Milch aus dem Märchenland Die Azoren sind als Ziel von Naturerlebnisurlaubern bekannt. Doch gibt es auf dem Archipel eine für Portugal sehr wichtige Milchwirtschaft. Zu Besuch bei Carlos, einem Milchbauern auf São Miguel, der größten der neun Inseln Die Männer essen immer zuerst. Carlos hat gesagt, dass das nichts zu sagen hat außer dass es Tradition ist, und Lucïa sagt gerade, dass sie es in Ordnung findet, dass die Frauen warten, bis dass die Männer fertig sind. Blutwurst gibt es, Gegrilltes vom Kapaun, Nudeln, Spiegeleier, Weißbrot, Bier und Limonade. Conceiçāo legt ständig auf Carlos’, Antonios und Manoels Teller nach, sie brät die Würste und die Eier. Angelina sieht vom Sofa neben dem Kühlschrank aus das Abendprogramm, und Lucïa sagt nun, dass sie nach der Schule gern eine Stelle in der Verwaltung in Ponta Delgada hätte, worauf Carlos sagt, als ob das so einfach wäre, und die Tochter widerspricht dem Vater nicht. Keiner in der Küche kann sagen, wie das Wetter den Tag über auf den anderen Azoreninseln war, aber auf São Miguel war es so: bewölkt bis zum späten Nachmittag unten an der Küste, neblig oben im Gebirge, dann überall Sonne, und kaum dass die Männer zu melken begonnen hatten, setzten Schauer ein. Ein Regenbogen spannte sich vor dem Hintergrund der Berge über der Ebene jenseits der Gartenmauer, als die drei im Sonnenuntergang daheim ankamen, und Conceiçāo wartete mit dem Essen auf sie. Seit zwanzig Jahren sind Carlos Alberto Rego Silva und Conceiçāo Sousa miteinander verheiratet, vier Jahre davon hat er das Haus bauen lassen, in dem die Familie Sousa Silva lebt, und weil Angelina die Oma ist, wird sie von allen geliebt. Siebzig Kühe hat Carlos, schwarzweiße Friesisch-Holsteinische Milchkühe mit schwerem Euter und eine hübsche braune Jerseykuh, Mastbullen außerdem und Jungkühe, die noch kein Kalb hatten, einige Kälber und Pintados, den hochbeinigen gescheckten Zuchtstier, so dass er auf hundert Rinder insgesamt kommt. Auf São Miguel, sagt er, gibt es nur einen einzigen Bauern, der tausend Rinder hat, dreißig bis vierzig sind sonst die Regel. Zweieinhalb Hektar Grasland gehören Carlos, vierzig hat er dazugepachtet. Mit zehn Kühen hat er angefangen, als er in dem Alter war, in dem Manoel jetzt ist, er sagt, dass er sehr erfolgreich war und dass er sehr erfolgreich ist. Manoel wird alles erben, das Haus, den Grund, auf dem es steht, das Vieh, das Weideland, die Melkstation, die beiden Traktoren und weitere Maschinen, zwanzig ist er jetzt. Seiner Schwester liegt nichts an Weide und Vieh, ihre Gesichtshaut ist zart, ihre Erscheinung fein, siebzehn ihr Alter, sie strebt Kopfarbeit an. Wenn es nach ihr geht, will sie vielleicht auch auf die Universität, und Carlos sagt wieder, als ob das so einfach wäre, und wieder hat Lucïa ihm gegenüber kein Widerwort. Vom ganzen Besitz reicht es ihr aus, dass sie, sobald Manoel das Erbe angetreten haben wird, wie die anderen Familienmitglieder ein Leben lang Wohnrecht im Haus und ein Recht auf ein Zimmer darin hat. Onkel Antonio kann nichts erben, etwas ist bei der Geburt mit dem Blutfluss im Gehirn schiefgegangen, fast immer ist er stumm und hat den Blick in der Ferne, und redet er, dann wie ohne Zusammenhang, und das seit mehr als fünfzig Jahren. Vor dem Abendessen hatte er in die Remise gerufen und hatte vorgemacht, wie Rasenmäher und Kettensäge anzuwerfen sind. Bevor die Säge in seinen Händen lief, war Carlos hinzugekommen, ermahnte den Bruder, der