S o n n a b e n d , 2 5 . J u n i 2 0 11 7 Fragen an den experten Mechthild GroSS, leitet den Europäischen Masterstudiengang für Hebammenwissenschaft an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) Grenzerfahrung oder Pflichtübung? P Frau Groß, Sie sind die erste habilitierte hebamme deutschlands. Wo kann man solch ein Fach studieren? Heute kann man bereits während der Hebammenausbildung einen Bachelorabschluss erwerben. Dieser öffnet den Weg zu weiteren akademischen Abschlüssen, zum Beispiel zum Europäischen Masterstudiengang für Hebammenwissenschaft an der MHH. Aber als ich anfing, musste ich Umwege in Kauf nehmen. In Bremen habe ich mit meinen drei Ausbildungen – als Krankenschwester, als Hebamme und als studierte Psychologin – eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin gefunden, wo ich über ein geburtshilfliches Thema promovieren konnte. An der MHH habe ich mich dann habilitiert. FortSetzung F ünf Kreißsäle gibt es in der Hochschulklinik, rund 1600 Kinder kommen hier jährlich zur Welt, dem stehen 150 Geburten im Geburtshaus Eilenriede gegenüber. Was für einen besonderen emotionalen Stellenwert auch das Krankenhaus der Erfahrung des „Wunders der Geburt“ im Leben von Frauen einräumt, kann man schon an einem speziellen Service se- P Was hat Sie persönlich gereizt, auch Wissenschaftlerin zu werden? Da war der große Wunsch, Hebamme zu werden. Ich hatte ein gutes Abitur, ich hätte auch Medizin studieren können. Aber ich wollte nicht: Mich interessierte weniger das Kranke als das Gesunde. Während meiner Hebammenausbildung fand dann aber der erste internationale Kongress zur Hebammenforschung statt. Zu den praktischen Erfahrungen kam die theoretische Neugierde, die Vorgänge bei einer Geburt besser verstehen zu wollen. Es ist sinnvoll, bestimmte Zusammenhänge auch systematisch zu erforschen. P ihr credo ist: hebammen stellen andere Fragen. Was für welche? Hebammen sind viele Stunden bei den Frauen. Sie interessieren sich für den gesamten Prozess und leiten daraus Fragen ab. P Zum Beispiel? Zum Beispiel die Frage, woran Frauen merken, dass die Geburt bald losgehen wird. Schwangere beschreiben oft schon geraume Zeit vor dem Beginn regelmäßiger Wehen Anzeichen für den baldigen Geburtsbeginn, beispielsweise einen Blasensprung. Wir haben untersucht, ob diese Signale auch etwas darüber aussagen, wie die Geburt später verläuft. Rosa Karten, frisches Grün: Geburtsanzeigen und Blumen als Dankeschön im Geburtshaus. P Und ...? Wir haben Fälle von Frauen untersucht, die im Laufe der Geburt eine PDA, also eine schmerzstillende Spritze in der Nähe des Rückenmarks, bekommen haben. Es hat sich herausgestellt, dass Frauen, die vor der Geburt Symptome wie zum Beispiel Durchfall hatten, oft erst viel später eine PDA brauchten als Frauen, die in den Kreißsaal kamen, weil sie plötzlich eine besondere emotionale Stimmung, beispielsweise innere Unruhe, empfanden. P Und was bringt den Praktikerinnen heute die Wissenschaft? Es gibt so viele unterschiedliche Typen von schwangeren Frauen wie nie zuvor: Migrantinnen, jugendliche Schwangere, Frauen über 40 Jahre, stark übergewichtige Frauen, Schwangere nach künstlicher Befruchtung, Frauen mit Mehrlingsgeburten, Schwangere nach Organtransplantation, Frauen, die bereits einen Kaiserschnitt hatten. Da ist es wichtig, dass Hebammen auf Forschungsliteratur zurückgreifen können. Es geht darum, übertragbare Konzepte zu entwickeln, wie man solchen Frauen im Kreißsaal besonders effektiv helfen kann. IntErvIEw: Jutta rInas P Stimmt es, dass es promovierte hebammen schon zu Zeiten Queen Victorias gab? Ja, Queen Victoria ist wie übrigens auch ihr späterer Prinzgemahl von einer promovierten Hebamme auf die Welt geholt worden. Charlotte von Heidenreich promovierte 1817 in Gießen zur „Doktorin der Geburtshilfe“. hen: In der MHH können Schwangere als Erinnerung Gipsabdrücke von ihrem Babybauch machen