Von Pastor Dr. Joachim Diestelkamp, Loccum und Wiedensahl Kopfbahnhof Stuttgart um die Mittagszeit. Tausende eilen zu ihren Zügen, steigen ein oder um oder kaufen sich auf dem Weg einen Kaffee oder eine frische Brezel. Auf Gleis 16 wartet der Regionalzug nach Tübingen, mein Ziel. Auf Höhe des ersten Wagons steht – ich traue meinen Augen kaum – eine junge zierliche Schaffnerin und begrüßt ankommende Reisende. Zuerst denke ich, die begrüßt Bekannte oder Leute, die in die erste Klasse steigen wollen, aber nein! Sie begrüßt doch tatsächlich jeden auf dem Bahnsteig mit einem Lächeln und einem freundlichen „Grüß Gott!“ Ist das denn möglich, denke ich und grüße freundlich zurück, ebenfalls mit einem Lächeln, und steige gut gelaunt in den Zug, der sich bald füllt. Ich habe auf einem jener Plätze Platz gefunden, die man bei Bedarf für einen Rollstuhl oder einen Kinderwagen freimachen soll. Der Zug setzt sich in Bewegung. Ein paar Stationen später betritt die freundliche Schaffnerin den Wagen und geht zielstrebig auf die Ecke zu, in der ich sitze: „Wäre es Ihnen wohl möglich, diese Plätze frei zu machen für einen Kinderwagen?“ fragt sie lächelnd. Meine Güte, denke ich, was für eine Frage. Kein Befehl: „Bitte machen Sie die Plätze frei!“ Keine ärgerlichen Gefühle weckende Bemerkung wie: „Sie haben sicherlich gelesen, dass diese Plätze bei Bedarf…, nein eine offene Frage. Wir hätten auch nein sagen können. Machen wir aber gar nicht bei so entwaffnender Freundlichkeit. Ich räume richtig gern meinen Platz – und jemand anderes im Wagen ruft mir zu: „hier ist noch ein Platz frei.“ Wenig später kommt die Schaffnerin mit einer Flüchtlingsfamilie zurück, die Mutter parkt den Kinderwagen ein, und setzt sich daneben. Der Vater erkundigt sich auf Englisch nach den nächsten Stationen und bekommt sofort bereitwillig auf Englisch Auskunft von einem anderen Fahrgast. Und es ist keine Spur von Anspannung im Wagen zu merken. Diese freundliche Ausstrahlung der Schaffnerin hat sich irgendwie auf alle übertragen. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ rät die Bibel (Röm. 12,21). Diese freundliche Schaffnerin hat es noch viel besser gemacht: Sie hat eine so gute Atmosphäre verbreitet, dass dumme Gefühle oder Gedanken gar nicht erst aufkamen. Hut ab! Das nenne ich ein Vorbild. Joachim Diestelkamp, Loccum