Europa-Universität Viadrina Jean-Monnet-Lehrstuhl für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Europarecht Prof. Dr. iur. Matthias Pechstein AG Europarecht Sommersemester 2012 AG 10: Warenverkehrsfreiheit Fall 1: Nach EuGH, Rs. 178/84, Kommission/Deutschland, (vgl. Pechstein, Entscheidungen des EuGH, 7. Auflage 2012, Fall 170). Nach dem sog. deutschen Reinheitsgebot dürfen außer Malz, Hopfen, Hefe und Wasser keine weiteren Zusatzstoffe zur Herstellung von Bier verwendet werden. Wird Bier hingegen unter Verwendung von Zusatzstoffen hergestellt, so unterliegt es einem absoluten Verkehrsverbot nach dem Lebensmittelund Bedarfsgegenständegesetz (LMBG). Im Unterschied zur Regelung der Herstellung anderer Getränken sieht dieses Gesetz im Fall von Bier keine Möglichkeit vor, die Verwendung von Zusatzstoffen zu genehmigen. Hiergegen wendet sich ein Bierbrauer aus Holland, der sein dort rechtmäßig mit verschiedenen Zusätzen gebrautes Bier nicht in Deutschland veräußern darf. In dem vor einem deutschen Gericht angestrengten Rechtsstreit beruft er sich auf die Unvereinbarkeit der deutschen Vorschrift mit der Warenverkehrsfreiheit, insbesondere mit Art. 34 AEUV. Die als Klagegegner beteiligte zuständige deutsche Verwaltungsbehörde wendet dagegen ein, dass Art. 34 AEUV gar nicht durch das deutsche Gericht in einer Rechtsstreitigkeit zwischen einem Privaten und einer Behörde angewandt werden könne, da diese Vorschrift sich nur an Mitgliedstaaten richte. Und selbst wenn dies möglich wäre, so vermittele Art. 34 AEUV ausweislich seines Wortlauts keine subjektiven Rechte, deren Verletzung der Brauer geltend machen müsste, um überhaupt erfolgreich zu klagen. Darüber hinaus werde die entsprechende Bestimmung des LMBG inhaltlich auch gar nicht von Art. 34 AEUV erfasst, weil die Vorschrift für alle Getränke und Brauer gelte, unabhängig davon, ob sie aus dem In- oder EU-Ausland kommen. Im Übrigen sei das Verkehrsverbot für mit Zusatzstoffen gebrautes Bier ohnehin gerechtfertigt, da es dem vorbeugendem Schutz der öffentlichen Gesundheit diene. Bier werde in Deutschland in großen Mengen konsumiert und da nicht ausgeschlossen werden könne, dass Zusatzstoffe insbesondere in Verbindung mit Alkohol langfristig gesundheitsgefährdende Wirkungen zeitigen, sei ein absolutes Verkehrsverbot das einzig wirksame Mittel zu Erreichung des Gesundheitsschutzes. Dagegen wendet der Bierbrauer ein, dass es nicht auf deutsche Schutzstandards ankommen könne, wenn die Zusatzstoffe in anderen Mitgliedstaaten unter Verweis auf deren gesundheitliche Unschädlichkeit ordnungsgemäß zugelassen worden seien. Das zuständige deutsche Gericht ist sich der Bedeutung und Auslegung des Art. 34 AEUV nicht sicher und wendet sich gemäß Art. 267 AEUV mit den entsprechenden Fragen an den EuGH. Aufgabe: Wie wird dieser entscheiden? Fall 2: Nach EuGH, Rs. C-479/93, Mars (vgl. Pechstein, Entscheidungen des EuGH, 7. Auflage 2012, Fall 159). Die Firma Mars vertreibt europaweit in Frankreich produzierte Eiskremriegel mit einer einheitlichen Verpackung, auf der sich der Aufdruck „+ 10 %“ befindet, wobei dieser Aufdruck mehr als 10 % der Größe der Verpackung ausmacht. Nachdem die Mars GmbH die Eiskremriegel auch in Deutschland angeboten hat, wurde gegen sie wegen Verstoßes gegen § 3 UWG auf Unterlassung geklagt. Die Werbung sei irreführend, da der Verbraucher glauben könnte, dass der Riegel um den mit dem Streifen „+ 10%“ gekennzeichneten Teil der Verpackung vergrößert worden sei. Das zuständige Gericht ist der Ansicht, dass diese Auffassung zutrifft, hat jedoch Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Auslegung mit dem Unionsrecht. Aufgabe: Sind diese Bedenken begründet? Auszug aus dem UWG in der bis zum 07.07.2004 geltenden Fassung - § 3: Wer im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs über geschäftliche Verhältnisse, 1 Europa-Universität Viadrina Jean-Monnet-Lehrstuhl