Robert O. Paxton Anatomie des Faschismus Robert O. Paxton Anatomie des Faschismus Aus dem Englischen von Dietmar Zimmer Deutsche Verlags-Anstalt München Für Sarah Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel The Anatomy of Fascism bei Alfred A. Knopf, New York Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. SGS-COC-1940 Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier EOS liefert Salzer, St. Pölten. 1. Auflage Copyright © 2004 Robert O. Paxton Copyright © 2006 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle Rechte vorbehalten Satz und Layout: Boer Verlagsservice, München Gesetzt aus der Minion Pro Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 10: 3-421-05913-6 ISBN 13: 978-3-421-05913-0 www.dva.de Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erfindung des Faschismus Bilder des Faschismus . . . . . Strategien . . . . . . . . . . . . Wie gehen wir weiter vor? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 2 Das Entstehen einer faschistischen Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der unmittelbare Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . Geistige, kulturelle und emotionale Wurzeln . . . . . . Langfristige Vorbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . Vorläufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitgliederwerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Den Faschismus von seinen Ursprüngen her verstehen . . . . . . Kapitel 3 Wurzeln schlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfolgreiche Formen des Faschismus . . . . . . . . . 1. Poebene (Italien), 1920–1922 . . . . . . . . . . . . . 2. Schleswig-Holstein (Deutschland), 1928–1933. . . . Ein erfolgloser Faschismus: Frankreich, 1924–1940 . Weitere erfolglose Formen von Faschismus . . . . . Vergleiche und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 . . . . Kapitel 4 Die Übernahme der Macht . . . . . . . . . . . Mussolini und der »Marsch auf Rom« . . . . . . . . . . Hitler und die »Hinterzimmerverschwörung« . . . . . Was nicht geschah: Wahl, Staatsstreich, Triumph eines Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allianzen bilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was die Faschisten dem Establishment anboten . . . . Die präfaschistische Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . Revolutionen nach der Machterlangung: Deutschland und Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleiche und Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 5 An der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wesen der faschistischen Herrschaft: »Doppelstaat« und dynamische Konturlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . Das Tauziehen zwischen Faschisten und Konservativen . Das Tauziehen zwischen Führer und Partei . . . . . . . . Das Tauziehen zwischen Partei und Staat . . . . . . . . . Anpassung, Enthusiasmus, Terror . . . . . . . . . . . . . Die faschistische »Revolution« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 6 Langfristbetrachtung: Radikalisierung oder Entropie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was treibt Radikalisierung an? . . . . . . . . . . . . . . Versuch einer Erklärung für den Holocaust . . . . . . . Radikalisierung in Italien: Innere Ordnung, Äthiopien, Salò . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 7 Andere Zeiten, andere Orte . . . . . . . . . . Ist Faschismus heute noch möglich? . . . . . . Westeuropa seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . Osteuropa nach dem Zerfall der Sowjetunion . Faschismus außerhalb Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 8 Was ist Faschismus? . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretationen im Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Faschismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografischer Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 vorwort Vorwort Viele Jahre lang hielt ich Universitätsvorlesungen über Faschismus, mal für Studienanfänger, mal für Fortgeschrittene. Je mehr ich über Faschismus las und je länger ich mit Studierenden darüber diskutierte, desto perplexer wurde ich. Während sich eine Unmenge brillanter Monografien auf oft erhellende Weise mit besonderen Aspekten von Mussolinis Italien, Hitlers Deutschland und ähnlichen Themen befassen, schienen mir Bücher über den Faschismus als generisches Phänomen im Vergleich zu den Monografien oft abstrakt, voller Stereotypen und blutleer. Dieses Buch ist ein Versuch, die monografische Literatur etwas mehr in Richtung einer Diskussion über Faschismus im Allgemeinen zu lenken und Faschismus in einer Art und Weise zu präsentieren, die seine Varianten und