INHALT EDITORIAL. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Dr. Reiner Zilkenat DAS THEMA: GLOBALISIERUNG, WIRTSCHAFTSKRISE, RECHTSEXTREMISMUS Globalisierungskritik von rechts. Neofaschismus und die soziale Frage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Sevim Dagdelen, MdB Rassismus meint mehr als Rechtsextremismus. Die gesellschaftliche Normalität als Problem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Bernd Winter Weltweite Finanzkrise und die extreme Rechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Roland Bach Finanzkrise und Antifaschismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Heinz Engelstädter Bankrott des Neoliberalismus – Aufgaben der LINKEN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Ralf Krämer AKTUELLES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS Konstruktion und Krise der Männlichkeit(en) in der »Neuen Rechten« – Die Wochenzeitung »Junge Freiheit«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Yves Müller Keine Nazis in Rosas Straße, gemeinsam gegen »Thor Steinar« – Ein Überblick zu den Aktivitäten der Initiative »Mitte gegen Rechts« in Berlin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Roman Fröhlich HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS: Franz Mehring (1846–1919). Biographische Skizze anlässlich seines 90. Todestages. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Werner Ruch Berlin – das Zentrum der deutschen Revolution 1918/1919? Regionales und Biographisches zum 90. Jahrestag der Novemberrevolution. Mit einem biographischen Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Ingo Materna Historische Forschungen zur Revolution 1918/19 in Deutschland und ihre Rezeption in der Zeit der Außerparlamentarischen Opposition in der BRD und Westberlin. . . . . . . . . . . . . . . . 14 Reiner Zilkenat Der Arbeiterkinderklub »Nordost« in Berlin-Prenzlauer Berg1929 bis 1933. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Oliver Reschke Willi Scheinhardt. Ein sozialdemokratischer Funktionär des Fabrikarbeiter-Verbandes im antifaschistischen Widerstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Heide Kramer Der Bund der Freunde der Sowjetunion und der antifaschistische Widerstand: Neue Fakten aus den Akten des Bundesarchivs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Günter Wehner Leistungen und Fehlleistungen marxistischer Faschismustheorien aus heutiger Sicht. Einige Vorüberlegungen für eine neue materialistische allgemeine Theorie der Faschismen. . . . . . . . . . . . . . . 14 Mathias Wörsching, Das antifaschistische Thema in der DDR-Literatur.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Dieter Schiller 1 BERICHTE UND INFORMATIONEN: 2.Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Rechtsextremismus/ Antifaschismus der LINKEN im Dezember 2008.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Roland Bach Bundestagsfraktion DIE LINKE, Kleine Anfrage zu den rechtsextremen Bestrebungen innerhalb der Partei »Die Republikaner«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 »Es brennt!« Eine Ausstellung zum antijüdischen Terror im November 1938. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Horst Helas »Stille Helden« – Noch eine Gedenkstätte in Berlin? Ja, und das ist gut so. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Horst Helas Bundestagsfraktion DIE LINKE, Kleine Anfrage zu den Kontakten zwischen Bundeswehr und Anzeigenkunden der im rechtsextremen Spektrum angesiedelten »Deutschen Militärzeitschrift« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 ZUR DISKUSSION: Die Linken und ihre Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Professor Dr. Helmut Meier Anmerkungen zu einer strittigen Frage – Zu Horst Helas’ Artikel zum Antisemitismus im »Rundbrief« 4/2008. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Detlef Joseph LESERBRIEFE: Die Pogrome begannen am 7. November 1938. Zur Dokumentation von Horst Helas und Reiner Zilkenat im »Rundbrief« 4/2008.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Ulrich Schneider Kritisches und Zustimmendes zu mehreren Beiträgen im Heft 4/2008 des »Rundbriefs«.. . . . . . . . . . . . . . . . 14 Manfred Augustyniak Bemerkungen zum Heft 4/2008 des »Rundbriefs«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Gerhard Rohr LITERATURBERICHT: Die Aggressionen Hitlerdeutschlands gegen die Tschechoslowakei 1938/39. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Reiner Zilkenat, REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN: Der »Generalplan Ost« und die »Kollaboration« bildungsbürgerlicher Eliten mit dem Naziregime.. . . . . . . . . . . . 14 Werner Röhr »Sie waren die Boys« – Die Geschichte von 732 jungen Holocaust-Überlebenden.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Horst Helas Karl Heinz Jahnke – Arbeiterbewegung und Antifaschismus: Bilanz eines Forscherlebens. . . . . . . . . . . . . . . . 14 Günter Wehner Reflexionen zum Rechtsextremismus in Ostdeutschland? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Norbert Madloch, Die NPD in den Parlamenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Yves Müller Die NPD in Mecklenburg-Vorpommern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Roland Bach 2 EDITORIAL 3 DAS THEMA-GLOBALISIERUNG, WIRTSCHAFTSKRISE, RECHTSEXTREMISMUS Globalisierungskritik von rechts. Neofaschismus und die soziale Frage Nach wie vor stellt der Rassismus, stellt die Hetze gegen Migrantinnen und Migranten, den Kern des Neofaschismus in Deutschland dar. Vor allem Menschen mit Migrationshintergrund sind es, die zu Opfern neofaschistischer Gewalt in Deutschland werden. Täglich finden solche Gewalttaten in Deutschland statt. Nach der Statistik, die die LINKE monatlich von der Bundesregierung abfragt, sind es drei rechtsextreme Gewalttaten, die Tag für Tag in diesem Land zu verzeichnen sind. 1.047 rechtsextremistische Gewalttaten gab es 2006 (die in der letzten Woche vom Innenministerium veröffentlichten Zahlen für 2007 liegen auf fast dem gleichen Niveau, sind aber noch nicht aufgeschlüsselt) und fast die Hälfte dieser Gewalt richtete sich gegen Menschen mit Migrationshintergrund, die andere Hälfte gegen Linke, Obdachlose, Juden und andere Opfergruppen. Rassismus und Hetze gegen MigrantInnen Rassistische Übergriffe und Propaganda gehören also zum Alltag dieser Republik. Die Meldungen zu diesem alltäglichen und gewalttätigen Rassismus der extremen Rechten finden sich zumeist nur noch in Kurzmeldungen der regionalen Presse. Während einzelne Ereignisse, wie etwa die rassistische Hetzjagd im sächsischen Müggeln – acht Inder wurden nach einem Dorffest durch den Ort gehetzt wurden – große Empörung hervorrufen, bleibt diese alltägliche rassistische Gewalt fast ohne öffentliche Reaktion. Seit 1990 hat es in Deutschland mehr als 130 Todesopfer neofaschistischer Gewalt gegeben, eine unvorstellbare Zahl. Der Verein Opferperspektive in Brandenburg verleiht eine Ausstellung mit dem Titel »Opfer rechter Gewalt« in der es gerade darum geht, diesen Opfern Name und Gesicht zu geben). Dennoch herrscht eine Gleichgültigkeit und Ignoranz gegenüber diesen Opfern des Neofaschismus vor, die für die betroffenen Menschen eine zweite Demütigung ist. Häufig werden die Täter, wenn sie denn überhaupt angeklagt werden, zu skandalös geringen Strafen verurteilt. Rassistische Gewalt von rechts hat die 4 klare Funktion, Menschen mit Migrationshintergrund zu zeigen: Ihr gehört nicht hierher, ihr seid uns nicht willkommen, verschwindet! Die Nazis fühlen sich hier oft als diejenigen, die den Willen einer so genannten schweigenden Mehrheit in reale Handlungen umsetzen. Und hier liegt, wie ich glaube, der Kern des Problems: Rassismus ist eben nicht auf die extreme Rechte begrenzt, Rassismus ist eine verbreitete Einstellung in der Mitte der Gesellschaft. Die Nazis stehen – mindestens mit ihrer rassistischen Ideologie – nicht am Rande der Gesellschaft, sondern sie drücken Stimmungen aus, die wir auch bei einer (relativen) Mehrheit finden. Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen haben in den letzten Jahren gezeigt, dass die klassischen Themen der extremen Rechten – Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Autoritarismus und Nationalismus – bis weit in die Mitte der Gesellschaft auf Zustimmung stoßen. Die unter dem Titel »Deutsche Zustände« von einer Forschergruppe um Wilhelm Heitmeyer seit fünf Jahren regelmäßig vorgelegten Ergebnisse1 zeigen eine konstant hohe Zustimmung zu verschiedenen Formen von Ausgrenzung, wobei die fremdenfeindlichen Einstellungen die höchsten Zustimmungswerte verzeichnen. Knapp 60 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben und 35 Prozent sind der Ansicht, bei knapper werdenden Arbeitsplätzen sollten die Ausländer in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden.2 Auch Obdachlose und Muslime sind aggressiven Formen der Ablehnung von 30 bis 40 Prozent der Befragten ausgesetzt, gleichzeitig fordern mehr als 40 Prozent der Befragten mehr Rechte für diejenigen, die in Deutschland etabliert sind.3 Für Heitmeyer ist unter anderem besonders die Tatsache beunruhigend, dass die hier festgestellten Ausgrenzungsideologien nicht auf den Rand der Gesellschaft beschränkt, sondern auch in der gesellschaftlichen Mitte anzutreffen sind. Damit werden diese Einstellungen normalitätsbildend und können immer weniger problematisiert werden. Von dieser Form der Normalisierung von Ausgrenzung und Rassismus kann auch die extreme Rechte mit ihren Politikangeboten profitieren. Für Heitmeyer und andere Sozialwissenschaftler ist der Zusammenhang dieser Einstellungsentwicklung mit zunehmenden sozialen Desintegrationsprozessen offensichtlich. Die mit der Verschärfung der sozialen Lage einhergehenden Unsicherheitserfahrungen führen zu verstärkter Orientierungslosigkeit und zur Suche nach Sicherheiten, die sich in Werten wie Nation, Heimat aber auch »Rasse« und ethnischer Zugehörigkeit finden lassen. Die Untersuchungen von Heitmeyers Bielfelder Forschergruppe zeigen hier einen deutlichen Zusammenhang mit dem Thema Fremdenfeindlichkeit. Im neuesten Band seiner Studie »Deutsche Zustände« zeigen die AutorInnen, dass vermehrt auch soziale Schwache von Ausgrenzungen und Abwertungen betroffen sind. Heitmeyer spricht in diesem Zusammenhang von einer »Ökonomisierung des Sozialen«, d. h. immer mehr werden Nützlichkeitskriterien zum Maßstab der Bewertung von Menschen. Arbeitslose, Hartz IV- und SozialhilfeEmpfänger werden verstärkt abgewertet, sie gelten als unnütz, die Gemeinschaft belastend und als selbst schuldig an ihrer Situation. Die neoliberale Ideologie zeigt hier ihre Früchte und führt zu einer autoritären Abgrenzung von den sozial Schwachen, bei denen es sich eben nicht nur um MigrantInnen handelt. Die von Heitmeyer und seinen MitarbeiterInnen vorgelegten Ergebnisse finden ihre Bestätigung in der weithin beachteten empirischen Studie von Oliver Decker und Elmar Brähler mit dem Titel »Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland«.4 Die von ihnen zutage geförderten Ergebnisse verdeutlichen die starke Verbreitung von rassistischen, ausländerfeindlichen und autoritären Einstellungen in größeren Teilen der Bevölkerung. So stimmen 37 Prozent der Befragten (43,8 Prozent in Ostdeutschland) der Aussage zu »Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen«; 15 Prozent sind der Ansicht, das Land sollte »einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert« und 26 Prozent stimmen der Aussage zu: »Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.« Ich will mit diesen Zahlen darauf hinweisen, dass das Problem über das wir reden leider weitaus größer ist, als die die NPD oder auch die gesamte rechtsextreme Szene. Es handelt sich um ein Problem in der Mitte der Gesellschaft und es wird auch von hier aus verschärft. Ich erinnere nur an den letzten Landtagswahlkampf von Roland Koch in Hessen 2008, der geradezu ein Paradebeispiel rassistischer Hetze aus der bürgerlichen Mitte war. Koch ging es darum, mit dem Thema »Ausländer« an vorhandene Emotionen und Abwehrreflexe anzuknüpfen und sie zu verstärken. Bedenklich ist, dass Koch die Wahlen als Ministerpräsident zwar nicht gewann, aber immerhin die meisten Stimmen in Hessen auf sich vereinen konnte. Die Diskussion zum Thema »Ausländer« ist seit vielen Jahren in Deutschland verbunden mit »Bedrohung«, »Kriminalität«, »kulturelle Überfremdung«, »Ausnutzung des Sozialstaates«. Diese einseitige, negative Thematisierung ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Nazis. Von Seiten der Politik wird dieser Diskurs immer wieder verschärft und für Wahlkampfzwecke und Stimmungsmache genutzt. Eine wichtige Funktion solcher Debatten ist offensichtlich: Es sollen Verantwortliche und Sündenböcke für reale soziale Probleme präsentiert werden und es soll ein »Angebot« an die Mehrheitsbevölkerung gemacht werden. Wenn die soziale Einbindung über die fortlaufenden sozialen Härten nicht mehr funktioniert, dann bietet man den Menschen Zugehörigkeit über ihre Abstammung, die Nation, die »Rasse« an. Weil man Deutscher/Deutsche ist, hat man Anspruch auf Teilhabe. Wer dieses Kriterium nicht erfüllt, hat auch keine Rechte in diesem Land. Das ist zugespitzt die Logik, die hinter dieser Debatte steht. Klarer und zugespitzter finden wir die Logik des Rassismus und der Ausgrenzung bei den Nazis. Besetzung der sozialen Frage durch Rechte: Ein neues Phänomen? Seit einigen Jahren sehen wir, dass die Nazis verstärkt versuchen, mit traditionell linken Themen Einfluss zu gewinnen. Die soziale Frage, als zentrales Element linker Politik, wird auch von den Nazis immer mehr besetzt. »Antikapitalismus« als Propagandafeld der extremen Rechten in der Bundesrepublik erscheint vielen als Neuerung des Neofaschismus. Verblüfft stellen manche Beobachter der rechten Szene fest, dass in der Propaganda und in den Aktionen der Nazis die soziale Frage, die Kritik an Globalisierung und »One World« zu einem immer wichtigeren Thema wird. Es wäre jedoch falsch, diese thematische Bezugnahme auf die soziale Frage und die Folgen lediglich als »Modeerscheinung« zu betrachten. Denn die Besetzung dieser Frage durch die extreme Rechte ist so alt wie der Faschismus selbst. Nur für die Propaganda der NPD ist die offene Thematisierung dieser sozialen Frage und die teilweise vehemente Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem und der Globalisierung, wie sie sich in den letzten Jahren beobachten lässt, tatsächlich eine neue Ausrichtung. Die NPD reagiert damit auf die zunehmenden sozialen Verwerfungen, die durch den ungebremsten Kapitalismus hervorgerufen werden und antwortet darauf mit einer Kapitalismuskritik, wie wir sie aus der Geschichte des Faschismus in Deutschland und Europa kennen. Es handelt sich dabei um eine völkisch grundierte Kritik, die für einen Teil der faschistischen Bewegung kennzeichnend ist. Dass die extreme Rechte und die NPD mit einer solchen Form des »Antikapitalismus« in einem ersten Anlauf Wähler durchaus erfolgreich ansprechen können, belegen die Landtagswahlergebnisse der NPD in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, sowie die eben angeführten zahlreichen Untersuchungen zu rechtsextremen Einstellungsmustern in größeren Teilen der Bevölkerung. Zu den Inhalten der sozialen Frage von rechts: Wenn NPD und Kameradschaften gegen Sozialabbau, gegen die steigende Macht der internationalen Konzerne, gegen einen Raubtierkapitalismus protestieren, dann treffen sie damit die Gefühlslage von relevanten Teilen der Bevölkerung, gerade auch in vielen abgehängten Regionen Ostdeutschlands. Die von der extremen Rechten im Zusammenhang mit der sozialen Frage angeprangerten Zustände sind real und die Kritik daran ist berechtigt. Jürgen Gansel, Abgeordneter der NPD im Sächsischen Landtag und einer der wichtigsten Vordenker der Partei, schreibt hierzu im Juli 2006 unter der Überschrift »Mitteldeutschland als Testfeld der Globalisierer«: Viele dortige Regionen drohen zu einem sozialen Niemandsland zu werden, in dem äußere und innere Not, d. h. materielles und immaterielles Elend, eine tragische Einheit bilden. Es seien Landstriche entstanden, in denen wegen chronischer Massenarbeitslosigkeit selbst die Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen dem sozialen Siechtum verfielen. Es gebe ganze Familien, die in die Armut hineinwachsen, ohne jede Aussicht auf ein Leben in sozialer Sicherheit, in menschlicher Würde und in Zukunftsgewissheit. Der Verlust des Lebenswillens könne die Endkonsequenz dieses Höllentrips durch die neokapitalistische Wolfsgesellschaft sein, die den Menschen im Zeitalter globaler, volkswirtschaftlich entkoppelter Finanzströme selbst als ausbeutbare Profitquelle immer seltener braucht. Soweit Gansel. Entscheidend für den Kern des »Antikapitalismus« von rechts ist also die Frage, worin die extreme Rechte die Gründe für die soziale Misere erkennt und wie ihre Lösungsvorschläge aussehen. Hier sind die Antworten recht eindeutig und altbekannt. »Antikapitalismus« und Kritik an den sozialen Zuständen erfolgen bei den Nazis immer aus einer völkischen, einer rassistischen Perspektive. Nicht der Kapitalismus als universales Ausbeutungsverhältnis wird kritisiert. Nicht die universelle Profitlogik, die die sozialen Bedürfnisse der Menschen hinter die Fragen nach Gewinn, Rendite und Wachstum zurückdrängt, wird in Frage gestellt. Kritisiert wird vor allem ein Kapitalismus, der sich von seinen nationalen Wurzeln entfernt hat, der ein globaler Kapitalismus ist und dessen negative Seiten auch die abhängig beschäftigten Deutschen treffen. Die dem kapitalistischen System immanente Konkurrenzlogik trifft sich dagegen genau mit dem Menschenbild der Nazis, für die es einen ständigen Kampf ums Dasein gibt, für die die Einteilung in Höher- und Minderwertige die Norm ist, die das alleinige Überleben des Stärkeren propagieren. Verändert werden soll der Kapitalismus nur da, wo er auch auf die vermeintlich höherwertigen arischen Deutschen negative Auswirkungen hat. So gilt den Nazis das Konkurrenzverhältnis dort als schlecht, wo es über die Konkurrenz mit billigen Arbeitskräften aus dem Osten auf deutsche Arbeiter und Arbeiterinnen zurückschlägt. Wenn dagegen das deutsche Kapital, geschützt vor ausländischer Konkurrenz, andere Länder durchdringt und den Menschen dort die Bedingungen diktiert, dann haben die Nazis nichts dagegen einzuwenden. Die von den Nazis, ganz in der Tradition des Faschismus propagierte »raumorientierte Volkswirt5 schaft«, ist das Modell für einen solchen nationalen Kapitalismus. Auch in ihrer Globalisierungskritik adaptieren die heutigen Nazis in aller Offenheit ihr historisches Vorbild. Sie beziehen sich dabei auf die im NSDAP-Programm von 1920 gebrauchte Unterscheidung in »raffendes« und »schaffendes Kapital« sowie auf die dort propagierte Forderung nach einer »Brechung der Zinsknechtschaft«.5 Das nationale Kapital, die deutschen Kapitalisten, gelten in dieser Logik als »schaffende« Kapitalisten, während internationale Kapitalverbünde, Großbanken und Hedgefonds als »raffendes Kapital« definiert werden, die wiederum mit einer geographischen Herkunft (»Ostküsten-Kapital«) charakterisiert werden. In einem aktuellen Schulungsmaterial der NPD für Wahlkämpfe heißt es dazu wörtlich: »Der Kapitalismus ist aufgrund seines nomadischen Händlergeistes, seiner vagabundieren, grenzenlosen Profit- und Spekulationssucht, seiner Verachtung von Volk und Heimat sowie seiner Missachtung des Volkswohls ein vaterlandsloser Geselle und damit das antinationale Prinzip schlechthin.« In beiden Stichworten findet man bereits die Verbindungslinien zu einem Grundelement faschistischer Ideologie, den rassistischen Antisemitismus. Der »nomadische Händlergeist«, der »vagabundiert«, gilt in der faschistischen Ideologie als Synonym für Judentum. Auch der Begriff »Ostküste« – gemeint sind USBanken in New York und anderen Metropolen des Ostens der USA – gilt als Code nicht nur für amerikanisches bzw. internationales Kapital, sondern für die angeblich jüdische Kontrolle über die globalen Finanzmärkte. Statt über Profitlogik und Kapitalinteressen zu sprechen, wird das Handeln von Investmentfonds als »von jüdischen Dunkelmännern bestimmt« charakterisiert, die ein Interesse am »Aussaugen« nationaler Ökonomien haben. Vor diesem Hintergrund ist auch die politische Antwort der extremen Rechten auf die Globalisierung in sich schlüssig. Sie fordern keine gerechte Weltwirtschaft, sondern propagieren: »National statt global!« Und da der »nomadisierende Kapitalismus« angeblich ein Interesse an der ungehemmten Zuwanderung von billigen Arbeitskräften in unser Land hat, verbindet sich Kapitalismusund Globalisierungskritik ganz ungebrochen mit der rassistischen Propaganda von NPD und anderen Rechten. Das rassistische Gegeneinander von Deutschen und Nichtdeutschen ist der Kern bei der Thematisierung der sozialen Frage. 6 Jürgen Gansel macht das in zahlreichen Beiträgen immer wieder deutlich: Die Nationalisierung der sozialen Frage und die Vision eines solidarischen Volksstaates, in dem die soziale Teilhaberschaft eines jeden Deutschen garantiert sei, werde dem Nationalismus soviel Zulauf bescheren, so dass »die morschen Knochen der Volks- und Vaterlandsabwickler« noch gehörig zittern würden. Die Ethnisierung des Sozialen (wir Deutschen oder die Fremden) ist eine Aktualisierung und sozialpolitische Durchformung von Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung als Essenz des Politischen- und eben auch als Essenz des Sozialstaatsprinzips. In diesem Sinne seien die Gegensatzpaare: Sozialstaat oder Einwanderungsstaat, solidarische Wir-Gemeinschaft oder materialistische Ich-Gesellschaft, staatszentrierter Nationalverband oder marktzentrierte Weltzivilisation. Es dürfte nach Ansicht Gansels klar sein, wofür sich die meisten Deutschen als Abwehrreaktion gegen die Wohlstands-, Wertund Gemeinschaftserosion in naher Zukunft entscheiden werden.6 Warum kann die extreme Rechte mit der sozialen Frage Erfolge erzielen? Die soziale Frage ist keine Erfindung der NPD – sie ist ein täglich drängendes Problem für Millionen Menschen hier und heute. Vereinfacht gesagt kann die extreme Rechte mit diesem Thema deshalb Einfluss gewinnen, weil eine größer werdende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern der etablierten Politik und dem politisches System keine Lösung dieser Frage mehr zutraut. Die NPD findet ihre Anhänger sowohl bei den realen Verlierern der sozialökonomischen Entwicklung, aber auch bei solchen, die Sorge haben, demnächst zu diesen Verlierern gehören zu können. Dieses Phänomen konnte in den 80 er Jahren auch in der alten BRD beobachtet werden, als die Partei »Die Republikaner« und die Deutsche Volks-Union (DVU) mit vergleichbaren Parolen auf soziale Ängste und politische Verunsicherungen reagierten. Die extreme Rechte kann aber auch deshalb mit der sozialen Frage und mit ihrer Variante des »Antikapitalismus« erfolgreich sein, weil ihr diese Frage von größeren Teilen der Linken überlassen wurde. Insbesondere die Sozialdemokratie hat die soziale Frage als zentrales Element ihrer Politik aufgegeben und sich der neoliberalen »Modernisierung« zugewandt. Dies ist im übrigen kein rein deutsches Phänomen, sondern in zahlreichen euro- päischen Ländern seit dem Ende der neunziger Jahre zu beobachten. Überall hat dies auch zu einem Aufschwung von Parteien der extremen Rechten geführt. In seinem Artikel unter der Überschrift »Der Abschied der Linken von der sozialen Frage« schreibt Jürgen Gansel hierzu: »Die sozialen Interessen der Deutschen kommen in der Gedankenwelt von SPD und Grünen, WASG und PDS nicht mehr vor. Die soziale Frage, an der sich die Linke historisch abarbeitete und die für sie einmal identitätsstiftend war, wird heute zugunsten eines inhaltsleeren Machtopportunismus und eines manischen Minderheitenkultes fallengelassen. Damit räumt die Linke das Themenfeld, auf dem die politischen Schlachten der Zukunft geschlagen werden.« Wie müsste die Linke mit dem »Antikapitalismus« von rechts umgehen? Muss man der extremen Rechten die soziale Frage von links streitig machen? Es ist heute unstrittig, dass der Kapitalismuskritik von rechts eine antifaschistische Antwort entgegengesetzt werden muss. In verschiedenen Analysen von Gewerkschaften und antifaschistischen Strukturen wird diese Frage behandelt, wobei die Antworten naturgemäß unterschiedlich sind. Zu Recht wird deutlich gemacht, dass der AntiKapitalismus von rechts keine wirkliche Systemopposition ist, da diese Kritik die kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht aufheben will, sondern nur unter nationalistischen Vorzeichen zu gestalten plant. Daher wird in manchen Veröffentlichungen der Anti-Kapitalismus als reine Propaganda bezeichnet. Daraus würde sich als antifaschistische Strategie ableiten, die Widersprüche in der Propaganda zu entlarven und den potenziellen Anhängern und Wählern deutlich zu machen, dass ihre antikapitalistischen Wünsche und Sehnsüchte von der extremen Rechten prinzipiell nicht umgesetzt werden können. In einigen – verkürzten – Argumentationen heißt es daher: Eine gute Sozialpolitik sei die beste antifaschistische Strategie. Bundes- und Landesregierungen haben daher schon einige Male verkündet, ihre Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit seien ein Beitrag gegen die extreme Rechte. Das »Ergebnis« sieht man in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Offenkundig reicht es nicht, kurzfristige Beschäftigungsformen zu organisieren, um die – tatsächliche oder empfundene – prekäre gesellschaftliche Lage aufzuheben. Zudem ist bekannt, dass sich viele Anhänger der extremen Rechten in Ausbildung oder in gesicherten Beschäftigungsverhältnissen befinden. Offenkundig bedarf es anderer Antworten im Rahmen antifaschistischer Strategien in der sozialen Frage. Wenn die rassistische Durchdringung der Kapitalismuskritik und der sozialen Frage der ideologische Kern der extremen Rechten ist, dann muss eine linke Antwort darauf das rassistische Prinzip durchbrechen. Internationale Investmentfonds als »Heuschrecken« zu bezeichnen, die wie eine Plage über Betriebe in unserem Land herfallen, sie aussaugen und »verbrannte Erde« hinterlassen, mag zwar in populistischer Verkürzung hilfreich sein, die Globalisierungskritik darauf zu reduzieren, liefert jedoch Stichworte für rassistische Denkschemata. Auch wenn linke Kritik damit zu »kopflastig« erscheint, ohne Erkenntnis der Profitlogik des Kapitalsystems wird hieraus keine tatsächliche Systemalternative. Und ein zweites Element antifaschistischer Kapitalismuskritik grenzt extrem rechtes Denken aus: Es muss in sozialen Auseinandersetzungen immer wieder deutlich gemacht werden, dass es um Arbeit, soziale Sicherheit, Gesundheit und Versorgung aller hier lebenden Menschen geht, nicht nur derjenigen, die durch einen deutschen Pass privilegiert sind. Eben hatte ich gesagt, dass allein der Verweis auf eine gute linke Sozialpolitik als antifaschistische Strategie zu kurz greift. Aber natürlich ist die Thematisierung der sozialen Frage durch die Linke ein zentraler Punkt. Die aktuellen Erfolge der LINKEN sind sicherlich ein Grund für die aktuellen Misserfolge der extremen Rechten. Wichtig für die Linke ist es aber, die soziale Frage in einer Form zu thematisieren, die sich von den Nazis jederzeit klar und deutlich unterscheidet. Dass es hier manchmal Probleme gibt, haben die Montagsdemonstrationen gegen »Hartz IV« deutlich gemacht, wo nicht nur im Osten Nazis versucht (und manchmal auch geschafft) haben, die Proteste für sich zu vereinnahmen. In der Vergangenheit waren oftmals Kampagnen, Demonstrationen und Kundgebungen. die von der Linken und Gewerkschaften ausgingen, deswegen von Neonazis so leicht zu besetzten, weil nicht genau genug darauf geachtet wurde, dass völkische und rassistische Interpretationen von vornherein unmöglich sind. Es ist ein Unterschied ob gefordert wird »Soziale Rechte für alle« oder nur »Verteidigt den Sozialstaat«/«Weg mit Hartz IV«. Die Verbindung eines universellen humanistischen Menschenbildes mit sozialer Teilhabe an den gesellschaftlichen Reichtümern für »Alle«, unabhängig von ihrer Hautfarbe und geographischen Herkunft, macht die Soziale Frage nicht anschlussunfähig für die, die nur Verbündete für ihren Rassismus suchen. Wenn die Kampagne dann auch noch einen internationalistischen Ansatz hat, im Sinne von: »Die Grenzen verlaufen zwischen oben und unten, und nicht zwischen den Völkern«, gruseln sich Neonazis und die Gefahr einer »feindlichen Übernahme« der betreffenden Veranstaltung ist gering. Aber neben dieser Thematisierung der sozialen Frage als Möglichkeit, den Nazis das Wasser abzugraben, gibt es eine ganze Reihe von Feldern, auf denen auch DIE LINKE konkret gegen rechts vorgeht. Ich will exemplarisch nur drei Bereiche nennen, die man vielleicht mit »Analyse, Prävention, Repression« überschreiben könnte. Analyse: Um die Alltagsgefahr des Neofaschismus überhaupt deutlich zu machen, ist es wichtig zu wissen, was auf Seiten der Nazis passiert. DIE LINKE fragt regelmäßig nach rechten Strafund Gewalttaten, nach Konzerten und Musikveranstaltungen der Nazis die, wie viele sicher wissen, eine Art Einstiegsdroge für viele Jugendliche in die Szene sind und wir fragen nach rechten Aufmärschen und Demonstrationen – kurz, wir versuchen, öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema zu schaffen. Prävention: DIE LINKE hat sich nachdrücklich für den Erhalt und den Ausbau der vom Bund finanzierten Projekte gegen Rechtextremismus eingesetzt. Diese Projekte standen vor etwas mehr als einem Jahr auf der Kippe, weil die CDU/ CSU sie nicht länger fördern wollte. Nur dem Druck von Opposition, Medien und der engagierten Öffentlichkeit ist es gelungen, die Projekte zu erhalten und ihre Finanzierung zu sichern. An der konkreten Ausgestaltung haben wir nach wie vor Kritik, dennoch ist ihr Erhalt ein wichtiger Erfolg. Ein Thema, zu dem ich selbst intensiv arbeite: Die Bundesrepublik hat einen Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus vorgelegt, der meines Erachtens am eigentlichen Problem vorbei geht. Rassismus und Ausgrenzung von MigrantInnen werden hier nur als ein Problem des rechten Randes beschrieben und nur hier sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, aktiv zu werden. Den strukturellen Rassismus in der Mitte der Gesellschaft, auf staatlicher Ebene, in den Behörden, nimmt dieser Plan noch nicht einmal in den Blick. Zusammen mit zahlreichen Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) kämpfen wir für eine grundlegende Überarbeitung dieses Plans. Repression: Hier steht von neuem die Frage des NPD-Verbots auf der Tagesordnung. Diese Debatte ist leider nur eine Scheindebatte, weil weder SPD noch CDU bereit sind, die vom Verfassungsgericht genannten Voraussetzungen für ein solches Verbot umzusetzen: Die Abschaltung aller V-Leute in der NPD. DIE LINKE hatte und hat jetzt erneut einen Antrag zur Abschaltung der V-Leute in den Bundestag eingebracht. Beim ersten Versuch haben alle anderen Parteien diesen Antrag abgelehnt, womit es für mich fraglich ist, ob man hier wirklich ein Verbot erreichen will. Aber natürlich ist der Bundestag nicht die zentrale Ebene der Auseinandersetzung mit der extremen Rechten. Die alltägliche Auseinandersetzung findet in den Städten und Gemeinden, in den Vereinen und Verbänden, in Schulen, Betrieben und anderen Institutionen statt. Aus meiner Sicht ist es dabei von besonderer Wichtigkeit, dass die Thematisierung des gesellschaftlichen Alltagsrassismus nicht aus dem Blick gerät. Residenzpflicht, Abschiebungen, Diskriminierung von MigrantInnen am Arbeitsplatz, in Behörden und bei der Polizei, um nur diese Beispiele zu nennen, sind für mich ein unabdingbarer Bestandteil des Kampfes gegen Rechts. Denn schließlich ist es dieser Alltagsrassismus, auf den die Nazis ihr Weltbild und ihre Ideologie aufbauen. Sevim Dagdelen MdB 1 2 3 4 5 6 Vgl. die Rezensionen der von dieser Forschungsgruppe herausgegebenen Bände im »Rundbrief«: H.1–2/2005, S. 76 f. (Roland Bach); H. 1–2/2007, S. 89 ff. (Rolf Richter) u. H. 1–2/2008, S. 88 f.; (Rolf Richter). Interessanterweise hieß es im Punkt 7 des am 24. Februar 1920 verabschiedeten Parteiprogramms der NSDAP: »Wir fordern, dass sich der Staat verpflichtet, in erster Linie für die Erwerbsund Lebensmöglichkeit der Staatsbürger zu sorgen. Wenn es nicht möglich ist, die Gesamtbevölkerung des Staates zu ernähren, so sind die Angehörigen fremder Nationen (Nicht-Staatsbürger) aus dem Reiche auszuweisen.« Gottfried Feder, Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundlagen, 41.–50. Aufl., München 1931, S. 20. Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände 2007, Frankfurt a. M. 2008, S. 23 ff. Vgl. die Rezension im »Rundbrief«, H. 1–2/2007, S. 89 (Rolf Richter). Vgl. Gottfried Feder, Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundlagen, S. 20 f., 24 ff., 29 ff., 45 ff. Vgl. Jürgen Gansel MdL, Der Abschied der Linken von der sozialen Frage, in: Deutsche Stimme, Nr. 12, Dezember 2006. 