lassen. Wunderschöne, von einem Fotografen gemachte Bilder von Neugeborenen schmücken in der Geburtsklinik die Flure. Die Kreißsäle selbst sind in Rot, Grün oder Gelb getaucht. Die Zimmerdecken schmücken schöne, manchmal fernöstlich anmutende Landschaftsbilder. Dennoch bleiben die fensterlosen Gänge, der sterile Geruch, die blauen Kittel der Hebammen, die Vorrichtungen für den Wehentropf direkt am Bett: Es ist trotz der Wohlfühlfaktoren einer modernen Geburtsklinik unübersehbar ein Krankenhaus, in dem hier entbunden wird. Gerade das aber wird von den meisten Frauen, die hierherkommen, geschätzt. „Ich bin selbst Ärztin, Anästhesistin, ich weiß genau, was bei einer Geburt schiefgehen kann“, sagt Nadine Uhrigshardt. Die hochschwangere Frau liegt seit dem Morgen in der Geburtsklinik auf Station, weil die Ankunft ihres zweiten Kindes allzu lang auf sich warten lässt. Man merkt, dass die 35-Jährige unruhig ist. „Schon bei meiner ersten Tochter war der Kreißsaal nach der Geburt plötzlich ganz voll“, sagt sie. Die Kleine habe „nicht richtig geschnupft“. Die Ärzte hätten ihr bei den ersten Atemzügen auf die Sprünge helfen müssen. „Ich würde nie auf den Schutz einer Klinik verzichten wollen“, sagt Uhrigshardt, und man merkt deutlich, dass eine Hausgeburt oder eine im Geburtshaus für sie unvorstellbar wäre. Auch dass die junge Frau in der Klinik Schmerzen mit Medikamenten oder einer PDA-Spritze (deren Betäubungsmittel die Nervenenden in der Nähe des Rückenmarks umspült) in Schach halten kann, schätzt sie sehr: „Ich finde nicht, dass Frauen im 21. Jahrhundert noch große Schmerzen aushalten müssen“, sagt sie selbstbewusst: „Das verspannt und schadet den Frauen und dem Kind.“ Birgit Dreyer und Antonia Windrich – den beiden Frauen ist gemeinsam, dass sie von Berufs wegen Kindern auf die Welt helfen. Die Art allerdings, wie sie das tun, ist von recht verschiedenen Vorstellungen darüber geprägt, was eine gute Geburt eigentlich ist. Soll sie schmerzhaft sein dürfen, eine Grenzerfahrung, bei der auch schwer zu ertragende Gefühle willkommen sind? Oder soll die Geburt schnell und schmerzlos verlaufen, eine lästige Pflichtübung der Natur, die es irgendwie hinter sich zu bringen gilt, mithilfe all der Medikamente, die die moderne Medizin heute bietet? Soll die Geburt in einer Klinik stattfinden, in einer Atmosphäre, die trotz allen modernen Komforts immer auch etwas Unpersönliches hat – und dafür die Sicherheit hoch technisierter Gerätemedizin bietet? Rund 98 Prozent der deutschen Frauen wählen nach Angaben des Deutschen Hebammenverbandes heute letzteren Weg. Für eine Geburt zu Hause oder im Geburtshaus, in einem privaten Rahmen, der der Intimität dieser Erfahrung eher entspricht, aber ohne ärztliche Betreuung stattfindet, entscheiden sich demzufolge nur zwei Prozent aller Schwangeren in Deutschland. Die Zahl ist seit Langem konstant. Sie hat sich, so Dreyer, auch durch die Biogeneration von heute, die Rohkost, Fisch und Homöopathie den Vorzug vor Fast Food, Fleisch und Antibiotika gibt, nicht erhöht. Wer von der Arbeit einer Klinikhebamme und einer Hausgeburts- oder Geburtshaushebamme erzählt, der erzählt also mehr als nur „Meien Vision ist, dass Kinder in Ruhe zur Welt kommen können“: Gritli Bertram (links) und Birgit Deyer. die Geschichte eines Berufsstandes, den zwei verschiedene Haltungen prägen. Er erzählt die Geschichten von Frauen, die in unserer hoch technisierten Gesellschaft Kinder bekommen wollen, immer gleich mit. Dass sie keine Klinikhebamme werden wollte, war für Birgit Dreyer schon nach der ersten Krankenhausgeburt klar. Die frisch examinierte Hebamme hatte eine junge türkische Frau betreut, die mit dem ersten Kind schwanger war. Die Frau konnte kaum ein Wort Deutsch, sie selbst konnte kein Türkisch. Blutwerte, Wehenschreiber, nur medizinische Fakten hätten im Kreißsaal eine Rolle gespielt. Außer ihr habe niemand versucht, die Bedürfnisse der