Komplexitäten berücksichtigt. Deshalb konzentriere ich mich im Gegensatz zur üblichen Praxis stärker auf die Handlungen der Faschisten als auf ihre Worte. Ich widme auch den Verbündeten und Komplizen des Faschismus mehr Zeit als üblich und der Frage, wie faschistische Regimes mit den Gesellschaften interagierten, die sie zu verändern trachteten. Dies ist ein Essay, keine Enzyklopädie. Viele Leser werden ihr eigenes Lieblingsthema hier eher beiläufig behandelt sehen und weniger detailliert, als sie es sich vielleicht wünschten. Ich hoffe, dass das, was ich geschrieben habe, sie dennoch zum Weiterlesen verleiten wird. Dies ist auch der Zweck der Anmerkungen und der umfangreichen Bibliografie. Nach all den vielen Jahren, in denen ich mich nun bereits mit diesem Thema beschäftige, schulde ich mehr Menschen als gewöhnlich Dank für fachliche und persönliche Hilfe. Die Rockefeller Foundation ermöglichte mir den Entwurf der Kapitel in der Villa Serbelloni am Comer See, ganz in der Nähe jenes Ortes, wo italienische Partisanen im April 1945 Mussolini töteten. Die École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris, das Istituto Universitario Europeo in Florenz und eine ganze Reihe amerikanischer 9 vorwort Universitäten erlaubten es mir, einige dieser Ideen in Seminarraum und Hörsaal zu testen. Eine ganze Generation von Studenten an der Columbia University in New York stellte meine Interpretationen immer wieder auf den Prüfstand. Philippe Burrin, Paul Corner, Patrizia Dogliani und Henry Ashby Turner Jr. begutachteten großzügigerweise eine frühere Version dieser Arbeit. Carol Gluck, Herbert S. Klein und Ken Ruoff lasen Teile des Manuskripts. Sie alle bewahrten mich vor peinlichen Fehlern, und ich übernahm die meisten ihrer Vorschläge. Hätte ich sie alle übernommen, wäre das Buch wahrscheinlich besser geworden. Weiterhin danke ich folgenden Personen für Hilfe der verschiedenen Art: Drue Heinz, Stuart J. Woolf, Stuart Proffitt, Bruce Lawder, Carlo Moos, Fred Wakeman, Jeffrey Bale, Joel Colton, Stanley Hoffmann, Juan Linz und den Mitarbeitern der Bibliotheken der Columbia University. Für die verbliebenen Fehler trägt allein der Autor die Verantwortung. Allen voran jedoch war Sarah Plimpton unerschütterlich mit ihrer Ermutigung und weise als kritische Leserin. New York, Februar 2003 Drei Jahre sind nun vergangen, seit das Manuskript für die amerikanische Originalausgabe abgeschlossen wurde. Immer noch setzt der Präsident der Vereinigten Staaten als Reaktion auf vorgebliche Bedrohungen der nationalen Sicherheit die Herrschaft des Rechts außer Kraft. Die europäischen Gesellschaften kämpfen weiterhin mit der Integration von Immigranten. Eine Studie über den Faschismus als einem Trieb zu maßlosem nationalen Einheits-, Reinheitsund Stärkedenken, der sich langsam aber stetig, Schritt für Schritt, entwickelt, dürfte auch heute noch nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben. New York, Januar 2006 10 einleitung KAPITEL 1 Einleitung Die Erfindung des Faschismus Der Faschismus war die bedeutendste politische Innovation des zwanzigsten Jahrhunderts und die Ursache vieler seiner Leiden. Die anderen Hauptströmungen der modernen politischen Kultur des Westens – Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus – erreichten alle ihre reife Form bereits zwischen dem späten achtzehnten und der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Der Faschismus dagegen blieb bis in die 1890er Jahre ungedacht. Friedrich Engels war 1895 im Vorwort für seine neue Ausgabe von Karl Marx’ Die Klassenkämpfe in Frankreich noch eindeutig der Ansicht, eine Verbreiterung der Wählerschaft würde unausweichlich zu mehr Stimmen für die Linke führen. Sowohl die Zeit als auch die schiere Masse der Wähler seien auf der Seite der Sozialisten. »Geht das so voran, so erobern wir bis Ende des Jahrhunderts den größeren Teil der Mittelschichten der Gesellschaft, Kleinbürger wie Kleinbauern, und wachsen aus zu der entscheidenden Macht im Lande, vor der alle andern Mächte sich beugen müssen, sie mögen wollen oder nicht.« Die Konservativen, so schrieb Engels, hätten bemerkt, dass die Zeit gegen sie arbeite. »Wir, die ›Revolutionäre‹, die ›Umstürzler‹, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbstgeschaffenen gesetzlichen Zustand […], während wir bei dieser Gesetzlichkeit pralle Muskeln und rote Backen bekommen und aussehen wie das ewige Leben.«1 Während Engels also erwartete, dass die Gegner der Linken einen Präventivschlag vorbereiteten, konnte er sich 1895 noch nicht vorstellen, dass ein solcher die Zustimmung der Massen finden könnte. Eine Diktatur gegen die Linke unter der begeisterten Zustimmung der Bevölkerung – das war genau die unerwartete Kombination, die dem Faschismus nur eine kurze Generation später gelingen sollte. 