7 Rassismus meint mehr als Rechtsextremismus: Die gesellschaftliche Normalität als Problem. Der Bielfelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat einmal sehr treffend das zentraler Ergebnis der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Rechtsextremismus zusammengefasst. Er sagte: »Rechtsextreme sind keine Sonderfälle in einer intakten Gesellschaft«. Daraus abgeleitet lautet meine Grundthese, dass Rechtsextremismus kein Jugendphänomen und kein Randgruppenphänomen ist, sondern in der Mitte der Gesellschaft entsteht. So möchte ich die Aufmerksamkeit in meinen Ausführungen auf diese ganz normale Mitte lenken. Das zu beackernde Feld ist bekanntlich groß. Ich werde mich auf Rassismus in Bezug zur Migration beschäftigen, ein konstituierender politischer Bereich von Rassismus. Ich werde versuchen zu klären, was Rassismus überhaupt bedeutet, fragen, warum und wie er sich hartnäckig reproduziert und dabei das Wechselverhältnis von Rassismus und Rechtsextremismus ansprechen. Abschließend versuche ich politische Basisausgangspunkte zur Bekämpfung von Rassismus und damit langfristig auch von Rechtsextremismus aufzuzeigen. »Ich werd’ eh Hartz IV« Der Autor dieser Zeilen stammt aus Freiburg, einer liberalen Stadt im äußersten Südwesten der Republik mit einer Arbeitslosigkeit von nicht mehr als circa fünf Prozent. Es gibt vergleichsweise kaum Probleme mit rechtsradikalen Schlägern auf den Straßen aber sehr wohl und nachhaltig mit Rassismus. Seit zweieinhalb Jahren führe ich regelmäßig antirassistische Projekttage an Schulen durch, und zwar zumeist an Berufsschulen und dort mit Berufsvorbereitungsklassen. In diesen biografischen Warteschleifen werden jene jungen Leute untergebracht, die keinen Schulabschluss geschafft oder keinen Praktikums- oder Ausbildungsplatz bekommen. Es ist nun so, dass eigentlich immer gut zwei Drittel der betreffenden Schüler und Schülerinnen migrantischer Herkunft sind. Fragt man diese nun erstens, ob Sie Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierungen kennen, bejahen einheitlich alle diese Frage und erzählen viele Bespiele aus ihrem Alltag: So erzählen sie, dass sie in bestimmte Clubs als »AusländerInnen« nicht hinein gelassen werden. Sie erzählen über Beschimpfungen auf der Straße, über Ungleichbehandlung bei der Polizei nach 8 dem Erwischtwerden beim Diebstahl oder über das Ausgeschlossensein bei der Vergabe von Praktikumsplätzen. Wenn man sie zweitens fragt, was sie denn gerne machen möchten und was sie denken, was sie wirklich werden, bekommt man klar und resigniert zur Antwort »Ich werde eh‘ Hartz IV«. Diese Klassen sind für mich die verschämten Abstellkammern unserer Gesellschaft, für vor allem ausgezählte migrantische Jugendliche, die kaum eine Chance auf einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz haben, da diese – ebenso wie die Praktika – über lokale Netzwerke der Alteingessenen vergeben werden. Diese Klassen sagen meiner Meinung nach wesentliches über unsere Gesellschaft und deren Rassismus aus. Was meint Rassismus? Die Bundesrepublik hinkt nicht nur integrationspolitisch anderen westlichen Einwanderungsländern weit hinter her, sondern auch in der Debatte über Rassismus. Diese Diskussion wird in Deutschland fast ausschließlich in Expertenkreisen geführt und erreicht nur selten das Gesichtsfeld der Öffentlichkeit oder gar der Politik. So wird in Deutschland der Begriff »Rassismus« sehr selten verwendet und verfügt in der öffentlichen Debatte über wenig analytische Tiefenschärfe und impliziert lediglich moralische Eindeutigkeit. Ganz im Gegensatz zu anderen Ländern wie beispielsweise in Großbritannien und in den USA, in denen Rassismus ein recht klar umrissenes Phänomen beschreibt, dass gesellschaftliche Auseinandersetzungen darüber erst fundiert und somit in der Breite ermöglicht. Rassismus wird in Deutschland häufig hinter Begriffe wie »Ausländerfeindlichkeit« und »Fremdenfeindlichkeit« versteckt. Diese Wörter geben zwar vor, dasselbe Phänomen zu beschreiben, gelangen aber durch ihre Suggestion oder Schwerpunktsetzung zu vollkommen unterschiedlichen Analysen. Nehmen wir als Beispiel eine schwarze Frau. Sie würde in Deutschland auf der Straße von vielen Menschen der deutschen Mehrheitsgesellschaft als Ausländerin wahrgenommen. Nehmen wir an, dass sie nun aber in Hamburg geboren und aufgewachsen ist und schon immer einen deutschen Pass besitzt. Obwohl sie Deutsche ist, würde sie – im Vergleich zu einem niederländischen hellhäutigen Mann – auf der Straße mit ho- her Wahrscheinlichkeit als Ausländerin stigmatisiert werden. Der hellhäutige Niederländer, solange er nicht redet, allerdings nicht. Es geht also nicht um Ausländerfeindlichkeit, denn wem sieht man an, ob er oder sie deutsch ist oder nicht? Darüber hinaus wird die Tatsache verschleiert, dass auch Inländer zu Fremden gemacht werden können, so wie deutsche Juden, Punks, Homosexuelle und andere. Wenn diese Afrodeutsche angefeindet werden würde, spricht man allgemein auch von Fremdenfeindlichkeit, obwohl sie ja keine Fremde ist. Sie wird aber sehr wohl durch Diskurse der Mitte der Gesellschaft, durch ein von der Wirklichkeit vollkommen überholtes Bild, wer deutsch ist und wer nicht, zu einer Fremden gemacht. »Fremdenfeindlichkeit« beschreibt eher individuelle Verhaltensweisen und Einstellungen. Die strukturelle Dimension von Rassismus tritt in den Hintergrund und wird nicht benannt und erkannt. Rassismus hingegen verweist über individuelle Einstellungen hinaus & betont die gesellschaftliche Dimension. Dabei verknüpft Rassismus gesellschaftliche Vorurteile immer mit Diskriminierungen z. b. auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungssystem. Die dafür verantwortlichen Ausgrenzungsmechanismen können individuell, strukturell und institutionell sein. Sie können intendiert – also bewusst forciert, oder auch unbewusst und ungewollt sein. Unsere heutige Situation – vor allem in Westdeutschland und Berlin – ist geprägt von Einwanderung und historisch sich wandelnden rassistischen Diskriminierungen. Der Sozialwissenschaftler Georg Lutz hat das daraus resultierende Ergebnis einmal sehr treffend formuliert, indem er konstatierte: Wir leben in einer »multikulturellen Gesellschaft der besonderen Art«.1 Besonderheiten der multikulturellen Gesellschaft in der BRD Diese Besonderheit möchte ich vor allem für die alte BRD beschreiben. In der DDR gab es eine andere, in Bezug auf Stigmatisierungsprozesse gegenüber MigrantInnen ebenfalls sehr schlimme Geschichte, die es sich lohnt an anderer Stelle gesondert anzuschauen. In den 50 er und 60 er Jahren – der Zeit des Fordismus – kamen die meisten MigrantInnen aufgrund der wachsenden Arbeitskräftenachfrage in die rasant wachsenden Industriezentren des Westens, so auch nach Westdeutschland. Gefragt waren überwiegend junge Männer. Ob diese eine Ausbildung hatten oder nicht, spielte keine so große Rolle, da die wenigen Handgriffe am Fließband in der Fabrik, die Arbeit in der Schwerindustrie oder bei der Müllabfuhr schnell zu lernen waren. Auf den Schultern dieser Menschen war es überhaupt für viele Eingesessene erst möglich, bessere Jobs zu bekommen. Der Sozialwissenschaftler Friedrich Heckmann spricht von ca. 2,3 Millionen Westdeutschen, die zwischen 1960 und 1970 von Arbeiter- in Angestelltenpositionen aufgestiegen sind. Dieser Prozess der ethnischen Unterschichtung könnte in Bezug auf Frauen auch folgendermaßen illustriert werden: Aus einer deutschen Putzfrau ist eine türkische geworden. Diese durch Familiennachzug und Kinder zahlenmäßig stark gewordene Einwanderungsgruppe baute sich ein Leben in Deutschland auf und blieb, statt – wie von der Politik zunächst forciert – wieder zurück in ihre Herkunftsländer zu kehren. Daraus resultierte eine gesamteuropäische Situation der »inneren Ausschließung«: Die europäischen Gesellschaften stigmatisieren die EinwanderInnen rassistisch, obwohl sie in den gleichen Städten leben. So ist in allen westlichen Industrienationen eine multikulturelle Underclass entstanden, innerhalb deren die nationalen zusammen mit den ausländischen Arbeitern in Konkurrenz um Arbeitsplätze stehen. Dieses Strukturphänomen schürt die Spannungen, bei der soziale Unterschiede in zunehmendem Maße ethnisiert werden. Eingebettet ist diese Entwicklung in den Prozess steigender Arbeitslosigkeit seit Mitte der siebziger Jahre, in dessen Verlauf immer mehr Menschen in Konkurrenz um Arbeit und Anerkennung stehen. Seit den achtziger Jahren gewann zudem der Neoliberalismus an gesellschaftlicher Relevanz. Diese Idee des Marktradikalismus ist ja weit mehr als eine Wirtschaftstheorie. Dieses quasi religiöse Heilsversprechen wurde zur Handlungsmaxime einer Politik, die soziale Sicherungssysteme erst in Frage stellte, dann sukzessive abbaute und nicht zuletzt die Absicherungen gegen Lebensrisiken (zum Beispiel Krankheit, Invalidität, Altersarmut) zunehmend privatisierte. Die Bewertung und damit auch die Wertigkeit eines Menschen reduzierte sich bei dieser Entwicklung vermehrt auf seinen ökonomischen Nutzen oder eben auf seinen volkswirtschaftlichen Schaden. In diesem Fahrwasser entbrannte eine Diskussion über den unterstellten Missbrauch von Sozialleitungen, die dezidiert gegen sozial Schwache gerichtet war. Soziale Empathie, Mitleid und daraus erwachsene Zustimmung für die Unterstützung von Kranken, Langzeitarbeitslosen, Alten usw. wurden unpopulär – nicht zuletzt war dies den massiven publizistischen Kampagnen geschuldet, die das neoliberale Gedankengut systematisch in der Mehrzahl der Medien verbreiteten . Durch den Zusammenbruch der Staaten des »realen Sozialismus« hatte die neoliberale Interpretation und der damit verbundene Umbau der Gesellschaften quasi historisch gesiegt. So wurden die neunziger Jahre zum Jahrzehnt der Ideologisierung von Konkurrenz. Kooperation als Gesellschaftsidee war weitgehend disqualifiziert. Nicht nur die Individuen wurden gegeneinander gesetzt, sondern auch Nationen. So hieß es, der Standort Deutschland müsse gegen den Rest de Welt verteidigt werden. Dafür müsse man den Gürtel enger schnallen. Dieser nunmehr nationale Wettbewerbsstaat etablierte einen Standortnationalismus, der nicht losgelöst vom ethnischen Nationalismus betrachtet werden kann. Auch die »rot-grüne Regierung« diskutierte beispielsweise Einwanderung fast ausschließlich unter der utlilitaristischen Doktrin, wer unter welchen Bedingungen einwandern dürfe. Rot-Grün hat die Einwanderungspolitik insofern modernisiert, indem sie halbwegs dem westlichen Niveau angepasst wurde, allerdings ohne dabei auch nur annähernd eine aktive Gleichstellungspolitik anzugehen. Die bei dieser gesellschaftlichen Abwärtsbewegung aufsteigende sozialdarwinistische Konkurrenzideologie erhöht nun ebenso die Marktchancen für rechtsradikale und autoritäre Gesellschaftsentwürfe. Dabei ist – wie der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge betont – zu beachten, dass die Verschärfung des Konkurrenzprinzips nicht unbedingt zu mehr fremdenfeindlichen Einstellungen führen müsste. Politische Traditionen entscheiden darüber, wie eine Krise interpretiert wird und auf welche Muster zurückgegriffen wird. In Deutschland ist diese politische Tradition von Autoritarismus und einem ungemein ethnischen Verständnis von Nation verbunden, sodass Rassismus hier verstärkt zu Tage tritt. Aus dieser skizzierten Entwicklung resultierte dann die »multikulturelle Gesellschaft der besonderen Art«. Besonders deshalb, weil Ausgrenzungsmechanismen Barrieren tief in unsere Gesellschaft verankert haben, die rassistisch organisiert sind. Die Rassimusexpertin Birgit Rommelspacher spricht dabei von einer Dominanzkultur der Bevölkerungsmehrheit, die vier unterschiedliche Segregationlinien aufrecht erhält: So die politische Segregation, das meint allen voran die gesetzliche Ungleichbehandlung durch das Ausländergesetz, den schweren Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft, das Inländerprimat bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, die Residenzpflicht von Flüchtlingen, die Nicht-Legalisierung von den 500.000 bis 1 Millionen Illegalen in Deutschland sowie die endlosen Sonderfälle in den Ausländergesetzen. Die ökonomische Segregation zeigt sich durch die doppelt so hohe Arbeitslosigkeit und das damit einhergehende deutlich höhere Armutsrisiko für MigrantInnen gegenüber der deutschen Mehrheitsbevölkerung. Die Gesellschaft gibt zwar ein Gleichheitspostulat vor, nämlich das der Leistungsgerechtigkeit. Dies ist allerdings Unsinn. Die persönliche Leistung steht fast in gar keinem Bezug zum tatsächlich Erreichten. Erfolg und Misserfolg wird vielmehr sozial vererbt, sprich die soziale Herkunft bestimmt im Wesentlichen die Startbedingungen im Wettbewerb um Arbeit und Anerkennung in der Gesellschaft. Damit verbunden ist der Bildungsbereich. Der schulische Erfolg ist laut PISA- und OSZE-Studien besonders in Deutschland extrem stark von der sozialen Herkunft abhängig und forciert somit ethnische Ungleichheiten. Zur sozialen Segregation zählt der Umgang der Bevölkerung miteinander. So verwundert es nicht, dass der Anteil fremdenfeindlichen Einstellungen dort besonders hoch ist, wo der Anteil der MigrantInnen sehr gering ist, so vor allem ländlichen Raum. Man bleibt lieber unter sich. Wie wirkungsmächtig dies sein kann, sieht man an vor allem jungen Kindern, die sich ihrer ethnischen Herkunft schon bewusst sind. Sie wissen, das sie keine Ausländer sind. Umgekehrt wissen auch MigrantInnenkinder meist sehr früh, dass sie eine kollektive Signatur tragen und zwar die des Fremden. So gaben 80 Prozent der arabischen Jugendlichen 2004 bei einer repräsentativen Umfrage an: »Egal was Du tust, nie wirst Du ganz dazu gehören«. Aber auch der Anteil der binationalen Ehen ist ein Indikator zur Messung der sozialen Segregation. Dieser Anteil ist in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern mit 12 Prozent erstaunlich hoch. Die letzte Segregationslinie ist die kulturelle: Hier geht es um die Organisierung von Prestige: Wer hat das sagen, wem 9 wird überhaupt zugehört, wer wird ernst genommen, wer wird ignoriert, wer wird nie gefragt? Dieses Anerkennungsmanagement ist besonders hartnäckig und effektiv. Eine der wichtigsten Kategorien ist hierbei die ethnische Grenzziehung. Der Gegensatz vom außen und Innen, von Eigenem und Fremden wird hierbei ethnisch definiert. So wird verhandelt, wer dazugehört und wer nicht. So ist der zentrale Dreh und Angelpunkt bei rassistischen Diskursen fast immer die so genannte Ausländerfrage: Gesellschaftliche Konflikte um Anerkennung, um Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen, um Kriminalität und Drogen werden dabei durch eine ethnische Brille gesehen. So heißt es dann, »die Deutschen« stünden in Konkurrenz zu »den Ausländern«, die uns »unsere« Jobs wegnähmen. Von dieser Ethnisierung des Sozialen ist es nicht weit zur rassistischen Formel »Ausländer raus«, die im Alltag in den verschiedensten Ausformulierungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft zu finden ist. Das Wort Ausländer meint in diesem Sinne alles was als Fremd angefeindet wird, auch unabhängig davon wie die Staatsangehörigkeit wirklich ist. Wie stark diese Abgrenzung gehen kann, zeigte sich im letzten Jahrzehnt, bei der Verschärfung der Asyldebatte und Asylpolitik. Die massiven Diskriminierungen von Flüchtlingen und deren sozialräumliche Segregation vor allem durch deren Unterbringung waren begleitet von einer beispiellosen Hetzkampagne der Massenmedien gegen AsylbewerberInnen – hier auch von der linksliberalen Presse und der Politik. Diese Politik inszenierte ein nationalistisches Untergangszenario unter den Parolen »Das Boot ist voll«, »Die Grenzen der Belastung sind erreicht« usw., und stilisierte die Flüchtlingspolitik zur Überlebensfrage der Deutschen hoch. Im Rauch der Brandsätze wurde diese Politik bewusst fortgeführt bis faktisch der Artikel 16 des Grundgesetzes abgeschafft wurde. Der Name Rostock-Lichtenhagen wurde in diesem Zusammenhang zu einem erschreckenden und warnenden Synonym für Rassismus in Deutschland, dem ein mörderischer Mix aus politischem Kalkül, weit verbreiteten rassistischen Einstellungen in der Bevölkerung, hetzerischer Medienberichterstattung sowie struktureller Diskriminierung von Minderheiten zugrunde liegt. Wenn Rassismus gewalttätig eskaliert, dann trifft es alle potentiellen Opfer von Rassismus. So traf es nach Rostock beispielsweise auch schnell MigrantInnen die schon lange in Deutschland lebten, wie zum Beispiel in Mölln. 10 Die mediale und politische Aufmerksamkeit bei Rechtsextremismus und Rassismus ist dabei defensiv. Sie hechelt den rechtsextremen Gruppen und rechten Gewalttaten hinterher, da diese zumeist nur dann zum Thema werden, wenn eine besonders schlimme Grausamkeit passiert ist. Ich teile hier die Einschätzung von Christoph Butterwegge, dass diese Art der Aufmerksamkeit den Blick allein auf die sichtbare Phänomene reduziert. So werden analytische Erkenntnisse in Bezug auf das Ursache-Wirkungs-Verhältnis rechtsextremer Agitation verhindert. Rechtsextremismus ist die Spitze des Rassismus Die zu Tage tretende rechtsextreme Gewalt ist nämlich nur die Spitze dieses skizzierten recht gewöhnlichen Rassismus. Schlagwörter wie »Asylanten«, »Sozialschmarotzer« und »Überfremdung« finden sich in vielen Köpfen, in den Medien und in Politikerreden weit über die als rechtsextrem Klassifizierten hinaus. Bei einer repräsentativen Umfrage im Jahr 2007 stimmten 55 Prozent der befragten dem Satz »Es leben zu viele Ausländer in Deutschland« »eher« oder »voll und ganz« zu. Die Aussage »Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken«, stimmten wurde im selben Jahr von knapp 30 Prozent der Befragten »eher« oder »voll und ganz« geteilt. Die potenziellen Opfer von Rassisten sind darüber hinaus nicht ziellos ausgesucht. Sie stehen fast alle am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie. Sie sind faktisch die am meisten Ausgegrenzten: Obdachlose, Behinderte, MigrantInnen, denen man ihr MirgantInnendasein ansieht, Flüchtlinge und Punks. Rechtsextreme Agitation bezieht sich immer auf den normalen Rassismus der Mitte der Gesellschaft, deren inhaltliche Übergänge oft recht fließend sind. Aus dieser Mitte rekrutiert sich auch der rechtsextreme Nachwuchs. Rechtsextreme stehen folglich nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern sind integraler Bestandteil von ihr. Rechtsextremismus kann man als die politisierte Form des Rassismus interpretieren. So kann es zwar Rassismus ohne Rechtsextremismus geben, aber keinen Rechtsextremismus ohne Rassismus. Der Ausländerdiskurs in Deutschland ist für mich eine gesellschaftsverträgliche Codierung von Rassismus. Überbewertung von Ideologie Die Bedeutung der rassistischen Ideologie wird meines Erachtens oft über- trieben. Darin steckt die sehr nachvollziehbare Hoffnung, Menschen würden vor allem nach einem geschlossenen, schlüssigen Weltbild handeln. Das meint: aus einem Gedanken folge eine Tat. Nach dieser Lesart muss man den rassistischen Gedanken nur erkennen, isolieren und schließlich widerlegen, damit man die Gesellschaft gegen rassistische Barbarei immunisiere. Dem ist nun leider nicht so. Rassismus ist unglaublich hartnäckig und gegen Aufklärung in gewisser Weise immun. Ich denke, exakt hier sind auch Grenzen der klassischen Aufklärung gezogen, ohne diese gering schätzen zu wollen. Rassismus leitet sich – wie der Sozialwissenschaftler Detlev Claussen argumentiert – eben nicht vorrangig aus einer Ideologie her, sondern aus einem politischen Bedürfnis, ein praktiziertes Programm von Diskriminierung, Unterdrückung und manchmal auch Gewalt als Normalität durchzusetzen. Dies tut er in quasi religiöser Weise. Rassismus beginnt bei der Interpretation von Unterschieden und basiert auf einer tief verankerten Dominanzkultur. Es ist dabei bedeutungslos, ob die rassistischen Begründungen dabei aus der Biologie oder der Geisteswissenschaft kommen: Ein Rassist fragt nie nach argumentativer Stichhaltigkeit, sondern er fragt nach einer Autorität, die für diesen Unterschied zwischen ihm und dem Anderen bürgt. Die Autorität ist quasi immer die eigene »peer-group«, häufig das lokale Umfeld, es kann zudem die Politik oder die Massenmedien sein. Es ist aber immer die gesellschaftliche Sozialstruktur, die durch eine strukturelle Ungleichbehandlung die Unterschiede proklamiert. So ist Rassismus eine gesellschaftliche Praxis, von der eine rassistisch ausformulierte Theorie nur einen sehr kleinen Teil darstellt. Rassismus als gesellschaftliche Praxis in Deutschland Rassismus ist eine gesellschaftliche Praxis, die in Wort und Tat Menschen wegen ihrer Herkunft oder Hautfarbe diskriminiert. Er begründet sich in Deutschland auf vier Ebenen, die sich gegenseitig bedingen und ineinanderegreifen: Erstens sind die Menschen der Mehrheitsgesellschaft mit latenten oder dezidierten fremdenfeindlichen Einstellungen Basis und Träger der gesellschaftlichen rassistischen Praxis. Seit Anfang der neunziger Jahre steigen sowohl die Anzahl rassistischer Einstellungen und Übergriffe. Parallel dazu sinkt das demokratische Potential in der Gesellschaft. Die zweite Ebene sind die staatlichen Strukturen der Diskriminierung. Diese stigmatisiert MigrantInnen als minderwertig durch spezielle Ausländergesetze und ganz besonders durch die Flüchtlingspolitik. Dadurch wird die Rechtsgleichstellung mit Deutschen verweigert. Die ethnische Schichtung auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialgefüge ist als dritte Ebene zu nennen: Sie normalisiert ebenfalls die Vorstellung der eigenen Überlegenheit und zementiert die vermeintliche Minderwertigkeit von MigrantInnen. Auch diese Entwicklung verschlechtert sich relativ parallel zum Anstieg von rassistischen Einstellungen in der deutschen Bevölkerung. Zum Teil wird ethnische Stigmatisierung auch staatlich institutionalisiert, wie zum Beispiel durch das dreigliedrige Schulsystem und dem Inländerprimat des deutschen Arbeitsmarktes. Selbst das Bundesfamilienministerium sprach zumindest im Jahr 2000 von einem sich selbst stabilisierendem System der Ungleichheit zwischen Einwanderer und Einheimischen. Der vierte wesentliche Aspekt ist die als Besonderheit zu bezeichnende politische Kultur in Deutschland: Aufgrund einen ethnischen Nationalismus tut sich speziell Deutschland schwer, mit kulturellen Differenzen umzugehen. MigrantInnen werden gerade in dieser Tradition nicht als gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder anerkannt, sondern ständig misstrauisch beäugt. Dieser Sichtweise fehlt es an demokratischer Gelassenheit und macht MigrantInnen entweder zu Fremden, die im konservativen Assimilierungsdiskurs angefeindet werden oder, wie im Bereich des Multikulturalismus, zu Fremden, die man paternalistisch tolerieren oder betreuen solle. So greifen also für den heutigen Rassismus gegenüber MigrantInnen Normalitätsvorstellungen, Stigmatisierungsprozesse, die politische Kultur, das ökonomische System und das politischrechtliche System ineinander, um Ausgrenzungsprozesse zu legitimieren und durchzusetzen. Dieser Prozess stützt sich auf die Gesellschaftsmitglieder der Mehrheit und deren Dominanz, wie Birgit Rommelspacher dies pointiert zusammenfasst. Die geschilderte strukturelle Dimension von Rassismus macht MigrantInnen erst zu Minderheiten und zu Diskriminierungsobjekten, sodass die beschriebene gesellschaftliche Ungleichbehandlung und soziale Hierarchie entlang von zugeschriebenen ethnischen Grenzen wiederum im Wechsel Rassismus hervorbringt, legitimiert und schürt. Diese normale, weil viele Jahrzehnte andauernde Wechselbeziehung, ist die Folie, auf der sich seit Beginn der neunziger Jahre rassistische Gewalt ausgebreitet und stabilisiert hat. Der gesellschaftliche Rahmen war darüber hinaus von steigender Arbeitslosigkeit und einem chauvinistischen Dominanzschub seit der Vereinigung gesetzt. Ich stimme der Auffassung vom Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge zu, der folgende soziale Formel aufgestellt hat: Je mehr sich durch die Politik des »nationalen Wettbewerbstaates« die soziale Ungleichheit verschärft und damit den Resonanzboden für Marginalisierungs- und Ethnisierungsprozesse vergrößern wird, desto stärker verbinden sich Kulturrassismus und Standortnationalismus. Wie verbreitet und wirkungsmächtig dies eine Entwicklungstendenz und Option in allen Industrienationen West- und Mitteleuropas ist, zeigen die großen Wahlerfolge der so genannten rechtspopulistischen Parteien, allen voran in Frankreich, Italien, Österreich und der Schweiz. Was ist zu tun in der Auseinandersetzung mit dem Rassismus? Daraus ergibt sich für mich folgende Handlungsmaxime: Um Rassismus grundlegend zu bekämpfen, muss ganz wesentlich die ethnische Schichtung und Segregation der bundesdeutschen Sozialstruktur durchbrochen werden. Erst dann könnten sich Normalitätsvorstellungen der Deutschen entwickeln, deren Bezugskoordinaten sich nicht mehr so leicht an ethnischen Ungleichheitsgefällen orientieren könnten. Deutschland ist noch weit davon entfernt eine aktive Gleichstellungspolitik in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt überhaupt zu diskutieren. Die vor allem von den Mobilen Beratungsteams propagierte Parole: »Mehr Demokratie hilft gegen Rassismus und Rechtsextremismus!« bringt es für mich sehr gut auf den Punkt: Gleiche Rechte für alle hier lebende Menschen sind somit die wichtigste Ausgangsbasis einer antirassistischen Politik. Wer macht wen unter welchen Umständen zu Fremden? Dies zu untersuchen und kritisch zu hinterfragen, wäre meiner Meinung nach Aufgabe einer kritischen Wissenschaft und einer kritischen Politik. Die verschiedene Themenkomplexe wie Migration, Globalisierung, soziale Gerechtigkeit, multiethnische Gesellschaft müssten wieder vermehrt repolitisiert und vor allem mit der demokratischen statt der nationalen Option verknüpft werden. Die Betonung eines Oben-Unten-Gegensatz gegenüber eines InnenAußen-Gegensatzes macht soziale Konflikte überhaupt wieder erkennbar und lösbar. Im Kern geht es um die Frage, wie das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft organisiert werden soll: Wollen wir in einer Gesellschaft leben, die von Mehrheit und Dominanz geprägt ist? Oder streben wir eine an, die an Pluralität und Gleichheit der Menschen ausgerichtet ist? Bernd Winter 1 Richard Gebhardt hat in der anschließenden Diskussion zu Recht darauf hingewiesen, dass hier eigentlich nicht von einer »multikulturellen Gesellschaft« geredet werden sollte, sondern vielmehr von einer »multiethnischen«: Kulturelle Milieus gibt es ja auch zwischen Frommen und NichtFrommen, Katholiken, Protestanten und Atheisten, Punks und Kegelclubs, Kaffeekränzchen und Dark Rooms. Hier geht es ja in der Tat um die Benennung der ethnische Schichtung. Weiterführende Literaturhinweise: Rassismus - Christoph Butterwegge, Christoph, Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt. Darmstadt 1996. - Etienne Balibar, Gibt es einen ‚neuen Rassismus, in: Das Argument, Heft 175,.1989, S. 369–380 - Detlev Claussen, Was heißt Rassismus?«, in: derselbe, Was heißt Rassismus? Darmstadt 1994, S. 1–24 - Forschungsinstitut der FriedrichEbert-Stiftung, Abt. Arbeits- und Sozialforschung, Hrsg. Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte. Eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 11. Oktober 1995 in Erfurt, Bonn 1996. - Kein Nghi Ha, Ethnizität und Migration. Münster 1999. - Wilhelm Heitmeyer, Hrsg. Deutsche Zustände – Folge 1 bis 7, Frankfurt am Main 2002 ff. - Birgit Rommelspacher, Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin 1995. - Dieselbe, Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft. Frankfurt am Main, New York 2002. - Bernd Winter, Gefährlich fremd. Deutschland und seine Einwanderung. Freiburg 2004. Diskriminierung im Bildungswesen - Mechthild Gomolla u. Frank-Olaf/Radtke, Institutionelle Diskriminierung – Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen 2002. 11 - Werner Schiffauer u. a., Staat – Schule – Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern. Münster 2002. Rechtsextremismus - Renate Bitzan, Hrsg., Rechte Frauen. Berlin 1997 - Thomas Grumke u. Thomas Wagner, Hrsg., Handbuch Rechtsextremismus. Opladen 2002. - Burkhard Schröder, Nazis sind pop. Berlin 2002. - Der Tagesspiegel (Berlin), Todesopfer rechter Gewalt seit der Vereinigung – eine Bilanz. Sonderdruck, Berlin 2001. Mediendiskurse - Christoph Butterwegge u. Alexander/ Häusler, Alexander, Themen der Rechten – Themen der Mitte. Rechtsex- 12 treme Einflüsse auf Debatten zu Migration, Integration und multikulturellem Zusammenleben, Köln 2001. - Christoph Butterwegge u. Gudrun Hentgens, Hrsg., Massenmedien, Migration und Integration, Wiesbaden 2006. - DISS, SchlagZeilen – Rostock: Rassismus in den Medien. Duisburg 2001. - Siegfried Jäger, BrandSätze. Rassismus im Alltag, Duisburg 1993. Ausländerpolitik - Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland – Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001. - Christoph Butterwegge u. Christoph/ Hentgens, Hrsg., Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung – Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik. Opladen 2000. Illegalität - Jörg Alt, Leben in der Schattenwelt. 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Spekulationsblasen riesigen Ausmaßes sind geplatzt, die Vernichtung Hunderter Millionen Vermögenswerte und Gewinne hat nicht nur einzelne Aktienbesitzer, Banken und Immobilienhändler erfasst, sondern ganze Volkswirtschaften in den Strudel gerissen. Island, Ungarn, Lettland und die Ukraine befanden sich kurz vor dem Staatsbankrott und mussten durch groß angelegte Stützungsaktionen des Internationalen Währungsfonds vor der Zahlungsunfähigkeit bewahrt werden. Kein Zweifel mehr: immer stärker schlägt die Finanzkrise auf die Produktionssphäre, auf die Rohstoffmärkte und Handelsströme durch, riesige Absatzhalden gibt es inzwischen zum Beispiel bei Kraftfahrzeugen. Millionen Werktätige sind zur Kurzarbeit gezwungen, werden in die Arbeitslosigkeit gedrängt, in den USA hat die Erwerbslosigkeit den höchsten Stand seit über vierzig Jahren erreicht. Die Auswirkungen für Familien, Sozialhilfeempfänger sind dramatisch. Kein Zweifel auch, dass es die Entwicklungsländer, die Ärmsten der Armen, wieder am härtesten trifft. Nichts kann mehr darüber hinwegtäuschen, dass all das nicht nur die Schuld einzelner Personen oder Firmenvorstände ist, dass die Verantwortung für das entstandene Chaos nicht nur bei einzelnen Banken, sondern auch bei Regierungen, Wirtschaftsverbänden und anderen politisch Zuständigen liegt, deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Prognosen, deren Beruhigungspillen und verzweifelte Rettungsversuche sich als gigantische Fehleinschätzungen beziehungsweise untaugliche Konzepte erwiesen haben. Die in hektischer Eile in den USA und Europa geschnürten »Rettungspakete« in einem Gesamtumfang von mehreren Billionen Dollar müssen ihre Wirksamkeit erst noch beweisen. In welcher Weise reagiert nun die extreme Rechte auf diese tiefen Erschütterungen? Ist das die Stunde der schon immer grundsätzlich gegen »das System« hetzenden Neonazis? Ist es ihre Chance, endlich die immer wieder erhoffte und immer wieder verlorene Aufmerksamkeit bei den Massen zu erlangen, sich mit wirtschafts- und sozialpolitischen Kompetenzen »auf der politischen Bühne zurückmelden« zu können, wie es schon 1996 ein Autor in der NPD-Zeitung »Deutsche Stimme« erträumte? Ist es die Möglichkeit, eine im Lande »bisher richtungslose antikapitalistische Sehnsucht«, wie sie vor Jahresfrist Jürgen Gansel diagnostizierte, in »nationale Protestbahnen zu lenken«, »konsequent gegen Zuwanderung, EU-Fremdbestimmung und Globalisierung zu richten, wie es ihm vorschwebte? Wir wollen das im Folgenden etwas genauer untersuchen. Allgemein kann man feststellen, dass die Parteien und meinungsbildenden Organe der extremen Rechten in Deutschland (wie auch in anderen Ländern) von Tempo und Ausmaß der entstandenen Krisen in ähnlicher Weise wie andere gesellschaftliche Akteure überrascht wurden und sich auch jetzt mit Antworten auf die gewaltigen Veränderungen und ihren Folgen schwer tun. Aber selbstverständlich halten sie an ihrer prinzipiellen Ablehnung von »Globalisierung« fest, versuchen sie die neue Lage zur Rechtfertigung ihrer Anti-Globalisierungs-Propaganda, ihrer nationalistischen Tiraden und ihrer ausländerfeindlichen Hetze zu nutzen. Dass dies mit vehementem Antiamerikanismus und nicht zuletzt Antisemitismus einhergeht, verwundert nicht. Im übrigen sind es die bekannten Redner und Schreiber besonders aus der NPD, die sich äußern, neue theoretische Glanzlichter sind auch bei dieser Thematik nicht zu erkennen. Soweit es sich um die Beschreibung der Tatsachen handelt, haben es Rechtsextreme aller Couleur nicht schwer. Sie brauchen nicht zu frisieren. Die Zusammenbrüche der Banken in den USA im Gefolge der Immobilienkrise, die Folgen des Skandals um die Lehman Brothers Bank weltweit, die Krisen der Hypo Real Estate und mehrerer Landesbanken in Deutschland, der faktische Staatsbankrott in Island – alles Wahrheiten, die schlimmer sind, als es die Rechtsextremen hätten voraussagen können. Sie brauchen nur abzuschreiben, was andere veröffentlichen. Als Ausnahme darf sich der stellvertretende NPD-Vorsitzende Sascha Roßmüller anrechnen lassen, dass er noch vor vielen bürgerlichen Journalisten und Wissenschaftlern die bestürzenden Entwicklungen offenlegte. Bereits im April 2008 überschrieb er seinen Artikel in der »Deutschen Stimme« über die Auswirkungen der amerikanischen Hypothekenkrise auf Deutschland und hiesige Landesbanken mit »Weltweite Finanzkrise« und klagte die hochbezahlten Manager und die etablierte Politik gemeinsam an, die Rahmenbedingungen für die Finanzmarktkrise geschaffen zu haben. Im Herbst 2008 fanden sich abgeleitet von den offiziellen Verlautbarungen und Warnungen auch bei anderen rechtsextremen Politikern und Autoren dann zahlreiche weitere Beschreibungen und Anklagen, so von Jürgen Gansel, Per Lennart Aae, Holger Apfel und anderen Funktionären der NPD aus dem sächsischen Landtag. Mehr und mehr traten dabei Hinweise hinsichtlich der sozialpolitischen Auswirkungen auf die Bevölkerung in den Vordergrund. Es fehlten aber auch nicht die antisemitischen Töne, die Verweise auf die Ursachen in der Raffgier der »amerikanischen Ostküste«, dem bei den Neonazis gebräuchlichen Synonym für die international agierende jüdische Hochfinanz. Dass dabei immer auch der Rückgriff auf das direkte faschistische Vokabular mit der Unterscheidung von »schaffendem« (arischen) und »raffendem« (jüdischen) Kapital erfolgte, überrascht nicht. Jüngst beschäftigten sich NPD-Vertreter auch mit den sogenannten »Konjunkturpaketen« der Bundesregierung, die man als unzureichend und teilweise zusammengeschustert charakterisierte (auch dabei konnte man natürlich auf ähnliche Beschreibungen der Opposition im Bundestag zurückgreifen). Das vielfach kritisierte Versagen der Bundespolitik beim Gegensteuern gegen die wirtschaftlichen Einbrüche wurde am Beispiel der Gesundheitsreform von der sozialpolitischen Sprecherin der NPD, Antje Niekisch, als »politische Schaumschlägerei im Wahlkampf« und als Bestätigung der Aussagen der NPD gewertet. Auch Sascha Roßmüller meldete sich wieder zu Wort. Unter der Überschrift »Das dicke Ende kommt erst noch« analysierte er in der »Deutschen Stimme« (Nr. 1/2009) umfangreich die Entwicklung von der Finanzkrise über die Wirtschaftskrise zur Politikkrise, die verschärften Bedingungen für die Kreditvergabe, die »Zeitbombe Kreditkartenblase«, die Auftragsrückgänge in der deutschen Exportwirtschaft und falsche Strategien der Bundesregierung in der Bankenwelt. In altgewohnter Manier bleibt man Rechtsaußen aber nicht einfach bei der Beschreibung der Tatsachen stehen, sondern versucht diese zu überspitzen und 13 mit den entsprechenden Vokabeln zu Horrormeldungen umzugestalten. Beispiele dafür finden sich zuhauf. Holger Apfel glaubte mit seiner Rede im sächsischen Landtag im Oktober 2008 zum »Finanzmarktstabilisierungsgesetz« der Bundesregierung mit dem Umfang von einer halben Billion Euro ins Schwarze zu treffen, in dem er dieses zum »Finanzmarktermächtigungsgesetz« erhob und den Vorgang als »finanzpolitischen Reichstagsbrand« auflodern ließ. Aber er zeigte damit doch wieder nur, in welchen der Nazizeit verhafteten Bahnen sich sein Denken vollzieht (Vgl. dazu die vom Pressesprecher der NPD-Fraktion am 16.10. 