der Gemeinheit« habe die Macht übernommen: »Es war den Deutschen vorbehalten, eine Revolution nie gesehener Art zu veranstalten: Ohne Idee, gegen die Idee, gegen alles Höhere, Bessere, Anständige, gegen die Freiheit, die Wahrheit, das Recht. Es ist menschlich
nie etwas Ähnliches vorgekommen. Dabei ungeheurer Jubel der
Massen […].«24
Im inneren Exil in Neapel bemerkte der bedeutende liberale italienische Philosoph und Historiker Benedetto Croce abschätzig,
Mussolini habe den drei Aristotelischen Typen schlechter Herrschaft – Tyrannei, Oligarchie und Demokratie – eine vierte hinzugefügt, die »Onagrokratie«, die Herrschaft mit dem Rammbock
(lat. onager).25 Croce kam später zu dem Schluss, der Faschismus
sei nur eine »Parenthese« in der italienischen Geschichte gewesen,
das zeitweise Ergebnis eines moralischen Niedergangs, der durch
17
Einleitung
die Verwerfungen des Ersten Weltkriegs noch verstärkt worden sei.
Der liberale deutsche Historiker Friedrich Meinecke urteilte später,
als Hitler Deutschland in die Katastrophe geführt hatte, ähnlich –
dass der Nazismus aus einer moralischen Degeneration entstanden
sei, bei der ignorante und dumpfe Technokraten, Machtmenschen,
unterstützt von einer Massengesellschaft, die es nach Aufregungen
dürstete, über ausgewogene und rationale Kulturmenschen triumphiert hätten.26 Beide kamen zu dem Schluss, dass eine Lösung in
der Schaffung einer Gesellschaft bestehen könnte, in der »die Besten« herrschen.
Andere Beobachter wussten von Anfang an, dass hier mehr
geschah als der zufällige Aufstieg einer Räuberbande und etwas
Präziseres zu verzeichnen war als ein Verfall der alten moralischen
Ordnung. Marxisten, den ersten Opfern des Faschismus, war es
geläufig, die Geschichte als eine große, durch den Zusammenstoß von ökonomischen Systemen verursachte Abfolge tiefgreifender Prozesse zu betrachten. Sogar schon bevor Mussolini seine
Macht vollkommen gefestigt hatte, waren sie mit einer Definition
des Faschismus als »Instrument der Großbourgeoisie zur Bekämpfung des Proletariats, wenn sich die legalen Mittel des Staates als
unzureichend zu dessen Unterjochung erweisen« bei der Hand.27
Unter Stalin wurde daraus eine eherne Formel, die über ein halbes
Jahrhundert lang zur orthodoxen kommunistischen Lehrmeinung
wurde: »Faschismus ist die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten und imperialistischsten Elemente
des Finanzkapitals.« 28
Obwohl im Laufe der Jahre noch viele weitere Interpretationen
und Definitionen vorgeschlagen werden sollten, findet auch heute
noch, über 80 Jahre nach dem Treffen von San Sepolcro, keine von
ihnen einhellige Zustimmung als vollkommen zufriedenstellende
Beschreibung eines Phänomens, das scheinbar aus dem Nichts
kam, vielerlei unterschiedliche Formen annahm, Hass und Gewalt
im Namen von Nationalstolz verherrlichte, und dem es doch gelang,
bei angesehenen und gebildeten Staatsmännern, Unternehmern,
Vertretern der unterschiedlichsten Berufe, Künstlern und Intellektuellen Anklang zu finden. Auf diese Vielzahl an Interpretationen
18
einleitung
möchte ich in Kapitel 8 näher eingehen, wenn wir unser Thema
etwas besser kennengelernt haben.
Faschistische Bewegungen unterschieden sich darüber hinaus so
auffällig von einem Land zum anderen, dass manche sogar bezweifeln, dass der Begriff Faschismus überhaupt irgendeine Bedeutung
hat außer als Schimpfwort. Das Attribut wurde so locker verwendet, dass praktisch jeder, der entweder eine Autorität verkörpert
oder aber an einer solchen rüttelt, bereits einmal von irgendjemand
anderem als Faschist bezeichnet wurde. Diese Zweifler regen an,
dass es vielleicht am besten wäre, auf den Ausdruck ganz zu verzichten.29
Ziel dieses Buches ist es, einen frischen Blick auf den Faschismus zu werfen, mit dem vielleicht das Konzept des Faschismus für
eine sinnvolle Verwendung bewahrt bleibt, der zugleich aber stärker als bisher die Attraktivität, den komplexen historischen Werdegang und seinen ultimativen Horror berücksichtigt.