Schwangeren zu ergründen. Dreyer verständigte sich mit ihr zumindest über die wich- „Ich finde nicht, dass Frauen im 21. Jahrhundert noch große Schmerzen aushalten müssen“: Nadine Uhrigshardt (links) und Antonia Windrich in der Klinik. tigsten Begriffe: „Atmen“ und „alles ist gut“ habe sie irgendwann auf Türkisch sagen können. Sonst blieb nur Blickkontakt. Dem Arzt sei das seelische Empfinden der Frau völlig egal gewesen, er habe eine PDA – eine schmerzstillende ,,Rückenmarksspritze“ – gelegt und später einen Dammschnitt gemacht, um die Geburt schnell über die Bühne zu kriegen. „Da wusste ich, das will ich beruflich machen, und so will ich es auf keinen Fall machen“, sagt die 45-Jährige. „Meine Vision ist es, dass Kinder in Ruhe zur Welt kommen können, in einer liebevollen Atmosphäre, ohne Opiate, ohne Dammschnitte, nicht in der Rücklage, sondern in einer, die anatomisch sinnvoll ist.“ Birgit Dreyer macht eine lange Pause, bevor sie weiterspricht. „Ich glaube einfach, dass Frauen das können“, sagt sie dann, und ihre sowieso schon strahlend blauen Augen blitzen noch intensiver: „Kinder gebären, ganz allein, ohne Arzt.“ Wie nimmt die Hebamme den Frauen die Angst vor den Schmerzen? Hausgeburtshebammen wollen den Schwangeren nicht nur keine Opiate oder keine PDA geben, sie dürfen es auch nicht. Frauen, bei deren Geburt Risiken bestehen, sollen hier sowieso nicht entbinden. Dennoch: Wie nimmt Birgit Dreyer auch Frauen, die auf eine ganz normale Entbindung hoffen können, die Sorge, dass die Geburt wegen Komplikationen abgebrochen und ins Krankenhaus überführt werden muss. 18 bis 20 Prozent aller Geburten müssen jährlich im Geburtshaus Eilenriede abgebrochen werden. Da kommt wieder Gritli Bertram ins Gespräch. Sie war sich von Anfang an sicher, dass sie ihr Kind nicht in einer Klinik bekommen wollte. „Ich wusste, ich brauche die emotionale, nicht die medizinische Sicherheit.“ Natürlich habe sie Angst vor den Schmerzen gehabt, aber genau darüber habe sie sich mit ihrer Hebamme im Vorfeld lange auseinandersetzen können. Und wie ist es gelaufen? „Super“. Das Gesicht der jungen Mutter leuchtet jetzt noch, wenn sie über die Zeit im Kreißsaal spricht. die sachen der woche CD N Ein Prost auf Ole Bull ein, Ole Bull ist nicht der Großvater von Red Bull, obschon er voller Energie gesteckt haben muss. Ole Bull war ein norwegischer Komponist und Geigenvirtuose und so etwas wie der Joseph Joachim Skandinaviens. Er ist der eine große Sohn der Stadt Bergen, der andere ist der mit Ole Bull weitläufig verwandte Komponist Edvard Grieg. Natürlich hat Bergen dem 1810 geborenen und 1880 verstorbenen Ole Bull ein Denkmal gesetzt. Dem haben die norwegischen Musiker Nils Økland und Sigbjørn Apeland jetzt ein musikalisches Denkmal entgegengesetzt: Ihre „Hommage à Ole Bull“ heißt Lysøen, nach der Insel, auf der sich Bull „eine kleine Alhambra“ als Haus gebaut hat (in dem er dann auch starb). Doch diese CD ist nicht einfach eine Huldigung an einen virtuosen Geiger, sondern ein versonnener und versponnener Versuch, Ole Bulls Geist zu beschwören. Selbst wenn Øk- land Geige spielt, klingt die immer ein bisschen wie die traditionelle Hardanger Fiddle, die er auch ertönen lässt. Natürlich gibt es BullKompositionen zu erleben, aber selbst „La Mélancolie“ (als „I ensomme Stunde“ auch gerne von norwegischen Geigern als Zugabe gespielt) ertönt erst in einer recht freien Nachempfindung, ehe øklund dann zu Bulls eigener Guarneri del Gesù greift und Sigbjørn Apeland Bulls Harmonium erklingen lässt. Zwischen die Bull-Kompositionen und Arrangements norwegischer Melodien stellen die beiden Musiker eigene Stücke, die oft traumwandlerisch wirken. Vieles klingt als würde man einem Troll beim Träumen zuhören – tatsächlich gibt es für die Hardanger Fiedel eine Stimmung, die „troll tuning“ genannt wird. Eine CD nicht nur für eine rätselvolle Mittsommernacht. R aineR WagneR H ommage à o le