2008 herausgegebene Mitteilung). Im November 2008, noch zu Zeiten des jetzt abgedankten DVU-Vorsitzenden Frey, titelte seine »Nationalzeitung«: »Weltwirtschaftskrise: Deutschlands Untergang?« und beklagte das »Unheil der systematischen Verarmung des deutschen Volkes«. Der NPD-Stadtverordnete in Cottbus, Ronny Zasowk, wies im Internet die Schuld den »Finanzhaien«, »gierigen Bankmanagern« und »abgebrühten Wertpapier-Zockern«, dem »globalistischen Teufelssystem«, den »Spielkasinos der internationalen Hochfinanz«, besonders der »US-Heuschrecke Lone Star« zu und folgerte, dass »Kapitalismus in seiner Endkonsequenz Völkermord bedeutet«. Jürgen Gansel wollte sich nicht zurückhalten und attackierte die »Blutsauger der Nation«. Kersten Radzimanowski, früherer CDUFunktionär und jetzt begeisterter Kommentator bei der NPD, verlautbarte angesichts möglicher Kaufzurückhaltung der Bürger beim Weihnachtseinkauf: »Wir spüren den Untergang«. Welche Schlussfolgerungen aus den Lagebeschreibungen ziehen nun die extremen Rechten, welche Auswege bieten sie an bzw. welche Forderungen erheben sie? Erstens: Es ist nicht überraschend, dass die Politiker aus den Reihen von NPD, DVU oder Republikanern, da generell staatsfixiert, einen ganzen Katalog formulieren, was der Staat, was Bundesregierung und Landesregierungen tun müssten, um der Probleme Herr zu werden. Auffällig aber ist, auf welch’ unterschiedliche Art und Weise und wie konzeptionslos sie das tun. Während sie wie Holger Apfel in seinen Landtagsreden immer wieder tönen: »Das System hat keine Fehler, das System ist der Fehler!« überbieten sie sich mit Vorschlägen, was in diesem System verbessert oder verändert werden sollte und liegen dabei oft auf einer Linie mit den Vertretern eben dieses Systems. 14 Mit einem Paukenschlag versuchte sich Jürgen Gansel als Vorreiter der Kapitalismuskritik in Szene zu setzen. Auf der Internetseite des NPD-Parteivorstandes verlangte er am 20. 11. 2008, »die eiserne Faust des Staates statt der unsichtbaren Hand des Marktes« in Anwendung zu bringen. Man sah förmlich die zarte Schlaghand der Bundeskanzlerin auf die mächtigen Konferenztische der Spitzen von Banken, Konzernen und Handelsriesen niedersausen, wo sie doch sonst eher die smarten Töne bevorzugte und in Hinterzimmern einträchtig mit den Ackermann, Hundt, Piech, Wedeking und von Pierer ihre Talkrunden drehte. Zweitens: Das schnell herbeigeholte Zauberwort in der neuen Situation war für die NPD: »Banken verstaatlichen!« Damit aber sprang sie nur auf ein Pferd auf, das zuvor andere längst gesattelt hatten. Auf diesen Rettungsanker in höchster Not war man in den USA, Frankreich und weiteren Ländern schon zuvor gekommen, aber auch in Deutschland hatte die Debatte längst begonnen. Ganz zu schweigen davon, dass die Linken hier die Überführung des Bankenund Kreditgewerbes in die öffentliche Hand mit weitgehender demokratischer Kontrolle schon längst im Programm hatten. NPD-Vorsitzender Udo Voigt brauchte sich auch keine große Mühe machen, eine Liste von Forderungen aufzureihen, die Treiben und Skrupellosigkeit von Bankern und Fondsmanagern begrenzen sollten. Forderungen nach Haftung der Bankmanager im Falle der Insolvenz auch mit privatem Vermögen, nach Begrenzung der Managergehälter, Forderungen, die »Zockerinstitute« in die Insolvenz zu schicken und wertlose Papiere in einem ordentlichen Bankrottverfahren abzuschreiben, konnte er auch schon bei der SPD ablesen. Mit einer »breit angelegten Kampagne« wollte die NPD dann über die Hintergründe und »Alternativen« aufklären. Angesichts ihrer eigenen Schwäche und Krise reichte es aber gerade für ein Themenflugblatt unter der Überschrift »Banken verstaatlichen!« und zu einem »Aktionstag« mit Infoständen und einigen Reden in mehreren Städten am 10. November 2008. Das dürftige Flugblatt, das ein paar NPD-bekannte Phrasen, wiederholte Schmähungen der Linkspartei und eine Werbung für die NPD enthielt, brachte als »Alternative« lediglich die Parole »Wir wollen unser Geld Zurück«, um die Bürger aufzustacheln. Darunter wurde aber lediglich die alte NPD- Losung verstanden, den Euro abzuschaffen und die D-Mark wieder einzuführen. Der »Neuigkeitswert« der NPD-Parole zur Bankenverstaatlichung war endgültig verflogen, als die Bundesregierung nun selber, wenn auch in kleinen Schritten, begann, Anteile von Banken zu übernehmen (jüngst schließlich bei der Hypo Real Estate mehr als 50 Prozent) und sich selbst als Retter darzustellen. Insgesamt blieb so die NPD weit von ihrem Ziel entfernt, aus der Finanzkrise Kapital für die Erhöhung ihres gesellschaftlichen Einflusses zu schlagen und die kapitalismuskritischen Stimmungen in der Bevölkerung zu nutzen. Ein Beweis dafür war die hessische Landtagswahl am 18. Januar 2009, wo die NPD auf dem gleichen Anteil von 0,9 Prozent der Stimmen hängenblieb wie ein Jahr zuvor. Drittens: Als weiteres Thema lag für die »nationalen Erretter« das Thema Steuern auf der Propagandastraße. Die unglaublichen Fälle von Steuerkriminalität aus Kreisen der bundesdeutschen »Elite« (etwa eintausend Prominente wie der Postchef Zumwinkel hatten durch Transaktionen nach Liechtenstein den deutschen Fiskus um etwa 3,4 Milliarden Euro geprellt) wurden im Frühjahr 2008 aufgedeckt und natürlich sofort von den rechtsextremen Parteien aufgegriffen und angeprangert. Sascha Roßmüller fand, dass angesichts der neuen zugespitzten Situation die NPD sich nun »als Anwalt« des Steuerzahlers profilieren müsse. Denn die Tatsachen, dass die Millionen einfacher Steuerzahler jetzt all die verzockten Milliarden von den Landesbanken bis zur Autoindustrie bezahlen sollen, indem der Staat sie als so genannte Rettungspakete den Verantwortlichen hinterherwirft, liegen auf dem Tisch. Und eine Reihe Fragen, die in diesem Zusammenhang in der Öffentlichkeit gestellt werden, formulieren auch die NPD-Publizisten richtig, so zum Beispiel, wieso nur der Steuerzahler in die Pflicht genommen werden soll und nicht die Privatbanken, oder weshalb die Frage nach der Haftung der Verantwortlichen mit ihrem umfangreichen Privatvermögen weitgehend ausgespart bleibt. Da man auch in NPD-Kreisen weiß, dass mit solchen Forderungen zur Zeit nicht durchzukommen ist, schloss man sich im November den die Massen der Bevölkerung eher interessierenden Forderungen aus Wirtschaftskreisen nach einer Senkung der Mehrwertsteuer an, die unter anderem der Chef des Handelskonzerns Metro, Cordes, in der gegenwärtigen Situation als »wirksamen Schritt« bezeichnete, weil damit die Binnennachfrage und indirekt das Investi- tionsklima angekurbelt werde. Mit der Forderung nach Steuersenkungen befanden sich nun aber die Rechtsextremen plötzlich auf gleicher Straße mit der »Steuersenkungspartei« FDP und mit der CSU. Diese hatte mit dem Thema monatelang ihre Schwesterpartei CDU genervt, bis schließlich Frau Merkel auch in dieser Frage umfiel, wobei sie sich dennoch weiter sträubt, vor allem von der Mehrwertsteuer etwas abzurücken. Damit noch etwas Profil erkennbar bleiben sollte, stieg der wirtschaftspolitische Berater der sächsischen NPDLandtagsfraktion Per Lennart Aae in die Debatte und rief »Steuersenkung jetzt, aber selektiv!« (Internetseite der NPD, 28. 11. 2008). Unter selektiver Auswahl bei der Steuersenkung versteht Aae den Kampf gegen die massenhafte Einfuhr von Importwaren, die deutsche Produkte aus den Regalen der Supermärkte verdrängen, eine deutliche Senkung der Mehrwertsteuer, um damit heimische Hersteller und Dienstleister zu begünstigen. Die Kritik der EU-Wettbewerbshüter wegen des Verstoßes gegen da EU-Wettbewerbsrecht will Aae in Kauf nehmen. Dieses werde angesichts der Krise ohnehin bald auf der Müllhalde der Geschichte landen. Ergänzend erwägt er, die generelle Mehrwertsteuersenkung durch eine zusätzliche Senkung für Produkte und Dienstleistungen, die in einer Region in Deutschland hergestellt beziehungsweise von einheimischen Unternehmen angeboten und in derselben Region angeboten werden, noch zu erweitern. Hinter den Befürwortern einer umfangreichen Steuerentlastung der Bürger sind inzwischen auch die Spitzen der anderen rechtsextremen Partei, der DVU, zu finden, die vor allem das Zögern der Kanzlerin in dieser Frage kritisieren, wie zum Beispiel der Abgeordnete Wetzel aus Potsdam. Sie stellen sich an die Seite von Prof. Hans-Werner Sinn, dem Präsidenten des Münchener Ifo-Instituts, der den Solidaritätszuschlag abgeschafft haben will und fordern, die Effekte der Progression des Einkommensteuertarifs zu neutralisieren. Und hinsichtlich des »Konjunkturpakets II« der Bundesregierung schließt sich die NPD natürlich der Kritik an, dass auch mit diesem Programm keine wirkliche Entlastung für den Mittelstand und die Bürger erfolgt. Vor allem die mit dem Paket verbundene Zumutung für den Steuerzahler, nun auch die marode Commerzbank mit Milliarden zu sanieren, fordert die Empörung heraus. Die Erklärung, eine »wirkliche Steuer- reform« beziehungsweise die Absenkung der Mehrwertsteuer zurück auf 16 Prozent wären sinnvoller gewesen, die derzeitige Unternehmensbesteuerung vor allem zugunsten des Mittelstandes hätte nachgebessert werden müssen (Wirtschaftsredaktion der »Deutschen Stimme« in der Januar-Ausgabe 2009), erscheint jedenfalls wiederum nicht als originelles NPD-Produkt und verfehlt auch dieses Mal die beabsichtigte Wirkung. Spagat zwischen der Forderung nach Systemveränderung und dem Mühen um einen verstärkten sozialen Touch Die wiederholte Feststellung, so könne es nicht bleiben und so könne es nicht weitergehen, wie sie seit Ausbruch der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise überall bei der NPD zu finden ist, zwingt natürlich die Partei, ihr Vokabular zu durchforsten und nach der zugkräftigen Parole für den Ausweg zu suchen. Dabei zeigt sich, dass es gar nicht so leicht ist, ausgehend von der Formel »Systemwechsel« als Phrase jetzt konkreteren Inhalt hineinzubringen und dabei noch den Anschein einer Partei für die kleinen Leute zu wahren. Die Suche gerät unversehens in die erbitterte Schlammschlacht, die gegenwärtig um Kurs und Führungspersonen in der NPD ausgetragen wird. Roßmüller sucht weiter nach der »nationalen Alternative«, nach einem NPD-Finanzkonzept, das die Finanzmärkte regulieren könnte, Aae belässt es beim Wunsch nach einem »Paradigmenwechsel« und der Brandenburger NPD-Landesparteitag folgte den Floskeln vom Cottbuser Zasowk, hat von ihm die Parole »Dritter Weg – raumorientierte Volkswirtschaft jetzt!« in eine Resolution geschrieben. Grundsätzlich ist bekannt, dass Udo Voigt und andere unter dem »dritten Weg« einen zwischen Kapitalismus und »internationalen Sozialismus« verstehen – dass ihnen also ein »nationaler Sozialismus« vorschwebt. Freilich ist die Naziforderung nicht nur strafbewehrt, sondern gegenwärtig auch nicht massenwirksam an den Mann/die Frau zu bringen, deshalb braucht man also diverse Umschreibungen. Die NPD Brandenburg mochte auch aus diesem Grund nicht zu deutlich werden, beschränkte sich auf die Erweiterung der Forderungen nach Verstaatlichung der Banken, indem sie zusätzlich die Versicherungsgesellschaften verstaatlichen will. Außerdem verlangte sie eine nationale Prüfungskommission, die sich mit dem Aufbau einer mittelfristigen (!) Volkswirtschaft zu befassen habe, über eine Neuorientierung der Zinspoli- tik bzw. deren Abschaffung und »Ersatz durch menschenfreundlichere Finanzinstrumente« nachdenken solle. Den Widerspruch zwischen »mittelfristig« und »jetzt« nahm sie dabei nicht sonderlich ernst. Jürgen Gansel beobachtet richtig, dass die politische Klasse in der Bundesrepublik erkannt hat: »Es muss sich (politisch) etwas ändern, damit (wirtschaftlich) alles beim Alten bleibt. Weil die Deutschen wegen einer Wirtschaftskrise nie wieder die Systemfrage stellen sollen, überschlägt sich die etablierte Politik mit Vorschlägen zu einer Re-Regulierung des Kapitalmarktes und zur besseren Kontrolle von Bankvorständen« (Deutsche Stimme, Dezember 2008). Daraus möchte er den Spielraum gewinnen, die Forderung der NPD nach Unterordnung des Finanzkapitals unter die Wirtschaftsautorität des Staates wieder in die Debatte zu bringen und zwar damit, dass über unterschiedlichste Eigentumsformen zwischen Privat- und Gemeinwirtschaft im Rahmen einer »gemischten Wirtschaftsordnung« nachgedacht wird, der Begriff des Volksvermögens eingeworfen und eine neue »Bankenphilosophie« angestrebt wird. Man sieht, zu scharf möchte auch er nicht gleich den »Haien« und »Bossen« ans Leder. Aber dieses Zögern eben verträgt sich nicht mit dem radikalen Krawallflügel in der Neonaziszene, der lieber mit superrevolutionären Parolen auf die Straßen zieht, »Nationaler Sozialismus jetzt!« schreit und Bürgerschreck mit schwarzen Kapuzen treibt. Oder solche »autonome Nationalisten«, die auf ihren Websites wie »Media pro Patria« fordern: »Steh endlich auf gegen dieses System, das das Elend unseres Volkes verwaltet!« Davon grenzt sich Gansel ab und warnt davor, die Chancen zu verspielen, die sich jetzt auftun, die bisher richtungslose antikapitalistische Sehnsucht breiter Massen in »nationale Protestbahnen« zu lenken. Diese Vereinnahmung gelinge nur, » wenn die nationale Solidar- und Gerechtigkeitsbewegung vernünftig im Ton und zivil im Auftreten ist und jedes sektiererhafte oder pubertäre Bürgerschreck-Gehabe unterlässt. ‚Autonome Nationalisten‘ mit ihrem antifaschistischen Krawall – Habitus schwächen dabei nur die Position des nationalen Antikapitalismus, weil dessen normaldeutsche Adressaten massiv verschreckt werden.« (Internetseite der NPD, 3. 1. 2008) Die Bemühungen der Rechtsextremen, ihre Kapitalismus- und Globalisierungskritik mit mehr sozialem Touch zu versehen, sind nicht neu. Sie erlebten 15 mit den Anti-Hartz-Kampagnen einen deutlichen Aufschwung und zeitweise konnten sie auch auf diesen Zug aufspringen. Bestimmte Erfolge bei den Kommunalwahlen waren aber nur teilweise dem Image als soziale Protestparteien zuzurechnen. Ähnlich ist es in der Gegenwart. Natürlich setzt die NPD weiter auf »Hartz IV muss weg!«, aber es gelingt ihr nicht, im allgemeinen Strom der Anklagen gegen die Finanzmarktkrisen ihr soziales Profil zu schärfen. So bleibt es beim deklamatorischen »Stoppt die Finanzhaie – Schützt die Sparer!« Welche minimalen Forderungen für die kleinen Leute daraus erwachsen, haben wir weiter oben am Beispiel der Losungen zur Verstaatlichung der Banken gezeigt. Seither ist nicht viel dazu gekommen, sieht man von Forderungen nach Preiskontrollen, Krediten der öffentlichen Hand für die Versorgung der Haushalte und Hilfe für einkommensschwache Personen ab, die inzwischen auch zum Vokabular in der Regierung und der Fraktionen im Bundestag gehören. Dass auch der neue DVU-Vorsitzende Faust die Losung der Abschaffung von Hartz IV im Munde führt, macht ihn ebenfalls nicht interessanter. Kommt doch dahinter auch nur die Leerformel, man müsse ein neues Konzept zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verlangen. So bleibt die NPD bei ihrer ebenso stereotypen wie falschen Formel »Sozial geht nur national!« Gerade das trifft nicht zu, wie Dutzende Beispiele jeden Tag bestätigen, ob es sich um den Zusammenbruch in der Automobilindustrie oder beim Chiphersteller Quimonda, um die Entlassungen bei BASF oder in der Hafenwirtschaft handelt. In unserer Welt können soziale Problemlagen von Größenordnungen nur auf allen Ebenen, lokal, regional, national und international angegangen werden. Die NPD kommt nicht aus der Gefangenschaft ihres Nationalismus und Rassismus heraus. Ihr einziges »soziales« Rezept bleibt wieder die Forderung nach »Ausländerstop« und »Ausländerrückführung«. Aus einer fremdenfeindlichen Politik der Abschiebung und ethnischen Segregation soll die Rettung kommen. 16 Perspektiven und Alternativen Gerät die extreme Rechte so immer wieder an den Rand des Geschehens und nicht wie erhofft ins Zentrum der Aufmerksamkeit, erfasst sie in ihrer Enttäuschung und in ihrem eigenen krisengeschüttelten Dasein dann schließlich aufs Neue die Lust an der Provokation. Denn die Auseinandersetzung um Finanz- und Wirtschaftskrise bedeutet nicht, dass sie auf die Themen verzichten würde, mit denen sie es dann doch in die Spalten der Presse und in die Fernsehbilder schafft. Und entgegen Gansels Wünschen sind es eben doch die Krawallnazis, die mobil machen und Aufmerksamkeit erheischen. Sie bedienen den dumpfen Volkszorn mit ihren Rufen nach der Todesstrafe bei jedem Verbrechen von Kinderschändern, sie schreiten zum »Heldengedenken«, provozieren bei Veranstaltungen zu Ehren der Opfer faschistischer Judenvernichtung. Nazi Axel Reitz, ehemals selbsternannter NaziGauführer von Köln, holte schon mal die Zuchtrute als Weihnachtsmann heraus, um am Heiligabend gegen die Verbote seiner Hetzveranstaltungen zu protestieren. Und dass JLO, JN, NPD und die anderen Gruppierungen der extremen Rechten aus dem In- und Ausland alljährlich wieder zum »Trauermarsch« anlässlich des Tages der Bombardierung Dresdens 1945 rufen, hat schon rituellen Charakter. Oft genug zeigt sich dabei auch, dass die »Freien« und »Autonomen«, die sogenannten »Aktionsbüros« der Neonaziszene, die zu »biederen« NPD-Leute abhängen, selber die Führung an sich reißen. Noch hofft die extreme Rechte auf die »ganz große« Krise und noch tiefere gesellschaftliche Erschütterungen. Während Sascha Roßmüller das ganz dicke Ende herankommen sieht, rechnet Per Lennart Aae in der Januar-Ausgabe der »Deutschen Stimme« schon mal vor, wann nach dieser Krise die nächste kapitalistische Krise fällig wird, da diese Krisen jetzt in immer kürzeren Zeitabständen ausbrechen. Nach seiner Rechnung werde das jeweils etwa sieben Jahre dauern, weshalb er plant, jetzt erst einmal als Wahlkämpfer für die NPD in die krisengeschüttelte Region Oberlausitz zu gehen. Offen bleibt, ob das ganz »dicke Ende« erst einmal für die NPD als Partei kommt, die jetzt in ihrer eigenen Finanzkrise nicht nur mit dem Sammeln von Geldern für die zahlreichen Wahlkämpfe dieses Jahres sondern auch zur Begleichung von Strafen beschäftigt ist, die ihr die finanziellen »Vergehen« ihres ehemaligen Schatzmeisters Kemna eingebracht haben. Dieser »Experte«, der wohl bedeutende Summen aus NPDKassen »umgeleitet« hat, kann zumindest vorläufig die weltweiten Krisen von seinem Gefängnisfenster aus studieren. Die Linke wird allerdings in der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit achtzig Jahren nicht »auf dem Berg sitzend den Kampf der Tiger im Tal« – sprich den Streit der verschiedenen Flügel der extremen Rechten – teilnahmslos betrachten können. Die Linke steht nicht nur wegen der bevorstehenden Wahlen vor gewaltigen Herausforderungen. Sie sieht nicht nur die Zahlen und die Unbeholfenheit von Regierungen. Sie erkennt auch die großen Gefahren für die Demokratie. Bereits jetzt geht sie über die Zustandsbeschreibung und die Analyse von Ursachen hinaus. Sie zeichnet gleich am Jahresanfang 2009 Grundlinien für einen »wirtschaftspolitischen Neuanfang« vor. Zu diesen gehören Aussagen zur Stärkung der Binnenwirtschaft, die mit dem Vorschlag eines Zukunftsinvestitionsprogramms weit über die Vorstellungen der Regierung hinausreichen, die Forderungen nach höheren Einkommen, mehr Arbeitslosengeld und höheren Renten. Zu den Forderungen gehören auch eine Millionärssteuer und unabdingbar die Übernahme der Banken in öffentliche Kontrolle und die Organisierung des Bankgeschäfts als Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge. Und all das, so beschreibt es der Bundesausschuss der Partei »Die Linke« in seinem Beschluss vom 11. Januar 2009, erfordert eben mehr Demokratie, auch mehr Wirtschaftsdemokratie, Ausweitung von Elementen direkter Beteiligung der Bevölkerung und demokratische Kontrolle. Dr. sc. Roland Bach Finanzkrise und Antifaschismus Seit einigen Monaten hält die Finanzund Wirtschaftskrise die Welt in Atem. Konferenzen der politisch und ökonomisch Herrschenden sollen die Krise einer Lösung zuführen, oder aber einer solchen Lösung nahe kommen. Jeder Vernünftige hofft, dass dies gelingt, denn unübersehbar entstehen mit der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise qualitativ neue Gefahren für die Menschheit, zugleich aber auch verantwortungsvolle Aufgaben für alle Antifaschisten: Es muss verhindert werden, dass – es wäre dies nicht das erste Mal in der Geschichte – Auswege aus der Krise in Richtung Krieg und Faschisierung beschritten werden. Finanziell-strukturelle Maßnahmen allein genügen nicht, um das zu bewirken. Entscheidend sind veränderte Inhalte des Handelns von Menschen und Gemeinschaften in der Welt. Unterschiedliche Wertsetzungen erweisen erst dann ihren wahren humanen Wert. Aus diesem Grunde sind komplexe Strategien vonnöten, die Politik, Wirtschaft und Banken gemeinsam verfolgen. Im Ergebnis der Finanzkrise scheint diese schwierige Aufgabe in den Staaten und Regionen differenziert und ein Stück weit lösbar. Dazu können die Europäische Union und Deutschland dank ihres wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Potentials maßgeblich beitragen. Was folgt daraus für die Überlegungen von Antifaschisten? Aristoteles hielt es für vernünftig, »künstliche« Finanzwirtschaft wieder durch »natürliches« Wirtschaften zu ersetzen, aber wahrscheinlich, so schrieb er, sei es schon zu spät. Heute zwingt die globale Krise des Finanzsystems, dies neu zu bedenken und langfristige Entscheidungen und Strategien zu finden, die möglichst jeder Person Sicherheit gewähren und ihr Leben menschenwürdig wandeln. Dabei erfüllen Märkte, auch der Finanzmarkt, eine lebenswichtige Funktion. Sie zirkulieren das gesellschaftliche Gesamtprodukt und ermöglichen dessen erweiterte Reproduktion. Löst sich finanzieller Gewinn jedoch davon, wird dieser normale Zyklus in Ländern und Regionen der Welt empfindlich gestört. Denn die erweiterte ökonomische und soziale Reproduktion ist das Fundament jeder Kulturentwicklung. Ihre Konflikte erscheinen dann als »Kampf der Kulturen«. Die gegenwärtige Finanzkrise in der Welt war folglich vorherzusehen. Die Freiheit hemmungsloser Hochfinanz begann die demokratische Ordnung zu untergraben. Sicherheit und Existenz offener Gesellschaften wurden leichtfertig aufs Spiel gesetzt, unverantwortlichen politischen Folgen zum Trotz. Deswegen bedürfen Unternehmen der Realwirtschaft dringend Kredite. Es geht dabei weniger um das Schicksal kapitalistischer Unternehmen als um die millionenfachen Schicksale der dort Arbeitenden. Staatliche Maßnahmen sollen diesen Geldfluss fördern. Aber das Verhältnis von Realproduktion, Banken und Staat muss in der Welt generell neu geordnet werden. Veränderte Rechtsbestimmungen und Finanzstrukturen gewährleisten das noch nicht, jedenfalls nicht auf Dauer; auch keine Realproduktion, die lediglich gewinnorientiert bleibt. Nötig ist ein inhaltlicher Wandel aller Strukturen der Geldwirtschaft, die auf eine menschenwürdige ökonomische und soziale Reproduktion konzentriert werden müssten. Banken erfüllen dann ihren Zweck, wenn sie Investitionen für die arbeitsteilige Produktion von Gebrauchsgütern fördern und nicht mehr offene und strukturelle Gewalt über Menschen finanzieren. Erst auf diesem Weg werden Krisen des Weltfinanzsystems lösbar und neofaschistischen Gefahren begegnet. Denn das vielstimmige Rufen nach dem Staat ist janusköpfig. Starke Banken treiben Zentralisierung voran, vereinnahmen Unternehmen und wollen dafür staatliche Mittel, ohne sich größerem demokratischen Einfluss auszusetzen. So geschehen zum Beispiel in Großbritannien, wo staatliche Beteiligungen an maroden Kreditinstituten in Form von stimmrechtslosen Vorzugsaktien organisiert wurden. Dabei handelt es sich um Aktien, die dem Eigentümer zwar bevorzugte Rechte bei der Verteilung des Gewinns, der Dividende, gewähren, aber keinen Einfluss auf den Hauptversammlungen der Aktionäre ermöglichen. Auf solche Weise ist keine durchgreifende Initiative der Weltfinanz zu erkennen, ihre eigene Krise auch mit eigenen Mitteln zu beheben. Ferner besteht in der Bevölkerung berechtigter Vorbehalt gegen zu starke Eingriffe des Staates in persönliche Belange. Die Menschenschicksale des 20. Jahrhunderts zwingen dazu. Für eine sichere Zukunft müssen sie neu durchdacht werden, dann offenbart sich die Janusköpfigkeit jedes staatsmonopolistischen Dirigismus. den die Hochfinanz seit eh und je anstrebt. Sie erlangte erstmals um 1900 volle wirtschaftliche Souveränität, aber nun benötigte sie politische und geistig-kulturelle Macht. Geeignete Personen und Institutionen fanden sich. Die soziale Evolution erreichte weltweit ihre staatsmonopolistische Dimension. Im Ergebnis gelangen sprunghafte wissenschaftlich-technische Fortschritte. Unternehmerische Rekordgewinne wurden erreicht. Dafür stehen Weltkriege, der rassistische Nationalsozialismus und der Kalte Krieg gegen die andere Form von Staatsmonopolismus, den stalinistischen Kommunismus. Es besteht eine historische Eigendynamik von Staatsmonopolismen. Sie verdeutlicht, wie sehr ihnen sowohl Verbrechen, als auch eine gewisse Tendenz zu Sozialismus innewohnen. Damit ist die Gefahr staatsmonopolistischer »Experimente« generell gekennzeichnet. Ohne demokratische Selbstkontrolle gebiert jedes Gesellschaftssystem früher oder später Unmenschliches, schon durch Betrug und Administration über Menschenschicksale hinweg. Finanz-staatliche Monopolisierung bewirkt deshalb eine Selbstgefährdung jeder offenen Gesellschaft. Weiterblickende soziale Kräfte, auch konservative oder religiöse, erstreben daher seit Jahrzehnten ein immer wieder neu ausgewogenes Verhältnis von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt. So ist die aktuelle Krise des Weltfinanzsystems janusköpfig. Sie birgt Existenzgefährliches für Menschen und Gemeinschaften, aber zugleich eine unvergleichliche historische Chance: Sie öffnet Wege zu einer kulturellen, friedlichen Gestaltung der globalen Wirklichkeit des Menschen, ohne schrankenlose Herrschaft der Hochfinanz. Darin besteht der in der Welt heute realisierbare Schritt zu einer humanen Balance von Politik, Wirtschaft und Finanzsystem. Er bedarf der strategisch lenkenden Hand demokratischer Staaten und Gemeinschaften. Es liegt daher im Interesse eines jeden Antifaschismus im 21. Jahrhundert, nicht nur früheren Formen finanzoligarchischer Vorherrschaft zu widerstehen, sondern auch neue zu vereiteln, die internationale staatsmonopolistische Kooperation anstreben. 17 Konkret bedeutet das: 1. Handeln gegen alle faschistoiden Bestrebungen vor Ort, in Gemeinschaften und Staaten, besonders wenn sie persönliche Sicherheit gefährden. 2. Einlenken aller sozialen Kräfte und Staaten auf die humanen Ziele der UNO. 3. Gemeinsamer Kurs auf ökonomischökologische und soziale 18 Reproduktion der Nationen und Nationalitäten. 4. Entsprechende Investitionen der nationalen und transnationalen Finanzinstitutionen. 5. Gemeinschaftliche soziale Effektivität von Wissenschaften und Technologien. 5. Selbstbewusste Identität humaner Bildung und Kultur in allen Gruppen der Bevölkerung. Dies sind Brennpunkte globaler menschlicher Existenz. In ihnen werden sich die antifaschistischen Initiativen des 21. Jahrhunderts entwickeln und den Weg zu einer Ethik des freiwilligen Handelns für den Anderen bahnen. Professor Dr. Heinz Engelstädter Ralf Krämer, Mitglied des BundessprecherInnenrates des Sozialistischen Linken und der Programmkommission der Partei DIE LINKE, Dezember 2008.Diskussionsthesen: Bankrott des Neoliberalismus – Aufgaben der LINKEN 1. Krise des Kapitalismus In der aktuellen Krise verbinden sich eine Konjunkturkrise und eine Krise der internationalen Finanzmärkte zur schwersten kapitalistischen Weltwirtschaftskrise seit den Jahren ab 1929. Hintergrund ist der gewaltige Überschuss an Anlage suchendem Kapital, der zur Entwicklung gigantischer Spekulationsblasen führt, die irgendwann platzen müssen. Gleichzeitig spitzt sich die weltweite Klimakrise zu. Hunger und Armut nehmen zu. Das kapitalistische Wachstumsmodell insgesamt ist der Krise. Immer mehr Menschen sind skeptisch und stellen sich die Frage nach Alternativen zu dem zerstörerischen System des Kapitalismus, das sie in den letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt haben. Dennoch: Die Grundlagen der kapitalistischen Welt sind stabil und keine Entwicklungen erkennbar, sie zu überwinden: das Privateigentum an Produktionsmitteln, die ökonomischen Freiheiten des Kapitals in seinen verschiedenen Formen, der bürgerlichdemokratische Staat, die internationalen Institutionen des kapitalistischen Weltmarktes sowie die Europäische Union. Es verschieben sich Kräfteverhältnisse und es vollzieht sich ein Übergang zu einer neue Phase der Entwicklung der kapitalistischen Welt. 2. Neoliberalismus in der Krise: Herrschaft ohne Hegemonie Der ideologische und politische Bankrott des Neoliberalismus ist offenkundig. Doch der Neoliberalismus hat sich tief in den staatlichen Strukturen eingeschrieben und die kapitalorientierten Kräfte sitzen weiterhin fest im Sattel und an den Schalthebeln der Politik. Der Staat als »ideeller Gesamtkapitalist« wird für die Notrettung des Finanzsystems eingesetzt. Die Bundesregierung unternimmt weder auf der internationalen noch auf der nationalen Ebene ernsthafte Versuche einer demokratischen Neuordnung der Finanzmärkte. Auch das vorgelegte so genannten »Maßnahmenpaket Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstärkung« ist völlig unzureichend dimensioniert und soll überwiegend mit Steuer- und Kreditvergünstigungen Unternehmen fördern soll. Es ist nur zum kleinen Teil ein wirkliches Konjunkturprogramm, das drängende Defizite beseitigt, die Binnennachfrage und öffentliche Investitionen ausweitet und Arbeitsplätze schafft. Stattdessen wird mit der Politik der Staatsintervention die neoliberale Umverteilungspolitik von unten nach oben fortgesetzt. Dennoch: Die Bewusstseinslage weiter Teile der Bevölkerung und das Klima in den öffentlichen Diskussionen, die ideologischen und insoweit auch die politischen Kräfteverhältnisse sind heute wesentlich günstiger als Anfang des Jahrzehnts. Auch die neue Partei DIE LINKE hat die Bedingungen wesentlich verbessert. Es wird vorherrschend über Konjunkturprogramme, eine neue Weltfinanzordnung und einen internationalen »Green New Deal« diskutiert statt über Lohnkostensenkung und Sozialabbau. Jedenfalls bis zur Bundestagswahl 2009. 