Bilder des Faschismus
Jeder ist sicher zu wissen, was Faschismus ist. Als diejenige Politikform, die am selbstbewusstesten von allen visuell in Erscheinung
trat, präsentiert sich uns der Faschismus in lebhaften Bildern: ein
chauvinistischer Demagoge, der mit seinen Reden eine ekstatische
Menge begeistert; disziplinierte Reihen marschierender Jugendlicher; Anhänger in farbigen Hemden, die Angehörige einer dämonisierten Minderheit zusammenschlagen: überraschende Hausdurchsuchungen im Morgengrauen; und Soldaten, die durch eine
eingenommene Stadt paradieren.
Bei näherer Betrachtung schleichen sich jedoch leichte Fehler in diese vertrauten Bilder ein. Die Vorstellung von einem allmächtigen Diktator personalisiert den Faschismus und schafft
den falschen Eindruck, dass wir ihn schon vollständig verstehen
könnten, wenn wir nur seine jeweiligen Führer betrachten. Dieses
Bild, dessen Macht bis heute nachwirkt, ist der letzte Triumph der
faschistischen Propaganda. Es liefert den Nationen, die faschis19
Einleitung
tische Führer guthießen oder tolerierten, ein Alibi und lenkt die
Aufmerksamkeit weg von den Personen, Gruppen und Institutionen, die ihnen dabei halfen. Wir brauchen ein subtileres Modell
des Faschismus, das die Wechselwirkungen zwischen Führer und
Nation untersucht ebenso wie die zwischen den faschistischen Parteien und der Zivilgesellschaft.
Das Bild jubelnder Menschenmengen nährt die Annahme,
einige europäische Völker seien von Natur aus für den Faschismus
prädisponiert und reagierten aufgrund ihres nationalen Charakters so begeistert auf ihn. Ähnlich der Glaube, dass eine irgendwie
»fehlerhafte« Geschichte gewisser Nationen dem Faschismus Vorschub leistete.30 Dies gerät leicht zu einem Alibi für andere Nationen: Hier könne so etwas eben nicht passieren. Jenseits dieser
vertrauten Bilder wird jedoch die faschistische Realität bei näherer Betrachtung noch komplizierter. So zeigte zum Beispiel das
Regime, das den Begriff Faschismus erfand – Mussolini in Italien –
bis sechzehn Jahre nach der Regierungsübernahme wenig Anzeichen von Antisemitismus. Tatsächlich hatte Mussolini jüdische
Unterstützer unter den Industriellen und Großgrundbesitzern, die
ihn am Anfang mitfinanzierten.31 Er hatte enge jüdische Vertraute
wie etwa den Aktivisten der Faschistischen Partei Aldo Finzi und
eine jüdische Geliebte, die Schriftstellerin Margherita Sarfatti, die
Autorin seiner ersten Biografie.32 Etwa zweihundert Juden nahmen am Marsch auf Rom teil.33 Dagegen war die kollaborationistische Vichy-Regierung in Frankreich unter Marschall Pétain (1940–
1944) aggressiv antisemitisch, während sie in anderer Hinsicht eher
als autoritär 34 denn als faschistisch zu bezeichnen wäre, wie wir in
Kapitel 8 noch sehen werden. Daher ist es problematisch, in einem
stark ausgeprägten Antisemitismus das wesentliche Element des
Faschismus zu sehen.35
Ein weiterer oft als essentiell betrachteter Zug des Faschismus ist
seine antikapitalistische, antibürgerliche Haltung. Frühe faschistische Bewegungen machten keinen Hehl aus ihrer Verachtung für
bürgerliche Werte und für die »Männer der Wirtschaft«, die nur
»Geld verdienen wollten, Geld, dreckiges Geld«.36 Sie griffen das
»internationale Finanzkapital« fast ebenso lautstark an, wie sie
20
einleitung
die Sozialisten angriffen. Und sie versprachen, Kaufhausbesitzer
zugunsten patriotischer Handwerker und Kleinhändler zu enteignen sowie Großgrundbesitzer zugunsten von Landarbeitern.37
Wann immer jedoch faschistische Parteien an die Macht kamen,
taten sie nichts, um diese antikapitalistischen Drohungen zu verwirklichen. Stattdessen verstärkten sie mit äußerster Brutalität und
Härte ihre Drohungen gegen den Sozialismus. Straßenkämpfe mit
jungen Kommunisten über die Vorherrschaft in bestimmten Stadtvierteln gehörten zu ihren wirkungsvollsten Propagandabildern.38
Einmal an der Macht, verboten faschistische Regimes Streiks, lösten unabhängige Gewerkschaften auf, verringerten die Kaufkraft
der Lohnempfänger und lenkten zur äußersten Befriedigung der
Arbeitgeber große Finanzströme in die Rüstungsindustrie. Angesichts dieser Widersprüche zwischen Worten und Taten in Bezug
auf den Kapitalismus haben verschiedene Wissenschaftler entgegengesetzte Schlussfolgerungen gezogen. Einige nahmen den
Begriff wörtlich und betrachteten den Faschismus als eine Form
des radikalen Antikapitalismus.39 Andere, und nicht nur Marxisten, stellten sich auf den diametral entgegengesetzten Standpunkt,
die Faschisten seien den bedrängten Kapitalisten zu Hilfe gekommen und hätten mithilfe von Notstandsmaßnahmen das bestehende System von Eigentumsverteilung und sozialer Hierarchie
noch unterstützt.