älter ist als er, und trat dann nach draußen zum Schweinekoben. Bis gestern sind zwei Schweine dringewesen, hundertdreißig Kilogramm schwer jedes von ihnen. Angelina braucht Arznei, die viel Geld kostet, und darum hat Carlos die Tiere gestern Nachmittag vom Schlachter abholen lassen. Er redet darüber, dass sie wahrscheinlich noch am Leben sein werden und dass er so schnell als möglich zwei neue will, trostlos sieht der Koben seiner Meinung nach aus, wenn keine Schweine in ihm sind. Ohne Daten geht auch es nicht. Carlos erzählt, wie wichtig die Milch von den Azoren für Portugal ist. Fast achtzig Millionen Liter schicken die Bauern jedes Jahr hinüber, ein Drittel des Bedarfs der Festlandportugiesen. Dabei machen die Azoren nicht mehr als zwei Prozent des Territoriums Portugals aus. Hundert-tausend Kühe gibt es auf dem Archipel, über die Hälfte von ihnen allein auf São Miguel, der größten der neun Inseln. Carlos kennt die Daten und die Fakten, und er sagt weiter an. Tabak bauen die Azorener an, Tee, Yams, Banane, Granatapfel, Maracuja, und sie ziehen Ananasfrüchte in Gewächshäusern groß. Thunfisch fangen sie vor der Küste, die Waljagd war für sie vor fünfzig Jahren zu Ende. Im Jahrhundert davor hatten sie England und die nordischen Länder mit Orangen versorgt, bis ihnen die Spanier das Geschäft mit Billigexporten in dieselbe Richtung kaputtgemacht haben. Nun also Milchwirtschaft. Mit der nehmen die Azorener inzwischen mehr als mit dem Tourismus ein. Weiden in den Bergen und im Flachland und die gefleckten Kühe, die auf ihnen grasen, bestimmen das Landschaftsbild der Inseln. In den Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts waren die ersten Friesisch-Holsteiner Kühe auf die Azoren gekommen, ausgewählt und eingekauft in Kalifornien, USA, wo die Farmer damals Milchhöchstleistungen mit dieser Rasse erzielt haben. Später holten die Azorener Stiere und Kühe aus den Niederlanden und zuletzt 1986 aus Schleswig-Holstein und aus Niedersachsen. Mittlerweile sind sie derart erfahren im Rinderzüchten, dass das portugiesische Festland manches darüber von ihnen lernen möchte. Am Fuße eines vulkanischen Kraters in der Mitte von São Miguel, an der Straße zwischen Caldeiras und Lombadas, steht die Böschung hinunter Carlos’ Melkstation, eine Kannenmelkanlage mit acht Plätzen. Dahinter die Koppel mit der Tränke und dem Maissilagewagen und dann die Weide, die sich den Hang hinaufzieht, bis hoch zum Gipfel des Kraters, dessen Grund der Lagoa do Fogo bedeckt, der Nebelsee. Die meiste Zeit über verhüllt ihn eine Wand aus weißem Dunst, doch hat sie sich einmal beiseite geschoben, ist in der Tiefe sein Wasser zu sehen und das Ufer, an dem Nadelbaumhaine auf Wiesenteppichen stehen. Pfade schlängeln sich zwischen Farn und Moos hindurch, Vogelpaare schweben über Baumspitzen, ein Bild in Grün und Braun und dem Durchsichtigen des Wassers, vollkommene Stille, ein Beharren, das den Blick ergreift und zu sich hinabzieht. Die Straße zur Melkstation hin ist mit Steinen aus Basalt gepflastert und beidseits von Platanen bestanden. Hundert Jahre alt sind die Bäume, genauso alt wie die Straße, die sie flankieren. Blaue und lila Hortensienbüsche wachsen auf Erdwällen hinter den Bäumen, meterhohe Wälle, die Grundstücke und Felder einfrieden. Eine Straße wie aus dem Märchenland, ständig im Dämmerlicht unterm Blätterdach und von den Platanen bewacht, eine Straße, die den Wunsch weckt, dass sie in etwas sehr Verwunschenes