3. Perspektiven der Krise – autoritäre Krisenbewältigung oder sozialer und ökologischer zweiter »New Deal«? Wie es weitergeht, ist offen. Mit Schärfe und Dauer der ökonomischen Krise werden Arbeitslosigkeit und soziale Krise sich zuspitzen. Die Auseinandersetzungen werden sich verschärfen, ein Rückfall in autoritäre Krisenbewältigung zu Lasten der breiten Schichten der Bevölkerung ist möglich, aber keineswegs ausgemacht. Entscheidend ist der Druck aus den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sowie den öffentlichen Diskursen und von der LINKEN. Die Möglichkeiten, demokratische und soziale und ökologische Alternativen wirksam einzubringen und Schritte in diese Richtung durchzusetzen, sind durch die gegenwärtige Krise gewachsen. Es geht zunächst um die ideologische und materielle Auseinandersetzung für um eine neue, sozial kontrollierte Regulation des Kapitalismus der kommenden Zeit. Die ökonomischen Spielräume und sogar Notwendigkeiten für einen anderen Entwicklungspfad sind gegeben, auch aus Sicht von Teilen des Kapitals. Die in den letzten 25 Jahren wieder deutlich erhöhten Profitraten ermöglichen eine neue Phase lohngetriebener Akkumulation, bei der sinkende Rate durch steigende Masse des Profits kompensiert wird. In den USA wird der bisherige Pfad durch private Verschuldung getriebenen Wachstums so nicht dauerhaft fortgeführt werden können. Wenn die USA aber künftig nicht mehr wie bisher die weltweiten Waren- und Kapitalüberschüsse absorbieren können, müssen die gigantischen Überschüsse Deutschlands, Japans und Chinas reduziert werden. Dies geht nur mit einer stärker binnenwirtschaftlich orientierten Entwicklung, und dies erfordert eine stärkere Entwicklung der Masseneinkommen und der öffentlichen Nachfrage als in den vergangenen Dekaden. Auch die Notwendigkeit einer Umgestaltung der Energiebasis erkennen angesichts tendenziell steigender Energiepreise, problematischer Abhängigkeiten von ölexportierenden Ländern und des Klimawandels auch Teile der herrschenden Klassen in den kapitalistischen Zentren. Die Chiffre, auf die sich breite Kräfte für eine Umorientierung der Politik und einen neuen Entwicklungspfad beziehen, ist die eines zweiten, sozial-ökologischen oder grünen »New Deal«. Also eine neue Phase verstärkter staatlicher Investitionen, Regulierung und Mobilisierung von Ressourcen zur Überwindung der Wirtschaftskrise und Umsetzung öffentlicher Entwicklungsprojekte – konkret einer ökologischen Modernisierung der Infrastruktur und Produktionstechnologien und der Begrenzung und Minderung sozialer Spaltungen und Katastrophen. Bei einer solchen Entwicklung wären stärker als in der neoliberal geprägten Phase der letzten Jahrzehnte auch Interessen der Lohnabhängigen und ihre Organisationen in die Politik einbezogen. Aber der Kompromiss bliebe asymmetrisch, das Kapital bliebe dominant. Eine solche Perspektive wäre eine neue Entwicklungsphase des Kapitalismus, gezeichnet durch die entsprechenden Widersprüche und Kämpfe, Krisen und Probleme. 19 Die SozialistInnen und DIE LINKE hätten ein kritisches Verhältnis zu dieser neuen Entwicklungsphase, hätten unter neuen Bedingungen die Kämpfe für soziale Interessen und die sozialistische Überwindung dieser Gesellschaft zu führen. Es ist eine Frage der Kräfteverhältnisse, wie die Reaktion auf die Krise letztlich aussieht. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Es wird dafür eine entscheidende Rolle spielen, welchen Kurs die neuen Obama-Administration in den USA einschlagen wird. In Europa geht die Durchsetzung einer anderen Politik nur auf dem Wege der Durchsetzung einer anderen politischen Orientierung in Deutschland und möglichst vielen anderen Nationalstaaten in Europa. Und das erfordert, die Verantwortung und Veränderungsmöglichkeiten der nationalen Politik in den Mittelpunkt zu stellen. So lässt sich am wirksamsten Druck entwickeln, auch für eine andere Politik im internationalen Rahmen. 4. DIE LINKE: Reformismus und Antikapitalismus – realistisch und radikal Linke, sozialistische Strategie und Politik, jedenfalls wenn sie zugleich realistisch und radikal sein sollen, geht nicht darum, was man sich gerne wünschen würde, sondern wie in einer internationalen, gesellschaftlichen und politischen Situation möglichst viel an Veränderung im Sinne linker, sozialistischer Ziele durchgesetzt und zugleich die Bedingungen für weitergehende Veränderungen verbessert werden können. Die sozialistische Linke und die Partei DIE LINKE haben dabei besondere Aufgaben. Immer weiter zu drängen, aber sich dabei nicht von den realen Kämpfen zu entfernen, sondern die eigenen Kräfte darin positiv wirksam zu machen, auch wenn das, um was es dabei geht, hinter dem, was letztlich nötig wäre, weit zurück bleibt. Marx und Engels haben im Kommunistischen Manifest die Aufgabe beschrieben: »Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen. … [Sie] unterscheiden sich … dadurch, dass sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. [Sie] sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder.« »Sie kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung.« 20 Eine Haltung, die sich orientierte auf eine Zuspitzung der Krise des Kapitalismus und einen daraus resultierenden unmittelbaren Übergang zum Sozialismus, wäre illusionär, würde diese Aufgabe verfehlen und die LINKE isolieren. Genauso falsch wäre eine Haltung, die auf die weiter treibende Kritik und die kämpferische Vertretung der Interessen der ArbeiterInnenklasse verzichtete und sich nur noch als Teil eines breiten vermeintlichen rot-rot-grünen Reformlagers verstünde. DIE LINKE ist die Partei einer neuen Entwicklungsstufe der Arbeiterbewegung, in der die Spaltung nicht verläuft zwischen Reformismus und Antikapitalismus. Sondern zwischen eigenständiger kämpferischer Vertretung der Interessen der Mehrheit der Bevölkerung und sozialistischer Ziele oder der Einund Unterordnung dieser Interessen und Kämpfe unter ein illusorisches klassenübergreifendes Allgemeininteresse, dessen Inhalt letztlich im Kern dominiert wird durch die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und Interessen des Kapitals. DIE LINKE muss zugleich reformistisch und antikapitalistisch sein. Reformistisch nicht im Sinne einer Beschränkung der Forderungen und Perspektiven auf den Rahmen des kapitalistischen Systems und der Vermeidung des Kampfes gegen die Herrschaft des Kapitals. Diese Art von Reformismus hat in der Unterordnung der sozialdemokratischen Parteien unter den Neoliberalismus ein unrühmliches Ende gefunden. Sondern im Sinne eines entschiedenen Kampfes für soziale Reformen und gegen Herrschaftspositionen des Kapitals hier und jetzt und der Verbindung und Ausrichtung dieses Kampfes auf die Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau einer demokratischsozialistischen Gesellschaft. DIE LINKE muss Menschen zusammenfassen, die sich als links-reformistisch und die sich als revolutionär-sozialistisch verstehen. Sie muss zugleich Opposition gegen die Herrschaft und Politik des Kapitals sein und die Fähigkeit haben, als linker Flügel eines zu entwickelnden gesellschaftlich-politischen Blocks für einen sozial-ökologischen Umbau zu wirken. Also die Kräfte der Linken wirksam zu machen und mit einzubringen für die Überwindung des Neoliberalismus und die Durchsetzung und Linksverschiebung eines »New Deal«. Es geht darum, die Bedingungen zu schaffen für einen echten Politikwechsel, das ist etwas ganz anderes als jetzt auf Rot-Rot-Grün zu setzen. Es geht da- rum, real-politisch die Macht und Bewegungsmöglichkeiten des Kapitals einzuschränken – und zugleich die Mängel und Begrenztheiten einer solchen Politik zu kritisieren, für eine sozialistische Perspektive zu argumentieren und Kräfte und Druck für weitergehende Veränderungen zu mobilisieren. Die strategischen Aufgaben der Linken bestehen darin, in den konkreten Kämpfen zugleich den Kampf um die politischkulturelle Hegemonie zu führen und zur Bildung sozialer und politischer Bündnisse in diesem Sinne beizutragen. 5. Klassenformierung, soziale und politische Bündnisse bilden Bei der Betrachtung der Bedingungen und Möglichkeiten radikaler Reformpolitik geht es zentral um die Frage der Formierung der sozialen und politischen Kräfte gegen den Neoliberalismus und für Alternativen. Im Kern ist das die Frage der Klassenformierung und der Einschreibung politischer Orientierungen in diesen ständigen Prozess. Da geht es etwa um massenwirksame ideologische Auseinandersetzung und um Fragen der gewerkschaftlichen und politischen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisation und die realen Kämpfe und politischen Prozesse und ihre Wirkung auf die Beteiligten und die gesellschaftlichen Gruppen und Milieus. Das ist ein zentraler Punkt, weil er den Kern der politischen Handlungsmöglichkeiten der LINKEN betrifft. Auch politische Bildung und Theorieaneignung und -produktion ist dabei bedeutsam. Auch die Frage, was Projekte und Forderungen sind, die sinnvollerweise mit sozialistischer Perspektive jetzt betrieben werden sollten, erschließt sich dann erst wirklich. Weil ein entscheidendes Kriterium ist dabei immer, wie sich das auswirkt auf die Entwicklung von Hegemonie und Kräfteverhältnissen inkl. Organisationen und ihre Stärke und Kampfkraft. Dabei muss DIE LINKE eine aktive Rolle spielen und sich als möglichst starke Partei breiter, tendenziell klassenbewusster Teile der Lohnabhängigen und der gesellschaftlichen Linken entwickeln. Dabei sind insbesondere bestimmte Widersprüche in Richtung von Bündnisbildung zu bearbeiten und programmatisch wie in der Praxis zu berücksichtigen: - die sozialen und habituellen und einstellungsmäßigen Widersprüche zwischen verschiedenen Teilen der Arbeiterklasse (im weiten Sinne), insbesondere zwischen der Masse der abhängig Beschäftigten und den prekär Beschäftigten und den Erwerbslosen, sowie gegenüber prekären oder von Prekarität bedrohten Selbstständige und Kleinunternehmern, insbesondere im Osten; - die Widersprüche zwischen der »sozialen« Linken, deren gesellschaftliche Hauptstruktur die Gewerkschaften sind, und der sogenannten »kulturellen« Linken. Oder allgemeiner formuliert den Teilen der Linken, bei deren politischer Orientierung nicht die sozialen Fragen und Interessen der Lohnabhängigen (ausdrücklich einschließlich der sozialen Interessen der großen Mehrheit der Frauen) im Mittelpunkt stehen, sondern andere politische Anliegen und kulturelle Einstellungen. 6. Profil und Positionen der LINKEN Dabei sind ausschlaggebend für die Stärke der Linken (und speziell der LINKEN) und die realen kräftemäßigen Möglichkeiten radikaler Reformen und sozialistischer Umgestaltungen das soziale Profil und die Stärke der »sozialen Linken«. Also dass die soziale Frage klar und auch populär von links besetzt und dominiert wird und damit kein Raum für Rechte gelassen wird. Die Linke muss mithelfen mit kollektiven Kämpfen einen Pol der Hoffnung und der Solidarität gegen Verzweiflung, Rassismus und rechte Ideologien zu schaffen. Das Bewusstsein der Menschen ist widersprüchlich und es ist gut und notwendig, wenn dabei auch viele Menschen auf DIE LINKE orientiert werden und sie wählen, die dies trotz und nicht wegen unserer linken Positionen in anderen Feldern tun. Die weitergehende Aufgabe besteht hier dann darin, darauf aufbauend auch darüber hinausgehende linke Orientierungen zu vermitteln und verankern. Das linke soziale Profil muss daher immer im Mittelpunkt der gesellschaftpolitischen Position und der Wahlkämpfe der LINKEN stehen. Gesellschaftliche Emanzipation und sozialistische Perspektive gibt es nur mit und nie ohne die Unterstützung der Massen der Lohnabhängigen und ihrer sozialen Organisa- tionen, und die gibt es nur auf der Basis der Vertretung ihrer sozialen Interessen durch die Linke. Dazu gehört neben sozialpolitischen Alternativen verstärkt auch eine klare wirtschafts- und finanzpolitische Alternativposition. Dazu müssen selbstverständlich klare Positionen in anderen wichtigen Politikbereichen kommen. Aktuell muss DIE LINKE klare Forderungen für eine soziale Antikrisenpolitik formulieren und dafür mobilisieren: Ein massives Konjunktur- und Zukunftsinvestitionsprogramm, Millionärssteuer, Mindestlohn und Kampf gegen Lohndumping, Rücknahme von Hartz IV, von Rente mit 67 und Rentenkürzungen, demokratische Neuordnung der Finanzmärkte und der Weltwirtschafts- und Währungsordnung, öffentliche Kontrolle und Entmachtung der Banken und Konzerne, öffentliche Hilfen nur für Eigentumsanteile und mit sozialen und Beschäftigungsbedingungen, Stärkung des Sozialstaats und des öffentlichen Sektors statt Privatisierung. Dafür ist eine andere EU notwendig. Gleichzeitig sollte DIE LINKE ihre Kritik des Kapitalismus betonen und ihre Vorstellung einer demokratisch- sozialistischen Gesellschaft konkretisieren und Wege in die Diskussion bringen, wie eine solche Gesellschaft erreicht werden kann. 7. Politisches Handeln und Aktionsorientierung im SuperWahlkampfjahr 2009 Die LINKE muss sich entwickelnde Abwehrkämpfe gegen die Auswirkungen der Krise das Abwälzen der Folgen auf die Bevölkerung unterstützen. Die regierenden Parteien, insbesondere die SPD, haben kein Interesse an Abwehrkämpfen während der Wahlkämpfe. Es ist zu befürchten, dass die SPD versuchen wird, gewerkschaftliche Mobili6 sierungen vor den Wahlen zu verhindern oder klein zu halten. Umso wichtiger ist es und bietet Chancen, dass DIE LINKE hier mit klaren Positionen und Forderungen aktiv ist. 1. DIE LINKE sollte sich dafür einsetzen, dass gemeinsam mit anderen dezentrale Aktivitäten und Aktionstage für eine soziale Politik gegen die Krise und für einen grundlegenden Politikwechsel durchgeführt werden. Dazu gehört eine Aufklärungs-, Schulungsund Argumentationskampagne der LINKEN zur kapitalistischen Krise und unseren Alternativen, dazu ist geeignetes Material zu erstellen. Die Sozialistische Linke wird ihren Beitrag dazu leisten. Insbesondere werden wir die Sommerakademie der Sozialistischen Linken 2009 zu einem »Krisengipfel« machen. 2. Weitere gemeinsame Aktivitäten bis hin zu einer bundesweiten Demonstration, möglichst in Abstimmung mit Aktivitäten in anderen europäischen Ländern oder europäisch gemeinsame Aktionen, sind mit außerparlamentarischen Kräften zu diskutieren und dann umzusetzen. DIE LINKE sollte sich dafür einsetzen, dass dazu eine breit angelegte bundesweite Aktionskonferenz mit VertreterInnen von Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen und Organisationen sowie kritischen Wissenschaftlern durchgeführt wird bzw. sich an entsprechenden Bestrebungen und Konferenzen aktiv beteiligen. 3. Das bereits bestehende Bündnis gegen den Nato-Gipfel im April 2009 ist inhaltlich und in der Mobilisierung zu unterstützen. 4. Ebenso sind die Bildungsstreiks der Schülerinnen und Schüler und Studierenden im Mai/Juni zu unterstützen. Notwendig sind Bemühungen um die Bildung breiter Bündnisse und gemeinsam getragener Aktionen mit Gewerkschaften, Sozialverbänden, aktiven Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden und andere Kräften der sozialen Bewegungen. 5. Fortführung und Einbringen dieser Aktivitäten in die Wahlkämpfe, deren wichtigstes Resultat die Stärkung der LINKEN sein muss. 21 AKTUELLES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS Konstruktion und Krise der Männlichkeit(en) in der »Neuen Rechten« – Die Wochenzeitung »Junge Freiheit« Obwohl derzeit keine rechtsextreme Partei Wahlerfolge auf Bundesebene erringen kann oder gar mehrheitsfähig wäre, ist Rechtsextremismus ein gesellschaftlich ernst zu nehmendes Problem. Insbesondere die so genannte »Neue Rechte« ist keineswegs so isoliert, wie es oft erscheint. So sammeln sich hier neben Rechtsextremen auch Rechtskonservative und Nationalliberale aus den großen, etablierten Parteien. Die »Neue Rechte« fällt weniger durch rassistisch oder antisemitisch motivierte Straftaten auf, sondern findet sich in intellektuellen Organisationen wie dem »Institut für Staatspolitik‘«(IfS), in Burschenschaften zusammen oder gruppiert sich um ihre zahlreichen Publikationen. Die Wochenzeitung »Junge Freiheit« ist ohne Zweifel eine der bedeutendsten Publikationen der »Neuen Rechten« in Deutschland. Ihre Gefahr für ein auf Menschenrechte und Gleichheit orientiertes Zusammenleben von Menschen in einer pluralistischen Gesellschaft erwächst aus dem Versuch, Einfluss in der »Mitte der Gesellschaft« zu erlangen. So verfolgt die »Junge Freiheit« das Ziel, die »kulturelle Hegemonie« – gemäß der Konzeption des italienischen Marxisten Antonio Gramsci – und innerhalb gesellschaftlicher Diskurse die Deutungshoheit zu erobern. »Erst durch die Eroberung des kulturellen Überbaus, der die Mentalität und Wertewelt eines Volkes bestimmt, wird die Basis für den Angriff auf die eigentlich politische Sphäre geschaffen.«1, so Winfrid Knörzer in der »Jungen Freiheit«. Während die Rechtsextremismusforschung etliche Studien hervorbringt, die sowohl einzelne Organisationen als auch grundsätzliche Einstellungsmuster untersucht, gerät das Geschlecht in diesem Zusammenhang meist aus dem Blick. Erst seit den neunziger Jahren beleuchten feministisch orientierte Rechtsextremismusforscherinnen wie Birgit Rommelspacher oder Michaela Köttig Rolle und Einstellungen von Frauen im organisierten Rechtsextremismus. Hingegen gilt die Existenz von Männern in 22 der extremen Rechten als selbstverständlich und wird daher selten diskutiert. Eine der wenigen Untersuchungen, die sich mit Männlichkeit im Kontext von Rechtsextremismus befassen, ist die Arbeit von Oliver Geden zu »Männlichkeitskonstruktionen in der Freiheitlichen Partei Österreichs«.2 So sind Männlichkeitskonstruktionen ein wichtiger und doch oft vergessener konstitutiver Ideologiestrang. Männlichkeit(en) werden im Rechtsextremismus – und nicht nur dort – stets interdependent mit anderen Kategorien wie Klasse und Ethnizität verknüpft. Dementsprechend möchte ich im Folgenden die verschiedenen Stränge der Männlichkeitskonstruktion sowie die Inszenierung von Männlichkeit(en) in der »Neuen Rechten« zunächst allgemein und im folgenden am Beispiel der ‚Jungen Freiheit‘ analysieren. Es stellt sich die Frage: Wie wird Männlichkeit diskursiviert? Trotzdem kann nicht von einer »rechtsextremen Männlichkeit« gesprochen werden. Sowohl Konstruktion als auch »Krise der Männlichkeit« sind gesellschaftlich relevant. Sie konstituieren das soziale Leben und vergeschlechtlichen es. Die Thematisierung von Männlichkeit durch die »Neue Rechte« in der »Jungen Freiheit« ist daher nicht als isoliert, sondern im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sich immer neue Männlichkeiten ausformen und männliche Dominanz zunehmend delegitimiert wird, zu betrachten. Die Wochenzeitung »Junge Freiheit« als Organ der »Neuen Rechten« Die Geschichte der »Jungen Freiheit« Als im Juni 1986 die erste Ausgabe der »Jungen Freiheit« mit einer Auflage von 400 Exemplaren als Publikation der Jugendorganisation der »Freiheitlichen Volkspartei« erscheint, weiß noch niemand, welche Bedeutung die Zeitung für die »Neue Rechte« in der Bundesrepublik Deutschland erlangen soll. Seit 1990 im gesamten Bundesgebiet im Zeitschriftenhandel erhältlich, erreicht sie eine Auflage von bis zu 35.000 Exemplaren im Jahr 1991. Die im Sommer 1990 gegründete »Junge Freiheit Verlag GmbH« wird 1994 in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt, an der Chefredakteur Dieter Stein bald 71 Prozent der Anteile hält. Neben der »Junge Freiheit Verlag GmbH & Co.« schart sich in dem bereits 1988 gegründeten und 1991 umbenannten gemeinnützigen »Verein zur Förderung der Toleranz auf dem Gebiet des Völkerverständigungsgedankens bei allen Deutschen Unitas Germanica e.V.« ein Kreis von Unterstützer/innen. Der Verein macht 1991 unter anderem mit einer Kampagne »Freiheit für Königsberg‘« auf sich aufmerksam. Nach einem geschichtsrevisionistischen Artikel von Armin Mohler entbrennt ein Richtungsstreit in der ‚Jungen Freiheit‘, in dessen Folge der heutige NPD-Politiker und ehemalige Gymnasiallehrer Andreas Molau sowie Götz Meidinger, bis dahin Geschäftsführer des Fördervereins, aus der Redaktion geworfen werden. Während die ‚Junge Freiheit‘ ihren Redaktionssitz 1995 in das wiedervereinigte Berlin verlegt, erscheint »in Österreich (…) eine eigene Ausgabe der JF unter Leitung des FPÖ-Politikers und Publizisten Andreas Mölzer«3. Im Jahr 1996 sucht die »Junge Freiheit« erstmalig die juristische Auseinandersetzung mit der Verfassungsschutzbehörde des Bundeslandes NordrheinWestfalen. Die Verfassungsschutzämter von Nordrhein-Westfalen und BadenWürttemberg erwähnen zu dieser Zeit die Wochenzeitung in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten und attestieren ihr eine Nähe zum Rechtsextremismus. Nachdem die »Junge Freiheit« vor Gericht zunächst scheitert, gibt das Bundesverfassungsgericht der Klage im Mai 2005 statt. Seitdem darf die Zeitung nicht mehr in den Verfassungsschutzberichten genannt werden. Trotzdem fühlt sie sich stetig diskriminiert: So wendet sie sich 2001 mit einem »Appell für die Pressefreiheit« gegen die Kündigung ihrer Konten bei der Postbank und opponiert 2006 gegen ihren Ausschluss von der Leipziger Buchmesse. Heute hat die wöchentlich erscheinende »Junge Freiheit« nach eigenen Angaben eine Auflage von 18.500 Exemplaren. Nach realistischen Einschätzungen liegt die Auflage aber sehr viel niedriger, nämlich bei 10.000 bis 12.000.4 Die Ideologie der »Jungen Freiheit« Als eines der bedeutendsten Blätter der intellektuellen »Neuen Rechten« bewegt sich die »Junge Freiheit« in »Grauzonen zwischen klar verfassungsfeindlichem Rechtsextremismus und im Sinne der freiheitlichen demokratischen Rechtsordnung (FDGO) grenzwertigem Rechtsradikalismus«5 . So wird der Zeitung die Aufgabe der Vermittlerin zwischen einem demokratischen Konservativismus und einem anti-demokratischen Rechtsextremismus zuteil. Bei dieser Gegenüberstellung ist jedoch anzumerken, dass die Grenzen zwischen einem sich demokratisch gebenden Konservativismus und dem Rechtsextremismus durchaus fließend sind.6 Die »Junge Freiheit« sieht sich in der Tradition der so genannten Konservativen Revolution, die sich in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts aus der strikten Ablehnung der Weimarer Republik manifestierte. Aufgrund der Delegitimierung des Nationalsozialismus nach 1945 wurde ein Rekurs auf die weniger NS-belastet scheinende »Konservative Revolution« nötig. So arbeitet die »Junge Freiheit« an der »Wiederbelebung der konservativ-revolutionären Ideen (…), denen (…) nicht das Stigma des Nationalsozialismus anhaftete«7. Nichtsdestotrotz gelten die Vertreter/innen der »Konservativen Revolution« heute als »ideologische Wegbereiter des Nationalsozialismus«8. Hier wird deutlich, dass die Bezeichnung »Neue Rechte« zu kurz greift: »Einerseits distanziert sich auch die JF von der Alten Rechten, sofern diese einer Rehabilitation des Hitlerfaschismus huldigt, andererseits begibt die sich jung und modern gebende Wochenzeitung für Politik und Kultur, mit ihrem Rekurs auf die so genannte ›Konservative Revolution‹, eine heterogene ideologische Strömung der Weimarer Republik von rechtsintellektuellen, präfaschistischen Zirkeln und Denkern, in eine 200 Jahre alte völkisch-nationalistische Tradition. In diesem Sinne ist die JF eher ein Projekt einer ›jungen Alten Rechten‹«.9 Die Vertreter/innen der »Konservativen Revolution« unterteilen sich in zwei Flügel: Dabei beruft sich der in der »Jungen Freiheit« hegemoniale jungkonservative Flügel unter anderem auf die Theoretiker Arthur Moeller van den Bruck und Edgar Julius Jung. Jung forderte eine hierarchische Gesellschaft mit einem Führer statt demokratischer Wahlen. Liberalismus und Menschenrechte lehnte er ab, da diese angeblich »zum Kampfe aller gegen alle, zum Zerfall des Ganzen«10 führen würden. Als weniger anschlussfähig ins bürgerliche Lager gilt die nationalrevolutionäre Strömung der »Konservativen Revolution«. Begründet unter anderem durch das Grundsatzpapier der »Aktion Neue Rechte« (ANR), von Henning Eichberg 1972 verfasst, verbindet der nationalrevolutionäre Flügel antiegalitäre mit sozialistisch-revolutionären Ideen. Heute beruft sich die »Nationaldemokratische Partei Deutschlands« (NPD) auf diese Strömung. Durch das Aufgreifen der »Sozialen Frage« sowie originär von links besetzter Themen verfolgt besonders dieser nationalrevolutionäre Flügel eine »Querfront‘-Strategie«11 und versucht somit eine intellektuelle »nationale Linke« zu etablieren. So konnte die »Junge Freiheit« mehrfach Personen als Interviewpartner/innen oder Autor/innen für sich gewinnen, die sich eigentlich als links verstehen oder aus der Linken kommen. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist der Politiker der Grünen und ehemalige Anführer der Studentenrevolte in Paris 1968, Daniel Cohn-Bendit. Die »Neue Rechte« fordert die Abkehr von Postmaterialismus, Liberalismus, Parlamentarismus und demokratischem Pluralismus. Stattdessen wird eine völkisch homogene Nation mit einem starken Staat propagiert. So habe jedes Volk Anspruch auf ein eigenes Territorium. Gleichzeitig sei Expansion, also die Eroberung fremder Gebiete durch Kriege, völlig natürlich. Eine Naturalisierung des Volkes findet auch durch die Einführung des Begriffes »Volkskörper« statt. In der »Jungen Freiheit« vertreten einzelne Autor/innen ebenso einen BioRegionalismus, mit dem völkische Ideologeme in ökologische Diskurse aus der Alternativ-Bewegung und esoterischen Kreisen eingebettet werden sollen. Eines der wichtigsten rechtsextremen Ideologieelemente, das in der »Jungen Freiheit« Publizität findet, ist der Rassismus. Die Autor/innen der ‚Jungen Freiheit‘ bevorzugen das völkische Abstammungsrecht »ius sanguinis« (lat.: Recht des Blutes) und lehnen die Idee der »multikulturellen Gesellschaft« als widernatürlich ab. Einen offen biologistisch argumentierenden Rassismus wird man in der »Jungen Freiheit« dennoch nur selten finden. So tarnt er sich gelegentlich als Wohlstandschauvinismus, der Glauben macht, es drohe eine »Einwanderungsflut« aus den Ländern der so genannten »Dritten Welt«, die den eigenen Reichtum gefährde. Statt eines biologisierenden Rassismus favorisiert die »Junge Freiheit« eine kulturalisierende Variante, die sich nicht mehr auf angebliche »Rassen« beruft, sondern die Kultur als das Ethnien trennende Element benennt. Einer der bedeutendsten Theoretiker dieses Ethnopluralismus ist der französische Rechtsextremist Alain de Benoist, der selbst regelmäßiger Autor der »Jungen Freiheit« ist. De Benoist geht zwar durchaus davon aus, dass es »Rassen« gebe, spricht ihnen aber das hierachisierende Element ab. Vielmehr beruft er sich auf die »natürliche Differenz der Identitäten«12. Anders als viele Vertreter/innen der »Neuen Rechten« erkennt de Benoist die Realität »multikultureller Gesellschaften« an, fordert jedoch die strikte Trennung der Kulturen und Identitäten und strebt somit ein segregierendes Apartheidsmodell an. Ein anderer »Junge Freiheit‘«-Autor erklärt: »Weit entfernt davon, tolerant zu sein, ist die Forderung einer multikulturellen Gesellschaft vielmehr eine Herabwürdigung des Menschen als Ideenträger, denn die Kultur ist kein Gemischtwarenladen.«13 Ein ungebrochen positiver Bezug auf die deutsche Geschichte ist aufgrund der Verbrechen des Nationalsozialismus unmöglich und so gilt: »Wer, wie die JF, von einem starken (totalen) Staat, der neuen Volksgemeinschaft, einer expansiven Außenpolitik, einer schlagkräftigen Armee und einer glorreichen Vergangenheit träumt, wer gleichzeitig Liberalismus, Pazifismus und multikulturelle Gesellschaft verdammt, der wird zwangsläufig von der jüngeren deutschen Geschichte eingeholt.«14 So ist der ‚Neuen Rechten‘ ein Geschichtsrevisionismus immanent, der in der Relativierung und Negierung der nationalsozialistischen Verbrechen bis hin zur Holocaust-Leugnung mündet. Die Kriegsschuld des NS-Regimes wird in Frage gestellt. Folglich wird die Niederlage des NS-Regimes auch nicht als Befreiung, sondern als »Untergang« gesehen. Logischer Schluss dieses .Geschichtsbildes und des völkischen Nationalismus ist die revanchistische Forderung nach Rückgabe der ehemaligen deutschen Gebiete. Gerade hier bieten sich Anknüpfungspunkte zwischen rechtsextremem und konservativem Lager und so äußern sich auch Vertreter/ innen der beiden christdemokratischen Parteien zu der Thematik in der »Jungen Freiheit«. Mit der Rückforderung ehemals deutscher Territorien geht ein Bild von einem 23 Deutschland als Zentrum Mitteleuropas einher, mit dem man sich vom Westen abgrenzen will. Man strebt eine eigenständige Außenpolitik unabhängig von NATO und »Europäischer Union‘« an und wünscht sich letztlich eine völlige Neuordnung Europas. Es solle ein »pangermanisches Reich« entstehen, das sich über ganz Mitteleuropa erstreckt. So erfüllen die revanchistischen Bestrebungen in der Hauptsache den Zweck, die Staaten, über deren Gebiete man Ansprüche erhebt, beispielsweise Tschechien und Polen, zu destabilisieren. Jahrelang wurde die »Neue Rechte« und damit auch ihr wichtigstes Mitteilungsorgan »Junge Freiheit« von Politik, Medien und der demokratisch orientierten Zivilgesellschaft ignoriert beziehungsweise unterschätzt. Der »Jungen Freiheit« wurden intellektuelle Fähigkeiten abgesprochen. Man zweifelte ihre Anschlussfähigkeit an die »Mitte der Gesellschaft« an. Dabei gelingt es dem Blatt trotz oft eindeutig rechtsextremer Inhalte beispielsweise »durch Interviews mit Prominenten Reputierlichkeiten herzustellen und damit auch von Christdemokraten akzeptiert zu werden«15. So konnte die neurechte Wochenzeitung mehrfach Personen für Interviews gewinnen, die eine Nähe zu Rechtsextremismus oder der »Neuen Rechten« weit von sich weisen würden. Während also andere Publikationen wie »Nation & Europa« oder »Criticón« vornehmlich innerhalb der »Neuen Rechten« wirken und ihr ein theoretisches Fundament bieten, versucht die »Junge Freiheit« Breitenwirkung weit über den Kreis dieser »Neuen Rechten« hinaus zu erlangen und auch das christlich-konservative sowie nationalliberale Umfeld zu erreichen. und in den 60er Jahren des vorangegangenen Jahrhunderts geboren. Einige Redakteur/innen sind beziehungsweise waren Mitglieder in rechtsextremen Parteien wie zum Beispiel der derzeit in der Bedeutungslosigkeit versinkenden Partei »Die Republikaner« (REP). Andere lassen sich im rechten Flügel der »Christlich-Demokratischen Union Deutschlands« (CDU) verorten. Ein nicht geringer Teil der männlichen Redakteure war früher in einer Studentenverbindung aktiv. Besonderes Augenmerk gilt hier den oft rechtsextremen Burschenschaften des Dachverbandes »Deutsche Burschenschaft« (DB). Einige Redaktionsmitglieder wiederum fühlen sich den Vertriebenenverbänden verbunden oder sind dem nationalrevolutionären Spektrum zuzuordnen. Michael Paulwitz, seit einigen Jahren regelmäßiger Autor der «Jungen Freiheit«, gehörte in der Vergangenheit dem rechtsextremen »Witikobund« an und war Mitglied in der Burschenschaft »Danubia« in München. Es ist davon auszugehen, dass die Leser/innenschaft als ebenso heterogen eingeschätzt werden kann. Nach Felix Krebs liegt das Durchschnittsalter der Leser/innenschaft der »Jungen Freiheit« bei 33 Jahren. »Der durchschnittliche JF-Leser ist jung, männlich, verheiratet und studiert.«18 Essentieller Bestandteil der Strukturen der »Jungen Freiheit« sind die JF-Leserkreise, die in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Diskussionsabende mit bekannten Rechtsextremen abhalten. Aufgrund der teilweise allzu offensichtlichen Nähe dieser Leserkreise zum Rechtsextremismus musste sich die »Junge Freiheit« vor kurzem von diesen distanzieren. Protagonist/innen und Leser/innen der »Jungen Freiheit« In der rechtsextremen Publizistik schart sich ein Autor/innenstamm, der verhältnismäßig wenig fluktuiert. Trotz einer ansehnlichen Anzahl von Zeitschriften finden sich immer die selben Namen wieder. »Ultrarechte Publizisten nutzen die ›Zentralorgane‹ gern, um ihre eigene Bekanntnheit und damit auch ihren Einfluss zu erhöhen.«16 Nicht so in der »Jungen Freiheit«: Zum Einen versucht die Zeitung, »ein eigenes Redaktionsteam aus noch unbekannten, in der Regel sehr jungen Mitarbeitern aufzubauen«17 Zum Anderen wird eine allzu große Nähe zu »vorbelasteten« Autor/innen vermieden. In der »Jungen Freiheit« finden sich kaum weibliche Redakteure. Die meisten der Redakteur/innen sind jung Männlichkeit(en) in der Forschung Hegemoniale Männlichkeit Nach Raewyn Connell, einer transsexuellen australischen Soziologin, die zuvor Robert W. Connell hieß, existieren in menschlichen Gesellschaften verschiedene Formen von Männlichkeit. Es gäbe keine »männliche Uniformität«19, wie Michael Meuser im Rückgriff auf Connell feststellt. Vielmehr kann von »einer Hierarchie von Autoritäten innerhalb der dominanten Genusgruppe«20 ausgegangen werden. Erneut Meuser: »Die homosoziale Männergemeinschaft agiert gleichsam als Konstruktion der hierarchisch strukturierten Geschlechterdifferenz und produziert im gleichen Zuge Hierarchien der Männer untereinander.«21 Einer so genannten hegemonialen Männlichkeit werden untergeordnete – also homosexuelle –, 24 marginalisierte – beispielsweise migrantische oder »schwarze« – sowie komplizenhafte Männlichkeiten gegenübergestellt. So konstituiert sich hegemoniale Männlichkeit nicht nur in Relation zu Frauen, sondern gleichermaßen im Verhältnis zu anderen Formen von Männlichkeit: »Hegemonic Masculinity is always constructed in relation to various subordinated masculinities as well as in relation to women.«.22 Dabei wird das Konzept der hegemonialen Männlichkeit nicht als individuelle Eigenschaft, sondern als Resultat sozialen Handelns, des »Doing Masculinity«, verstanden. Die hegemoniale Männlichkeit dient der Aufrechterhaltung der gegebenen Geschlechterordnung sowie der Reproduktion der Machtrelationen. »Hegemoniale Praxis wird durch die soziale Praxis der gesellschaftlichen Elite bzw. gesellschaftlicher Eliten definiert, also durch die Praxis einer zahlenmäßigen Minderheit der Bevölkerung(…).«23 Hierbei wird der Hegemonie-Begriff des italienischen Marxisten Antonio Gramsci angewandt: Demnach sei Hegemonie die Fähigkeit, eigene Interessen als gesellschaftliche Allgemeininteressen zu definieren und umzusetzen. Ohne politische und kulturelle Macht sowie ökonomische Teilhabe, erlangt man auch keine Hegemonie: »Hegemoniale Männlichkeit ist an gesellschaftliche Macht und Herrschaft gebunden.«24 Zwar kann die hegemoniale Männlichkeit nur von wenigen verkörpert werden; trotzdem hat sie normativen Charakter und findet so etliche Unterstützer. Die komplizenhafte Männlichkeit strebt so nach einer Teilhabe an der hegemonialen Männlichkeit. Auch »die ernsten Spiele des Wettbewerbs«25, die Männer untereinander austragen, dienen keineswegs der Trennung der Männer, sondern vielmehr der Vergemeinschaftung: »Wettbewerb und Solidarität gehören untrennbar zusammen.