11 Einleitung Es gab nur wenige Anzeichen der Vorwarnung. Eines kam von einem wissbegierigen jungen französischen Aristokraten, Alexis de Tocqueville (1805–1859). Obwohl Tocqueville bei seiner Reise durch die Vereinigten Staaten von Amerika 1831 so vieles zu bewundern fand, war er doch irritiert über die Macht der Mehrheit in einer Demokratie, die über sozialen Druck Konformität erzwingen konnte, und das auch noch in Abwesenheit einer unabhängigen sozialen Elite. Diese Art von Druck, durch welchen demokratische Völker bedroht werden, wird nichts von dem ähneln, was jemals in der Welt da gewesen ist; unsere Zeitgenossen dürften kein Bild davon in ihrem Gedächtnis finden. Ich selbst suche vergebens nach einem Ausdruck für die Idee, die ich für mich selbst bilde und die es enthält; die alten Wörter Despotismus und Tyrannei sind ungeeignet. Das Ding ist neu, deshalb muss ich versuchen, es zu definieren, denn benennen kann ich es nicht.2 Eine andere Vorahnung hatte, sozusagen um fünf Minuten vor zwölf, ein französischer Ingenieur, der auch als Sozialphilosoph tätig war, Georges Sorel. 1908 kritisierte Sorel Marx, weil dieser nicht bemerkt habe, dass »eine Revolution, die in Zeiten des Niedergangs stattfindet, eine Rückkehr in die Vergangenheit oder gar die soziale Konservierung zu ihrem Ideal erklären« könne.3 Das Wort Faschismus4 hat seine Wurzeln im italienischen fascio, Rutenbündel. Es stammt aus dem lateinischen fasces, jener von einem Bündel hölzerner Ruten umschlossenen Axt, die bei öffentlichen Aufzügen zum Zeichen der Macht und der Einheit des Staates vor dem Magistrat von Rom hergetragen wurde. Vor 1914 wurde die Symbolik der fasces gewöhnlich von der Linken verwendet. Marianne, das Symbol der französischen Republik, wurde im neunzehnten Jahrhundert als Trägerin eines Rutenbündels zum Zeichen der republikanischen Solidarität gegen ihre Feinde aus Aristokratie und Klerus dargestellt.5 Fasces finden sich auch an prominenter Stelle in Christopher Wrens (1664–1669 gebautem) Sheldonian Theatre der Universität Oxford. Auch am Lincoln Memorial 12 einleitung in Washington (1922) und auf der 1932 geprägten 25-Cent-Münze der USA sind sie zu finden.6 Italienische Revolutionäre verwendeten den Begriff fascio, »Bund«, im späten neunzehnten Jahrhundert zum Ausdruck der gegenseitigen Solidarität. Die sizilianischen Landarbeiter, die sich 1893/94 gegen ihre Grundherren auflehnten, nannten sich selbst Fasci Siciliani. Als Ende 1914 eine Gruppe von Linksnationalisten, zu denen bald der aus der Sozialistischen Partei ausgestoßene Benito Mussolini hinzukam,7 versuchte, Italien im Ersten Weltkrieg auf die Seite der Alliierten zu bringen, wählten sie einen Namen, der sowohl für die Entschlossenheit ihrer Kampagne als auch für ihre gegenseitige Solidarität stehen sollte: Sie nannten sich Fascio Rivoluzionario d’Azione Intervenista (»Revolutionärer Bund zur Interventionistischen Aktion«).8 Am Ende des Krieges prägte Mussolini den Begriff fascismo zur Beschreibung der Geisteshaltung seiner kleinen Gruppe nationalistischer Ex-Soldaten und kriegsbefürwortenden Revolutionären aus den Reihen der Syndikalisten,9 die sich um ihn versammelt hatten. Selbst damals besaß Mussolini also kein Monopol auf den Begriff fascio, der auch weiterhin bei Gruppen von Aktivisten verschiedener politischer Couleur in allgemeinem Gebrauch blieb.10 Offiziell wurde der italienische Faschismus (il Fascismo) am Sonntag, den 23. März 1919 in Mailand begründet. An diesem Morgen trafen sich etwas mehr als einhundert Personen,11 darunter Kriegsveteranen, Syndikalisten, die den Krieg unterstützt hatten, und Intellektuelle aus der Bewegung des futurismo12 sowie einige Reporter und Neugierige im Sitzungssaal der Mailänder Industrie- und Handelskammer, von dem aus man die Piazza San Sepolcro überblicken konnte, um »dem Sozialismus den Krieg zu erklären … denn er hat sich dem Nationalismus entgegengestellt«13. Hier nannte Mussolini seine Bewegung erstmals Fasci di combattimento, frei übersetzt also etwa »Kampfbund«. Das Programm der Faschisten, veröffentlicht zwei Monate später, war eine kuriose Mischung aus Veteranenpatriotismus und radikalem sozialem Experiment, eine Art »nationaler Sozialismus«. Auf der nationalen Seite forderte es die Erfüllung der expansionis13 Einleitung tischen Ziele Italiens auf dem Balkan und im Mittelmeerraum, die nur wenige Monate zuvor auf der Pariser Friedenskonferenz gestoppt worden waren. Auf der radikalen Seite stand die Forderung nach dem Frauenwahlrecht, dem Wahlrecht mit achtzehn Jahren, der