B ull . eCm 2179. rÜCKSpiegeL AM 25. JUni 1767 StArB in hAMBUrG der KoMPoniSt GeorG PhiliPP teleMAnn. N icht selten beginnt der Ruhm eines Komponisten erst nach seinem Tod. „Zu Lebzeiten verkannt“ gilt auch lange nach dem Ende der romatischen Musikrezeption als eine Art Qualitätssiegel für Musikerbiografien, und bei zeitgenössischen Künstlern fragt man sich ja auch schon mal, wie wohl die Nachwelt über ihre Werke urteilen wird. Der Ausnahmemusiker Georg Philipp Telemann aber bildet auch in dieser Hinsicht eine Ausnahme: Sein Todestag, der sich heute zum 244-mal jährt, markierte den Beginn einer zunehmenden Geringschätzung. Telemann wurde mehr und mehr der Langweiler, der Vielschreiber. Ein Komponist, der von Blockflötisten geschätzt wurde. Und sonst von niemanden. Wie ungerecht dieses Urteil ist, beginnt man jenseits eines kleinen Zirkels von Eingeweihten erst seit einigen Jahren zu erkennen. Der Mann, dem man so lange stereotypes Komponieren unterstellt hat, schrieb Nachelend auch wunderbar verrückte Musik, die voll ist von unerhörten Klangexperimenten. Während seine Kollegen Naturstimmen wie Gesänge von Nachtigall oder Lerche in ihre Stücke integrierten, entschied sich Telemann für den Frosch. In einem Violinkonzert klingt das komponierte Quaken aus dem 18. Jahrhundert wie eine wild gewordene Klangschöpfung aus dem 21. Jahrhundert. Es gibt Orchestersuiten mit Kremelglocken und wilden portugiesischen Reitern. Und all das ist nicht nur Effekt. Es fügt sich schlüssig in feste Formen ein und rundet sich zu einem harmonischen Gesamtwerk. Nur ist die Musik dann etwas lustiger als die der übrigen Barockmeister. Genau das wird Telemanns Nachruhm wohl verdorben haben: Er hatte viel Sinn für Humor und Leichtigkeit – und das hatte in der Kunst nichts zu suchen. Gestorben ist Telemann hoch geehrt und 86-jährig an einer Lungenentzündung. Es wurde auf dem Friedhof des Hamburger St.Johannis-Klosters beigesetzt, das bald darauf aufgelöst wurde. Heute befindet sich dort der Rathausplatz. stefan a Rndt Leben oHne ... U nd – wie performen Sie grad so? Was, Sie performen nicht? Dann aber schnell zurück ans Werk. Denn irgendwas gibt es ja immer zu performen. Früher hat man das mal Arbeitsleistung genannt – und auch gelegentlich bewertet: Wer eine gute Arbeitsleistung erbrachte, war ein Karrierist oder Streber, wer eine schlechte oder gar keine Arbeitsleistung vorzuweisen hatte, war ein Rumsitzer, Nichtstuer oder einfach ein fauler Sack. Der Begriff „fauler Sack“ war gleichzeitig eine Untätigkeitsbeschreibung und eine optische Zustandsanalyse. Ein knochenloses Wesen ohne Haltung, Betriebsparasit und konjunktureller Bodendecker. Heute heißen faule Säcke „Low Performer“. Das beschreibt den Zustand der Antriebslosigkeit dynamischer. Wer low performt, performt immerhin noch, wenn auch auf dem Türschwellenlevel. Der Low Performer gehört zur Familie der Performer, zu der gehören sonst Lady Gaga und Commerzbank-Aktien, und das ist keine schlechte Ge- Low Performing sellschaft, wenn man es selbst ein bisschen ruhiger angehen lassen will. Der Low Performer lebt die Sprüche „Weniger ist mehr“ und „Keine Arbeit, keine Fehler“ und „Was du morgen kannst besorgen, hat auch Zeit bis übermorgen.“ Kleinstaufgaben, die mit bloßem Auge kaum noch zu erkennen sind, teilt der Low Performer mühelos in mehrere Teile und versteht es, sie über den gesamten Tag zu strecken und zu streuen. Er ist am aktivsten, wenn er seine Füße in die tiefen Hackenmulden seiner Schreibtischplatte wuchtet. Hat er zu long zu low performt, droht allerdings die Gefahr einer Überlangweilung – das sogenannte Bore-out – sowie die Versetzung auf eine Bore-Insel wie Borekum oder Boreholm. Deshalb sollte der Low Performer bei der täglichen Pause zwischendurch mal Arbeit machen. Vielleicht Frühstücksarbeit und Mittagsarbeit. Damit er hinterher wieder elanfrei und ohne Eile weiterperformen kann. u We Janssen