Wissenswert

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Hessischer Rundfunk
hr2-kultur
Redaktion: Dr. Karl-Heinz Wellmann
Wissenswert
Parallelwelten (4)
Gibt es ein zweites Universum?
Von Frank Grotelüschen
Montag, 08.02.2008, 08.30 Uhr, hr2-kultur
Sprecherin:
Sprecher:
08-022
COPYRIGHT:
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Seite 2
Einspielung 1:
(Soundcollage; Mönchsgesänge etc.)
Sprecherin:
Ein Kosmos der Weisheit.
Alle wissen alles.
Kein Rätseln, kein Raten.
Keine Fragen, nur Antworten.
Kein Streben, kein Streiten.
Gleichgewicht. Perfektion.
Kein Lernen, kein Forschen. Kein Spekulieren.
(geblendet)
Sprecher:
In einem Kosmos der Weisheit leben wir nun wirklich nicht. Die großen Rätsel –
sie sind nach wie vor ungeklärt: Wie ist das Leben entstanden? Auf welche
Weise haben sich Intelligenz und Bewusstsein gebildet? Warum gibt es Materie,
und was hält diese Materie zusammen? Und das vielleicht größte Rätsel: Warum
gibt es den Kosmos?
Einspielung 2:
(Atmo Big Bang)
Sprecher:
Vieles deutet darauf hin, dass das Weltall vor ungefähr 14 Milliarden Jahren mit
einer unvorstellbar heftigen Explosion begann – mit dem so genannten Urknall.
Aber wie und warum es zu diesem Urknall kam, das ist nach wie vor ein
Geheimnis. Und das lässt Spekulationen aus dem Boden schießen wie Unkraut.
Manche Kosmologen meinen, das Universum dehne sich abwechselnd aus und
ziehe sich wieder zu einem Punkt zusammenziehen – und das seit Ewigkeiten.
Andere nehmen an, es habe gar keinen Urknall gegeben und das Weltall sei
schon immer so gewesen wie heute. Wieder andere aber – und es werden
immer mehr – glauben: Es gibt nicht nur ein Universum. Ihnen zufolge gibt es
viele – unendlich viele. Manche dieser Parallelwelten seien unserem Weltall
ganz ähnlich. In anderen jedoch herrschten andere Gesetze – mit womöglich
merkwürdigen Konsequenzen.
Seite 3
Seite 4
Einspielung 3:
(O-Ton Vilenkin 1)
„The universe went a very rapid explosive period of expansion...
Sprecher:
Alex Vilenkin, Physikprofessor an der Tufts University im US-Bundesstaat
Massachussetts.
Übersetzer:
Das Universum begann mit einer unvorstellbar schnellen Explosion. Dabei hat
es sich unglaublich schnell ausgedehnt. Diese Phase bezeichnen wir als
Inflation. Wir sind uns sicher, dass es eine solche Phase gegeben haben muss.
Das wird von zahlreichen Beobachtungen gestützt. Denkt man diese Theorie
jetzt konsequent weiter, und zwar über den Bereich hinaus, den wir mit unseren
Teleskopen einsehen können, kommt man zu folgendem Schluss: Die Inflation
hält immer noch an und wird auch in Zukunft ewig weitergehen.
... inflation still continues.“
Sprecher:
Die Inflation stellen sich die Forscher als eine Art Vakuum vor, angefüllt mit
purer Energie. Dieses energiegeladenes Vakuum dehnte sich zu Beginn des
Weltalls rasend schnell aus. Doch schon nach einigen Sekundenbruchteilen
stoppte die Inflation. Die Energie wurde zu Materie – Materie, aus denen später
Sterne entstanden, Planeten und schließlich sogar Lebewesen. Alex Vilenkin
aber geht davon aus, dass die Inflation noch gar nicht zu Ende ist. In dem sich
ausdehnenden Vakuum flammen ihm zufolge immer wieder gewaltige
Feuerbälle auf, in denen neue Materie entsteht. Und das bedeutet:
Einspielung 4:
(O-Ton Vilenkin 2)
„The big bang was not just a one time event...