Abschaffung des Oberhauses, der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung für Italien (vermutlich ohne Monarchie), dem Acht-Stunden-Arbeitstag, Arbeiter-Mitbestimmung beim »technischen Management der Industrie«, der »Teilenteignung aller Arten von Reichtum« durch eine hohe und progressive Kapitalsteuer, der Einziehung gewisser Kirchenbesitztümer und der Konfiszierung von 85 Prozent der Kriegsgewinne.14 Mussolinis Bewegung beschränkte sich nicht auf Nationalismus und Angriffe auf Eigentum. Es dürstete sie nach gewaltsamer Aktion, und sie war geprägt von Intellektuellenfeindlichkeit, Ablehnung von Kompromissen und der Verachtung der etablierten Gesellschaft, alles typische Haltungen jener drei Gruppen, die die Mehrzahl ihrer ersten Anhänger ausmachten – demobilisierte Kriegsveteranen, kriegsbefürwortende Syndikalisten und Intellektuelle des futurismo. Mussolini, selbst ein Kriegsveteran, der sich seiner vierzig Verwundungen rühmte,15 hoffte, als Veteranenführer ein politisches Comeback zu erreichen. Ein harter Kern seiner Anhänger stammte von den Arditi, ausgewählten Kommando-Einheiten mit Fronterfahrung, die sich zur Herrschaft über das Land, das sie gerettet hatten, berufen fühlten. Die kriegsbefürwortenden Syndikalisten waren während der Auseinandersetzungen um den Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 Mussolinis engste Verbündete gewesen. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Gewerkschaftsbewegung in Europa der wichtigste Rivale des parlamentarischen Sozialismus. Während die meisten Sozialisten bis 1914 in Parteien organisiert waren, die sich um Parlamentssitze bemühten, waren die Gewerkschaften in ihren eigenen Organisationen verwurzelt. So arbeiteten die parlamentarischen Sozialisten für einzelne Reformen und warteten ansonsten auf die historische Entwicklung, die nach den Vorhersagen von Marx den Kapitalismus überwinden würden; derweil glaubten die Syn14 einleitung dikalisten – verbittert über die Kompromisse, die die parlamentarische Arbeit erforderte und in der Annahme, die meisten Sozialisten setzten ohnehin eher auf eine graduelle Evolution –, sie selbst könnten den Kapitalismus durch die Kraft allein ihres Willens zu Fall bringen. Indem sie sich eher auf ihr endgültiges revolutionäres Ziel als auf die kleinteiligen Arbeitsplatzprobleme jedes einzelnen Berufszweiges konzentrieren würden, glaubten die Vertreter jener Gewerkschaftsrichtung des »revolutionären Syndikalismus«, »eine Großgewerkschaft« bilden und dann den Kapitalismus in einem Schlag mit einem großen Generalstreik aus den Angeln heben zu können. Nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus würden dann die in ihren Gewerkschaften organisierten Arbeiter als einzige funktionierende Produktionseinheiten übrig bleiben und in einer freien, kollektivistischen Gesellschaft ihre Austauschbeziehungen pflegen.16 Während sich alle italienischen parlamentarischen Sozialisten und die meisten italienischen Gewerkschafter vehement gegen einen Eintritt Italiens in den Krieg aussprachen, kamen spätestens im Mai 1915 einige Heißsporne um Mussolini zu dem Schluss, dass ein Kriegseintritt Italien weiter in Richtung einer sozialen Revolution bewegen würde, als wenn es neutral bliebe. Nun waren auch sie »nationale Syndikalisten« geworden.17 Die dritte Mitgliedergruppe von Mussolinis erster Faschistenbewegung bildeten junge antibürgerliche Intellektuelle und Ästheten wie die Futuristen. Die Futuristen waren eine lockere Verbindung von Künstlern und Schriftstellern, die sich die Thesen von Filippo Tomaso Marinettis Manifest des Futurismus zu Eigen machten, das erstmals 1909 in Paris veröffentlicht worden war. Marinettis Anhänger verschmähten das kulturelle Erbe der Vergangenheit, wie es in Museen und Bibliotheken zur Schau gestellt wurde, und lobten die befreienden und belebenden Qualitäten von Geschwindigkeit und Gewalt. »Ein dahinrasendes Automobil […] ist schöner als die Nike von Samothrake.«18 1914 gierten sie nach dem Abenteuer des Krieges, und 1919 folgten sie auch Mussolini. Eine weitere intellektuelle Strömung, die Rekruten für Mussolini bereitstellte, bestand aus Kritikern der als billig empfundenen Kompromisse des italienischen Parlamentarismus, die von einem »zwei15 Einleitung ten Risorgimento« träumten.19 Das erste Risorgimento hatte ihrer Ansicht nach Italien in den Händen einer kleinen Oligarchie belassen, deren seelenlose politische Taktierereien dem kulturellen Prestige und den Großmachtansprüchen Italiens unwürdig seien. Sie meinten, es sei Zeit, die »Nationale Revolution« zu vollenden und Italien einen neuen Status zu verschaffen – mit einer energischen Führerschaft, einem