«26 Die Kategorien Ethnizität und Männlichkeit sind vielfältig verschränkt, zum Beispiel im Verhältnis zwischen marginalisierter und hegemonialer Männlichkeit. Obwohl marginalisierte Männlichkeiten in ihrem Habitus nach Hegemonie streben, werden sie den »Standards der Perfomanz hegemonialer Männlichkeit«27 der so genannten Mehrheitsgesellschaft nicht gerecht. Das »generative Prinzip« ist beiden jedoch gleich.28 So kann ein Mann gleichzeitig innerhalb der eigenen Statusgruppe – zum Beispiel die türkischsprachige »Community« in Deutschland – die hegemoniale Männlichkeit verkörpern, während außerhalb dieser Gruppe eine subordinierte Position einnimmt. Connell geht davon aus, dass hegemoniale Männlichkeit nicht statisch, sondern veränderbar sei, da sie sich durch soziales Handeln manifestiert. Von einer »Pluralisierung hegemonialer Männlichkeiten«29 in modernen Gesellschaften spricht gar Meuser. Trotzdem gebe es keine beliebige Anzahl solcher hegemonialen Männlichkeiten und nicht jede soziale Gruppe bildet eine entsprechende Männlichkeit aus. Mithilfe des Konzepts der hegemonialen Männlichkeit von Connell kann gezeigt werden, dass die »Neue Rechte« einer hegemonialen Männlichkeit zugerechnet werden muss beziehungsweise nach einer solchen strebt. »Krise der Männlichkeit« Die »Neue Rechte« bemängelt, Männlichkeit sei in der postmodernen Demokratie von Dekadenz und Überfluss bedroht. Egoismus und Drang zu Selbstverwirklichung würden zu Geschichtsvergessenheit führen und jegliches nationale Zusammengehörigkeitsgefühl zerstören: »Selbstverwirklichung als Chiffre für Konsum, Spaß und Geschichtsvergessenheit wird darin zum antinationalen Prinzip.«30 Soldatische Tugenden wie Selbstbeherrschung, Disziplin, Kontrolle und Härte seien durch Pflichtvergessenheit und Nachgiebigkeit bedroht. Es scheint, als befände sich Männlichkeit in der »Neuen Rechten« in einer permanenten Krise. Die plakative Umschreibung »Krise der Männlichkeit« trifft Connell zufolge gar nicht zu, schließlich ist Männlichkeit kein System, sondern eine Konfiguration, die durch soziale Praxis hergestellt wird. Männlichkeit wird jedoch stetig erschüttert und transformiert. Statt von einer »Krise der Männlichkeit« kann von einer Krise der modernen Geschlechterordnung geredet werden. »Eine solche Krisentendenz wird immer auch Auswirkungen auf die Männlichkeiten haben.«31 Die Geschlechterordnung konstituiert sich auf verschiedenen strukturellen Ebenen, die untersucht werden müssen, will man die Krisenanfälligkeit näher beleuchten: Auf der Ebene der Machtbeziehungen entstehen »Konflikte um Legitmationsstrategien«32 zwischen Männern, infolge des Zusammenbruchs der »Legitimation der patriarchalischen Macht«33. Auch die Produktionsbeziehungen sind bis heute patriarchalisch organisiert. Connell spricht an anderer Stelle auch von der »Logik des vergeschlechtlichten Akkumulationsprozesses im industriellen Kapitalismus«34. Als »Alternaive innerhalb des heterose- xuellen Systems«35 etabliert sich zunehmend Homosexualität auf der Ebene der emotionalen Bindungsstrukturen: »Die enorme Zunahme tatsächlicher Macht von Männern in den Industrienationen brachte(…)auch eine zunehmende Krisenanfälligkeit der Geschlechterordnung mit sich.«36 Die Krisenanfälligkeit des Geschlechterarrangements findet inzwischen bei mehr und mehr Männern in den westlichen Industrienationen Aufmerksamkeit, so Connell. Viele Männer hätten »das offensichtlich weit verbreitete Gefühl unkontrollierter Veränderungen und Erschütterungen des Geschlechterverhältnisses«37 Eine stabile legitimierte Männlichkeit wird nicht oder nur implizit benannt. Sobald sich die Geschlechterordnung aber in der Krise befindet, findet eine Thematisierung von Männlichkeit(en) statt. Bisher allerdings bildeten Männer keine Interessengemeinschaft, um bestimmte Ziele durchzusetzen, so Connell, der gleichzeitig konstatiert: »Aber soweit diese Männer ein gemeinsames Interesse teilen, als Folge der ungerechten Verteilung der Ressourcen in der Welt, aber auch innerhalb der wohlhabenden Nationen, werden sie sich utopischen Veränderungen widersetzen und den Status Quo verteidigen.«38 Dass sich die Geschlechterordnung wandelt, hat man auch in der neurechten »Jungen Freiheit‘« festgestellt: »Die Rolle des Mannes in der westlichen Welt verändert sich rapide, und Eingeweihte Fragen sich: Hat das weibliche Zeitalter nicht schon längst begonnen?«39 Hier beklagt man die zunehmende Unterdrückung von Männern durch Frauen und führt Beispiele an, in denen Männer Opfer häuslicher Gewalt werden. Trotzdem gäbe es in der Bundesrepublik keine Einrichtungen, in denen solche Männer Hilfe suchen könnten. Als positives Gegenbeispiel wird die von der zwischen 2000 und 2002 regierenden »Freiheitlichen Partei Österreichs« (FPÖ) eingeführte und im »Ministerium für soziale Sicherheit« angesiedelte »Männerpolitische Grundsatzabteilung« angeführt.40. Auch in Bildung und Arbeitsleben seien Jungen und Männer zunehmend benachteiligt, so die »Junge Freiheit«: Mädchen und Frauen hätten oft die besseren Abschlüsse und Frauen würden in »männliche« Berufe drängen, während Männer in ursprünglich »weibliche« Sparten verdrängt würden. Nicht zuletzt könnten Männer die in sie gestellten und angeblich überzogenen Erwartungen nicht mehr erfüllen: Der Mann solle ein umsorgender Vater sein, der gleichzeitig viel verdiene. So schlussfolgert man in der neurechten Wochenzeitung, dass der Mann ein »Auslaufmodell der Evolution«41 sei. Die ‚Neue Rechte‘ und die Konstruktion von Männlichkeit(en) Der Mann als Soldat und »Held« In der Darstellung des Mannes als soldatischer Held tritt die dichotome Einteilung der Geschlechter und die geschlechtsspezifische Zuschreibung bestimmter Charaktereigenschaften besonders zu Tage. »Dem Mann kommt die kriegerisch und wehrhaft definierte Staatsmoral zu, der Frau die schützende und sorgende Familienmoral«42, schreibt Gabriele Kämper in ihrer kritischen Analyse des neurechten Sammelbands »Die selbstbewusste Nation«. Während das Weibliche nach »innen«, ins Private, gerichtet ist, kehrt sich das Männliche nach »außen«. Da sich diese Symbolik auch in den Geschlechtsorganen widerspiegele, scheint die Einteilung natürlich. Während dem Mann das Soldatische zuerkannt wird, gilt der Pazifismus als weiblich. Die Inszenierung von Männlichkeit als soldatisch und heldenhaft ist der Ideologie des Rechtsextremismus im Algemeinen sowie der »Neuen Rechten« im Besonderen immanent und zeigt sich unter anderem in der Realität von Burschenschaften und ähnlichen Männerbünden: Das Soldatische steht im Vordergrund und wird neben unzähligen Ritualen, Initiationsriten und Duellierungen durch die Unifomierung dargestellt. Trotzdem kann von einer von anderen Männlichkeiten abgetrennten und devianten rechtsextremen Männlichkeit keine Rede sein. Seit Jahrhunderten sind Armeen Bestandteil von Männlichkeiten. Erst die »Maschine Truppe«43 verleiht »dem einzelnen Soldaten einen neuen Körperzusammenhang«44, mit dem Ganzheit, Geschlossenheit, Stärke und Exaktheit symbolisiert werden kann. In den USA oder Australien ist das Tragen von Waffen ein von der Verfassung verbrieftes Recht. Die Beschneidung dieses Rechts stellt einen Angriff auf die hegemoniale Männlichkeit dar. Die Figur des männlichen Helden ist aus Literatur und Film kaum wegzudenken: »Die Figur des Helden nimmt in der westlichen Bilderwelt der Männlichkeit eine zentrale Stellung ein.«45 So lassen sich am soldatischen Mann »die ernsten Spiele des Wettbewerbs«46 aufzeigen, in denen der männliche Habitus geformt wird. Der Mann und die Nation Die Verteidigung des Vaterlandes ge25 hört untrennbar zu Männlichkeit(en) im Rechtsextremismus. So ist die Stärke von Männlichkeit(en) im Rechtsextremismus stets abhängig von der Stärke und Souveränität der Nation. Ähnlich wie das Volk im so genannten »Volkskörper« biologisiert wird, findet auch mit der Nation eine Naturalisierung und Vergeschlechtlichung statt. Begriffe wie Potenz und Kraft werden demzufolge regelmäßig in rechtsextremen Texten in Zusammenhang mit der Nation genannt. Die vermeintliche Bedrohung der Nation durch andere Nationen, durch Globalisierungseffekte, durch Einwanderung et cetera wird von rechtsextremen Männern als unmittelbare Gefährdung der »eigenen Männlichkeit sowie deren Dominanz wahrgenommen. Nur wenn er sich auf seine eigene »Rasse«, seine kulturellen Werte und Traditionen zurück besinne, sei der Mann und damit die Nation zu retten. Der Mann wird in einem »Kampf der Kulturen« – hier wird wiederum mit dem Begriff »Kampf«‚ Rückgriff auf militärische Metaphorik genommen – zum Schlüssel bei der Bewahrung des »Abendlandes« vor dem Untergang. Tragende Säule sind hierbei insbesondere junge Männer, die als »Söhne« des Vaterlandes, die Zukunft gestalten sollen: »Dass die jungen Männer die Zukunfts-Macher einer Nation sind, schlicht die Anzahl der Söhne etwas über die Dynamik eines Volkes aussagt, ist eine im kinderarmen Deutschland verdrängte Wahrheit.«47 Letztlich bedarf es – wie bereits beschrieben – des männlichen Helden. Während die Söhne aktiv sind und Zukunft »machen«, spielen die Töchter keinerlei Rolle. Sie gelten als passiv und könnten trotz ihrer Funktion als Gebärerinnen weiterer Söhne die Zukunft nicht beeinflussen. Derartige, auf die Nation fixierte, Männlichkeiten speisen sich neben ihrem Nationalismus und Rassismus aus einem Antisemitismus, der das Judentum als heimatlos ansieht und es somit efeminisiert. Der Mann und die Triebe Der völkische Mann widersteht der Triebhaftigkeit, wodurch er sich grundlegend von den »Anderen«, also Frauen, Homosexuellen, »Ausländern«, »Schwarzen«, jüdischen Menschen und Kindern, unterscheide. Gerade der imaginierte »schwarze Mann« wird der Vergewaltigung an der »weißen Frau« bezichtigt. So bekommt die Thematisierung sexualisierter Gewalt im Rechtsextremismus stets eine ethnisierende Komponente. Dabei will »weiße« Männlichkeit beziehungsweise Männlichkeit im Rechtsex26 tremismus nur von der Täterperspektive ablenken und sich entschulden, denn: »Das Kokettieren mit dem Bösen als menschliches Potenzial gehört zu den grundlegenden Komponenten von Männlichkeitsentwürfen der Neuen intellektuellen Rechten, die darin eine anthropologische Fundierung männlicher Aggressivität sehen.«48 Das oder der »Andere« gilt als hypermaskulin, also stark, und gleichzeitig als triebhaft, also schwach. Dieser Ambivalenz könne nur mit Hilfe eigener Potenz begegnet werden. Der Mann und die Elite Hegemoniale Männlichkeit ist zwar normativ, insofern viele Männer nach ihr streben. Gleichzeitig jedoch ist sie für die meisten Männer unerreichbar und wird immer einer elitären Minderheit vorbehalten bleiben. Auch neurechte Männer wollen sich von der Masse, die als ihr Gegenpol konstitutiver Bestandteil der Elite ist, abgrenzen. Die Masse sei undifferenziert und wankelmütig, dumpf, dumm und tot. Stetig ändere sie ihre Ansichten. Darauf könne keine Herrschaft fußen, schlussfolgert die »Neue Rechte« und lehnt die verhasste »Massendemokratie« ab. Im Wissen um die Wankelmütigkeit der Masse, hebt sich die neurechte Elite von eben jener ab und erlangt automatisch die Legitimität über die Herrschaft: »Legitimiert wird sie (gemeint: die Elite-Y.M.) durch das schmeichelhafte Bild männlicher Führung, die von der Masse nicht nur gebraucht, sondern auch gefordert, geradezu ersehnt wird.«49 Die Masse sei hilflos ohne Führung und schwanke passiv umher: Sie ist weiblich konnotiert, was die Elite fast automatisch männlich »macht«. »Der Selbststilisierung als Elite im Zeichen individualisierter Männlichkeit korrespondiert das Konstrukt einer Masse, die als weiblicher Gegenpol zur Elite fungiert und kontinuierlich abgewertet wird.«50 Frauen könnten demzufolge nie Teil der Elite sein. Um die Nation zu retten bedarf es (wieder) einer Elite – aber nicht irgendeiner: »Es braucht also neue Eliten, die bereit sind zum rücksichtslosen Machen, die weder bürgerliche Harmonie noch linke Empfindlichkeit berücksichtigen und die auch keinen Wert darauf legen, dass es glimpflich abgeht. Unverhohlen wird hier ein martialischer Menschentyp verlangt, der…von männlicher Selbstbildlichkeit strotzt.«51 Solch rücksichtsloser, heldenhafter Männlichkeit wird auch in der »Jungen Freiheit« gehuldigt. Hier trauert man den osteuropäischen Politikern, die nach dem Fall des »Eisernen Vorhangs« wirkten, nach. Diese seien »Helden der ersten Stunde«52 gewesen, »die so gar nicht in das übliche westliche Klischee vom ›Berufspolitiker‹ passen wollten«53 Den Politikern, die verehrt werden, weil sie sagen, was sie denken, Tabus brechen und, wie der ehemalige kroatische Staatschef Franjo Tuđmdan nationalistisch eingestellt sind54, nicht anpassungsfähig sind, dafür aber heroisch, und geschmäht werden, wird der westliche »Typ von Politikern«55 gegenübergestellt. Bei diesem wiederum handele es sich um »stromlinienförmige, zumeist jüngere Herren (und Damen), die sehr schnell die politisch korrekten Vokabeln gelernt haben und die verstehen, dass man sich den großmächtigen Apparaturen anpassen (und unterwerfen) muss.«56 Dieser Politiker-Typus ist unmännlich, wäre die logische Schlussfolgerung, zumal sich darunter auch Frauen befänden. Die in der »Neuen Rechten« favorisierte Elite muss sich keineswegs auf ihre soziale Herkunft berufen. Es wird vielmehr eine Bildungs- und Leistungselite propagiert, die aber ebenso eindeutig männlich besetzt ist. Denn dem Gedanken des Emporkömmlings geht ein Hauch von Abenteuer und Draufgängertum voraus, dem nur der bereits beschriebene heldenhafte Mann entsprechen kann. Männerbünde »Homosexualität meint zunächst die räumliche Separierung exklusiv-männlicher Sphären«57, so Meuser. Neben der räumlichen wird eine symbolische Dimension benannt, die die »Ausbildung moralischer Orientierung, politischer Einstellungen sowie von Wertsystemen primär im wechselseitigen Austausch der Geschlechtsgenossen untereinander«58 gewährleistet. Nach »außen«‚ wird das Trennende gegenüber den Frauen akzentuiert, während nach »innen« das verbindende Element im Vordergrund steht. Beispiele für derartige homosoziale Männergemeinschaften sind das Militär, der katholische Klerus sowie Fußballmannschaften. Ihre Bedeutung ist eminent: »Homosexuelle Männergemeinschaften haben einen entscheidenden Anteil daran, dass sich trotz der Transformation der Geschlechterordnung und der wachsenden Kritik an männlichen Hegemonieansprüchen bislang keine generelle Krise des Mannes entwickelt hat.«59 Auch in der »Neuen Rechten« finden sich homosoziale Männergemeinschaften beziehungsweise Männerbünde: Neben den Burschenschaften, in denen der Ausschluss von Frauen institutionalisiert ist, ließen sich unzählige weitere rechtsextreme Organisationen aufzählen, in denen der Frauenanteil marginal ist. Hier werden Frauen nicht durch ein Reglement, sondern durch symbolische Handlungen und Kodizes ausgeschlossen. Beispielsweise sind lediglich zwanzig Prozent der Mitglieder in rechtsextremen Parteien Frauen.60 Gerade Führungspositionen werden in rechtsextremen Organisationen zumeist von Männern besetzt. Kampf gegen »Political Correctness« Seit den 90er Jahren verwendet die extreme und konservative Rechte den Begriff »Political Correctness«, mit dem angebliche Denkverbote und Tabus beschrieben werden. Der Kampf gegen »Political Correctness« ist immanenter Teil der hegemonialen Männlichkeit in der »Neuen Rechten« und richtet sich damit stets auch gegen die Bestrebungen der Frauenbewegung(en). Hier müssten Tabus gebrochen werden, suggeriert die »Neue Rechte«: Dieses Sagen-Dürfen betrifft zu weiten Teilen die männliche Rede über Frauen.«61 Die »Neue Rechte« möchte die Definitionsmacht behalten und sich nicht von denen, über die man diese Definitionsmacht ausübt, gemaßregelt werden: Sie (die Polemik gegen »Political Correctness«-Y.M.) motiviert jedoch männliche Subjekt- und Freiheitsvorstellungen sowie den erklärten Unwillen, Beschränkungen sprachlicher oder humoresker Manifestationen von Macht durch deren potenzielle Objekte hinzunehmen.«62 Die »Junge Freiheit« im Geschlechter-Diskurs Kritische Diskursanalyse Mit der Diskursanalyse werden nicht einzelne Texte untersucht. Vielmehr sollen Diskurse als »Flüsse von Wissensvorräten durch die Zeit«63 rekonstruiert werden. Nach Siegfried Jäger geben Diskursw nicht einfach die Wirklichkeit wieder, sondern konstruieren sie wesentlich mit. rekonstruiert werden. Nach Siegfried Jäger geben Diskurse nicht einfach die Wirklichkeit wieder, sondern konstruieren sie wesentlich mit. Einzelne Texte – in diesem Fall die Artikel der »Jungen Freiheit« – gelten als Diskursfragmente, während mehrere Texte zu einem Thema – hier Männlichkeit – als Diskursstrang bezeichnet werden. Wirken mehrere Diskusstränge aufeinander ein, liegt eine Diskursverschränkung vor. »Als diskursive Ereignisse werden solche Begebenheiten bezeichnet, die Richtung und Quali- tät des Diskursstrangs, (…), durch eine breite mediale Rezeption erheblich beeinflussen.«64 Die Diskussion um Eva Hermanns relativierende Äußerungen unter anderem zur Rolle der Frau im Nationalsozialismus kann als ein solches diskursives Ereignis bezeichnet werden. Von welchem sozialen Ort aus gesprochen wird, erklärt die Diskursebene. Im Falle der ‚Jungen Freiheit‘ können die Medien als Diskursebene benannt werden. Durch die Einbettung der Zeitung in die ‚Neue Rechte‘ sind hier ebenso Politik und Wissenschaft zu nennen. Durch die Diskursposition kann der inhaltliche Standpunkt des Akteurs verifiziert werden. Zeitungsanalyse: Vorüberlegungen und Herangehensweise Unter www.jf-archiv.de findet sich das ab dem Jahrgang 1997 gespeiste Online-Archiv der »Jungen Freiheit«. Über die Suchmaschine wurden verschiedene Begriffe eingegeben, mit denen sich Artikel, die für die Männlichkeitsdiskurse in der »Jungen Freiheit« relevant erscheinen, finden ließen. Diese Begriffe sind »Feminismus«, »Gender Mainstreaming«, »Geschlecht«, »schwul«(»Homosexualität« war nicht ergiebig), »Sexualität« und »Männer«. Der Begriff »Männlichkeit« hingegen erwies sich als wenig ergiebig, da Männlichkeit in der Regel nur implizit verhandelt wird. Einige der gefundenen Texte wurden ausgewählt und im folgenden analysiert. Die Auswahl ganz bestimmter Begriffe und Texte birgt die Gefahr der Vorstrukturierung der Ergebnisse. Allerdings erlaubt der gegebene Rahmen dieser Arbeit keine repräsentative Untersuchung des Männlichkeitsdiskurses in der »Jungen Freiheit«. Es werden allerdings Anhaltspunkte für eine tief greifende Analyse geboten. Mithilfe der Analyse einiger Artikel soll gezeigt werden, dass die »Junge Freiheit« sowohl das Konstrukt der hegemonialen Männlichkeit anstrebt als auch ein damit verknüpftes rechtsextremes beziehungsweise neurechtes Weltbild verfolgt. Dabei stehen kollektive Akteure und nicht einzelne Autor/ innen der »Jungen Freiheit« im Interesse der Untersuchung, da »Männlichkeit (…) als sozial verfasst und nicht etwa als individuell ausgeprägt verstanden wird.«65 Die »Junge Freiheit« gegen den Feminismus Der Feminismus, oder was die »Neue Rechte« darunter versteht, wird rundweg abgelehnt. Er rufe zum »Krieg zwischen den Geschlechtern«66 auf und ver- gifte als »Geschlechterklassenkampf«67 »die Beziehungen zwischen Mann und Frau«68 »die Beziehungen zwischen Mann und Frau«69. Er wird als totalitäre Ideologie dargestellt, die den demokratischen Staat gefährde, und gleichzeitig als »weiblich« verharmlost. Zudem wird er stets mit linken Ansichten in Verbindung gebracht. So wolle der Feminismus – ähnlich wie der Marxismus – den »neuen Menschen« erschaffen. Angeblich würde der Feminismus Männer und Heterosexualität grundsätzlich in Frage stellen. Zum Beweis werden lesbische oder radikale Feministinnen wie Simone de Beauvoir angeführt. Profeministische Männer gelten der »Jungen Freiheit« als Speerspitze des Feminismus, weil ihnen als Männer mehr zugetraut wird. Zugleich aber würdigt man sie aufgrund ihrer profeministischen Einstellung in ihrem MannSein herab. »Wie einstmals bürgerliche Intellektuelle maßgeblich und führend in der ›Arbeiterbewegung‹ wirkten, so sind auch heute Männer oftmals die radikalsten FeministInnen.(…)so ist heute die besonders radikale Parteinahme für ›die Frauen‹ ein Mittel, um das Manko auszugleichen, mit dem falschen Geschlecht zur Welt gekommen zu sein«70, so Rainer Zitelmann in »Die Selbstbewusste Nation«. Doch auch hier wird deutlich, dass die Angst vor dem Feminismus keine Exklusivität neurechter Männlichkeit ist. Nach Connell »erleben westliche Mittelschichtsmänner den Feminismus als eine Anklage«71 und fühlen sich »zu Unrecht vom Feminismus angeklagt«72. Die »Junge Freiheit« gegen die »Sexuelle Revolution« Die »Junge Freiheit« sieht seit der »Sexuellen Revolution« einen Bruch der Gesellschaft im Umgang mit Sexualität. Verantwortlich für diese »Sexuelle Revolution« seien die »68er«, worunter die »Junge Freiheit« sämtliche soziale Bewegungen der 60er und 70er Jahre subsumiert. Dieser Personenzusammenhang »psychisch und moralisch gescheiterter Existenzen«73 sei verantwortlich dafür, dass Mädchen und Jungen immer früher Geschlechtsverkehr hätten. Sex würde mehr und mehr zur »Triebbefriedigung und gleichsam Leistungssport«74. Auch würden Sex und Gewalt heutzutage mehr und mehr verquickt. Laut ‚«Junger Freiheit« gäbe es eine »Spirale der Gewaltverherrlichung«75. So seien die »68er« letztlich auch für die steigende Zahl der Vergewaltigungen verantwortlich zu machen. Indirekt treffe sie auch die Verantwortung für die gestiegene 27 Zahl der Fälle von Kindesmissbrauch: »Die 68er trifft an der Verharmlosung des Kindesmissbrauchs im übrigen ein gerütteltes Maß an Mitschuld.«76 Nicht zuletzt sei der Mann durch Viagra nicht mehr natürlich, sondern künstlich. Letztlich ist er »entmännlicht«: »Der Mann gerät dabei zur Kunstfigur: chemisch präpariert und artifiziell aufgepumpt vollzieht er im Schlafzimmer seinen Dienst.«77 Vor allem aber bedrohe die »Sexuelle Revolution« die bürgerliche Familie. Dabei seien Ehe und Familie als »Chiffren einer beglückenden patriarchalen Ordnung«78 nicht verhandelbar. Sie sind quasi natürlich vorbestimmt, wie man in der »Jungen Freiheit« zu wissen glaubt: »Diese Institutionen sind weniger Gegenstand politischer Optionen als vielmehr bildliche Garanten für zeitlose, durch Tradition, Natur oder Religion sanktionierte Gesellschaftszustände.«79 So wird die Bedrohung durch Feminismus, »68er« und »Sexuelle Revolution« durchaus als real und allumfassend gesehen, wie Kämper feststellt: »Eine Abschaffung dieser Ordnung bedeutet für ihn die Infragestellung gemeinschaftlicher, familialer und nationaler Ordnung überhaupt.«80 Schnell wird deutlich, dass es keineswegs nur um die Familie geht. Vielmehr fühlt sich der neurechte beziehungsweise der rechtsextreme Mann als Bollwerk gegen die Auflösungstendenzen traditioneller Strukturen in postmodernen Gesellschaften. Schließlich sind traditionelle Geschlechtervorstellungen eng mit paternalistischen Herrschaftsmodellen verknüpft. Versagt die Familie als kleinstes Glied der (Volks-) Gemeinschaft beziehungsweise wird sie in Frage gestellt, ist die Nation unmittelbar in Gefahr. »Mithilfe der Bedrohungsformel Zersetzung (Hervorhebung im Original-Y.M.) wird diese Gemeinschaft militärisch und völkisch aufgeladen und das entsprechende antimoderne, antiindividualistische und anti-emanzipatorische Potenzial mobilisiert.«81 Als absolutes Horrorszenario einer zerfallenden Gesellschaft gelten der »Neuen Rechten« die USA: Hier handele es sich um eine multikulturelle und multiethnische Gesellschaft, die in der Kriminalität versinke. Und die neurechte Männlichkeit braucht diesen Gegenpol: »Die beständige Beschwörung heiler Ehen und Familien, die in einer hohen Zeit des noch unerschütterten Patriarchalismus angesiedelt sind, kontrastiert mit dem apokalyptischen Bild der Moderne.«82 Seit der »Sexuellen Revolution« würden immer weniger Kinder geboren, weil Sex und Fortpflanzung nunmehr separiert 28 seien. Die »Junge Freiheit‘« sucht hiermit Anschluss an den Diskurs um den vermeintlichen demographischen Wandel in der BRD: »Was wird in zwanzig, dreißig Jahren sein, wenn die zahlreichen ›Singles‹ ins Rentenalter kommen?«83 Dabei wird versucht, den Diskurs zu ethnisieren, indem das »Aussterben« der Familie in den westlichen Industrienationen prognostiziert wird, während sich die Menschen in der so genannten ‚Dritten Welt‘ praktisch ungehemmt vermehren würden: »Dagegen steigen die Bevölkerungszahlen in den armen Regionen Asiens und Afrikas mit atemberaubender Geschwindigkeit.«84 Es soll klar werden, dass einfach die »Falschen« die Kinder kriegen. Auch gelten Schwangerschaftsabbrüche in der extremen Rechten als verwerflicher und amoralischer Massenmord. Hegemoniale Männlichkeit kann nicht zulassen, dass Frauen selbst über ihren Körper und das Gebären von Kindern entscheiden. Realpolitische Diskussionen über Abtreibungen erübrigen sich damit. Ebenso bedroht der Staat als Wohlfahrtsstaat die Vorherrschaft des Mannes über die Familie. Staatliche Eingriffe in Ehe und Familie werden als Angriff auf Autorität und Gewaltmonopol des Mannes interpretiert: »Die öffentliche Diskussion innerfamiliärer Gewaltverhältnisse ist aus dieser Perspektive ein Angriff auf eine Privatheit, die dem Mann einen vor staatlichen Eingriffen geschützten familiären Raum garantiert.«85 Die »Junge Freiheit« gegen Gender Mainstreaming Wenn sich Autor/innen in der »Jungen Freiheit« mit dem Thema Geschlecht auseinander setzen, befasst sich ein Großteil der Artikel mit Gender Mainstreaming und Gleichstellungspolitik. Da das Konzept Gender Mainstreaming als Institutionalisierung des Feminismus angesehen wird, sind auch die Kritikpunkte ähnlich gelagert: Angeblich würden Frauen bevorzugt und Gender Mainstreaming diene der Abschaffung des Mannes. So sei Gender Mainstreaming nur ein anderes Wort für Frauenförderung. Letztlich sei Gender Mainstreaming gar noch bedrohlicher als der verhasste Feminismus, wie der neurechte Wirtschaftswissenschaftler Felix Stern in »Die Selbstbewußte Nation« moniert: »Sicher, der Feminismus ist längst nicht mehr so spektakulär wie in den 70er und 80er Jahren.(…)Aber genau das macht die zum ›Salonfeminismus‹ gewandelte ›Frauenbefreiung‹ viel unberechenbarer als beispielswei- se eine ›Autonomen-Demo‹, bei der die Fronten klar sind. Denn in dieser Etablierung und Normalisierung des meist gar nicht mehr als Sexismus empfundenen Geschlechter-Rassismus und in der Verfügbarkeit, hieraus politisches, berufliches und wirtschaftliches Kapital zu schlagen, liegt ja die eigentliche Gefahr dieser Bewegung.«86 Durch die Institutionalisierung des Feminismus und den »Vormarsch« von Frauen in originär »männliche« Sphären fühlt sich die männliche Herrschaft in ihrer Legitimität angegriffen. Dieser Angriff muss zurückgeschlagen werden: »Die Verletzung der männlichen Sphäre staatlicher Gewalt verlangt nach Genugtuung so wie die Schwächung des von einem Virus befallenen Körpers nach Heilung verlangt.«87 Die Autor/innen der »Jungen Freiheit« haben sich dem Kampf gegen Gender Mainstreaming verschrieben: Hämisch registrieren sie, dass der Begriff kaum inhaltlich gefüllt werden kann und wenig in der Praxis erprobt sei. Die meisten Menschen könnten mit dem Begriff nichts anfangen. Trotzdem sei durch das Konzept Gender Mainstreaming ein bürokratischer Apparat mit einer unüberschaubaren Zahl von Projekten entstanden, der etliche Millionen Euro Steuergelder verschlinge. »Gender Mainstreaming ist ein milliardenschweres Programm … mit dem vermessenen Ziel, einen ›neuen Menschen‹ zu schaffen.«88 Wie absurd das Konzept angeblich ist, will man mit Hilfe unwirklich erscheinender Beispiele wie der Einführung des »Ampelfrauchens« aufzeigen. Auch das Studienfach Gender Studies sei lediglich ein Trend, dem keine Zukunft beschieden ist. »An den Universitäten und Fachhochschulen sind die ›Gender Studies‹ groß in Mode, sogar in den Rang eines Magisterstudiengangs haben sie es geschafft.«89 Die Verwendung des Binnen-I in der Schriftsprache wird gleichfalls abgelehnt. Angeblich würden die Menschen dadurch unnötig verwirrt. Zudem konstruiere man so die Geschlechterdifferenz erst recht. Dieses Argument scheint vorgeschoben, wird doch in der »Neuen Rechten« die Geschlechterdifferenz als natürlich gegeben betrachtet. Dass das biologische Geschlecht – ähnlich wie das soziale Geschlecht – konstruiert sein könnte, wird in der »Jungen Freiheit« verneint. Und hier wähnt man die Wissenschaft auf seiner Seite: »Dass sie (die »Gender«-Theorie – Y.M.) in Widerspruch zu allen gängigen anthropologischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen steht, von der Hirn- und Verhaltensforschung bis zur Biologie und Evolutionstheorie, stört eingefleischte Ideologen nicht wirklich.«90 Dekonstruktivistische Ansätze, so heißt es, würden biologische »Erkenntnisse« ignorieren. Die meisten einschlägigen Artikel in der »Jungen Freiheit« Artikel zunächst sachlich: So werden Gleichstellung und Emanzipation befürwortet, um später um so besser die Kritik zu platzieren. Es ginge nun zu weit, suggeriert man in der »Jungen Freiheit«: Während sich die Frauen inzwischen eine lautstarke und einflussreiche Lobby aufgebaut hätten, seien Männer angeblich stimmlos. Der Gedanke, Männer hätten Privilegien, wird in der »Jungen Freiheit‘« abgelehnt. Um der Opposition gegen Gender Mainstreaming Ausdruck zu verleihen, verwenden die Autor/innen der »Jungen Freiheit« Begrifflichkeiten, die ganz bewusst Assoziationen mit dem Nationalsozialismus hervorrufen sollen. Man stilisiert sich als Opfer: Kritisiere man zum Beispiel offen Gender Mainstreaming, riskiere man die, zugegebenermaßen nicht physische, »Vernichtung«91, so JF-Autor und Publizist Michael Paulwitz. Bei Gender Mainstreaming handele es sich um eine »gigantische(n) ideologische(n) Umerziehung«92 Der Begriff »Umerziehung« ist im Zusammenhang mit den Ent-Nazifizierungen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in der extremen Rechten negativ besetzt. Nicht selten wird Gender Mainstreaming als »totalitäre Ideologie, die nach dem Kaderprinzip durch eine auserwählte Truppe Linientreuer von oben nach unten durchgesetzt werden soll«93, diffamiert. Wiederum ist der Formel »totalitär« im deutschen Kontext eine ganz eigene Wirkung beschieden. Bezeichnet als »Genderismus«94 wird Gender Mainstreaming dann schnell zur Ideologie und der Vergleich von Ursula von der Leyen mit Mao Zedong und Wladimir I. Lenin fällt nicht mehr schwer.95 Gleichstellungsbeauftragte werden als »linientreue Kader«96 tituliert und angeblich habe man es mit einer »Kulturrevolution«97 zu tun. Hier werden mittels Wortwahl Antifeminismus und Antikommunismus verknüpft. Besonders in die Kritik geraten sind die CDU und ihre Familienministerin von der Leyen, die die Politik des Gender Mainstreaming unterstütze. Die CDU verfolge linksradikale Ziele, wettert man in der »Jungen Freiheit«. Die neurechte Wochenzeitung verfolgt mit diesen Angriffen ein einfaches Ziel: Sie will die CDU beziehungsweise Teile ihrer Mitgliedschaft nach rechts rücken. Diese müssen sich gegen die Angriffe wehren, um sich gegen diese zu immunisieren. Gleichzeitig will man die CDU spalten: So würde Kritik innerhalb der Partei unterbunden, mutmaßt man in der »Jungen Freiheit«. Wer sich trotzdem äußere, würde »von feministischen Lobbygruppen unter Beschuss genommen«98 und »muss Sanktionen befürchten«99. Letztlich kann sich die «Junge Freiheit« sogar kapitalismuskritisch gerieren: »Die fatale Dynamik dieses Konzapts steckt dabei in der Interessenkoalition mit dem vorherrschenden platten Ökonomismus. Die schon von Alice Schwarzer geforderte und von ›Gender Mainstreaming‹ in letzter Konsequenz anvisierte völlige Abschaffung der Hausfrau und Mutter als akzeptierter Lebensform trifft sich mit dem technokratischen Interesse an der totalen Mobilmachung aller ›menschlichen Ressourcen‹ zur abhängigen Vollzeit-Erwerbstätigkeit.«100 So wähnt sich die hegemoniale Männlichkeit der »Neuen Rechten« als Opfer eines Komplotts, mit dem Männer aus dem öffentlichen und privaten Leben verdrängt werden sollen. Die »Junge Freiheit‘« gegen Homosexualität Sucht man im Online-Archiv der »Jungen Freiheit« nach der Thematisierung von Homosexualität, wird man in der Regel enttäuscht. Einzig über die Suche nach dem Begriff »schwul« finden sich einige Artikel. Obwohl (männliche) Homosexualität als randständig und anormal gesehen wird, sei sie laut »Junge Freiheit« heute gesellschaftlicher Maßstab.101 Die heterosexuelle Familie würde als Norm negiert. In der Zeitung wird offen ausgesprochen, dass der »normale« Hetero-Mann von den »tuntigen« Schwulen abgestoßen ist. So berichtet »Junge Freiheit«Autor Frank Liebermann über eine Sendung mit vier homosexuellen Männern auf einem Privatsender folgendes: »Die Anfänge der Sendung sind strapaziös. In den ersten paar Minuten präsentieren sich die vier Hauptpersonen dermaßen tuntig, dass es große Überwindung verlangt, nicht abzuschalten.«102 Den vier Homosexuellen wird vorgeworfen, »einen Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch«103 zu sprechen. Aufgrund ihrer Homosexualität sind sie keine »richtigen« Männer; durch ihr »Kauderwelsch« sind sie keine »richtigen« Deutschen. Schwul-Sein schade also der deutschen (Volks-)Gemeinschaft und dem gesunden Volkskörper, so der Tenor. Liebermann meint, dass Schwul-Sein im Trend liege und sich gut vermarkten lasse. Ebenso darf der obligatorische homophob angehauchte Verweis auf die Homosexualität des Berliner Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit nicht fehlen: »Inzwischen sind wir ja allerhand gewohnt. Nach schwulen Rappern, Schwulen gegen Rechts, schwulen Ärzten und schwulen für Stoiber schockt uns nicht einmal mehr die Regenbogenfahne vor dem Berliner Rathaus.