Übersetzer:
Der Urknall war kein einzigartiges Ereignis. Es gab viele Big Bangs, und es gibt
sie heute noch – und zwar unendlich viele. Jeder dieser Big Bangs schuf ein
eigenes Universum. Manche von diesen Universen ähneln unserem Kosmos. In
den meisten aber herrschen ganz andere Naturgesetze. Es gibt in ihnen keine
Atome. So etwas wie Leben ist in ihnen wahrscheinlich gar nicht möglich.
.... life will probably not possible.“
Seite 5
Sprecher:
Es gibt nicht nur ein Universum: Es gibt unendlich viele. Und das habe
verblüffende Konsequenzen, schreibt Vilenkin auch in seinem gerade
erschienenen Buch „Kosmische Doppelgänger“.
Einspielung 5:
(O-Ton Vilenkin 3)
„Since the number of this regions is actually infinite...
Übersetzer:
Da es unendlich viele Universen gibt, scheint mir garantiert, dass es in einigen
dieser Universen Doppelgänger von uns gibt – zum Beispiel eine zweite Erde,
auf denen unserer Interview gerade in diesem Augenblick stattfindet. Und es
gibt auch Erden, wo ich einen anderen Namen trage oder auf denen die
Dinosaurier noch leben. Nun, als diese Idee in den 80er Jahren aufkam, wurde
sie ziemlich kontrovers diskutiert. Doch der Anteil jener Physiker, die diese
Vorstellung akzeptieren, wächst stetig.
... accept these ideas.“
Einspielung 6:
(Soundcollage;
Uhrticken etc.)
Musik in Zeitlupe, gedehnte Geräusche, verlangsamtes
Sprecherin:
(elektronisch verlangsamt, langsamer werdend)
Ein Kosmos der Langsamkeit.
Zeit kriecht.
Uhren im Takt von Kalendern.
Sekunden zu Stunden. Stunden zu Jahren Jahreszeiten zu Zeitaltern.
Leben in Zeitlupe. Sterben in Zeitlupe.
(geblendet)
Sprecher:
Das Problem: All diese anderen Universen kann man weder beobachten, noch
kann man mit ihnen in Kontakt treten. Dazu sind sie vereinfacht gesagt viel zu
weit entfernt. Also sind die Forscher auf Indizien angewiesen. Und auf die glaubt
mancher Kosmologe nun gestoßen zu sein.
Seite 6
Einspielung 7:
(O-Ton Mersini)
„The group of astronomers discovered a huge void in the sky...
Sprecher:
Laura Mersini, Physikprofessorin an der University of North Carolina.
Übersetzerin:
Im August 2007 entdeckten Astronomen in einer Entfernung von sieben
Milliarden Lichtjahren eine riesige Lücke am Firmament. Eine Lücke – damit
meint man einen Bereich, in dem es deutlich weniger Sterne und Galaxien gibt
als üblich. Sicher, es gibt auch anderswo im All Lücken. Aber dieses neue Loch
ist viel, viel größer. Es misst 900 Millionen Lichtjahre. Wie eine derart riesige
Lücke entstehen konnte – das können die Lehrbücher der Kosmologie einfach
nicht erklären.
... by standard cosmology.“
Sprecher:
Anders die neue Theorie von Laura Mersini. Ebenso wie Alex Vilenkin geht sie
davon aus, dass es um unser Weltall herum viele andere Universen gibt. Zwar
könne man diese Nachbar-Universen nicht sehen. Sie besitzen ihre eigene
Raumzeit, und in die werden wir nie und nimmer vorstoßen können. Aber eine
Art des Wechselspiels mit unseren Nachbarn gebe es doch, meint Mersini.
Einspielung 8:
(O-Ton Mersini 2)
„Gravity is everywhere, and it’s always present...
Übersetzerin:
Gravitation herrscht überall. Sie ist allgegenwärtig. Zwar ist die Gravitation eine
extrem schwache Kraft, viel schwächer etwa als elektrische Kräfte. Und deshalb
hat man sie in den bisherigen Theorien einfach unter den Tisch fallen lassen.