Dieses Buch vertritt die Position, dass das, was die Faschisten taten, uns zumindest ebenso viel über sie verrät wie das, was
sie sagten. Letzteres kann natürlich nicht ignoriert werden, denn
es hilft, ihre Attraktivität zu erklären. Selbst in ihrer radikalsten Form jedoch war die faschistische antikapitalistische Rhetorik selektiv. Während die Faschisten die spekulative internationale
Hochfinanz denunzierten (neben anderen Formen von Internationalismus, Kosmopolitismus und Globalisierung – kapitalistischer ebenso wie sozialistischer), respektierten sie doch das
Eigentum inländischer Unternehmen, das die soziale Basis der
wiedererstarkten Nation bilden sollte.40 Wenn sie das Bürgertum
denunzierten, dann als zu schwach und individualistisch, um eine
Nation stark zu machen, und nicht, weil es die Arbeiter des von
21
Einleitung
ihnen erzeugten Mehrwerts beraube. Am Kapitalismus kritisierten
sie nicht seine Ausbeutung, sondern seinen Materialismus, seine
Gleichgültigkeit gegenüber der Nation, seine Unfähigkeit, die Seelen der Menschen zu erreichen.41 Auf einer grundsätzlicheren
Ebene lehnten Faschisten auch die Ansicht ab, ökonomische
Kräfte seien die Hauptbeweger der Geschichte. Für die Faschisten
brauchte der dysfunktionale Kapitalismus der Zwischenkriegszeit
keine fundamentale Neuordnung; seine Krankheiten könnten einfach dadurch kuriert werden, dass man ausreichend politischen
Willen in die Schaffung von Vollbeschäftigung und Produktivität stecke.42 Einmal an der Macht, konfiszierten die Faschisten
nur das Eigentum der politischen Gegner, von Ausländern und
von Juden. Keines dieser Regimes veränderte die soziale Hierarchie, außer dass einzelne Abenteurer auf höhere Posten katapultiert wurden. Wenn es hoch kam, ersetzten sie Marktkräfte durch
staatliche Wirtschaftslenkung, aber im Zuge der Weltwirtschaftskrise wurde dies anfänglich sogar von den meisten Geschäftsleuten begrüßt. Wenn der Faschismus »revolutionär« war, dann in
einem besonderen Sinn, der weit entfernt ist von der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes, wie sie von 1789 bis 1917 gegolten
hatte, als man unter Revolution eine tiefgreifende Umwälzung der
sozialen Ordnung und der Neuverteilung der sozialen, politischen
und wirtschaftlichen Macht verstand.
Denn tatsächlich führte der Faschismus während seiner Zeit an
der Macht einige Veränderungen durch, die so tiefgreifend waren,
dass man sie ebenfalls als »revolutionär« bezeichnen könnte,
wenn wir nur bereit sind, diesem Begriff eine andere Bedeutung
zu geben. In seiner vollsten Ausprägung zog der Faschismus die
Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem neu und verringerte deutlich jene Sphäre, die zuvor als unantastbar privat gegolten hatte. Nun bedeutete Staatsbürgerschaft nicht mehr in erster
Linie, dass man sich konstitutioneller Rechte erfreute und Pflichten übernahm, sondern die Teilnahme an Massenzeremonien zur
Affirmation von Konformität. Der Faschismus gestaltete die Beziehungen zwischen dem Individuum und dem Kollektiv neu, so
dass ein Einzelner keine Rechte mehr außerhalb des Gemeinwohls
22
einleitung
hatte. Der Faschismus erweiterte die Macht der Exekutive – von
Partei und Staat – mit dem Ziel einer totalen Kontrolle. Schließlich
entfesselte er aggressive Emotionen, die bis dahin in Europa nur
zu Zeiten von Kriegen oder sozialen Revolutionen bekannt waren.