motivierten Bürgertum und einer vereinten Nationalgesellschaft, die es auch verdiene. Viele der Befürworter eines »zweiten Risorgimento« schrieben für die Florenzer Kulturzeitschrift La Voce, die auch der junge Mussolini abonniert hatte und mit deren Herausgeber, Giovanni Prezzolini, er einen Schriftwechsel führte. Nach dem Krieg verlieh die Zustimmung dieser Gruppe zur wachsenden faschistischen Bewegung auch unter Nationalisten der Mittelklasse Ansehen und wachsende Akzeptanz für das Ziel einer radikalen »nationalen Revolution«.20 Am 15. April 1915, kurz nach der Gründung der faschistischen Bewegung an der Piazza San Sepolcro, stürmte eine Gruppe von Freunden Mussolinis, darunter Marinetti und der Chef der Arditi, Ferruccio Vecchi, die Mailänder Büros der sozialistischen Tageszeitung Avanti, deren Chefredakteur von 1912 bis 1914 Mussolini selbst gewesen war. Sie zertrümmerten Druckerpressen und die übrige Einrichtung. Dabei wurden vier Personen getötet, darunter ein Soldat, und 39 verwundet.21 Der italienische Faschismus brach also mit einem Gewaltakt in die Geschichte ein – sowohl gegen den Sozialismus als auch gegen das bürgerliche Rechtssystem, im Namen eines behaupteten höheren nationalen Gutes. Der Faschismus erhielt seinen Namen in Italien und machte dort auch seine ersten Schritte. Mussolini war jedoch kein einzelgängerischer Abenteurer. Auch anderswo im Europa der Nachkriegszeit entstanden ähnliche Bewegungen unabhängig von Mussolinis Faschismus, die ebenfalls die gleiche Mixtur aus Nationalismus, Antikapitalismus, Voluntarismus und aktiver Gewaltanwendung gegen erklärte Feinde – sowohl aus dem Bürgertum als auch aus dem sozialistischen Lager – propagierten. (Mit diesem weiten Feld früher Formen des Faschismus werde ich mich ausführlicher in Kapitel 2 beschäftigen.) 16 einleitung Etwas mehr als drei Jahre nach ihrem Gründungstreffen an der Piazza San Sepolcro war Mussolinis faschistische Bewegung in Italien an der Macht. Elf Jahre später übernahm eine andere faschistische Partei die Macht in Deutschland.22 Und schon bald dröhnten überall in Europa ehrgeizige Diktatoren und marschierende Verbände, die sich auf dem gleichen Weg zur Macht glaubten wie Mussolini und Hitler. Wiederum sechs Jahre später hatte Hitler Europa in einen Krieg gestürzt, der schließlich einen Großteil der Welt in seinen Strudel zog. Bis zu seinem Ende musste die Menschheit nicht nur die üblichen Barbareien eines Krieges ertragen, durch Technik und wilde Leidenschaft auf ein nie dagewesenes Maß vergrößert, sondern auch den Versuch, durch industriellen Massenmord ein gesamtes Volk, seine Kultur und sogar die Erinnerung daran auszulöschen. Bei Mussolini, Ex-Schullehrer, Bohemien und Autor zweitklassiger Romane, einem früheren sozialistischen Redner und Chefredakteur, und bei Hitler, einem früheren Obergefreiten und erfolglosen Kunststudenten, vermuteten viele gebildete und empfindsame Menschen einfach, »eine Barbarenhorde […] habe in der Nation ihre Zelte aufgeschlagen«23. Der Schriftsteller Thomas Mann notierte am 27. März 1933, zwei Monate, nachdem Hitler Reichskanzler geworden war, in seinem Tagebuch, der »Abschaum der Gemeinheit« habe die Macht übernommen: »Es war den Deutschen vorbehalten, eine Revolution nie gesehener Art zu veranstalten: Ohne Idee, gegen die Idee, gegen alles Höhere, Bessere, Anständige, gegen die Freiheit, die Wahrheit, das Recht. Es ist menschlich nie etwas Ähnliches vorgekommen. Dabei ungeheurer Jubel der Massen […].«24 Im inneren Exil in Neapel bemerkte der bedeutende liberale italienische Philosoph und Historiker Benedetto Croce abschätzig, Mussolini habe den drei Aristotelischen Typen schlechter Herrschaft – Tyrannei, Oligarchie und Demokratie – eine vierte hinzugefügt, die »Onagrokratie«, die Herrschaft mit dem Rammbock (lat. onager).25 Croce kam später zu dem Schluss, der Faschismus sei nur eine »Parenthese« in der italienischen Geschichte gewesen, das zeitweise Ergebnis eines moralischen Niedergangs, der durch 17 Einleitung die Verwerfungen des Ersten Weltkriegs noch verstärkt worden sei. Der liberale deutsche Historiker Friedrich Meinecke urteilte später, als Hitler Deutschland in die Katastrophe geführt hatte, ähnlich – dass der Nazismus aus einer moralischen Degeneration entstanden sei, bei der ignorante und dumpfe Technokraten, Machtmenschen, unterstützt von einer Massengesellschaft, die es nach Aufregungen dürstete, über ausgewogene und rationale Kulturmenschen triumphiert hätten.26 Beide kamen zu dem Schluss, dass eine Lösung in der Schaffung einer Gesellschaft bestehen könnte, in der »die Besten« herrschen. Andere Beobachter wussten von Anfang an, dass hier