Man dachte, sie sei zu schwach, um irgendeinen Einfluss zu haben. Doch in
unserem Modell haben wir die Gravitation berücksichtigt. Und bei unseren
Berechnungen kam heraus, dass die Gravitationskräfte der anderen Universen
dafür sorgen, dass bei uns riesige Lücken entstehen. Die Gravitationskräfte, die
von außen, von den anderen Universen auf unser Weltall wirken, scheinen an
einigen Stellen unseres Universums Lücken zu reißen.
... we get the void there.“
Seite 7
Sprecher:
Behält Mersini Recht, müsste es noch anderswo am Firmament, weit entfernt
von uns, riesige Lücken geben. Fände man diese Lücken, würde das ihre
Theorie erhärten. Findet man sie nicht, ist die Theorie wahrscheinlich falsch.
Einspielung 9:
(Soundcollage; Geräusche und Musik rückwärts)
Sprecherin:
Ein Kosmos im Rückwärtsgang.
Das Ende ist der Anfang.
Scherben springen vom Boden, fügen sich zu einer Tasse und stellen sich auf
den Tisch.
Menschen sterben, werden jünger und verschwinden im Mutterleib.
Der Anfang ist das Ende.
Sprecher:
Doch auch an anderer Stelle sehen manche Forscher Hinweise, dass etwas dran
sein könnte an der Idee der unendlich vielen Universen.
Einspielung 10:
(O-Ton Susskind 1)
„One of the things that was discovered over the last 5 or 6 years...
Sprecher:
Leonard Susskind, Physikprofessor an der kalifornischen Stanford University.
Übersetzer:
Eine Sache, die in den letzten fünf oder sechs Jahren entdeckt wurde, ist, dass
die Gleichungen der Stringtheorie viele, viele, viele Lösungen haben. Und jede
dieser Lösungen ist so etwas wie eine Blaupause für ein mögliches Universum.
... a blueprint for possible universe.“
Sprecher:
Stringtheorie – so heißt eine noch ziemlich spekulative Theorie der Physik. Sie
besagt, dass alles in der Welt aus winzigen, vibrierenden Saiten besteht –
englisch Strings. Das Ziel der Stringtheorie ist ambitioniert: Ihre Verfechter
hoffen, aus den Gleichungen der Strings eines Tages nichts geringeres als die
Weltformel zu destillieren – eine Formel, die auf ein T-Shirt passt und dennoch
perfekt beschreibt, was die Welt im Innersten zusammenhält. Nur: Bewiesen ist
Seite 8
die Stringtheorie bislang nicht. Und: Ihre Formeln spucken viel zu viele
Gleichungen aus – praktisch unendlich viele Gleichungen. Manch einer hält die
Strings deshalb für gescheitert. Leonard Susskind hingegen zieht einen anderen
Schluss.
Einspielung 11:
(O-Ton Susskind 2)
„The idea that the universe might be diverse...
Übersetzer:
Die Idee, dass es sehr viele Universen gibt und wir nur in einem dieser vielen
Universen wohnen, ist mindestens dreißig Jahre alt. Die Physiker haben das nie
besonders ernst genommen. Sie haben immer gehofft, irgendwann auf ein paar
Gleichungen zu stoßen, die eine klare Lösung besitzen. Diese Lösung sollte
dann genau unser Universum beschreiben und fertig. Aber nun bietet uns die
String-Theorie unvorstellbar viele Lösungen an – und damit unendlich viele
Universen. Dieser Tatsache müssen wir ins Auge sehen: Dass die Stringtheorie
eine Theorie der Vielfalt ist und nicht der Einheit. Und das passt wunderbar zu
der Idee, dass es viele Universen gibt.
... the universe might be very diverse.“
Sprecher:
Statt von unendlich vielen Universen spricht Leonard Susskind lieber von einem
Multiversum mit vielen unterschiedlichen, voneinander getrennten Regionen.
Diese Regionen werden von den unterschiedlichsten Naturgesetzen beherrscht:
In einem könnte die Zeit rasend schnell verstreichen, in einem anderen quälend
langsam, im dritten läuft sie gar rückwärts. Eine originelle These. Nur: Lässt sie
sich überhaupt beweisen?