Diese Transformationen brachten die Faschisten oft in Konflikt mit
Konservativen, die in ihren Familien, Kirchen, ihrer sozialen Stellung und mit ihrem Eigentum verwurzelt waren. Wir werden bei
einer genaueren Analyse der komplexen Beziehungen von Komplizenschaft, Anpassung und gelegentlicher Opposition, die die Kapitalisten mit den Faschisten an der Macht verbanden,43 noch sehen,
dass man den Faschismus nicht einfach als eine muskelspielendere
Variante des Konservatismus betrachten kann, selbst wenn er die
bestehenden Eigentums- und sozialen Verhältnisse beibehielt.
Es wird schwierig, den Faschismus auf der vertrauten politischen Landkarte mit den Koordinaten rechts und links zu verorten. Wussten die faschistischen Führer zu Anfang überhaupt selbst,
wo sie dort standen? Als Mussolini im März 1919 seine Freunde an
der Piazza San Sepolcro zusammenrief, war es nicht klar erkennbar, ob er versuchte, mit seinen früheren Genossen in der Sozialistischen Partei Italiens auf der Linken zu konkurrieren oder sie
frontal von rechts anzugreifen. Wo im politischen Spektrum Italiens würde das, was er immer noch gelegentlich »nationalen Syndikalismus« nannte, seinen Platz finden?44 Tatsächlich behielt der
Faschismus diese Uneindeutigkeit auch in der Folge immer bei.
Eines war den Faschisten jedoch klar: dass sie nicht in der Mitte
standen. Die Verachtung der Faschisten für die »verweichlichte«,
selbstgefällige, kompromissbereite Mitte war absolut (obwohl
faschistische Parteien, die aktiv den Weg zur Macht suchten,
gemeinsame Sache mit Eliten der Mitte gegen ihre gemeinsamen
Feinde auf der Linken machen mussten). Ihre Verachtung für den
liberalen Parlamentarismus und den unkonventionellen bürgerlichen Individualismus sowie ihre radikalen Rezepte gegen nationale Schwäche und Uneinigkeit passten nicht zu ihrer Bereitschaft, praktische Allianzen mit Nationalkonservativen gegen die
internationalistische Linke zu schließen. Die ultimative Antwort
der Faschisten auf die Rechts-Links-Orientierung der politischen
23
UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Robert O. Paxton
Anatomie des Faschismus
Gebundenes Buch, Pappband, 448 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-421-05913-0
DVA Sachbuch
Erscheinungstermin: Februar 2006
Der Faschismus war eine der bedeutendsten politischen Kräfte des 20. Jahrhunderts und
Quelle millionenfachen Unglücks. Das Geheimnis seiner Attraktivität erscheint angesichts
der Horrorbilanz, die er hinterlassen hat, immer noch rätselhaft. Robert O. Paxton trägt zu
einem neuen Verständnis des Phänomens bei. In einer vergleichenden Studie analysiert er,
wie der Faschismus in den verschiedenen europäischen Ländern in Aktion trat, unter welchen
Bedingungen er mächtig werden konnte und welche Gefahr noch heute von ihm ausgeht. In
einer Zeit massiver sozialer und sicherheitspolitischer Herausforderungen neigen demokratische
Gesellschaften dazu, bürgerliche Freiheiten zu beschneiden und nach rechts zu rücken. Das
war in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts so, das kennzeichnet
aber auch die Politik dieser Tage, sei es in Italien, den Niederlanden oder den USA. Paxton
macht kenntlich, an welchen Punkten die zivilisatorischen Grenzen überschritten werden.
• Die politische Verführungskraft des Faschismus ist nach wie vor vorhanden. Um so dringlicher
ist es, seine Funktionsweise zu verstehen.
• Faschisten rücken immer dann näher an die Macht, wenn die konservativen Kräfte der
Gesellschaft beginnen, sich ihre Techniken auszuleihen.
Herunterladen