mehr geschah als der zufällige Aufstieg einer Räuberbande und etwas Präziseres zu verzeichnen war als ein Verfall der alten moralischen Ordnung. Marxisten, den ersten Opfern des Faschismus, war es geläufig, die Geschichte als eine große, durch den Zusammenstoß von ökonomischen Systemen verursachte Abfolge tiefgreifender Prozesse zu betrachten. Sogar schon bevor Mussolini seine Macht vollkommen gefestigt hatte, waren sie mit einer Definition des Faschismus als »Instrument der Großbourgeoisie zur Bekämpfung des Proletariats, wenn sich die legalen Mittel des Staates als unzureichend zu dessen Unterjochung erweisen« bei der Hand.27 Unter Stalin wurde daraus eine eherne Formel, die über ein halbes Jahrhundert lang zur orthodoxen kommunistischen Lehrmeinung wurde: »Faschismus ist die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten und imperialistischsten Elemente des Finanzkapitals.« 28 Obwohl im Laufe der Jahre noch viele weitere Interpretationen und Definitionen vorgeschlagen werden sollten, findet auch heute noch, über 80 Jahre nach dem Treffen von San Sepolcro, keine von ihnen einhellige Zustimmung als vollkommen zufriedenstellende Beschreibung eines Phänomens, das scheinbar aus dem Nichts kam, vielerlei unterschiedliche Formen annahm, Hass und Gewalt im Namen von Nationalstolz verherrlichte, und dem es doch gelang, bei angesehenen und gebildeten Staatsmännern, Unternehmern, Vertretern der unterschiedlichsten Berufe, Künstlern und Intellektuellen Anklang zu finden. Auf diese Vielzahl an Interpretationen 18 einleitung möchte ich in Kapitel 8 näher eingehen, wenn wir unser Thema etwas besser kennengelernt haben. Faschistische Bewegungen unterschieden sich darüber hinaus so auffällig von einem Land zum anderen, dass manche sogar bezweifeln, dass der Begriff Faschismus überhaupt irgendeine Bedeutung hat außer als Schimpfwort. Das Attribut wurde so locker verwendet, dass praktisch jeder, der entweder eine Autorität verkörpert oder aber an einer solchen rüttelt, bereits einmal von irgendjemand anderem als Faschist bezeichnet wurde. Diese Zweifler regen an, dass es vielleicht am besten wäre, auf den Ausdruck ganz zu verzichten.29 Ziel dieses Buches ist es, einen frischen Blick auf den Faschismus zu werfen, mit dem vielleicht das Konzept des Faschismus für eine sinnvolle Verwendung bewahrt bleibt, der zugleich aber stärker als bisher die Attraktivität, den komplexen historischen Werdegang und seinen ultimativen Horror berücksichtigt. Bilder des Faschismus Jeder ist sicher zu wissen, was Faschismus ist. Als diejenige Politikform, die am selbstbewusstesten von allen visuell in Erscheinung trat, präsentiert sich uns der Faschismus in lebhaften Bildern: ein chauvinistischer Demagoge, der mit seinen Reden eine ekstatische Menge begeistert; disziplinierte Reihen marschierender Jugendlicher; Anhänger in farbigen Hemden, die Angehörige einer dämonisierten Minderheit zusammenschlagen: überraschende Hausdurchsuchungen im Morgengrauen; und Soldaten, die durch eine eingenommene Stadt paradieren. Bei näherer Betrachtung schleichen sich jedoch leichte Fehler in diese vertrauten Bilder ein. Die Vorstellung von einem allmächtigen Diktator personalisiert den Faschismus und schafft den falschen Eindruck, dass wir ihn schon vollständig verstehen könnten, wenn wir nur seine jeweiligen Führer betrachten. Dieses Bild, dessen Macht bis heute nachwirkt, ist der letzte Triumph der faschistischen Propaganda. Es liefert den Nationen, die faschis19 Einleitung tische Führer guthießen oder tolerierten, ein Alibi und lenkt die Aufmerksamkeit weg von den Personen, Gruppen und Institutionen, die ihnen dabei halfen. Wir brauchen ein subtileres Modell des Faschismus, das die Wechselwirkungen zwischen Führer und Nation untersucht ebenso wie die zwischen den faschistischen Parteien und der Zivilgesellschaft. Das Bild jubelnder Menschenmengen nährt die Annahme, einige europäische Völker seien von Natur aus für den Faschismus prädisponiert und reagierten aufgrund ihres nationalen Charakters so begeistert auf ihn. Ähnlich der Glaube, dass eine irgendwie »fehlerhafte« Geschichte gewisser Nationen dem Faschismus Vorschub leistete.30 Dies gerät leicht zu einem Alibi für andere Nationen: Hier könne so etwas eben nicht passieren. Jenseits dieser vertrauten Bilder wird jedoch die faschistische Realität bei näherer Betrachtung noch komplizierter. So zeigte zum Beispiel das Regime, das den Begriff Faschismus erfand – Mussolini in Italien – bis sechzehn Jahre nach der Regierungsübernahme wenig Anzeichen von Antisemitismus. Tatsächlich hatte Mussolini jüdische Unterstützer unter den Industriellen und Großgrundbesitzern, die ihn am Anfang