Einspielung 12:
(O-Ton Susskind 3)
„That’s the hard one...
Übersetzer:
Das ist das Problem. Diese anderen Regionen bewegen sich nämlich viel zu
schnell von uns weg, als dass wir sie beobachten könnten. Wir sind also
unwiderruflich von den anderen Welten getrennt. Im Moment können wir nur
hoffen, mit der Mathematik weiterzukommen. Kurz und gut: Es wird schwierig
werden, diese Theorie zu beweisen. Extrem schwierig.
Seite 9
... extremely hard.“
Sprecher:
Kein Wunder, dass die Hypothesen von Leonard Susskind auf Widerspruch
stoßen – auf heftigen Widerspruch.
Einspielung 13:
(O-Ton Woit)
„I actually find it rather strange...
Sprecher:
Peter Woit, Mathematiker an der Columbia University, New York.
Übersetzer:
Ich finde das ziemlich seltsam. Ein normales wissenschaftliches Vorgehen wäre
doch folgendes: Wenn ich Jahre an einer Theorie arbeite und dann sehe, dass
dabei nichts Vernünftiges herauskommt, gestehe ich mir doch ein, dass das ein
schlechter Ansatz war und dass ich lieber was anderes versuchen sollte.
Stattdessen behauptet Susskind, die Welt sei tatsächlich so verrückt, dass es
unendlich viele Universen gibt und all diese beliebigen Dinge, die aus der
Stringtheorie herauskommen können, tatsächlich passieren. Mit seriösen
wissenschaftlichen Aussagen hat das nichts mehr zu tun!
...anything like a normal scientific prediction out of this!“
Einspielung 14:
(Soundcollage;
düstere Klänge)
Sprecherin:
Ein Kosmos der Dunkelheit.
Kein Licht.
Kalt. Schwarz.
Keine Strahlung. Nur Materie.
Dunkle Materie. Schwarze Materie. Unsichtbare Materie.
(geblendet)
Sprecher:
Gibt es neben unserem Weltall noch andere Universen, womöglich unendlich
viele? Die Antworten auf diese Frage sind spekulativ – und höchst umstritten.
Beweise gibt es keine. Doch eines muss man zugeben: Forscher wie Alex
Vilenkin, Laura Mersini und Leonard Susskind errichten ihre Theoriegebäude
Seite 10
keineswegs auf dem Nichts. Sie bewegen sich mit ihren Berechnungen
durchaus auf den Wegen dessen, was mathematisch möglich ist.
Und wenn es diese Parallelwelten tatsächlich gäbe – welche Konsequenzen
hätte das? Die Antwort: keine unmittelbaren. Denn da wir mit unseren
Doppelgängern grundsätzlich nicht in Kontakt treten könnten, hätten wir weder
etwas von ihnen zu erwarten noch etwas vor ihnen zu befürchten. Die
Konsequenzen wären vielmehr philosophischer Natur, meint Jan Louis,
Physikprofessor an der Universität Hamburg.
Einspielung 15:
(O-Ton Louis)
„Der Mensch hat sich immer im Zentrum der Welt gesehen: Erst im Zentrum
des Sonnensystems. Dann hat er das Sonnensystem im Zentrum des
Universums gesehen, und irgendwann hat er festgestellt: Wir sind arme
Zigeuner am Rande des Universums. Und jetzt stellen wir vielleicht fest: Wir
sind arme Zigeuner in einem von unendlich vielen Universen. Und das würde
mich eigentlich nicht so sehr erschrecken.“
Sprecher:
Nur: Ob wir jemals mit Gewissheit herausfinden könne, ob wir nun von lauter
Parallelwelten umgeben sind oder nicht – das scheint aus heutiger Sicht höchst
unwahrscheinlich.
Einspielung 16:
(Soundcollage; Elemente aus den vorangegangenen Universen)
Sprecherin:
Ein Kosmos der Ungewissheit.
Alles ist offen. Nichts ist gewiss.
Erkenntnisse zerfließen.
Geglaubtes zerrinnt.
Formeln, Gesetze, Regeln – immer mehr, immer neu, immer anders.
Diskussionen, Debatten, Diskurs.
(geblendet)
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