münden möchte. Zweimal am Tag kommen Carlos und Antonio mit dem Pick-up und Manoel mit dem Traktor von Ribera Grande herauf, der nächsten großen Stadt auf São Miguel nach Ponta Delgada und anders als sie an der Nordküste gelegen, und zweimal am Tag fahren Carlos, Antonio und Manoel die Straße wieder zurück. In Ribera Grande steht das Haus der Sousa Silvas auf einem ummauerten Rasengrundstück. Ein Stockwerk die Höhe, grüner Putz, schräges rotes Dach und ein Balkon, zehn Zimmer und die Küche mit dem Kaminherd und dem Esstisch mit Platz für zwölf Personen. Die vier Schoßhunde der Familie sind um Angelina herum, wo immer sie ist, und necken einander mit japsenden Bissen. Nach hinten raus die Remise mit den Maschinen, Antonios Lieblingsort. Immer um halb sechs in der Früh fangen Carlos, Antonio und Manoel mit den Kühen zu arbeiten an. Die Kühe sind das Jahr über draußen, sie haben keinen Stall. Das ist es, sagt Carlos, was sie widerstandsfähig macht und stark und die Milch besonders. Abends nach dem Melken bleiben sie die für die Nacht auf der Koppel am Melkstand, da kriegen sie Silage und Heu. Früh nach dem Melken werden sie auf die Hochweide getrieben, abends zum Melken wieder hinunter. Tag für Tag geht das so, Carlos macht es nichts aus, er hat nie anderes kennengelernt. Seit er sieben gewesen war, hatte er dem Vater auf der Weide und beim Melken geholfen. Anfangs ging er nach Schulschluss und in den Ferien jeden Tag die fünf Kilometer zur Weide hin und wieder zurück. Mit zehn verließ er dann endgültig die Schule und ist nun seit fünfunddreißig Jahren Milchbauer. Neben Antonio hat er noch vier Schwestern und drei Brüder, die alle nach Kanada ausgewandert sind und dort Farmen und Familien gegründet haben. Drüben in Amerika und Kanada, sagt er, gibt es Leute von den Azoren, die Farmen mit Zehntausenden von Rindern haben. Vielleicht kann er nicht einmal richtig lesen und schreiben, aber er ist schlau. Er handelt nebenbei mit Kühen und mit Tierfutter, er sagt, dass er auf die Art schnell und viel dazuverdient. Hochgewachsen ist er, kräftig. Große, warme, trockene Hände, der Händedruck fest und lang. Braune Gesichtsfarbe, Kraushaar, Oberlippenbart. Die tiefliegenden dunklen Augen und die hohen Jochbeine hat er an Manoel weitergereicht. Auf der Melkstation startet Antonio immer den Dieselmotor für den Betrieb der Vakuumpumpe. Der Motor macht Krach, die Pumpe auch, Antonio aber mag es, wenn es laut ist. Er steht oben auf der Station und blickt in die Ferne, und manchmal hält er den wuchtigen Nacken gesenkt, er horcht auf den Klang des Motors und der Pumpe, weil das seine Aufgabe und seine Leidenschaft ist. Unten hantieren Carlos und Manoel mit den Melkgeschirren, treiben die Herde vor und zurück, streicheln Hälse, kraulen Nacken, verscheuchen Fliegen, sagen Worte zu den Kühen, die sich zärtlich anhören, und manchmal gibt es auch bloß einen Klaps. Und am Abend sind die Männer am Tisch in der Küche, Angelina sitzt auf dem Sofa und sieht fern, Lucïa kommt von oben aus ihrem Zimmer und setzt sich in die Nähe des Vaters, und Conceiçāo steht am Herd. Im Hause Sousa Silva gibt es abends nicht immer nur Blutwurst, Eier und Kapaun, oft gibt es Fischgerichte, viel öfter als die schweren Sachen, sagt Conceiçāo. Carlos sagt zu Antonio und Manoel, dass sie an die Frauen denken sollen, die Frauen sind jetzt mit dem Essen dran, er steht vom Tisch auf, und die beiden schließen sich ihm ohne ihm zu widersprechen an.