mitfinanzierten.31 Er hatte enge jüdische Vertraute wie etwa den Aktivisten der Faschistischen Partei Aldo Finzi und eine jüdische Geliebte, die Schriftstellerin Margherita Sarfatti, die Autorin seiner ersten Biografie.32 Etwa zweihundert Juden nahmen am Marsch auf Rom teil.33 Dagegen war die kollaborationistische Vichy-Regierung in Frankreich unter Marschall Pétain (1940– 1944) aggressiv antisemitisch, während sie in anderer Hinsicht eher als autoritär 34 denn als faschistisch zu bezeichnen wäre, wie wir in Kapitel 8 noch sehen werden. Daher ist es problematisch, in einem stark ausgeprägten Antisemitismus das wesentliche Element des Faschismus zu sehen.35 Ein weiterer oft als essentiell betrachteter Zug des Faschismus ist seine antikapitalistische, antibürgerliche Haltung. Frühe faschistische Bewegungen machten keinen Hehl aus ihrer Verachtung für bürgerliche Werte und für die »Männer der Wirtschaft«, die nur »Geld verdienen wollten, Geld, dreckiges Geld«.36 Sie griffen das »internationale Finanzkapital« fast ebenso lautstark an, wie sie 20 einleitung die Sozialisten angriffen. Und sie versprachen, Kaufhausbesitzer zugunsten patriotischer Handwerker und Kleinhändler zu enteignen sowie Großgrundbesitzer zugunsten von Landarbeitern.37 Wann immer jedoch faschistische Parteien an die Macht kamen, taten sie nichts, um diese antikapitalistischen Drohungen zu verwirklichen. Stattdessen verstärkten sie mit äußerster Brutalität und Härte ihre Drohungen gegen den Sozialismus. Straßenkämpfe mit jungen Kommunisten über die Vorherrschaft in bestimmten Stadtvierteln gehörten zu ihren wirkungsvollsten Propagandabildern.38 Einmal an der Macht, verboten faschistische Regimes Streiks, lösten unabhängige Gewerkschaften auf, verringerten die Kaufkraft der Lohnempfänger und lenkten zur äußersten Befriedigung der Arbeitgeber große Finanzströme in die Rüstungsindustrie. Angesichts dieser Widersprüche zwischen Worten und Taten in Bezug auf den Kapitalismus haben verschiedene Wissenschaftler entgegengesetzte Schlussfolgerungen gezogen. Einige nahmen den Begriff wörtlich und betrachteten den Faschismus als eine Form des radikalen Antikapitalismus.39 Andere, und nicht nur Marxisten, stellten sich auf den diametral entgegengesetzten Standpunkt, die Faschisten seien den bedrängten Kapitalisten zu Hilfe gekommen und hätten mithilfe von Notstandsmaßnahmen das bestehende System von Eigentumsverteilung und sozialer Hierarchie noch unterstützt. Dieses Buch vertritt die Position, dass das, was die Faschisten taten, uns zumindest ebenso viel über sie verrät wie das, was sie sagten. Letzteres kann natürlich nicht ignoriert werden, denn es hilft, ihre Attraktivität zu erklären. Selbst in ihrer radikalsten Form jedoch war die faschistische antikapitalistische Rhetorik selektiv. Während die Faschisten die spekulative internationale Hochfinanz denunzierten (neben anderen Formen von Internationalismus, Kosmopolitismus und Globalisierung – kapitalistischer ebenso wie sozialistischer), respektierten sie doch das Eigentum inländischer Unternehmen, das die soziale Basis der wiedererstarkten Nation bilden sollte.40 Wenn sie das Bürgertum denunzierten, dann als zu schwach und individualistisch, um eine Nation stark zu machen, und nicht, weil es die Arbeiter des von 21 Einleitung ihnen erzeugten Mehrwerts beraube. Am Kapitalismus kritisierten sie nicht seine Ausbeutung, sondern seinen Materialismus, seine Gleichgültigkeit gegenüber der Nation, seine Unfähigkeit, die Seelen der Menschen zu erreichen.41 Auf einer grundsätzlicheren Ebene lehnten Faschisten auch die Ansicht ab, ökonomische Kräfte seien die Hauptbeweger der Geschichte. Für die Faschisten brauchte der dysfunktionale Kapitalismus der Zwischenkriegszeit keine fundamentale Neuordnung; seine Krankheiten könnten einfach dadurch kuriert werden, dass man ausreichend politischen Willen in die Schaffung von Vollbeschäftigung und Produktivität stecke.42 Einmal an der Macht, konfiszierten die Faschisten nur das Eigentum der politischen Gegner, von Ausländern und von Juden. Keines dieser Regimes veränderte die soziale Hierarchie, außer dass einzelne Abenteurer auf höhere Posten katapultiert wurden. Wenn es hoch kam, ersetzten sie Marktkräfte durch staatliche Wirtschaftslenkung, aber im Zuge der Weltwirtschaftskrise wurde dies anfänglich sogar von den meisten Geschäftsleuten begrüßt. Wenn der Faschismus »revolutionär« war, dann in einem besonderen Sinn, der weit entfernt ist von der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes, wie sie von 1789 bis 1917 gegolten hatte, als man unter Revolution eine tiefgreifende Umwälzung der sozialen Ordnung und der Neuverteilung