«104 In einem anderen Artikel wird gewarnt, Homosexuelle würden Jugendlichen ihre Sexualität aufdrängen, »da viele Homosexuelle ihre Lebensweise als ›die Normalere‹ betrachten«105. Homosexuellen wird vorgeworfen, sie würden sich lediglich »um die Rekrutierung von Nachwuchs bemühen«106. In ihrer Homophobie steht die »Junge Freiheit« keineswegs alleine da. Bereits in den 80er Jahren sorgte die Homosexualität des Neonazikaders Michael Kühnen für viel Verwirrung und homophobe Ausbrüche im bundesdeutschen Rechtsextremismus. Mit seiner Schrift »Nationalsozialismus und Homosexualität« brach Kühnen ein Tabu, indem er Homosexualität verteidigte.107 Fazit Das Beispiel »Junge Freiheit« zeigt, dass Männlichkeit in der »Neuen Rechten« durchaus diskursiviert wird. Dabei findet meist nur eine implizite Thematisierung über die Diffamierung von Feminismus, anderen Sozialen Bewegungen, Homosexuellen und nicht zuletzt allem »Fremden«, also Migrant/innen sowie Jüdinnen und Juden, statt. Männlichkeit in der »Neuen Rechten« befindet sich in einem ständigen »Kampf« für die Nation, die heterosexuelle Familie und sich selbst. Eine gewisse Krisentendenz ist somit keineswegs ein Anzeichen für Zerfallsprozesse oder eine tatsächliche Bedrohung dieser Männlichkeit, sondern vielmehr konstitutives Element. Allerdings werden Transformations- und Modernisierungsprozesse im Geschlechterverhältnis bewusst aufgegriffen, um eigene Positionen entsprechend im Diskurs zu platzieren. Und die »Neue Rechte« ist mit ihrem Bild der hegemonialen Männlichkeit durchaus gesellschaftlich anschlussfähig. Aus Sicht einer transdisziplinären geschlechterreflektierenden Rechtsextremismusforschung bietet der Versuch der Resouveränisierung von Männlichkeit durch die »Neue Rechte« ein enormes Gefährdungspotential. Yves Müller 29 Winfried Knörzer, Eine kulturelle Hegemonie von recht, in: Junge Freiheit, 19. 8. 1994, S. 1; zit. nach: Michael Puttkamer, »Jedes Abo eine Konservative Revolution«. Strategie und Leitlinien der »Jungen Freiheit, in: Wolfgang Gessenharter u. Thomas Pfeiffer, Hrsg., Die Neue Rechte – eine Gefahr für Demokratie?, Wiesbaden 2004, S. 213. 2 Vgl. Oliver Geden, Männlichkeitskonstruktionen in der Freiheitlichen Partei Österreichs. Eine qualitativ-empirische Untersuchung, Opladen 2004. 3 Helmut Kellershohn, Kurzchronologie der »Jungen Freiheit« 1986 bis 2006, in: Stephan Braun u. Ute Vogt, Hrsg., Die Wochenzeitung »Junge Freiheit«. Kritische Analsysen, Autoren und Kunden, Wiesbaden 2007, S. 48. 4 Vgl. Stephan Braun, Alexander Geisler u. Martin Gerster, Die »Junge Freiheit« der »Neuen Rechten«. Bundes- und landespolitische Perspektiven zur »Jungen Freiheit« und den Medien der »Neuen Rechten«, in: Stephan Braun u. Utte Vogt, Hrsg., Die Wochenzeitung »Junge Freiheit«, S. 18. 5 Ebenda, S. 19. 6 Vgl. Felix Krebs, Mit der konservativen Revolution die kulturelle Hegemonie erobern. Das Zeitungsprojekt »Junge Freiheit«, in: Jean Cremet, Felix Krebs u. Andreas Speit, Jenseits des Nationalismus. Ideologische Grenzgänger der »Neuen Rechten« – ein Zwischenbericht, Hamburg u. Münster 1999, S. 54. 7 Stephan Braun u. a., »Die »Junge Freiheit« der »Neuen Rechten«, S. 25. 8 Felix Krebs, Mit der konservativen Revolution die kulturelle Hegemonie erobern, S. 72. 9 Ebenda, S. 53 f. 10 Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen. Nachdruck der 2. Aufl. von 1930, Struckrum 1991. Zit. nach: Michael Putkammer, »Jedes Abo eine konservative Revolution«, S. 215. 11 Hiermit ist die Bestrebung einer gemeinsamen Politik zwischen linkem und rechtem Spektrum auf der Basis vermeintlicher oder tatsächlicher gemeinsamer Ideologiefragmente gemeint. 12 Peter Krebs, Mit der konservativen Revolution die kulturelle Hegemonie erobern, S. 79. 13 Walter Hoeres, Die Herstellung der Heimatlosigkeit, in: Junge Freiheit, Nr. 43/1996, zit. nach: Jean Cremet u. a., Jenseits des Nationalismus. 14 Ebenda. 15 Hans Sarkowcz, Publizistik in der Grau- und Braunzone, in: Wolfgang Benz, Hrsg., Rechtsextremismus in Deutschland. Voraussetzungen, Zusammenhänge, Wirkungen, Frankfurt a.M. 1994, S. 69. 16 Ebenda, S. 72. 17 Ebenda, S. 77 18 Peter Krebs, Mit der konservativen Revolution die kulturelle Hegemonie erobern, S. 59. 19 Michael Mauser, Wettbewerb und Solidarität. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Männergemeinschaften, in: Silvia von Arx u. a., Hrsg., Koordinaten der Männlichkeit. Orientierungsversuche, Tübingen 2003, S. 83. 20 Derselbe, Hegemoniale Männlichkeit – Überlegungen zur Leitkategorie der Men’s Studies, in: Brigitte Aulenbacher u. a., Hrsg., FrauenMänner Geschlechterforschung. State of the Art, Münster 2006, S. 162. 21 Ebenda, S. 168. 22 Robert W. Connell, Gender and Power. Society, the Person and Sexual Politics, Cambirdge 1987, S. 183, zit. nach: Michael Meuser, Wettbewerb und Solidarität, S. 183. 1 30 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 Ebenda, S. 169, Hervorhebung im Original. Ebenda, Hervorhebung im Original. Paul Bourdieu, Die männliche Herrschaft, in: Irene Dölling u. Beate Krais, Hrsg., Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a. M. 1997, S. 203. Michael Meuser, Hegemoniale Männlichkeit, S. 163. Ebenda, S. 166. Vgl. ebenda, S. 164 ff. Ebenda, S. 169. Gabriele Kämper, Die männliche Nation. Politische Rhetorik der neuen intellektuellen Rechten, Köln 2005, S. 205. Robert W. Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 2006, S. 105. Ebenda. S. 106. Ebenda. Ebenda, S. 211. Ebenda, S. 107. Ebenda, S. 222. Ebenda. Ebenda, S. 223. Curd-Torsten Weick, Das verunsicherte »starke Geschlecht«. Auslaufmodell der Evoluiton? Männer können einpacken, in: Junge Freiheit, 14. 1. 2005. Vgl. ebenda. Ebenda. Gabriele Kämper. Die männliche Nation, S. 154. Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. II: Männerkörper – zur Psychoanalyse des weißen Terrors, Frankfurt a.M. u. Basel 2005, S. 155. Ebenda. Robert W. Connell, Der gemachte Macht, S. 235. Paul Bourdieu, Die männliche Herrschaft, S. 203. Götz Kubitschek, Es wird ernst. Kampf der Kulturen: Deutschland muss seine Zukunft als selbstbewusste Nation wollen, in: Junge Freiheit, 24. 2. 2006. Gabriele Kämper, Die männliche Nation, S. 159. Ebenda, S. 180. Ebenda, S. 179. Ebenda, S. 188. Carl Gustav Ströhm, Sag mir, wo die Männer sind., in: Junge Freiheit, 23. 1. 2004. Ebenda. Dabei war Franio Tudman (1922–1999) nicht nur ein glühender Nationalist. Er äußerte sich auch zutiefst antisemitisch und verharmloste die Verbrechen der faschistischen Ustascha während des Zweiten Weltkrieges. Ebenda. Ebenda. Michael Meuser, Wettbewerb und Solidarität, S. 84. Ebenda. Ebenda, S. 88. Vgl. Birgit Rommelspacher, Geschlechterverhältnis im Rechtsextremismus, in: Wilfried Schubarth u. Richard Stöss, Hrsg., Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bonn 2000, S. 207. Gabriele Kämper, Die männliche Nation, S. 166. Ebenda, S. 170. Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Duisburg 1999, S. 158. Ebenda, S. 55. Hervorhebung im Original-Y.M. Ebenda, S. 62. Felix Stern, Feminismus und Apartheid. Über den Krieg der Geschlechter, in: Heimo Schwilk u. Ulrich Schacht, Hrsg., Die Selbstbewusste Nation. »Anschwellender Bocksgesang« und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. u. Berlin 1994, S. 291. Zit. nach: Gabriele Kämper, Die männliche Nation, S. 136. 67 Johannes Rogalla von Bieberstein, Erbe des Klassenkampfes, in: Junge Freiheit, 20. 6. 2008. 68 Ebenda. 69 Ebenda. 70 Rainer Zitelmann, Position und Begriff. Über eine neue demokratische Rechte, in: Heimo Schwilk u. Ulrich Schacht, Hrsg., Die Selbstbewusste Nation, S. 178. Zit. nach: Gabriele Kämper, Die männliche Nation, S. 138. 71 Robert W. Connell, Der gemachte Mann, S. 231. 72 Ebenda. 73 Götz Eberbach, Die sexuelle Revolution und ihre Folgen, in: Junge Freiheit, 8. 5. 1998, 74 Ebenda. 75 Mathias von Gersdorff, Das Tabu der Sexuellen Freizügigkeit, in: Junge Freiheit, 24. 7. 1998. 76 Ebenda. 77 Oliver Geldszus, Gesellschaft: Liebe und Sexualität in den Zeiten der späten Kohl-Ära, in: Junge Freiheit, 5. 6. 1998. 78 Gabriele Kämper, S. 122. 79 Ebenda, S. 121 f. 80 Ebenda, S. 124. 81 Ebenda, S. 128. 82 Ebenda, S. 131. 83 Götz Eberbach, Die sexuelle Revolution und ihre Folgen. 84 Oliver Geldszus, Gesellschaft: Liebe und Sexualität in den Zeiten der späten Kohl-Ära. 85 Gabriele Kämper, Die männliche Nation, S. 133. 86 Zit. nach: ebenda, S. 148. 87 Ebenda. 88 »Geschlecht ist pure Einbildung«. Interview von Moritz Schwarz mit Arne Hoffmann, in: Junge Freiheit, 12. 1. 2007. 89 Christian Rudolf, Kampf den Knackpunkten, in: Junge Freiheit, 15. 12. 2006. 90 Michael Paulwitz, Im Labor der Menschenzüchter, in: Junge Freiheit, 12. 1. 2007. 91 Ebenda. 92 Geschlecht ist pure Einbildung. 93 Michael Paulwitz, Im Labor der Menschenzüchter. 94 Ebenda. 95 Ebenda. 96 Geschlecht ist pure Einbildung. 97 Johannes Rogalla von Bieberstein, Erbe des Klassenkampfes. 98 Geschlecht ist pure Erfindung. 99 Ebenda. 100 Michael Paulwitz, Im Labor der Menschenzüchter. 101 Vgl. ebenda. 102 Frank Liebermann, RTL 2 und »Schwul macht cool«: Alle Klischees werden bedient. Die neue Langeweile, in: Junge Freiheit, 2. 1. 2004. 103 Ebenda. 104 Ebenda. 105 Alexander Schmidt, In erster Linie zählt der Spaß. Bildung: In Nordrhein-Westfalen sollen Jugendliche ihre »typische männliche oder weibliche Verhaltensweise überdenken«, in: Junge Freiheit, 12. 1. 2001. 106 Ebenda. 107 Vgl. Markus Bernhardt, Keine gemeinsame Linie. Neonazis und Homosexualität, in: LOTTA. Antifaschistische zeitung aus nrw, Winter 2007/2008, Ausgabe 29, S. 12 ff. Keine Nazis in Rosas Straße, gemeinsam gegen »Thor Steinar« – Ein kurzer Überblick zu den Aktivitäten der Initiative »Mitte gegen Rechts« in Berlin Die Rosa-Luxemburg-Straße liegt im Zentrum Berlins. Der Namen der Straße und auch die BewohnerInnenklientel unterliegen einem steten Wandel. Über Jahrhunderte hinweg endete an dieser Straße die Berliner Pracht.1 Es ließen sich vor allem jene hier nieder, die in der Stadt keinen Platz fanden. Es entstand eine große jüdische Gemeinde. Aus Scheunen, die an der Straße standen, wurden mit der Zeit ärmliche Wohnhäuser. Als die Stadt längst über das so genannte Scheunenviertel hinaus gewachsen war, begann Anfang des 20. Jahrhunderts die Umgestaltung des Viertels und eine erste Verdrängung der Bevölkerung setzte ein. Die BewohnerInnen des Scheunenviertels zogen zumeist in die anliegenden Straßen. Noch 1925 wohnten fast 18 Prozent der in Berlin lebenden JüdInnen in unserem Kiez. Ihre Zahl stieg weiter an, als sich ihre soziale Lage durch die antisemitische Politik der NSDAP in den 1930er Jahren verschärfte und JüdInnen aus anderen Stadtteilen verdrängte. Ihre Lebensverhältnisse erreichten im »Dritten Reich« ein unerträgliches Ausmaß. Israel Loewenstein, der bis zu seiner Deportation im Scheunenviertel wohnte und heute im Kibuz Yad Hannah in Israel lebt, berichtet zum Beispiel: »Dann kamen die Gesetze, dass man alles abgeben musste: Radio, Grammophon, Schallplatten, Schmuck. Meine Mutter hatte einen goldenen Ehering – musste man abgeben; eine Perlenkette – musste man abgeben. Aber das ist so eine Sache, die langsam kam. So gewöhnt man sich daran. (…)Irgendwann ist man nicht mehr aus dem Haus rausgekommen, es war alles für Juden verboten.« Am 18. Oktober 1941 begann die Deportation der jüdischen Bevölkerung Berlins. Rund zwanzig Monate später galt Berlin offiziell als »judenrein«. Das Scheunenviertel und ein Teil seiner BewohnerInnen waren ausgelöscht. In der DDR lag die Straße in einem Sanierungsgebiet. Dennoch wurden die Häuser bis zur Wende dem Verfall preisgegeben. Nahe am Alexanderplatz und Hackeschen Markt gelegen, entdecken seit den 1990er immer mehr Neu-BerlinerInnen die Attraktivität der Straße. In den letzten zwanzig Jahren wandelte sich die Bevölkerung so ein weiteres mal. Die Mieten steigen und junge Menschen aus dem In- und Ausland siedeln sich an. Exquisite Gastronomie, Galerien und DesignerInnen-Shops bestimmen heute das Bild der Straße. Am 1. Februar 2008 eröffnete in der RosaLuxemburg-Straße 18 ein weiteres Modegeschäft: »TØNSBERG« ist über dem Eingang zu lesen. Es werden vor allem Kleider der Marke »Thor Steinar« angeboten. »Thor Steinar« ist ein Label, das vor allem von Rechtsextremen getragen wird.2 Seit sechs Jahren vertreibt Uwe Meusel und die von ihm gegründete Protex GmbH die Textilien an bundesweit rund 170 HändlerInnen. Zweideutige Motive ermöglichen den TrägerInnen ihre neofaschistische Gesinnung offen darzustellen, ohne in Konflikt mit dem Gesetz und dessen HüterInnen zu geraten. In Magdeburg, Dresden, Leipzig und Berlin hat Uwe Meusel eigene Läden eröffnet. Drei Jahre befand sich die Berliner Filiale in einem Einkaufzentrum unweit des heutigen Standorts. Als die Vermieterin erkannte, wes (Un-) Geistes Kind ihre Mieter waren, wurde dem braunen Klamottenladen gekündigt. Ein neues Domizil fand sich schnell. Bereits bei der Eröffnung des Ladens regte sich erster Widerstand. Vor dem Laden wurde eine Kundgebung abgehalten. Einige LadenbesitzerInnen äußerten offen ihren Protest über den neuen Nachbarn. Sie dekorierten ihre Schaufenster mit Informationen über »Thor Steinar« und mit antifaschistischen Plakaten. Ein Anwohner klebte in der Straße Zettel gegen Nazis. Regelmäßig schaute die Antifa vorbei und gestaltete die Außenfassade des Geschäfts mit Farbbeuteln und Pflastersteinen neu. MieterInnen aus einem Nachbarhaus schrieben einen Beschwerdebrief an ihre Hausverwaltung und machten sich daran, den Eigentümer des Hauses ausfindig zu machen, der an das rechte Mode-Label vermietet hat. Viele der heutigen AktivistInnen waren schockiert darüber, ausgerechnet in ihrem Wohn- und Arbeitsumfeld ein Bekleidungsgeschäft zu finden, dessen Kundenstamm vorwiegend aus Neona- zis besteht. Schnell wurde deutlich, das dem Versuch rechte Meinungen und Gesinnungen in der Mitte der Gesellschaft zu etablieren, etwas entgegen gesetzt werden muss. Das »TØNSBERG« ausgerechnet im ehemaligen Scheunenviertel seine die NS-Zeit verherrlichenden Kleider anbietet, einem Stadtteil dessen Bevölkerung besonders stark unter dem menschenverachtenden Regime gelitten hatte, ist unerträglich. Kurz nach der Eröffnung begann sich die Stimmung in der Straße zu ändern. Die Bedrohung durch Rechtsextreme war plötzlich klar spürbar. AnwohnerInnen, die ihren Protest offen geäußert hatten, erhielten Besuch von dubiosen Gestalten oder bekamen Drohbriefe. Jeden Tag mehrere Male an einem Ladenlokal vorbei zugehen, dass für eine prinzipiell abzulehnende, menschenverachtende Ideologie steht, ist auf die Dauer anstrengend. Zudem führten die militanten Aktionen gegen den Laden zu täglicher Polizeipräsenz in der Straße. Kaum verwunderlich, dass sich die gleichgesinnten AnrainerInnen zu einer Initiative zusammenschlossen. Sie trägt mittlerweile den Namen »MITTE GEGEN RECHTS«. Gewerbetreibende, FreiberuflerInnen, Angestellte und StudentInnen haben sich in ihr zusammengefunden. Die Beweggründe für unser Engagement sind vielschichtig. Für alle ist klar, dass im Kiez kein Platz für Nazis ist, weder für Alte noch für Junge. Weltoffenheit und Toleranz prägen die Rosa-LuxemburgStraße. Dieses internationale Flair ist für Berlin nicht überall selbstverständlich. Wir wollen klarstellen, dass es sich hier um etwas Besonderes, Schützensund Erhaltenswertes handelt und dafür ein Bewusstsein schaffen. Wir wollen verdeutlichen, wohin Intoleranz und Menschenverachtung führen. Die Erinnerung an den Holocaust trägt dazu bei, eine tolerante und für alle offene Gesellschaft einzufordern und alles dafür zu tun, dass eine solche nicht nur in der Rosa-Luxemburg-Straße auf Dauer Bestand hat. Es gilt jenen entgegenzutreten, die genau das verhindern wollen, und das schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte glorifizieren. Uwe Meusel und die Protex GmbH gehen aber noch wei31 ter. Sie instrumentalisieren das »Dritte Reich«, um kommerziell erfolgreich zu sein. Das Label »Thor Steinar« nutzt diese Kommerzialisierung als »banale und teuflische Strategie« um »Geschichtsklitterung und Revisionimsus« Tür und Tor zu öffnen, wie eine Aktivistin treffend feststellte. Der »TØNSBERG«-Shop fungiert hierbei als Rattenfänger, indem er einen niederschwelligen Einstieg in die rechte Szene anbietet und deren politische Inhalte verharmlost. Denn in einem Kiez, der weit über die Grenzen Deutschlands hinaus als liberal gilt, rechnet eigentlich niemand damit, auf ein Geschäft zu treffen, das menschenverachtendes Gedankengut in trendige Klamotten verpackt. So ging manch ahnungslose Laufkundschaft »TØNSBERG« ins Netz, dies war bereits Mitte Februar klar. Es war also höchste Zeit, selbst aktiv zu werden, sich zu informieren, eine eigene Meinung zu bilden und diese Kund zu tun. »MITTE GEGEN RECHTS« wurde gegründet, um die Schließung des »TØNSBERG«-Ladens zu ereichen. Dabei profitierten wir von Anfang an von einer breiten Medienresonanz im In– und Ausland. Wir konnten seit Beginn des Protests auf ein breites Netzwerk von UnterstützerInnen zurückgreifen. Die Projektleiterin des nicht-kommerziellen Kunstraumes »:emyt« wurde von ihren Förderern (einer Hausverwaltung und einem Kunstverein) gebeten, einen Teil ihrer Arbeitszeit und die Räumlichkeiten der Galerie für die Initiative zur Verfügung zu stellen. In fachlichen und inhaltlichen Fragen steht der Initiative die »Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus« (MBR) zur Seite. Ihre Mitarbeiterinnen empfahlen uns Kontakt zum Integrationsbeauftragten des Landes Berlin aufzunehmen, um finanzielle Unterstützung zu bitten. Zeitgleich rief die Amedeo-Antonio-Stiftung zu Spenden auf und richtete dafür ein Konto ein. Innerhalb kürzester Zeit kamen rund 12.000 Euro zusammen. Die finanzielle Basis des Protests war somit gesichert. Auch von bezirkspolitischer Seite wird der Protest gegen »TØNSBERG« unterstützt. Der Bürgermeister von Mitte, Dr. Christian Handke (SPD), ist Schirmherr der Initiative. Gemeinsam mit VertreterInnen der MBR und Sprechern von »MITTE GEGEN RECHTS« veranstaltete der Bezirk 19 Tage nach Eröffnung der »Thor Steinar«- Filiale einen Runden Tisch zu dem alle AnwohnerInnen eingeladen wurden. Bei dieser Versammlung meldete sich erstmals ein Vertreter der Hauseigentümer der Rosa-LuxemburgStraße 18 zu Wort und stellte fest, dass 32 dem zwielichtigen Bekleidungsgeschäft bereits gekündigt worden sei. Drei Tage später einigte sich die Bezirksverordnetenversammlung Mitte auf einen Beschluss, der diese Kündigung begrüßte und zu weiteren friedlichen Protesten aufrief. Kurz darauf versammelten sich nach einem Aufruf mehrerer Berliner Antifa-Gruppen Hunderte, um ihrem Unmut gegen Herrn Uwe Meusel, seiner Marke »Thor Steinar« und seine KundInnen im Rahmen einer Demonstration lautstark Luft zu machen. Innerhalb eines Monats war es gelungen, eine breite Öffentlichkeit auf das Problem »TØNSBERG« in der Rosa-LuxemburgStraße hinzuweisen. Auch die Norwegische Botschaft strengte eine Klage gegen Uwe Meusel und die Protex GmbH an, da auf der Kleidung der Marke »Thor Steinar« oft die norwegische Flagge zu finden war. Nach dem sich der erste Trubel gelegt hatte, ging es einerseits darum, eine angemessene Form des dauerhaften Protestes zu finden und anderseits das Thema weiter in der Öffentlichkeit zu halten. Ein Ideenfindungsprozess wurde eingeleitet, der aufgrund unterschiedlicher beruflicher Ausrichtungen der Initiativmitglieder sehr kreativ und produktiv war. Erst entstand erstens ein Blog im Internet, der über die Initiative und den Stand des Protestes informiert. Hier können kostengünstig und mit wenig Aufwand Informationen dezentral angeboten werden. Neben Informationsmaterialen zu »Thor Steinar«, der Protex GmbH und Uwe Meusel wird regelmäßig über den Protest gegen das Label in anderen Städten berichtet. Zudem findet sich ein Spendenaufruf und eine Kontaktadresse auf der Seite. Zweitens wurde ein Logo entworfen. Der Designer ist selbst bei »MITTE GEGEN RECHTS« aktiv. Das Logo wurde ebenfalls von AktivistInnen die im Textilbereich tätig sind, auf Taschen gedruckt, die in mehreren Shops im Kiez zum Kauf ausliegen. Die daraus erzielten Einnahmen stehen der Initiative zur Verfügung. KundInnen sehen die Taschen und fragen oft, worum es sich bei »MITTE GEGEN RECHTS« genau handle. Nicht nur dann kommt der dreisprachige Infoflyer zum Einsatz der kurz über »Thor Steinar«, die neue Rechte und unserer Initiative informiert. Die Vorderseite, die das Logo ziert, kann als kleines Protestplakat verwendet werden. Einige Läden haben den Flyer als Zeichen des Widerstands und der Solidarität in ihr Schaufenster gehängt. Auf den Flyern befinden sich ebenfalls die Kontaktadresse der Initiative und ein Spendenaufruf. Das Logo prangte auch übergroß auf einem weiteren Bestandteil des Protestkonzepts: den Protest-Containern. Am Beginn, in der Mitte und am Ende der Straße wurden drittens diese Transportcontainer aufgestellt. Diese »Eyecatcher« griffen massiv in den öffentlichen Raum ein und machen so auf unser Problem aufmerksam. Durch eine Verkleidung mit Holzplatten entstanden an den Containern Flächen, die für Informationstexte im Stile einer Wandzeitung genutzt werden. Auf einem Container wurde über die Geschichte der Rosa-Luxemburg-Straße berichtet und ein weiterer informierte über der »Rechten neue Kleider« sowie die rechtsextreme Szene. Alle Texte waren in deutscher und englischer Sprache abgefasst. Ein dritter Container stand direkt vor dem »TØNSBERG«-Laden auf der dortigen Parkfläche. JedeR war eingeladen, dort Protestplakate anzubringen. Bis Ende November 2008 erwiesen sich die drei schwarzen Quader als äußerst wetter- und beschädigungsresistente Protestform. Sie stellten ein effektives Medium zur Aufklärung dar. Täglich blieben viele BesucherInnen der Straße vor den Containern stehen und informierten sich. Wenn die Plakate auf ihnen ausgetauscht werden, kommen wir oft mit Interessierten ins Gespräch. Regelmäßig fanden Führungen zu den Containern statt, die von Mitgliedern der Initiative geleitet wurden. Wenn die Plakate auf den Informationsträgern ausgetauscht wurden, kamen wir oft mit Interessierten ins Gespräch. Am 31. Mai 2008 wurden die Container im Rahmen eines Straßenfestes eingeweiht. Wiederum stieß die Initiative auf ein breites Medienecho und nutzte die Chance, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der bereits erwähnte Israel Löwenstein, dessen Zeitzeugenaussagen auf einem der Protestcontainer zu finden sind, äußerte sich anschließend sehr positiv zu unserer Aktion und begrüßte das Engagement der Initiative. An einem Wochenende im August 2008, und zur »Linken Kinonacht« am 19. September 2008, wurden zwei der bisher verschlossenen Container kurzzeitig Geöffnet, um die Kurzfilmreihe »Filme gegen Rechts« durchzuführen. Zu sehen waren verschiedene Dokumentationen, Kurzfilme, Animationen, Reportagen und Clips, die sich mit der Geschichte des Kiezes sowie mit dem Rassismus, Antisemitismus und rechtsextremismus beschäftigten. Ende November 2008 lief die Genehmigung für die Container aus. Zudem war die Holzverschalung der Container witterungsbedingt be- schädigt. Wir bauten sie ab. Die Holzflächen wurden einem Jugendzentrum in Berlin-Karlshorst zur Verfügung gestellt, um sie beim Protest gegen eine Neonazidemonstration einzusetzen. Das Konzept »Protestcontainer« findet eventuell in Zossen erste NachahmerInnen. Dort wehrt sich die Initiative »Jüdisches Leben in Zossen« gegen das Internet-Café Medienkombin@t zum Link«, das vom Holocaustleugner Rainer Link betrieben wird. Dass Uwe Meusel wegen eines Containers vor seinem Laden nicht aufgibt, war allen AktivistInnen klar. So erhielt die »:emyt«-Galerie einige Male ungebetenen Besuch. Zuletzt kam Herr Meusel höchst persönlich. Er bedankte sich für die gute Werbung die »MITTE GEGEN RECHTS« für ihn mache, beleidigte die Anwesenden und riet der Pressesprecherin der Initiative, auf ihre Gesundheit zu achten. Die Betroffenen haben Herrn Meusel angezeigt. Diese Kurzschlusshandlung zeigt, dass dem Geschäftsführer das Wasser mittlerweile bis zum Halse steht. Die Laufkundschaft hat deutlich abgenommen. Ein erster Erfolg für uns. Rund eine Woche vor dem eben geschilderten Vorfall konnte ein weiteres Zeichen gesetzt werden, um zu verdeutlichen dass für die Verherrlichung des »Dritten Reiches« in unserer Gesellschaft kein Platz ist. Verschiedene Privatpersonen und Organisationen hatten Geld gesammelt, um Stolpersteine zu setzen. Jenny Glück, Jacob Joelsohn, Minna Joelsohn, Adolf Rosentreter, Klara Rosentreter, Hans Rosentreter und Jutta Ruth Rosentreter wohnten bis zu ihrer Deportation in den Wohnungen über dem »TØNSBERG«-Geschäft in der Rosa-Luxemburg-Straße 18. Mit den Stolpersteinen wird an ihr Schicksal erinnert und ihrer gedacht. Um einen kleinen Einblick über die verbrecherische NS-Politik zu geben, wollten wir im leerstehenden Ladengeschäft neben dem »Thor Steinar«-Store eine Ausstellung präsentieren, die sich intensiver mit dem Schicksal der Ermordeten auseinandersetzt. Der Hauseigentümer stellte uns die Location trotz mehrfacher Bitten nicht zur Verfügung, da er »unpolitisch« sei. Hat er deshalb an Uwe Meusel vermietet? Kurzentschlossene schufen temporär aufstellbare Schautafeln, die nun vor dem Haus stehen. Zur Segnung der Stolpersteine kamen über 80 Personen. Einen Tag nach Uwe Meusels provokantem Auftreten gegenüber einigen Initiativmitgliedern wurde deutlich, dass sich weit mehr BerlinerInnen an »TØNSBERG« stoßen, als nur die AnrainerInnen. Neben dem Bezirksbürgermeister Dr. Handke, der eine kurze Rede hielt, waren VerterInnen verschiedener Parteien und Institutionen, wie der Amadeu-Antonio-Stiftung, der Jüdischen Gemeinde Berlins und des Zentralrats der Juden in Deutschland anwesend. Das musikalische Rahmenprogramm wurde von dem bekannten Klezmersänger Mark Aizikovitsch gestaltet. Verschiedene SpenderInnen der Stolpersteine stellten anschließend kurz die Biographien der sieben ermordeten AnwohnerInnen vor. Die hierfür notwendigen Recherchen wurden von »STOLPERSTEINE« durchgeführt und uns zur Verfügung gestellt. Das singen von je einem Psalm und des Kaddisch, dem jüdischen Totengebet, durch den Kantor der jüdischen Gemeinde Simon Zkorenblut, beschloss die Gedenkfeier. Einen weiteren Höhepunkt fand der Protest am 19. September 2008. Zusammen mit dem Bezirksverband von »Die Linke« in Berlin-Mitte veranstaltete »MITTE GEGEN RECHTS« die »Linke Kinonacht« unter dem Motto »Schöner leben ohne Nazis« im »Babylon«, direkt am Rosa-Luxemburg-Platz gelegen. Mehrere hundert, meist junge Menschen kamen, um sich das antifaschistische Programm aus Musik, Film und Kabarett anzusehen. Unsere Initiative war mit einem Infostand vertreten und hielt einen kurzen Redebeitrag. Etwa zehn Tage später begann eine neue Runde des Widerstandes gegen Uwe Meusel, »TÖNSBERG« und seine Mediatex GmbH: Am Landgericht Berlin wurde die Räumungsklage des Eigentümers der Rosa-Luxemburg-Straße 18, der Impala GmbH, verhandelt. Nachdem ein vom Richter angestrebter Vergleich scheiterte, beschloss das Gericht, bis Mitte Oktober 2008 den Rechtsstreit zu entscheiden. Am 14. Oktober 2008 hat das Berliner Landgericht der Räumungsklage des Vermieters des »TONSBERG«Ladens in der Rosa-Luxemburg-Straße stattgegeben. Nach Ansicht der Richter hätte der Betreiber dem Vermieter vor der Eröffnung darüber informieren müssen, welche Ware in dem Geschäft angeboten werde. Wie zu erwarten war, hat die Mediatex GmbH, die mittlerweile offiziell nach Dubai verkauft wurde, zum 29. November 2008 Berufung gegen dieses Urteil eingelegt. Im Frühjahr 2009 soll der Fall dann vor dem Kammergericht Berlin erneut verhandelt werden. Die Chancen für eine Räumung des Ladenlokals stehen gut, doch kann es zu weiteren Verzögerungen kommen. Die Mediatex GmbH wird in einem ähnlich gelagerten Fall in Magdeburg voraussichtlich bis zur letzten Instanz gehen: Dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Trotz all der verschiedenen Protestformen und zahlreicher Bemühungen von vielen Seiten besteht der »TØNSBERG«Store weiter. Er ist sogar bekannter denn je. Allerdings nicht als ganz normales Bekleidungsgeschäft, sondern als mit rechtem Gedankengut symphatisierender »Nazi-Laden«. Es ist uns in den letzten Monaten gelungen, die Verknüpfung »Thor Steinar« – »TØNSBERG«Rechtsextremismus deutlich zu machen. JedeR Interessierte kann sich beteiligen. Zum Beispiel bei den monatlichen Treffen oder als UnterstützerIn der verschiedenen Protestformen. Viele unterstützen »MITTE GEGEN RECHTS« im Rahmen ihrer Möglichkeiten; sie stellen kostenlos ihre Kopierer zur Verfügung, erledigen und finanzieren großformatige Drucke oder helfen mit Werkzeug aus. Seit Februar 2008 ist rund um die Rosa-Luxemburg-Straße ein gut funktionierendes Netzwerk entstanden, das Uwe Meusel, der Protex GmbH und »TØNSBERG« so lange auf die Nerven gehen wird, bis er mit samt seinem braunen Laden verschwindet. Roman Fröhlich 1 2 Vgl. zur Geschichte des Kiezes um die Rosa-Luxemburg-Straße: Eike Geisel, Im Scheunenviertel. Bilder, Texte und Dokumente, Berlin 1981; Horst Helas u. Dieter Weigert, Scheunenviertel Berlin. Stadtteilführer, Berlin 1993 u. ö.; Reiner Zilkenat, »Ostjuden« als Objekte gewalttätiger Aktionen im Berlin der Weimarer Republik. Der Pogrom im Scheunenviertel am 5. und 6. November 1923, in: Mario Kessler, Hrsg., Antisemitismus und Arbeiterbewegung. Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert, Bonn 1993, S. 29 ff.; Verein Stiftung Scheunenviertel, Hrsg., Das Scheunenviertel. Spuren eines verlorenen Berlins, Berlin 1994 u. ö.; Horst Helas, Juden in Berlin-Mitte. Biografien-Orte-Begegnungen, 2. Aufl., Berlin 2001 (mit weiter führenden Quellenund Literaturangaben). Vgl. Peter Conrady, Neonazistische Alltagsmode – die Bekleidungsmarke Thor Steinar, in: Rundbrief, Heft 3/2008, S. 43 f. 33 HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS Vor 90 Jahren starb Franz Mehring Geboren am 27. Februar 1846 in Schlawe, dem heutigen Slawno in Polen, verstarb Franz Mehring am 28. Januar 1919 in einem Krankenhaus im Berliner Grunewald. Bislang wird vom 29. Januar als dem Datum seines Todes ausgegangen. Der Mehring- Forscher Waldemar Schupp schrieb bereits am 27. Februar 1996 im »Neuen Deutschland«, Mehring sei in der Nacht vom 28. zum 29. Januar 1919 verstorben. Aus einer mir in der ständigen Ausstellung über Leben und Wirken Franz Mehrings von einem Besucher übergegebenen Urkunde des Standesamtes Steglitz vom 29. Januar 1919 wird der 28. Januar 1919 als Todestag ausgewiesen. Seine Kindheit und frühe Jugendzeit verlebte Mehring im preußischen Hinterpommern, in der Kreisstadt Sclawno zwischen Köslin, (Koszalin) und Stolp (Slupsk), wenige Kilometer von der Ostsee entfernt. Diese hinterpommersche Kleinstadt zählte damals circa 5.000 Einwohner. Einige kleinere Industriebetriebe und das landwirtschaftliche Umfeld mit Gutsbesitzern, Großbauern mit dem dazu gehörenden Heer von Tagelöhnern sowie eine Vielzahl kleiner Landwirte gaben dem Landkreis ihr Gepräge. Der Vater, Wilhelm Mehring, ein ehemaliger preußischer Offizier, war nach seiner Militärzeit Steuereinnehmer des Kreissteueramtes seines Heimatortes. Aus Untersuchungen Waldemar Schupps ergibt sich eine weitere Korrektur der biographischen Angaben zur Mutter Mehrings. Sie ist nicht wie angenommen, eine geborene Henriette von Zitsewitz, sondern eine geborene Schulz aus dem hinterpommerschen Lauenburg. Bislang wurde auf eine adlige Herkunft geschlossen. Streng im Preußengeist und evangelisch-lutherischen Glaubens, wollten die Eltern, dass ihr Sohn in die Fußstapfen der Vorfahren als Prediger treten sollte. Im Leben kommt es aber häufig anders als vorher gedacht. Niemand konnte damals ahnen, dass Franz Erdmann Mehring schließlich in seinem zweiten Leben nach 1890 in die sozialdemokratische Partei eintreten, und nach dem Tod von Friedrich Engels zu deren bedeutendsten Historiker, Journalisten und Literaturkritiker wird und als unbeugsamer sozialdemo34 kratischer Linker zum Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands werden sollte. Mehring verbrachte seine Schulzeit in Schlawe und den nahe gelegenen Kreisstädten Greifenberg und Stolp. Zum Erlangen der Hochschulreife schickten Mehrings Eltern ihren Sohn zunächst auf das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in die benachbarte Kreisstadt Greifenberg (Gryhice). Mit dem Abitur und dem häufig erwähnten Schulaufsatz »Preußens Verdienste für Deutschland« in der Tasche, führte Mehrings Weg 1866 zum Studium in das Königreich Sachsen. an die altehrwürdige, 1409 gegründete Alma Mater zu Leipzig. Er besuchte Vorlesungen bei dem klassischen Philologen Georg Curtius. Ebenso gehören griechischen Grammatik und die vergleichende Grammatik altitalischer Sprachen zu seinen Hauptfächern. Auf sein zuweilen wohl auch lustiges Studentenleben blieben das Wirken demokratischer Persönlichkeiten, die den revolutionären Geist der Menschenrechte der 1848er Revolution vertraten und das Bürgertum zur Besinnung auf diese Werte aufriefen, wie zum Beispiel Johann Jacoby (1805–1875) und Guido Weiß (1822–1899) sowie die aufwärts strebenden sozialistischen Kräfte (Eisenacher) um August Bebel (1840– 1913) und Wilhelm Liebknecht, nicht ohne Einfluss. In Leipzig begann Mehrings kritische Beschäftigung mit dem Preußentum, hier entzündete sich auch sein journalistisches Interesse.1 Mehrings langer Weg vom bürgerlichen Demokraten zum demokratischen Sozialisten Von Leipzig kommend, trug sich Mehring als Zweiundzwanzigjähriger in Berlin, am 28. November 1868, unter der Nummer 757 in die Matrikel der Kaiser Wilhelm-Universität ein und besuchte Vorlesungen in drei Seminaren. Erst 11 Jahre später promovierte Mehring, wiederum an der Leipziger Universität, extern zum Doktor der Philosophie.2 Noch als Student wurde Mehring 1869 in die Redaktion der Tageszeitung »Die Zukunft« und später die der »Waage«, von den radikalen Demokraten Johann Jacoby und Guido Weiß herausgegeben, aufgenommen. In seiner »Rechtfertigungsschrift; ein nachträgliches Wort zum Dresdner Parteitag«3 von 1903, geht Mehring auf seinen Lebensabschnitt zwischen 1868 und 1876 ein und schreibt, er sei mit Bebel »durch seinen alten Lehrer Guido Weiß bekannt geworden … wie das Bebel in Dresden geschildert hat. An Guido Weiß, der meines Erachtens zu den feinsten Stilisten in der Literatur des 19. Jahrhunderts gehört, war ich von den ästhetisch-literarischen Seite gekommen; als Mitredakteur bin ich an seiner ›Zukunft‹ von 1869 bis 1971 und als Mitarbeiter seiner ›Waage‹ von 1873–1876 tätig gewesen; in der Zwischenzeit war ich mit Leopold Jacobi, nicht zu verwechseln mit Johann Jacobi, Mitarbeiter des Oldenburgischen Reichs- und Landtagsberichts.