für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Europarecht Prof. Dr. iur. Matthias Pechstein AG Europarecht Sommersemester 2011 insbesondere über die Beschaffenheit, den Ursprung, die Herstellungsart oder die Preisbemessung einzelner Waren oder gewerblicher Leistungen oder des gesamten Angebots, über Preislisten, über die Art des Bezugs oder die Bezugsquelle von Waren, über den Besitz von Auszeichnungen, über den Anlass oder den Zweck des Verkaufs oder über die Menge der Vorräte irreführende Angaben macht, kann auf Unterlassung der Angaben in Anspruch genommen werden. Angaben über geschäftliche Verhältnisse im Sinne des Satzes 1 sind auch Angaben im Rahmen vergleichender Werbung. Fall 3: Nach EuGH, Rs. C-110/05, Kommission/ Italien (vgl. Pechstein, Entscheidungen des EuGH, 7. Auflage 2012, Fall 163). Der belgische Unternehmer Guy Fiets van de Vlaanderen ist Hersteller von Motorradanhängern, die er in alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union exportiert. Das Geschäft läuft in den meisten Ländern gut, nur u.a. in Italien erreicht die Firma des Herrn Fiets van de Vlaanderen nicht die erhofften Umsätze. Dies ist verwunderlich, denn es ist allgemein bekannt, dass gerade im Süden Europas Motoroller und Motorräder sehr beliebt sind. Nach einer Recherche stellte sich heraus, dass es in Italien eine gesetzliche Regelung gibt, welche das Führen von Anhängern nur Automobilen, Bussen und Oberleitungsbussen gestattet. Das Führen von Anhängern durch Fahrzeuge mit nur zwei Rädern ist hingegen aus Gründen der Sicherheit des Straßenverkehrs verboten. Eine solche Regelung sei nach der Meinung des italienischen Gesetzgebers notwendig, da es weder auf der nationalen, noch auf der europäischen Ebene Bauartgenehmigungen gebe, mit denen die Ungefährlichkeit des Fahrens mit einem Gespann gewährleistet werden könne. Insbesondere das Bremsverhalten der Kradfahrzeuge könne durch Gespanne negativ beeinflusst werden, was eine Gefahr für den Straßenverkehr und dessen Teilnehmer darstelle. Diese Regelung führt natürlich auch dazu, dass italienische Verbraucher kein Interesse an den Anhängern haben, weil sie diese nicht legal verwenden können. Herr Fiets van de Vlaanderen ist empört, dass ihm der Zugang zu einem derart attraktiven Markt verwehrt bleibt und beauftragt Sie, seinen Anwalt, mit der Prüfung, ob die italienische Regelung unionsrechtskonform ist, und wie man ggf. gegen diese vorgehen kann. Hinweis: Sekundärrecht ist bei der Prüfung außer Betracht zu lassen. *Fall 4: Nach EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger (vgl. Pechstein, Entscheidungen des EuGH, 7. Auflage 2012, Fall 171). Ein österreichischer Umweltschutzverein kündigte eine Demonstration auf der Brenner-Autobahn an, die zu einer völligen Blockade des Verkehrs auf dieser Autobahn auf einem bestimmten Streckenabschnitt führen sollte. Der Verein wollte auf die mit dem Schwerlastverkehr auf den Autobahnen verbundenen negativen Auswirkungen auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit hinweisen. Die zuständigen österreichischen Behörden entschieden sich gemäß den geltenden Vorschriften des österreichischen Versammlungsrechts, die Demonstration nicht zu untersagen. Ein möglicher Verstoß gegen das Unionsrecht wurde dabei nicht geprüft. Die Demonstration fand wie angekündigt statt. Ein deutsches Transportunternehmen erlitt dadurch einen erheblichen Schaden, da seine LKWs 30 Stunden lang in der Sonne stehen bleiben mussten, und die ganze Ladung holländischer Tomaten dadurch verdorben ist. Diesen Schaden möchte das Transportunternehmen von der Republik Österreich ersetzt bekommen und klagt vor dem Landgericht Innsbruck. Seiner Meinung nach könne das Verhalten der österreichischen Behörden nicht mit der Warenverkehrsfreiheit vereinbar sein. Aufgabe: Prüfen Sie, ob ein Verstoß gegen Art. 34 AEUV vorliegt. Literatur: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, Rn. 785 ff., 811 ff. 2