der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Macht verstand. Denn tatsächlich führte der Faschismus während seiner Zeit an der Macht einige Veränderungen durch, die so tiefgreifend waren, dass man sie ebenfalls als »revolutionär« bezeichnen könnte, wenn wir nur bereit sind, diesem Begriff eine andere Bedeutung zu geben. In seiner vollsten Ausprägung zog der Faschismus die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem neu und verringerte deutlich jene Sphäre, die zuvor als unantastbar privat gegolten hatte. Nun bedeutete Staatsbürgerschaft nicht mehr in erster Linie, dass man sich konstitutioneller Rechte erfreute und Pflichten übernahm, sondern die Teilnahme an Massenzeremonien zur Affirmation von Konformität. Der Faschismus gestaltete die Beziehungen zwischen dem Individuum und dem Kollektiv neu, so dass ein Einzelner keine Rechte mehr außerhalb des Gemeinwohls 22 einleitung hatte. Der Faschismus erweiterte die Macht der Exekutive – von Partei und Staat – mit dem Ziel einer totalen Kontrolle. Schließlich entfesselte er aggressive Emotionen, die bis dahin in Europa nur zu Zeiten von Kriegen oder sozialen Revolutionen bekannt waren. Diese Transformationen brachten die Faschisten oft in Konflikt mit Konservativen, die in ihren Familien, Kirchen, ihrer sozialen Stellung und mit ihrem Eigentum verwurzelt waren. Wir werden bei einer genaueren Analyse der komplexen Beziehungen von Komplizenschaft, Anpassung und gelegentlicher Opposition, die die Kapitalisten mit den Faschisten an der Macht verbanden,43 noch sehen, dass man den Faschismus nicht einfach als eine muskelspielendere Variante des Konservatismus betrachten kann, selbst wenn er die bestehenden Eigentums- und sozialen Verhältnisse beibehielt. Es wird schwierig, den Faschismus auf der vertrauten politischen Landkarte mit den Koordinaten rechts und links zu verorten. Wussten die faschistischen Führer zu Anfang überhaupt selbst, wo sie dort standen? Als Mussolini im März 1919 seine Freunde an der Piazza San Sepolcro zusammenrief, war es nicht klar erkennbar, ob er versuchte, mit seinen früheren Genossen in der Sozialistischen Partei Italiens auf der Linken zu konkurrieren oder sie frontal von rechts anzugreifen. Wo im politischen Spektrum Italiens würde das, was er immer noch gelegentlich »nationalen Syndikalismus« nannte, seinen Platz finden?44 Tatsächlich behielt der Faschismus diese Uneindeutigkeit auch in der Folge immer bei. Eines war den Faschisten jedoch klar: dass sie nicht in der Mitte standen. Die Verachtung der Faschisten für die »verweichlichte«, selbstgefällige, kompromissbereite Mitte war absolut (obwohl faschistische Parteien, die aktiv den Weg zur Macht suchten, gemeinsame Sache mit Eliten der Mitte gegen ihre gemeinsamen Feinde auf der Linken machen mussten). Ihre Verachtung für den liberalen Parlamentarismus und den unkonventionellen bürgerlichen Individualismus sowie ihre radikalen Rezepte gegen nationale Schwäche und Uneinigkeit passten nicht zu ihrer Bereitschaft, praktische Allianzen mit Nationalkonservativen gegen die internationalistische Linke zu schließen. Die ultimative Antwort der Faschisten auf die Rechts-Links-Orientierung der politischen 23 UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE Robert O. Paxton Anatomie des Faschismus Gebundenes Buch, Pappband, 448 Seiten, 13,5 x 21,5 cm ISBN: 978-3-421-05913-0 DVA Sachbuch Erscheinungstermin: Februar 2006 Der Faschismus war eine der bedeutendsten politischen Kräfte des 20. Jahrhunderts und Quelle millionenfachen Unglücks. Das Geheimnis seiner Attraktivität erscheint angesichts der Horrorbilanz, die er hinterlassen hat, immer noch rätselhaft. Robert O. Paxton trägt zu einem neuen Verständnis des Phänomens bei. In einer vergleichenden Studie analysiert er, wie der Faschismus in den verschiedenen europäischen Ländern in Aktion trat, unter welchen Bedingungen er mächtig werden konnte und welche Gefahr noch heute von ihm ausgeht. In einer Zeit massiver sozialer und sicherheitspolitischer Herausforderungen neigen demokratische Gesellschaften dazu, bürgerliche Freiheiten zu beschneiden und nach rechts zu rücken. Das war in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts so, das kennzeichnet aber auch die Politik dieser Tage, sei es in Italien, den Niederlanden oder den USA. Paxton macht kenntlich, an welchen Punkten die zivilisatorischen Grenzen überschritten werden. • Die politische Verführungskraft des Faschismus ist nach wie vor vorhanden. Um so dringlicher ist es, seine Funktionsweise zu verstehen. • Faschisten rücken immer dann näher an die Macht, wenn die konservativen Kräfte der Gesellschaft beginnen, sich ihre Techniken auszuleihen.