« Bebel erwähnt in seien »Lebenserinnerungen« gemütliche Treffen, an denen auch Mehring am Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts teilnahm. »Es war in Berlin eine ziemlich starke Gruppe meist gut gestellter Bürger, die in Johann Jacobi ihr Idol sahen und mit uns sympathisierten. Sie gruppierten sich um Dr. Guido Weiß, den Redakteur der von ihm vorzüglich geleiteten »Zukunft«, eines großen demokratischen Tageblattes, das die vermögenden Jakobyten – wie wir die speziellen Anhänger Jacobys kurz nannten – im Jahr 1867 gegründet hatten … Zugehörige dieser Gruppe waren William Spindler, der Sohn des Gründers des großen Färbereigeschäfts W. Spindler, van der Leeden, Dr. G. Friedländer, Morten Levy, Dr. Meierstein, Boas, Dr. Stephan, später Chefredakteur der »Vossischen Zeitung« und andere. Auch der damals sehr junge Mehring den ich damals durch Robert Schweichel hatte kennengelernt, gehörte zu diesem Kreis. Blieben Liebknecht und ich über Sonntag in Berlin, so trafen wir in der Regel mit mehreren der Genannten, unter denen sich auch öfter Paul Singer befand, in einer Weinstube zusammen.« 4 Mehring gegen die Annexion Elsass-Lothringens 1870/71 fand der von Bismarck provozierte Deutsch-Französische Krieg statt. Zeitweilig eingenommene national liberale Positionen, beeinflusst von den mi- litärischen Siegen Preußens, man denke an die Schlacht bei Sedan, dürfen im Rückblick nicht unberücksichtigt lassen, dass der junge Mehring im Oktober 1870 zu den 100 Aufrechten gehörte, die den von August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Guido Weiß formulierten Aufruf gegen die Annexion von Elsass-Lothringen durch Preußen unterzeichneten. Es war die Tageszeitung »Die Zukunft«, die diesen Protest veröffentlichte. Die von Mehring angeregte Auseinandersetzung mit dem an der Berliner Universität lehrenden Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) und seinen Verleumdungen des Sozialismus, wurde von Guido Weiß aufgegriffen. Daraufhin veröffentlichte Mehring im Sommer 1875 in der »Waage« mehrere Artikel gegen Treitschke, den Apologeten des preußischen Militarismus und der Hohenzollernmonarchie. Sie erschienen kurze Zeit später als Broschüre.5 Nach den auf dem Dresdner Parteitag 1903 gegen Mehring erhobenen Vorwurf er habe sich vor zwanzig Jahren in den Artikeln als Sozialdemokrat ausgegeben, sie aber später gnadenlos angegriffen schrieb dieser: »Ich habe sie neulich (die Broschüre, W.R.), seit ein paar Jahrzehnten wieder durchgesehen und finde, dass sie der wissenschaftlichen Gedankenwelt des Sozialismus noch vollkommen fern steht. Sie trumpft eben nur, gleichviel mit welchem Maße von Witz, die ordinären Philistervorurteile gegen die moderne Arbeiterbewegung auf, zu deren Echo sich Treitschke gemacht hatte.« Seine damalige, sehr gefühlsmäßige Befürwortung der Sozialdemokratie darf nicht übersehen lassen, sie belegt, dass Mehring noch im bürgerlichradikalen Lager stand. Ihm bedeutete der Lassallsche Nachlass mehr als Forschungsergebnisse von Karl Marx und Friedrich Engels. So war sein Verhältnis zur modernen Arbeiterbewegung sehr pragmatisch von seinem ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden bestimmt. Später wurden auch antisemitische Äußerungen des Widerparts von Franz Mehring, Heinrich von Treitschke, bekannt: Er diffamierte Juden als »das fremde Element« im deutschen Volk und schrieb unter anderem: »Die Juden sind unser Unglück«; Anlass genug für die Nazis, ihn in die Galerie der »großen Deutschen« aufzunehmen.7 Enthüllungsjournalismus gegen Korruption und Geldgier mit unübersehbaren Folgen 1876 geschah etwas, das Mehrings Hinwendung zur jungen deutschen Sozi- aldemokratie jäh unterbrach und ihn zeitweilig zu ihrem enttäuschten und verbitterten Gegner machte. Mehring veröffentlichte, gestützt auf ihm vorliegende Beweisstücke, am 21. Mai 1976 in der »Staatsbürger-Zeitung« seine Anklage gegen Leopold Sonnemann, Herausgeber und Chefredakteur der bekannten »Frankfurter Zeitung« und Reichstagsabgeordneter. Mehring schrieb: »Somit erheben wir Anklage gegen den Reichstagsabgeordneten zu Frankfurt a.M., Herrn Leopold Sonnemann, dass er während der Schwindelperiode (auch Gründerzeit genannt, W. Ruch) seine öffentliche Vertrauensstellung als Besitzer und Leiter der ›Frankfurter Zeitung‹ benutzt hat zu heimlichen Gewinnsten aus Gründungen, über welche sein Publikum in seinem Blatte ein unbestochenes und unparteiisches Urteil zu erwarten berechtigt war.«8 In der Sozialdemokratie löste diese Anklage ein Für und Wider aus. Bebel und Liebknecht zeigten sich besonders schockiert. Sie sahen in Mehrings Vorgehen einen unverzeihlichen politischen Fehler. Für sie war Herr Sonnemann zwar nicht »unbefleckt«, aber dessen Offerten und Neigungen zur Sozialdemokratie ließen sie über manches hinwegsehen. So sah man es auch 1876 auf dem Gothaer Vereinigungsparteitag. Zeit seines Lebens ließ er nichts auf sich sitzen. Seinen steter Einsatz für den Schwächeren sah er angegriffen; enttäuscht und verbittert bezichtigte Mehring jetzt führende Sozialdemokraten des Wortbruchs. Sie würden »Wasser predigen und selbst heimlich Wein trinken.« Von einem »einrenken« war von beiden Seiten keine Seite Rede. Im Januar 1877 erschien von Mehring, kurz vor den Reichstagswahlen, seine gegen die Sozialdemokratie gerichtete Schrift: »Zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie; ein historischer Versuch.« Ein gefundenes Fressen für die knservative Presse. Dem folgte dann noch das Buch: »Die deutsche Sozialdemokratie, ihre Geschichte und ihre Lehre; eine historisch-kritische Darstellung«. Mit Letzterem promovierte Mehring schließlich am 9. August 1882 an der Leipziger Universität. Zu dieser Zeit beginnt Mehring sich mit dem »Sozialistengesetzes« und seiner Anwendung auseinanderzusetzen. Er durchschaute Bismarcks »Sozialgesetzgebung« als Politik »mit Zuckerbrot und Peitsche«. Man hört von Mehring wieder anerkennende Worte für den mutigen Kampf der Sozialdemokraten, gemischt mit Bemerkungen über die SPD, die das Verhältnis zu ihr weiterhin belasteten. Die erlittenen Wunden waren noch nicht verheilt. Das bescherte Mehring nicht gerade angenehme Entgegnungen von Karl Marx und Friedrich Engels. Engels schrieb am 24. Juli 1885 an Bebel: »Die Artikel der »Berliner Volkszeitung« sind sicher von Mehring, wenigstens weiß ich keinen anderen in Berlin, der so gut schreiben kann. Der Kerl hat viel Talent und einen offenen Kopf, ist aber ein berechnender Lump und von Natur ein Verräter …« Wie so oft führen Klassenkämpfe zu besseren Einsichten. Während Mehring immer energischer das »Sozialistengesetz« bekämpfte und seine Aufhebung forderte, beschäftigte er sich intensiv mit dem wissenschaftlichen Werk von Marx und Engels. Mehring selbst gibt zwanzig Jahre später das Jahr 1883 als Zeitpunkt seines »Gesinnungswandels« an. In der zweiten Hälfte der 80 er Jahre gewinnt er in der Sozialdemokratie wieder Achtung. Es kommt zu Gesprächen zwischen Mehring, Bebel und Liebknecht und anderen. 1888 erscheinen von Mehring erste Artikel in der seit 1882 unter der Regie von Karl Kautsky monatlich erscheinenden theoretischen Zeitung der Sozialdemokratie »Die Neue Zeit«. Umgekehrt übernahmen Sozialdemokratische Blätter Artikel aus der »Volkszeitung«, deren Chefredakteur Mehring von 1885 bis 1890 war. Franz Mehring wird Mitglied der SPD 1891 kommt es zum endgültigen Bruch mit dem bürgerlichen Lager. Franz Mehring wird jetzt, immerhin schon 45 Jahre alt, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Fortan stellt er ihr sein umfangreiches Wissen und das in zwei Jahrzehnten erworbene journalistische Können zur Verfügung. Mehring wird in die Redaktion der von Karl Kautsky geleiteten Zeitschrift »Die Neue Zeit«10 geholt und bekommt die Verantwortung für das Feuilleton übertragen, wird bald ihr Leitartikler und Mitherausgeber. Ab 1892 erscheint sein Name erstmalig auf dem Titelblatt neben August Bebel, Eduard Bernstein, Friedrich Engels, Paul Lafargue, Wilhelm Liebknecht, Max Schippel, F.R. Sorge u. a. als ständiger Mitarbeiter. Seine verdienstvolle Tätigkeit für die deutsche Sozialdemokratie als marxistischer Historiker, Literaturkritiker, Publizist und führender Kopf der Linken hatte begonnen. Eine bibliographische Zwischenbemerkung Aus der kaum zu überblickenden Zahl von Publikationen, Artikeln, Broschüren und Büchern. erfuhr zunächst »Die 35 Lessing-Legende, eine Rettung, nebst einem Anhang über den historischen Materialismus« große Beachtung. Als Buch erschien sie 1893 erstmalig im Verlag J.H.W. Dietz, in der Internationalen Bibliothek, Band 17. Vom gleichen Verlag wurde sie neunmal herausgegeben, zuletzt 1926.11 1897/98 gab der Dietz Verlag die von Heinrich Dietz in Auftrag gegebene mehrbändige Ausgabe »Geschichte der Sozialdemokratie Deutschlands«. In einem zum 125 Jahrestag des Dietz Verlages von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebenen Buch liest man im Beitrag von Rüdiger Zimmermann: »Mehring war als Autor nicht immer unumstritten. Er genoss keine großen Sympathien.« Wer wollte wohl ausschließen, dass es zwischen zwei so starken Persönlichkeiten, zumal sie sich als Autoren und Verleger gegenüber traten, keine Reibereien gegeben haben sollte. Fast alle Buchtitel von Mehring erschienen noch zu Lebzeiten beider, im J.H.W. Dietz-Verlag, außer die 1918 verlegte Karl-Marx-Biographie. Was den Menschen Franz Mehring anging, schrieb Clara Zetkin in ihrem Nachruf am 21. Februar 1919 in der Frauenbeilage der Leipziger Volkszeitung«: »Der Mensch Franz Mehring ist oft und scharf bekrittelt worden. Erklärlich ge- 36 nug, doch zu Unrecht. Gewiss: dieser allzeit gerüstete, rauflustige Degen war sowenig wie Marx. ›ein langweiliger Musterknabe‹ Er war stark in seniem Groll, wie in seiner Überzeugung, in seinem ritterlicher Mitgefühl für Verkannte und Geächtete, in seiner Freundschaft«. Die Größe dieser beiden Männer bestand wohl darin, dass beide immer wieder zusammen fanden. Zum 70. Geburtstag am 2. Oktober 1913, unmittelbar nach dem Tode August Bebels, übermittelte Mehring Heinrich Dietz herzliche Grüße und Glückwünsche. Tags zuvor waren sie in der »Leipziger Volkszeitung« zu lesen:« Sein Tagwerk steht in der Geschichte des proletarischen Emanzipationskampfes so groß da, wie das Tagwerk irgendeines von denen, die jahrzehntelang Schulter an Schulter mit ihm gearbeitet und gekämpft haben; ja, wenn er allzeit seinen Mann gestanden hat, wo immer die Parteipflicht heischend, an ihn herantrat, als Agitator, als Organisator, als Gewerkschafter, als Parlamentarier, so hat er doch einen großen und wichtigen Teil unseres Schlachtfeldes aus ureigenster Kraft verwaltet, lange Zeit allein und dann immer noch als Vorbild der jüngeren Kräfte, die ihm nacheiferten und die ihm nur nacheifern konnten, weil sie ihr Bestes von ihm gelernt hatten. Heinrich Dietz ist der Schöpfer der wissenschaftlichen Literatur, die die deutsche Arbeiterpartei zu ihren schönsten Ehren- und Ruhmestiteln zählen darf.« Eduard Fuchs (Universum–Bücherei Berlin) gab von Mehring eine sieben bändige Auswahl »Gesammelter Schriften und Aufsätze« in den Jahren von 1929 bis 1933 heraus. Eine Werkauswahl in drei Bänden, herausgegeben von Fritz J. Raddatz, wurde von Luchterhand Darmstadt von 1974/1975 verlegt. Schließlich wurden die bisherigen Ausgaben gekrönt von der ersten umfassenden Ausgabe »Gesammelte Schriften« in der DDR; herausgegeben wurde sie von Thomas Höhle, Hans Koch und Josef Schleifstein, Band 1–15, Dietz Verlag Berlin, 1960 bis 1984. Einzelne Bände erschienen außerdem in mehreren Auflagen. Im Ausland erschienen Bücher von Mehring zum Teil in hohen Auflagen, in chinesischer, deutscher, englischer, französischer, japanischer, polnischer, rumänischer, serbischer, slowenischer, slowakischer, spanischer, tschechischer und ungarischer Sprache. Jüngst erhielt ich Kenntnis von einer indischen Ausgabe gesammelter Schriften in englischer Sprache. Herausgegeben 1998 erschien in Indiens Hauptstadt Delhi erneut eine Sammelausgabe. Mehring im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Der Weltkapitalismus vollzieht an unterschiedlichen Fronten und mit unterschiedlichem Tempo den Übergang in sein imperialistisches Stadium. 1898 beschließt der Reichstag das erste Programm zur Hochrüstung der Flotte. Sie sei notwendig, so der Kaiser, um in die Lage zu kommen den noch nicht erreichten Platz in der Welt zu erreichen. Der Rüstungskonzern versicherte dem Kaiser seine Überzeugung, dass seine Exellence sich dafür einsetzen werde für Deutschlands einen »Platz an der Sonne« zu sichern. 1898 vereinbarte der Kaiser Wilhelm II .mit dem türkischen Sultan den Bau der Bagdadbahn. Bereits 1897 wurde Kiautschou am Gelben Meer annektiert. Deutschland nahm Teil am Wettlauf der Großmächte gegen China und beteiligt sich 1900 an der Niederschlagung des Boxeraufstandes. In dieser Zeit gelang es den deutschen Sozialisten ihren Einfluss nachhaltig zu erweitern und sich als Teil der internationalen Arbeiterbewegung zu definieren. Mehrings Herz schlug für die Idee des Internationalismus und das solidarische Zusammenstehen. Zahlreiche Beiträge Mehrings nach 1890 sind daher dem 1. Mai und der internationalen Revolutionsgeschichte gewidmet. Von Mehrings Leistungen als Historiker und Literaturwissenschaftler im neunten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts sollen auf Anhieb drei genannt werden, erstens 1892/93 die Herausgabe der »Lessing-Legende«, zweitens die Wahl zum Vorsitzenden des Berliner Freien Volksbühne Vereins und drittens 1887/88 die Fertigstellung jenes Werkes, das zu seinen bedeutsamsten gehört: »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie«. Zur »Lessing-Legende« Zunächst veröffentlicht »Die Neue Zeit« von Januar bis Juni 1892 »Die LessingLegende.« Diese Artikelfolge erscheint noch im gleichen Jahr. seiner Frau Eva gewidmet, als Buch im Dietz Verlag. Das war jenes Jahr, in dem am 22. September Friedrich Engels in den »Concordia Festsälen« im Berliner Bezirk Friedrichshain von 4 000 Besuchern stürmisch gefeiert wird. Neben den Mitgliedern des Parteivorstandes waren, wie aus Polizeiberichten hervorging, auch Bruno Schoenlank, Arthur Stadthagen und Franz Mehring anwesend. Ein Jahr später schrieb Engels an Mehring über die »Lessing-Legende«: »Es ist bei weitem die beste Darstellung der Genesis des preußischen Staates, die existiert, ja, ich kann wohl sagen, die einzig gute, in den meisten Dingen bis zu den Einzelheiten richtig die Zusammenhänge entwickelnd. Man bedauert nur, das sie nicht auch gleich die ganze Weiterentwicklung bis auf Bismarck haben hinein nehmen können, und hofft unwillkürlich, dass Sie dies ein andermal tun und das Gesamtbild im Zusammenhang darstellen werden vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm bis zum alten Wilhelm.« Damit wird auch die gelegentliche Frage beantwortet, ob sich das Buch gegen Lessing richte. Das Gegenteil ist der Fall. Tatsächlich entlarvt es die Legende vom »aufgeklärten« Despotismus des »Alten Fritz«. Mehring sah in Lessing einen bedeutenden Aufklärer, der als Dichter und Literaturkritiker zum Begründer der bürgerlichen deutschen Nationalkultur wurde. Mehring ging es um eine Analyse der Geschichte Preußens und den Missbrauch Lessings für die reaktionäre Idealisierung des preußischen Despotismus. Mehring hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass er Preußen als Teil der deutschen Geschichte sah, aber er sah Preußen nie nur aus der Sicht seiner Legenden und als Historiker ließ er sich nicht in die Grenzpfähle Preußens zwängen. Die »Lessing-Legende« und das Hohenzollern-Schloss in Berlin Ließt man die »Lessing-Legende«, stößt man sehr schnell auf die in den letzten Jahren geführte Debatten um das Berliner Hohenzollern-Schloss. So wenig wie es beim Abriss des Palastes des Volkes um Architekturauffassungen mit oder ohne Asbest ging, so wenig geht es beim Wiederaufbau des Stadtschlosses um die von den Protagonisten, teils blauäugig vertretene Auffassung, der Wideraufbau diene der Pflege deutschen Architekturerbes. Man sollte sich daran erinnern, dass es der Alliierte Kontrollrat war der es für nötig hielt per Gesetz 46 vom 25. Februar 1947 den Staat Preußen mit der Begründung aufzulösen: »Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört. Geleitet vom Interesse der Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit der Völker und erfüllt von dem Wunsche, die weitere Widerherstellung des politischen Lebens in Deutschland auf demokratischer Grundlage zu sichern, erlässt der Kontrollrat das folgende Gesetz:« zur Auflösung des Staates Preußens. Eine geschichtsträchtige Debatte zur Rolle der Hohenzollernmonarchie in der deutschen Geschichte fand nicht statt. Das heutige konservative Preußenbild gab ihr keine Chance. Andere Lösungsvorschläge als Abriss des Palastes verfielen der Ablehnung. Der Preußengeist feiert neue Urständ. Einen Tag vor Sylvester, am 30. Dezember 2008 benutzt Bernhard Schulz12, der Preußensachverständige und Kolumnist des »Tagesspiegel«, die vorgelegte Jahresbilanz der »Stiftung Preußischer Kulturbesitz um seine geschichtsphilosophischen Dogmen an den Leser zu bringen: »Der Bundespräsident hielt die Festrede (2007 d. Verf.), aber man staunt auch im Nachhinein wie vorsichtig sich Horst Köhler der kulturellen Bedeutung Preußens näherte, als müsste man heute noch rituell Abbitte leisten für den Militärstaat, der Preußen zweifellos auch war. >Den Sonderweg der gradlinig in die Nazidiktatur mit ihren unsäglichen Verbrechen .führte<, muss man spätestens seit dem – von Köhler erwähnten – Buch des in England lehrenden Christopher Clark ebenso wenig herbeizitieren wie lange Zeit den etwas zu betont hervor gehobenen >Widerstand gegen Hitler«. Empfiehlt sich da nicht wieder, in Mehrings »Lessing-Legende« zu schauen? 1910 schloss Mehring den Kreis seiner Untersuchungen zur deutsch-preußischen Geschichte mit dem Buch: »Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters« bis zum Sturz Bismarcks. Diese Schrift, so Mehring in seinem Vorwort sei entstanden aus den Vorträgen die er seit vier Jahren an der Parteischule der SPD gehalten habe. Die erste Neuauflage dieses Werkes erfolgte 1946, unmittelbar nach dem Vereinigungsparteitag von SPD und KPD in Berlin durch den Dietz Verlag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Begründet wurde diese Veröffentlichung mit der Notwendigkeit die deutsche Geschichte zu bewältigen. Vorsitzender des Vereins der Freien Volksbühne Mehring zog es zu dem 1890 im Böhmischen Brauhaus in Friedrichshain gegründeten Theaterverein Freie Volksbühne Berlin. An der Gründungsversammlung hatten etwa 2000 Berliner teilgenommen von denen viele ihren Beitritt zu einem monatlichen Beitrag von 50 Pfennig erklärt hatten. »Kunst dem Volke«14 war das im Gründungsaufruf verkündete Ziel dieser ersten selbstständigen Theaterorganisation der Arbeiterbewegung. In der, sofort nach Gründung des Vereins einsetzenden Debatte über die Konzeption des Spielplanes und über seine künst37 lerische Umsetzung konnte sich Bruno Wille, dem Initiator aus dem Friedrichshagener Kulturkreis, im Vorstand nicht durchsetzen. Er wurde »gestürzt«. Am 11. September 1892 wählte die Mitgliederversammlung Franz Mehring zum neuen Vorsitzenden des Vereins. Sie sah in seiner Wahl die Möglichkeit, aus der konzeptionellen Krise der jungen Theatergemeinschaft heraus zu kommen. Der Verein verfügte über keine eigene Bühne. Das Gebäude der »Volksbühne« am heutigen RosaLuxemburg-Platz konnte erst 1914 fertig gestellt werden. Das Ostend-Theater in der Großen Frankfurter Straße 132 Ecke Koppenstraße wurde gemietet. Henrik Ibsens Drama »Stützen der Gesellschaft« gehörte zu den Erstaufführungen.. Unter dem Vorsitz von Mehring gelangte 1893 das mehrfach verbotene Schauspiel »Die Weber« von Gerhart Hauptmann zur Aufführung.15 Mit regelmäßigen Beiträgen im Mitteilungsblatt des Vereins trug Mehring auch zu seiner geistigen Gestaltung bei. Im Dezember 1893 schrieb Mehring: (…) Die »Weber« von Gerhart Hauptmann ist das einzige Bühnenstück der Gegenwart, das auf der Höhe des modernen Lebens steht und für das Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine ähnliche Bedeutung in der deutschen Literatur beanspruchen kann wie Schillers Räuber Ausgangs des achtzehnten Jahrhunderts. (…)16 Die »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie« Heinrich Dietz, Verlagschef des gleichnamigen, der SPD nahe stehenden Verlages, hatte Franz Mehring mit der Abfassung der Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands »beauftragt«.17 Von 1893, dem Jahr des Erscheinens seines ersten literatur-historischen Werkes die »Lessing-Legende«, begann Mehring an der Parteigeschichte zu arbeiten. 1897/98 erschienen, war sie die erste umfassende Darstellung der Geschichte der deutzschen Sozialdemokratie und der Grundlagen des modernen wissenschaftlichen Kommunismus. Die Kenntnis der eigenen Wurzeln, der geistigen Ahnen von Marx und Engels, der internationalen Geschichte der sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, insbesondere der der Sozialdemokratie, halfen der Partei, sich selbst als die die Geschichte bewegende und verändernde Kraft zu erkennen. Mehring erwies sich nach dem Tode von Friedrich Engels als bedeutendster Historiker der sozialdemokratischen Partei. Die Schönfärber des Preußentums und Verehrer der Bourgeoisie verschiedener Couleurs tra38 ten sofort gegen Mehring auf den Plan. In Erwartung solcher Anwürfe schrieb Mehring 1897: » Die alte Erfahrung, dass jedes Buch sich selbst das Recht seines Daseins erkämpfen muss, trifft dreimal zu auf die Geschichte der Sozialdemokratie, die wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden sucht.«18 Heute lässt sich sagen: die drei Hauptwerke Mehring die »Lessing-Legende« die »Geschichte der deutschern Sozialdemokratie« und die im Mai 1918 erschienene Marx-Biographie haben ihr Daseinsrecht bewahrt. Franz Mehring und die »Die Leipziger Volkszeitung« Von Ostern 1902 bis 1907 währte die »Ära Mehring« als Chefredakteur der am 1. Oktober 1894 gegründeten »Leipziger Volkszeitung« (LVZ).Er wurde zum Pendler zwischen Leipzig und seinem Hauptwohnsitz Berlin. Mehring setzte seine verantwortliche Tätigkeit in der Zeitschrift »Die Neue Zeit« und als Historiker und Literaturwissenschaftler fort. So spannte sich der Bogen seiner journalistischen Tätigkeit von der »Zukunft« bis zur »Roten Fahne«. Dazwischen liegen »Die Neue Zeit«, »Die Leipziger Volkszeitung«, der »Vorwärts«, Spartakusbriefe Bekanntheitsgrad wie dem Bremer und Stuttgarter Sozialdemokrat und der von Eugen Prager (1876–1942) redigierten Thüringer Zeitung »Zukunft«. und Veröffentlichungen in sozialdemokratischen Zeitungen mit einem reichsweiten 1902 erschienen von Mehring im Dietz Verlag drei Bände aus dem literarischen Nachlass von »Karl Marx und Friedrich Engels und als vierter Band die Briefe Ferdinand Lassalles. In Leipzig war der Journalist Mehring kein Unbekannter. Schon im April 1897 hatte er sich in der LVZ mit Eduard Bernstein19 auseinandergesetzt: Mehring schrieb: »Wollte die Sozialdemokratie ihren Klassenkampf führen, ohne unausgesetzt ihr Endziel im Auge zu behalten, so würde sie einem Schiffer gleichen, der sich ohne Kompass und Steuer auf einem klippenreichen und stürmischen Meere zu recht finden wollte. Wenn solch ein Schiffer sagen wollte >das Ziel ist mir gar nichts, die Bewegung alles< so könnte er verteufelt schlechte Erfahrungen machen.« Mehring fügte hinzu, die Erfolge und Fortschritte der Sozialdemokratie wurden erreicht, weil sie immer das Endziel im Auge behielt: »Dabei mag sie im Einzelnen geirrt haben oder im einzelnen wieder irren können, aber was sie bei Strafe ihres Untergangs nie aus dem Auge verlieren darf, ist das sozialistische Endziel selbst« Auf dem Stuttgarter Parteitag, (3.– 8. 10. 1898), kommt es zu erregten Auseinandersetzungen über Fragen der Taktik, zum Verhältnis von Tageskampf und Endziel der Partei. Gegen Eduard Bernstein, Wolfgang Heine, H. Peus, K. Schmidt wenden sich August Bebel, Karl Kautsky, Wilhelm Liebknecht, Rosa Luxemburg, A. Parvus, B. Schoenlank, P. Singer, A. Stadthagen und Clara Zetkin. In der Presse hatte F. Mehring vor der Gefahr einer Umwandlung der SPD in eine kleinbürgerliche Reformpartei gewarnt. Er hielt aber auch noch, eine Verständigung mit Bernstein für vorstellbar. Gestützt auf die, von seinem 1901 verstorbenen Vorgänger Bruno Schoenlank geschaffenen Voraussetzungen, entwickelte Mehring die »Leipziger Volkszeitung« zu einem Zentrum des Kampfes gegen das Vordringen opportunistischer Strömungen in der SPD, wie dies Rosa Luxemburg gelegentlich einschätzte, E. Bernstein die theoretische Grundlagen geliefert hatte. Der Dresdner Parteitag: Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit dem Revisionismus Mehring wurde zur Zielscheibe der Revisionisten. Angesichts ihrer Erfolglosigkeit holten sie auf dem Dresdner Parteitag 1903 zu einem heimtückischen Schlag aus um Mehring »los zu werden.« Die Parteitagsdelegierten Heinrich Braun, Bernhard und weitere versuchen mit scheinheiliger Gebärde frühere Irrungen und Wirrungen, sich nicht vor Fälschungen scheuend hervor zu kramen um Mehring zu diskreditieren und zu Fall zu bringen. Mehring widersetzte sich diesen Attacken. Von dieser Niedertracht tief erschüttert, pochte er auf dem Parteitag, auf eine ehrenwerte Klärung durch die Partei erwarte. Die Verleumdungen werde er schriftlich entkräften und bis zur Klärung durch die zuständigen Parteiinstanzen seine Tätigkeit in »Die Neue Zeit« und der »Leipziger Volkszeitung« einstellen. Mehring erfuhr noch auf dem Parteitag nachhaltige Unterstützung von A. Bebel, P. Singer und C. Zetkin. Bebels sah aber auch im Entwicklungsweg Mehring ein »psychologischen Rätsel«. Von den Gegnern Mehrings dann allzu häufig kolportiert sah sich Clara Zetkin auch in ihrem Artikelnachruf zu äußern: »Der viel angeführte Ausruf ist jedoch nicht für Mehrings Charakter kennzeichnend, wohl aber für Bebels mangelnde Fähigkeit Menschen richtig einzuschätzen, deren wesen nicht in einer gewissen nüchternen Alltäglichkeit an der Oberfläche lag und von kräftig sich durchsetzenden Gegensätzen bewegt wurde.« Schließlich verurteilte die überwältigende Mehrheit der Delegierten, was in Stuttgart noch nicht möglich schien, den Revisionismus. In bürgerlichen Zeitungen labten sich an dem unwürdigen Schauspiel auf dem Dresdner Parteitag und sprachen von Selbstzerfleischung Mit dem Schlag gegen Mehring wollten die Revisionisten auch das großartige Ergebnis der voran gegangenen Reichstagswahlen und entstandener Illusionen zur Veränderung der Mehrheit i der Partei für ihren Rechtsdrall nutzen. Sie wurden gestoppt, die SPD ging erneut gestärkt aus dieser Auseinandersetzung hervor, aber die Revisionisten blieben in ihren Reihen, sie gaben nicht auf bis zur Entwaffnung der Partei in ihrem Kampf gegen Militarismus und Krieg. Am 22. Oktober 1903 erschien dann im Verlag der »Leipziger Volkszeitung« Mehrings Schrift: »Meine Rechtfertigung« in der er alle Anwürfe entkräftete. Kautsky würdigte Mehring in der »Neuen Zeit«: In der Leipziger Volkszeitung hat Mehring das Muster der theoretisch-konsequenten Leitung einer sozialistischen Tageszeitung geliefert. Die Partei hat alles Interesse daran, dass dieses Muster erhalten bleibe.« Am 24. November teilte dann die »Leipziger Volkszeitung« mit: Auf Grund der Rechtfertigungsschrift des Genossen Mehring hat die Presskommission der Leipziger Volkszeitung in Verbindung mit dem Agitationskomitee und nach Rücksprache mit den Vertretern der Parteigenossenschaft des 12.und 13. Reichstagswahlkreises einstimmig beschlossen, den Genossen Mehring aufzufordern, seine frühere Tätigkeit für die Leipziger Volkszeitung wieder aufzunehmen.« Einen Tag später drückte der Parteivorstand in einer Erklärung den Wunsch aus, Franz Mehring möge seine Tätigkeit in »Die Neue Zeit« fortsetzen. Die Opportunisten gaben sicht nicht geschlagen behielten Mehring weiterhin im Visier. Schon zum Jenaer Parteitag, zwei Jahr später, begründeten sozialdemokratische Redakteure aus Breslau, zwar vergeblich, einen Ausschlussantrag gegen Mehring wegen »unparteigenössischer« Leitung der LVZ. Mit Mehring profilierte sich die LVZ zur bedeutenden revolutionären Massenzeitung zum Sprachrohr der deutschen Linken mit deren internationalistischer Haltung zu den drei russischen Revolutionen in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Zur bürgerlich-demokratischen Revolution 1905/1906 in Russland befanden sich Mehring und seine Redaktion weit- gehend in solidarischer Übereinstimmung mit der Führung der SPD. In der Mitgliedschaft wuchs die Befürwortung des politischen Massenstreiks. Franz Mehring und die sozialdemokratische Bildungsarbeit Am 7. November 1906 wählte der Parteivorstand und Kontrollkommission erstmalig den Zentralbildungsausschuss der Sozialdemokratischen Partei. Ihm gehörten an August Bebel, Parteivorsitzender und H. Heimann, Vorsitzender des Ausschusses, E. David, K. Korn, Franz Mehring, H, Schulz (Geschäftsführer), G. von Vollmar und Clara Zetkin. Der Zusammen-setzung nach zu urteilen, war der Parteivorstand darauf bedacht, gegensätzliche Richtungen in diesem Gremium zu vereinen. Die Parteibasis blieb außen vor. Nach den vom Mannheimer Parteitag (23.–29. September 1906) beschlossenen Leitsätzen »Volkserziehung und Sozialdemokratie«20, vorgelegt von Heinrich Schulz und Clara Zetkin, soll der zentrale Bildungsausschuss auch einen besoldeten Geschäftsführer haben und von Berlin aus wirken. In den »Leitsätzen« wird zu seinen Aufgaben erklärt. »Er stellt organisch aufgebaute Programme für Vorträge und Vortragskurse und die dazu gehörigen Literaturnachweise zusammen, erteilt Ratschläge für belehrende und künstlerische Veranstaltungen, vermittelt rednerische und künstlerische Kräfte und sucht auf andere geeignete Weise seiner Aufgabe gerecht zu werden. Der Ausschuss wird alljährlich von dem Parteivorstand und der Kontrollkommission gewählt.« Eine Woche später wurde die Parteischule der SPD in der Lindenstraße 3, Berlin Kreuzberg, nahe am Spittelmarkt, feierlich eröffnet. Wie aus einer Veröffentlichung der Friedrich-Ebert-Stiftung: Archiv der sozialen Demokratie vom 4. September 2008 hervorgeht, waren Vertreter des Parteivorstandes, der sozialdemokratischen Wahlvereine GroßBerlins, der Redaktionen der Zeitschrift »Neue Zeit« und des »Vorwärts« sowie das Lehrerkollegium und die Teilnehmer des ersten Kurses anwesend. August Bebel, im Parteivorstand zuständig für die Schule, hielt die Begrüßungsansprache. Von 64 Bewerbern für den fiel die Auswahl auf 31 Kursusteilnehmer, darunter eine Frau. Das Mitglied des Bildungsausschusses und Historiker Franz Mehring wurde in das Lehrerkollegium dieser bedeutenden Bildungsstätte der SPD berufen und gehörte ihm bis zu seiner Erkrankung 1911 an. Im Fach »Deutsche Geschichte seit dem Mittelalter« gab er fast 400 Stunden Unterricht.21 Zu den Lehrern gehörten außer Mehring bekannte Theoretiker wie Rosa Luxemburg, Rudolf Hilferding und Hermann Duncker, Parlamentarier wie Arthur Stadthagen und Bernhard Wurm, oder Juristen wie Hugo Heinemann und Kurt Rosenfeld. Diese hatten bereits international einen Namen und bekannten sich zur revolutionären Taktik des Erfurter Programms. Für Kurt Beck, zeitweiliger Parteivorsitzende der heutigen SPD, sagte bei einer Ausstellungseröffnung, »die Dogmatiker hatten damals in der SPD die Oberhand«. Die Parteivorsitzenden der Sozialdemokratie hießen »damals« August Bebel und Paul Singer. Über den eigentliche Unterrichtsbetrieb ist wenig dokumentiert. Der Hermann Duncker-Forscher Heinz Deutschland veröffentlichte anlässlich des 100. Jahrestages der sozialdemokratischen Parteischule in Berlin, einen Brief des Lehrgangsteilnehmers Alfred Keimling, den dieser am 21. November 1906 an Hermann Duncker gerichtet hatte.22 Da die Parteischüler privat bei sozialdemokratischen Gastgebern wohnten, konnten sie auch während ihrer Schulzeit, hatten sie auch außerhalb der Lehrgangszeit Zugang zu den Kämpfen der Sozialdemokratie. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Lehrer für einen lebensnahen Unterricht sorgten. Noch bewegte die russische Revolution die sozialdemokratischen Gemüter. Die Auseinandersetzungen um den politischen Massenstreik waren nach der verhängnisvollen Entscheidung auf dem Mannheimer Parteitag 1906 nicht verstummt. Die Kämpfe gegen das Klassenwahlrecht und für die Gleichberechtigung der Frau gewannen an Bedeutung. Während dessen forcierte der deutsche Imperialismus und Militarismus seinen Kampf um den »Platz an der Sonne« Von 1906 bis 1914 203 Schüler, davon 20 Frauen die Parteischule. Unter den Schülern befanden sich u. a. Wilhelm Kaisen der nach 1945 die Regierungsgeschäfte in Bremen in die Hand nahm, Gewerkschaftsfunktionäre wie Fritz Tarnow, Theoretiker des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, der einen führenden Platz beim Neuaufbau der Gewerkschaften einnahm, Funktionäre wie der Thüringer Widerstandskämpfer Richard Dietrich, der 1946 die Zeitzer SPD in die Vereinigung von KPD und SPD zur SED führte oder Wilhelm Pieck, der Bremer Parteisekretär der SPD, der nach dem Besuch der Schule bei Hermann Schulz, Leiter der Parteischule, dessen hauptamtlicher Mitarbeiter wurde, lokale Bildungsausschüsse gründen half, dem Spartakusbund an 39 der Seite Mehrings, Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs angehörte und der 1946 gemeinsam mit Otto Grotewohl, Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zum Vorsitzenden der SED gewählt und schließlich 1949 Präsident der DDR wurde. Mehring beschäftigt sich weiter mit der deutschen Klassik, der ausländischen Literatur und der bildenden Kunst Mehring beendigte erst seine Chefredakteurtätigkeit an der »LVZ« erst nach Aufnahme seiner Lehrtätigkeit. Zugleich publizierte er im »Vorwärts«, siehe deren Jubiläumsausgabe vom 31. März 1909, und nahm weiterhin seine Verpflichtungen an der sozialdemokratischen Wochenzeitung »Die Neue Zeit« war. Mehring blieb Redakteur und Mitherausgeber. Über zwanzig Artikel erschienen aus seiner Feder von 1906 bis 1911. Mehring verlegte die Schrift von Engels »Der deutsche Bauernkrieg« im Vorwärts Verlag. Veröffentlichungen zur deutschen Klassik gewinnen für ihn erneut an Bedeutung. Aus Platzgründen lässt sich nur ein bescheidener Einblick geben. 1909 erblickte »Schiller. Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter« das Licht der Welt. Eine überarbeitete Auflage folgte 1913. Mehring verfasste zahlreiche Einführungen in die klassische Theaterwelt: 1909 zu Schillers »Kabale und Liebe«, zu Lessings »Nathan den Weisen« und zur »Minna von Barnhelm« sowie zu Heinrich Kleists »Der zerbrochene Krug.« 1911 folgt von Mehring eine Heine-Biographie. Sie wird Teil einer zehnbändigen Volksausgabe von HeineWerken im Vorwärts Verlag. Seine Aufsätze zur ausländischen Literatur erfassen zahlreiche Länder Europas von Spanien bis Rußland und reichen von Cervantes »Don Quichott« bis Gorkis Nachtasyl und zur bildenden Kunst vom 500. Geburtstag Gutenbergs bis zu Gemälden Rembrandts. Rosa Luxemburg würdigt in ihrem Glückwunsch zu Mehrings 70. Geburtstag auch seine Leistungen zur Klassik: »Durch Ihre Bücher, wie durch Ihre Artikel haben Sie das deutsche Proletariat nicht bloß mit der klassischen deutschen Philosophie, sondern auch mit der klassischen deutschen Dichtung, nicht nur mit Kant und Hegel, sondern mit Lessing, Schiller und Goethe durch unzerreißbare Bande verknüpft. Sie lehrten unsere Arbeiter mit jeder Zeile aus ihrer wunderbaren Feder, dass der Sozialismus nicht nur eine Messer- und Gabelfrage, sondern eine Kulturbewegung, eine stolze große Weltanschauung sei« 23 40 Zum Mehring-Kautsky-Konflikt Nicht formelle Streitigkeiten, sondern politische Gründe, »Meinungsverschiedenheiten über die Parteitaktik«, waren es in erster Linie, schrieb Mehring in seinem Brief an den Parteivorstand, die den Mehring-Kautsky-Konflikt seit 1912 herauf beschworen. Mehring sah sich sehr gekränkt durch Unterstellungen Kautskys, er habe sich in einem Artikel über Lassalle gegen Marx gewandt und ihm Kompetenzüberschreitung unterstellte als er, wie gewohnt, zum Beispiel Artikel von Rosa Luxemburg an die sozialdemokratische Presse über den sozialdemokratischen Pressedienst weiterleitete. Mehring schrieb keine Leitartikel mehr für »Die Neue Zeit« und schied nach Auseinandersetzungen mit dem Parteivorstand als ihr Mitherausgeber aus. Clara Zetkin und Rosa Luxemburg hatten ihm zuvor geraten, den Revisionisten nicht freiwillig das Feld zu räumen. Allerdings setzte dann Mehring seine journalistische Arbeit in dieser Zeitschrift, mit Zustimmung des Parteivorstandes, im beschränkten Umfang fort Mehring verstärkte die Herausgabe weniger bekannter Schriften von Friedrich Engels, Wilhelm Wolff, Wilhelm Weitling bis Ferdinand Lassalle. In dieser Zeit beginnt Mehring mit den Arbeiten an seinem letzten Hauptwerk, der 1918 zum Geburtstag von Marx erscheinen sollenden Marx-Biographie. Um den Einfluss der Linken zu erhöhen gaben Franz Mehring, Rosa Luxemburg und Julian Marchlewski ab 1913 wöchentlich eine eigene »Sozialdemokratische Korrespondenz« heraus. Sie wurde zum ersten selbstständigen Organ der deutschen Linken in der SPD. Mit ihrer Hilfe versorgten sie die Redaktionen sozialdemokratischer Presseorgane mit eigenen Beiträgen, Informationen und Anregungen. Es war die Zeit des verstärkten Kampfes gegen Militarismus und den ersten imperialistischen Weltkrieg. Mehrings Kampf nach Ausbruch des ersten imperialistische Weltkrieges Noch am 25. Juli 1914 ruft die SPD zu Aktionen auf. 14 Tage später, am 4. August 1914 stimmt die sozialdemokratische Reichstagstagsfraktion unter Fraktionszwang gegen die Minderheit zu der Karl Liebknecht gehörte, für die Kriegskredite Sie bricht in Übereinstimmung mit der Mehrheit des Parteivorstandes die Beschlüsse der II. Sozialistischen Internationale. Vergessen war der Aufruf des Parteivorstandes der SPD vom 25. Juli 1914 sofort in Massenversammlungen »den unerschütterlichen Friedenswillen des klassenbewußten Proletariats zum Aus- druck zu bringen.« Nun galt der Ruf des Kaisers Ruf an die »vaterlands-losen Gesellen«: »Ich kenne nur noch Deutsche«. Am Abend der Abstimmung im Reichstag trafen sich namhafte Linke in der Wohnung Rosa Luxemburgs. Unter ihnen befanden sich Hermann Duncker, Rosa Luxemburg, Julian Marchlewski, Franz Mehring, Ernst Meyer, Wilhelm Pieck. Der Älteste unter ihnen war Franz Mehring. Er nahm trotz angeschlagener Gesundheit sofort teil an der Fortsetzung ihres des Kampfes gegen die »Burgfriedenspolitik« und für die Beendigung des imperialistischen Krieges. Mit dem gleichen Ziel entstehen in verschiedenen Städten oppositionelle Gruppen in der Sozialdemokratie. Am 2. Dezember 1914 setzt sich Liebknecht über den Fraktionszwang hinweg und stimmt als einziger Abgeordneter im deutschen Reichstag gegen die zweite Kriegskreditvorlage. Aus der Vielzahl der Aktivitäten Mehrings können in diesem Rahmen nur einige aufgeführt werden. Auf der ersten Reichskonferenz der revolutionären Opposition am 5. März 1915 in der Wohnung Wilhelm Piecks übernehmen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die Herausgabe der Monatsschrift »Die Internationale« für Praxis und Theorie des Marxismus. Im Juli 1915 wird gegen P.Berten, Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Clara Zetkin wegen ihrer Mitarbeit an der Zeitschrift »Internationale » ein Verfahren eingeleitet. Mehring gehört zu den Linken die zum 19. März 1916 die erste Reichskonferenz der Spartakusgruppe nach Berlin einberufen und die die Konstituierung der Spartakusgruppe im Wesentlichen abschließt. Die danach einsetzende Verhaftungswelle erfasst nicht nur Karl- Liebknecht und Rosa Luxemburg sondern macht auch vor dem 70jährigen, nicht mehr gesunden Franz Mehring nicht halt. Vom 3. August bis zum 24. Dezember wird er in »Schutzhaft« genommen und im Gefängnis Brandenburg eingesperrt. Heinz Deutschland stieß bei seinen Recherchen im Bundesarchiv auf eine Postkarte Mehrings (BArch/SAPMO 11-12 N), Poststempel 25. 12. 1916 an Käte Duncker, der Frau Hermann Dunckers: »Liebe Freundin! Hiermit melde ich mich wieder zur Stelle. Freund M (vermutlich Ernst Meyer), ist noch, wie mein kleiner Finger sagt ›in Ketten‹, doch hoffe ich, das er bis Ende dieser Woche wieder antreten wird. Ich wurde im Krankenwagen herbefördert und bin sehr matt und müde, so dass mir der Arzt auf Strengste verboten hat, Besuche zu machen. Sie müssen deshalb einstweilen mit diesen flüchtigen Zeilen vorlieb nehmen. Stets Ihr F.M. Nachschrift Käte (für Hermann) mit Bleistift: M.I.H. Ich war gestern bei ihm, fand ihn matt und abgemagert, aber im übrigen ganz der ›Alte‹. Mir ist ein Stein vom Herzen! Viele, viele Grüße D.K.24 Am 18. Januar 1917 schloss die Parteiführung der SPD mit 29 gegen 10 Stimmen die um die sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft mit Eduard Kautsky und Georg Ledebour und den Linken um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht Clara Zetkin und Franz Mehring gruppierte Opposition aus der SPD aus. Zur ideologischen Spaltung der SPD trat jetzt auch die vom Parteivorstand der SPD herbeigeführte organisatorische Spaltung. Karl Liebknecht bat Mehring für ihn am 20. März 1917 in dessen neuen Wahlkreis 11 bestehend aus den Stadtteilen Wedding und Gesundbrunnen in der »Ersatzwahl« für ihn, zum preußischen Landtag zu kandidieren. Der Rechtsanwalt Dr. Karl Liebknecht hatte der offiziellen Begründung zufolge, sein Mandat verloren »infolge Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte«25.Mehring konnte ein ähnlich gutes Wahlergebnis von Liebknecht erreichen. Ausgerechnet während des Krieges erhält Mehring sein erstes parlamentarisches Mandat. Er wird im preußischen Landtag anstelle von Liebknecht das Wort ergreifen. Mehring stellt in jenen Tagen das Manuskript für die MarxBiographie fertig und setzt seine journalistische Tätigkeit fort. Mehring überträgt seine Solidarität für die russischen Revolutionäre von 1905/06 auf die FebruarRevolutionäre von 1917 und dann auf die sozialistische Oktoberrevolution. Am 23. April 1917 schreibt Mehring im Auftrage des Spartakusbundes an Vorsitzenden des Exekutivkomitees des Arbeiterund Soldatenrates, Genossen Tscheidse: die Revolution in Russland gehöre zu den größten Ereignissen der Weltgeschichte und sei der Beweis für die großen Möglichkeiten des proletarischen Klassenkampfes in den Krieg führenden Ländern.26 Im Mai 1918 erleidet Franz Mehring einen Ohnmachtsanfall, stürzt und zieht sich eine schwere Kopfverletzung zu. Er berichtete Rosa Luxemburg von seinem Unfall. Sehr bestürzt antwortet sie: Wie mich ihr letzter Brief und namentlich der Bericht von dem fatalen Unfall erschüttert hat. Kann ich ihnen gar nicht sagen. Ich ertrage ja nunmehr meine ins vierte Jahr währenden Sklawerei mit wahrer Lammsgeduld, hier aber unter dem Eindruck solcher schmerzlicher Nachrichten, packte mich eine fieberhafte Ungeduld und ein brennendes Verlangen, sofort hinaus zu dürfen, nach Berlin zu eilen und mich durch Augenschein zu überzeugen, wie es Ihnen geht, Ihnen die Hand zu drücken und mit Ihnen ein Stündchen zu plaudern.«27 Mehring musste seine Frau Eva bitten, ihm den Antwortbrief vorzulesen. Die zur Revolution drängenden Ereignise überschlagen sich und nun auch dieser Unfall Mehring. Mit Unterstützung von Eduard Fuchs gelang es noch im gleichen Monat Mai in einem Leipziger Verlag es die Marx-Biographie herauszubringen. Schon Spätestens 1913 hatte Mehring mit der Arbeit begonnen. Rosa Luxemburg schrieb den Abschnitt zur Nationalökonomie. Dieses letzte Hauptwerk Mehrings sollte zum Geburtstag von Karl Marx am 5. Mai 1918 erscheinen. Die Freigabe durch die Militärzensurr erfolgte erst nach langwierigen Auseinandersetzungen und kleineren Korrekturen. Im Mai und Juni 1918, parallel zur ausführlichen Vorstellung seiner Marx-Biographie in der »Leipziger Volkszeitung« auch seine vierteilige Folge: »Die Bolschewiki und wir« zu veröffentlichen und am 3. Juni ein »Offenes Schreiben an die Bolschewiki« zu richten: »Es mag anmaßend erscheinen, wenn ich, als ein einzelner ihrer deutschen Gesinnungsgenossen, den russischen Kameraden brüderliche Grüße und herzliche Glückwünsche sende. Aber in Wahrheit schreibe ich Ihnen doch nicht als einzelner, sondern als Ältester der Gruppe Internationale, der Spartakusleute, derjenigen sozialdemokratischen Richtung in Deutschland, die seit vier Jahren unter schwierigsten Umständen, auf demselben Boden, mit derselben Taktik kämpft, wie sie von Euch angewandt wurde, ehe die glorreiche Revolution Eure Anstrengungen mit dem Sieg gekrönt hat. Mit neidlosen Stolz empfinden wir den Sieg der Bolschewiki als unseren Sieg, und wir würden uns freudig zu Euch bekennen, wenn unsere Reihen nicht arg gelichtet wären und viele von uns – wahrlich nicht die Schlechtesten – hinter den Mauern des Gefängnisses schmachteten, wie die Genossin Rosa Luxemburg, oder hinter den Mauern des Zuchthauses, wie der Genosse Karl Liebknecht.« Wenige Tage später wurde Franz Mehring zum ordentlichen Mitglied der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der RFSSR für seinen wissenschaftlichen Beitrag für den Kampf um den Sozialismus berufen. Mehring hielt in seinem Brief auch nicht hinter dem Berg: Beim Eintritt in die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschland (USPD) habe ihn und die Sparta- kusgruppe die Hoffnung bewegt, die Unabhängigen auf Revolutionskurs bringen zu können. Diese Hoffnung habe sich aber nicht erfüllt. Diese Einschätzung werde aber nicht von allen Spartakusanhängern geteilt. Mehring wurde am 7. Oktober 1918 von der Reichskonferenz der Spartakusgruppe in Abwesenheit in die Leitung gewählt. Diese Konferenz sprach sich für den Ausbau der Rätebewegung, für den Sturz der kaiserlichen Monarchie und für eine Republik aus. Sie rief zum bewaffneten Aufstand auf. Am 18. Oktober 1918 nahm Franz Mehring auf einem Krankenstuhl an einem Empfang der sowjetischen Botschaft anlässlich der Freilassung Karl Liebknechts aus dem Zuchthaus teil. Die November-Revolution weitete sich nach den Matrosenaufständen in Windeseile aus. Spartakus konnte nicht überall sein. Rosa Luxemburg sah nach ihrer Befreiung ihre Hauptaufgabe in der Herausgabe der Zeitung »Die rote Fahne.« Erst am 18. November kam sie dazu, dem kranken Franz Mehring zu schreiben: »Das erste war: endlich mit einer Zeitung herauszukommen. Nun brenne ich darauf ihr Urteil zu hören, ihren Rat zur Seite zu haben. Wir waren hoch erfreut, als uns Freund X* mitteilte, dass wir demnächst ›Die Fahne‹ mit ihrem Namen schmücken können.«29 Wie ersichtlich hütete sich Rosa Luxemburg eine Mitarbeit in der Nerven zermürbenden Redaktionsarbeit anzubieten. Sie machte es aber möglich, bis zum 28. 12. 1918 in der »Roten Fahne« eine von Mehring erneut bearbeitete vierteilige Serie über seine »Militärische Schutzhaft« zu veröffentlichen. Mehring wurde zum Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands. Vom Tod seiner engsten Mitstreiter Karl Liebknecht und Rosa Lusemburg erfuhr Mehring im Krankenhaus am Heckeshorn im Grunewald, 14 Tage später, von Martha Rosenbaum. Sein Vertrauter und Nachlassverwalter Eduard Fuchs erlebte mit ihm die letzten Stunden. Seine Frau lag durfte das Krankenbett wegen einer schweren Grippeerkrankung nicht verlassen. In seinem Vorwort zur Neuauflage der Marx-Biographie zum 1. Mai 1920 beschrieb Fuchs die Erregung Mehrings nach Erhalt der Nachricht vom Mord. Er lief im Zimmer stundenlang auf und ab, machte die Fenster auf um Luft zu bekommen und wie er den grausamen Mord verurteilte. Mehring befand sich mit einer schweren Lungenentzündung im Krankenhaus, war schon vorher körperlich sehr geschwächt starb an ihr und dem 41 Tod seiner Freunde. Franz Mehring ist tot, aber sein Werk gehört zum unvergänglichen Nachlass der deutschen Arbeiterbewegung aus dem zu lernen, ist auch heute nicht zu spät. Werner Ruch 1 2 3 4 5 7 Vgl.Thomas Höhles Buch: Franz Mehring – Sein Weg zum Marxismus. Es sollte von Jedem zur Hand genommen werden, der sich mit Mehrings Entwicklung vom bürgerlichen Demokraten zum demokratischen Sozialisten zu beschäftigen beabsichtigt. Erschienen ist es in der Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Herausgegeben von Prof. Dr. Ernst Engelberg, Verlag, Rütten und Loening Berlin, 2. Auflage 1958 nach der erste Auflage von 1956. Vgl. »Neues Deutschland«, 3. 3, 1971: Bernd Grabowski: Er arbeitet an der »Zukunft«. 1903 versuchte der Revisionist Heinrich Braun, Georg Bernhard u. a. durch Diffamierung Mehrings die zu erwartete Verurteilung des Revisionismus durch den Dresdner Parteitag zu unterlaufen. August Bebel, Aus meinem Leben, zweiter Teil, Verlag J.H.W. Dietz Nachf. Berlin, 1. Auflage 1946, S. 200 f. DerTitel der Broschüre lautete: »Herr von Treitschke der Sozialistentöter und die Endziele des Liberalismus. Eine sozialistische Replik«, Leipzig. Druck und Verlag der Genossenschaftsdruckerei, 1875. Auszug in Thomas Höhle: Franz Mehring Sein Weg zum Marxismus. Vgl. Berliner Zeitung, 27. 11. 08: Im Berliner Bezirk Steglitz wird von Bezirkspolitikern erneut die Umbenennung der Treitschkestraße gefordert; zum Gesamtzusammenhang: Reiner Zilkenat, Histo- 42 8 10 11 12 14 15 16 17 18 19 risches zum Antisemitismus in Deutschland. Zur Entstehung und Entwicklung des »modernen« Antisemitismus im Kaiserreich, in: Horst Helas u. a., Neues vom Antisemitismus: Zustände in Deutschland, Berlin 2008, S. 13 ff. Vgl. Zitat aus Franz Mehring »Kapital und Presse«, S. 73, zitiert bei Thomas Höhle, Franz Mehring Sein Weg zum Marxismus, S. 109. Die erste Nummer der Zeitschrift »Die Neue Zeit« erscheint ab 1. Januar 1883, nach fünf Jahren »Sozialistengesetz«, unter der Redaktion von Karl Kautsky als »Revue des öffentlichen und geistlichen Lebens«. Unterstützt von Friedrich Engels trug sie zur Verbreitung des Marxismus bei. 1890 wurde »Die Neue Zeit« offizielles Theoretisches Organ der SPD und erscheint wöchentlich mit 2.500 Abonnenten. Auskunft über weitere Ausgaben dieses Verlages von Franz Mehring in: »Empor zum Licht«, herausgegeben zu 125 Jahre Verlag J.H.W.Dietz Nachf., 2006. Vgl. Der Tagesspiegel, 30. 12. 2008. Vgl. Aufruf »Berliner Volksblatt« v. 23. März 1890. Das Haus »Die Volksbühne«, erbaut nach 1913, befindet sich am Rosa-Luxemburg-Platz im Bezirk Mitte zu Berlin. Mehr zur Aufführung »Die Weber« in Berlin und der Haltung des Kaisers vgl. Rüdiger Bernhardt, Gerhart Hauptmanns Hiddensee, Edition Ellert & Richter, 3. Auflage 2004, S. 20 f. Zitiert nach Franz Mehring: Gesammelte Schriften Band 11, Berlin 1961, hrsg. v. Prof. Dr. Thomas Höhle, Dr. Hans Koch, Prof. Dr. Josef Schleifstein, S. 563. Weitere Beiträge Mehrings zu G. Hauptmann im gleichen Band. Vgl. Rüdiger Zimmermann, »Empor zum Licht! Hrsg. zu 125 Jahre Verlag J.H.W. Dietz Nachf., 2006, S. 44. Franz Mehring, Geschichte der Deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1960, Erster Teil, Anmerkungen, S. 697. Die erwähnten Artikel Bernsteins erschienen danach im Januar 1898 im Dietz Verlag unter dem Ti- 20 21 22 24 25 26 29 tel: »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie.« Zuletzt erschien dieser Buchtitel 1984 im genannten Verlag, eingeleitet von Horst Heimann. Im Katalog einer Ausstellung der Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2006 über die Entwicklung sozialdemokratische Programmatik und Politik findet sich auf S. 8 folgende Aussage: »Seit 1896 wendet sich Eduard Bernstein gegen zentrale Aussagen der marxistischen Theorie, die zu ›revidieren‹ seien …« Vgl. 60 Jahre Leipziger Volkszeitung 1894–1954, Verlag Leipziger Volkszeitung mit Vorbemerkung der Redaktion. Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29. September 1906, Berlin 1906, S. 134–137. Vgl. Unterrichtsplan der sozialdemokratischen Parteischule von 1906 bis 1914 in: Dieter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869 bis 1917 in zwei Bänden., Band 1, Berlin 1987. Vgl. Heinz Deutschland in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2006/Heft III, S. 21. Vgl. B/Arch/ SAPMO NY4445. Der junge Hermann Duncker hatte Mehrings Bekanntschaft im Sommer 1902 in der Redaktion der »Leipziger Volkszeitung« gemacht . Duncker teilte Käte Duncker am 2.September 1902 mit, dass Mehring ihm in einem Gespräch über seine weitere Redaktionstätigkeit gesagt habe, »ich wäre ein seltener Mensch in der Partei, wenn ich meinte noch lernen zu können.« Vgl. Thomas Kühnem Handbuch der Wahlen von preußischen Abgeordneten 1867–1918, Düsseldorf, 1994. Vgl. Franz Mehring. Gesammelte Schriften, Berlin, Bd. 15, S. 720. Annelies Laschitza u. Günter Radczum, Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe 1914–1918, Bd. 5, S. 377, Hrsg.: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin, sechste Auflage, 1984. Berlin – das Zentrum der deutschen Revolution 1918/1919 ? Regionales und Biographisches zum 90. Jahrestag der Novemberrevolution Am Ende des 19. Jahrhunderts war Berlin, die Millionenstadt, längst mit ihrem Umland zusammengewachsen, wurde bekanntlich aber erst 1920 zu GroßBerlin zusammengefasst.1 Unbestritten ist Berlin politisches Zentrum Preußens und Deutschlands, größtes Industriezentrum, zugleich größte Handwerkerund Handelsstadt, Finanzzentrum und Verkehrsmittelpunkt. Weltweit bekannt sind seine Wissenschafts- und Kulturinstitutionen; auch sein Charakter als eine riesige Garnisonsstadt-Kasernopolis, jede Menge Rüstungsfabriken, Bischofssitz und Medienmittelpunkt. Vernachlässigt, bewusst vergessen oder übersehen wird jedoch meistens, dass Berlin das Zentrum der deutschen Arbeiterbewegung war. Schon 1905 hatten sich die 6 Berliner Reichstagswahlkreis-Vereine der SPD mit den umgebenden Kreisen TeltowBeeskow-Storkow-Charlottenburg und Niederbarnim zum »Verband der Wahlvereine Groß-Berlins und Umgegend« zusammengeschlossen, einer über das spätere Groß-Berlin weit in die brandenburgische Provinz greifende Organisation. Sie zählte 1914 über 120.000 Mitglieder, die bei den Reichstagswahlen 1912 sieben der acht Wahlkreise gewinnen konnte. 45 der Berliner Stadtverordneten waren 1913 Sozialdemokraten und von den zehn preußischen SPD-Landtagsabgeordneten kamen sieben aus Berlin. Von etwa 560.000 organisationsfähigen Berufstätigen gehörten mehr als 300.000 den sozialistischen Gewerkschaften an.2 Gerade diese sozialdemokratische Dominanz in der Haltung der Berliner Einwohnerschaft verstärkte die ohnehin traditionelle Abneigung bedeutender deutscher Bevölkerungsschichten und einiger Kleinstaaten gegen die preußische Hauptstadt. Die fortbestehende staatliche Eigenständigkeit besonders der süddeutschen Bundesstaaten, der weiterhin auch verfassungsrechtlich gestützte Partikularismus, symbolisierte sich in der Ablehnung Berlins – dieses »Molochs«. Das hier nur skizzierte Bild der Hauptstadt gewann mit Ausbruch und im Verlauf des Ersten Weltkrieges schärfere Konturen. Tendenzen verstärkten sich zu Dominanzen. Als neuer Typ entstand in der Ansicht vieler einfacher Menschen der »Raffke«, der Kriegstreiber und Kriegsgewinnler, dem der Kriegsprofit über alles ging und der ein Schlemmerdasein führte, das der verarmten hungernden Bevölkerung Klassengegensätze emotional erlebbar machte. Und wie selbstverständlich konzentrierte sich die ganze zunehmende Kriegsmüdigkeit, der Unmut, auf das Kriegszentrum. In Berlin selbst kam es nach der ersten allgemeinen Kriegsbegeisterung bald zu Hungerunruhen und im Juni 1916 erstmalig auch zum politischen Streik von 55.000 Rüstungsarbeitern gegen die Verhaftung und den Prozess Karl Liebknechts.3 Hatte bis dahin das nationalistische »Deutschland, Deutschland über alles« der jungen deutschen Soldaten, zum Beispiel bei den Kämpfen um das belgische Langemark, das einsame Votum Karl Liebknechts am 2. Dezember 1914 im Reichstag gegen die Kriegskredite, sein »Der Hauptfeind steht im eigenen Land!« auch in der Arbeiterschaft übertönt, so begann sich seit 1916 eine Antikriegsbewegung zu entwickeln, deren Träger vor allem Arbeiter in der Rüstungsindustrie, deren Agitatoren linke Sozialdemokraten, Gewerkschaftler und bürgerliche Pazifisten (beispielsweise der Bund Neues Vaterland) waren. Die bereits vor dem Krieg in der Sozialdemokratie geführten Auseinandersetzungen um den Kurs der Partei, unter anderem in der Haltung zum Massenstreik und zur Rüstungspolitik, gewannen mit Kriegsausbruch neue Dimensionen und erfuhren in der Kriegskreditfrage ihre krasse Zuspitzung. War einerseits die Zahl der beitragszahlenden Mitglieder (bei Berücksichtigung der »Eingezogenen«) von 1914 im Agitationsbezirk Groß-Berlin mit 121.689 Mitgliedern auf 76.355 (1916) bzw. 6.475 (1917) zurückgegangen4, so spaltete andererseits der Übergang der SPD-Führung mit ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten und dem »Burgfrieden« die Partei zunächst politisch-ideologisch und schließlich auch organisatorisch. Für Berlin war dieser Prozeß sehr kompliziert und durch einzelne Schritte charakterisiert, die hier nicht im Detail dargelegt werden müssen.5 Die markantesten waren indes: die allmähliche Formierung der Linken mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches und anderen zur Spartakusgruppe, ihr Verbleiben in der zentristischen Gruppierung um Georg Ledebour, Hugo Hasse, Ernst Däumig, der Führung der USPD und deren Reichstagsfraktion, der fortschreitende Meinungsumschwung in den Betrieben und die Herausbildung der Bewegung oppositioneller Gewerkschaftsfunktionäre, die als Ob- und Vertrauensleute in den Rüstungsfabriken, den Branchenkommissionen, schließlich auch in der mittleren Ortsverwaltung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (DMV) als wichtigster Berliner Gewerkschaftsorganisation einflußreiche Positionen gewannen. Im Sommer 1917 zählte nach der Spaltung die Stadtverordnetenfraktion der SPD 23, die der USPD 22 Mitglieder. Am 1. Juli 1917 hatte die USPD in Berlin 25.000, die SPD etwa 6.500 Mitglieder. Somit hätte sich die MSPD (so ihr Name seit ihrer Neugründung am 28. April 1917) in Berlin Minderheits-SPD nennen müssen. Bis zum Ausbruch der Revolution ging die Zahl der USPD-Mitglieder auf etwa 18 bis 20.000 zurück, die SPD hatte zu diesem Zeitpunkt etwa die gleiche Mitgliederzahl. Die Linken wuchsen mit den sich entwickelnden Massenstreiks nach den russischen Revolutionen im April 19176 und im Januar 19187. Mit den Arbeiterräten entstanden neue Formen zur Leitung der Massenbewegung neben den herkömmlichen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen – jetzt konnte Berlin deutlich als Vorort der Antikriegsbewegung, wohl auch als zentraler Ort der heranwachsenden Revolution gelten. Es zeigten sich bereits die Stärken, aber auch die Schwächen der Bewegung, zum Teil Spontaneität und Massenbeteiligung, Kampfbereitschaft und Solidarität, zugleich relative Isolation gegenüber anderen Mittelpunkten der Bewegung, Meinungsverschiedenheiten in der Führung und Zielsetzung, deren prinzipiellen Unterschiede zunächst durch gemeinsame Streikforderungen und die Beteiligung rechtssozialdemokratischer Funktionäre zum Beispiel. am Groß-Berliner Arbeiterrat Ende Januar 1918 überdeckt wurden. Der fortdauernde Belagerungszustand, die Inhaftierung oder auch Einberufung von Spartakus- und USPD-Funktionären zum Militär, das faktische Fehlen ei43 ner oppositionellen Massenpresse (die Überbewertung der »Spartakusbriefe« oder des »Mitteilungsblattes« ist zu beachten!) – neben dem rechtssozialdemokratischen »Vorwärts«, der seine Auflage noch steigern konnte – schränkten die Möglichkeiten einer klärenden politischen Auseinandersetzung über Fortgang und Ziele der Bewegung stark ein. Am 7. November schrieb der Diplomat und Schriftsteller Harry Graf Kessler in sein Tagebuch: »Allmähliche Inbesitznahme, Ölfleck, durch die meuternden Matrosen von der Küste aus. Sie isolieren Berlin, das bald nur noch eine Insel sein wird. Umgekehrt wie in Frankreich (1789–I.M.) revolutioniert die Provinz die Hauptstadt, die See das Land«.8 Obgleich sich Ende Oktober 1918 der »Vollzugsausschuß des Arbeiter- und Soldatenrates« in Berlin aus Revolutionären Obleuten, leitenden USPD-Funktionären und Spartakusführeren bildete (die Anwesenheit des Pionier-Oberleutnants Eduard Walz bis zu seiner Verhaftung am 3. November rechtfertigte offenbar auch die Bezeichnung »Soldatenrat«!), es kam zunächst nicht zu einem geschlossenen und entschlossenen Aufruf zum revolutionären Aufstand. Man muss allerdings in Rechnung stellen, dass sich in der Hauptstadt nach wie vor ein machtvoller Militär- und Polizeiapparat befand, der insbesondere nach der Verhaftung von Walz von der »revolutionären Bedrohung Berlins« überzeugt war. So begann die Revolution mit dem Aufstand der Matrosen, »an der See«, in Wilhelmshaven und Kiel, wo sich Arbeiter und Soldaten mit ihnen zusammenschlossen für die Beendigung des Krieges und revolutionäre demokratische Veränderungen9. Ihnen folgten zahlreiche Orte an den Küsten, in Nordund Westdeutschland, in Stuttgart, und am 7. November wird in München die erste Monarchie gestürzt und die demokratische Republik ausgerufen. Einen »demokratischen« Staat hatte die kaiserliche Koalitionsregierung unter Max von Baden mit SPD-Beteiligung durch Teilparlamentarisierung am 26./27. Oktober und durch Versprechen von Frieden und demokratischen Freiheiten am 4. November angekündigt. Doch diesen Weg zum Frieden ohne Revolution, mit Kaiser und ohne Republik, verhinderte die revolutionäre Massenerhebung zwischen dem 3./4. und dem 9. November, beginnend an der Küste; der entscheidende Schlag kam jedoch aus Berlin am 9. November mit Generalstreik und bewaffneten Demonstrationen. Die Übergabe des Reichskanzleramtes von Max von Baden an Friedrich Ebert, die Pro44 klamation der freien deutschen Republik, womit ein bürgerlich-parlamentarischer Staat gemeint war, formulierte Philipp Scheidemann vom Reichstagsgebäude aus. Karl Liebknecht verkündete von einem Balkon des Stadtschlosses der Hohenzollern die freie sozialistische Republik, die sich auf die Arbeiter- und Soldatenräte stützen sollte. Die »Berliner Republik« war ausgerufen! Man muss erwähnen, dass sich der revolutionären Erhebung kaum Widerstand entgegenstellte, millionenfach wurden die dem Kaiser einst geschworenen Eide gebrochen, Entscheidungsschwäche, Plan- und Tatenlosigkeit der Militärbefehlshaber waren wesentlich für den raschen, relativ unblutigen Sieg der tatsächlichen wie der vermeintlichen Revolutionäre, die sich in Berlin an die Hebel der Macht gesetzt hatten, an denen sie bereits seit Anfang Oktober teilhatten. Am 9.und 10. November wurden sie ihnen von den alten Machthabern übergeben und mit deren funktionierenden und agierenden Teilen verbündeten sich sofort, um die Macht real ausüben zu können. Das Bündnis Eberts mit dem General Wilhelm Groener von der Obersten Heeresleitung (OHL) fand seine provinziellen und örtlichen Parallelen: führende Militärs arrangierten sich mit den Aufständischen, ihren revolutionär gebildeten Kampforganen, den Räten. Ähnliches vollzog sich bekanntlich auf anderen Ebenen10, betreffend die Unternehmerorganisationen mit den reformistischen Gewerkschaftsführern. Berlin wird (oder bleibt) Zentrum der Revolution, der Republik, und ihrer leitenden Organe: der Reichsregierung, jetzt Rat der Volksbeauftragten nach der Einigung der SPD- und USPD- Führungen und der Ablehnung der Beteiligung Karl Liebknechts – ihre Bestätigung durch die Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldaten-Räte am 10. November im Zirkus Busch, sie bilden ihrerseits den Vollzugsrat, vorgeblich zentrales Macht- und Kontrollorgan der sozialistischen Republik In beiden leitenden Revolutionsorganen zeigt sich der Kompromisscharakter des Erreichten: das Zusammenwirken der sozialdemokratischen Parteien, die demokratische Beteiligung der Arbeiter und Soldaten an den Machtorganen, die Einigung auf den Aufruf »An das werktätige Volk«, der die sozialistische Republik verkündet; dem stimmen alle Versammelten zu. Die Spartakusgruppe lehnt jedoch die Beteiligung am Vollzugsrat der Räte, die Zusammenarbeit mit »Regierungssozialisten« ab, eine sektiererische Position, die erst im Februar 1919 aufgegeben wird, als die Räte ihren ursprünglichen, nicht unbedeutenden Rang bereits weitgehend eingebüßt haben. In der 1966 in der DDR veröffentlichten »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«, Band 3, wurde nach langen Diskussionen des Herausgeber- und Autorenkollektivs die Fehlentscheidung beschönigend als »nicht elastisch genug« charakterisiert .11 Der Groß-Berliner Vollzugsrat erklärte wie der Rat der Volksbeauftragten seine Zuständigkeit für das Reich, für Preußen und für Berlin, wenn zunächst auch nur provisorisch, bis zu dem in Aussicht genommenen gesamtdeutschen Rätekongreß12, der das »Provisorium« beenden und ein für das Reich dauerhaft legitimiertes leitendes Räteorgan anstelle des Berliner Rates wählen sollte. Zunächst waren in den zentralen Revolutionsgremien Berliner Funktionäre dominant. Die örtliche Herkunft, die Verbindung zur Basis, zur »Hausmacht«, war für die Reputation beider Institutionen, für ihr Ansehen bei der Bevölkerung im ganzen Reich von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Man muss daran erinnern, dass es nicht überall als ein Vorzug galt, ein Berliner Funktionär zu sein.. Das Ansehen der Hauptstadt hatte, wie erwähnt, während des Krieges als Zentrum der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Diktatoren nicht gerade gewonnen. Nun waren weder die Volksbeauftragten der SPD, Friedrich Ebert, Otto Landsberg und Philipp Scheidemann, wie auch die der USPD, Emil Barth, Wilhelm Dittmann und Hugo Haase als Funktionäre in der Hauptstadt ansässig; Emil Barth indessen als einziger mit dem Berliner Proletariat durch seine Funktion im DMV verbunden. Er wirkte zudem im Rat der Volksbeauftragten und bis zum 20. November gleichzeitig im Vollzugsrat. Ähnlich enge Beziehungen zur Berliner Arbeiterbewegung wie Barth hatten die leitenden Genossen des Vollzugsrates; bezeichnenderweise gab es lediglich im technischen Apparat des Vollzugsrates Frauen. Allerdings auch hier keine gebürtigen Berliner unter dem Führungskader : der Vorsitzende Richard Müller (USPD) war aus Thüringen gebürtig13, der soldatische Kovorsitzende, zunächst Hauptmann von Beerfelde (bis zum 12. November)14, dann (bis zum 8. 1. 1919) Brutus Molkenbuhr15 ebenso wenig aus Berlin wie die Arbeiterräte Ernst Däumig16 und Georg Ledebour17, wie Barth aber mit der Berliner Arbeiterbewegung eng verbunden, beide im Zentralvorstand der USPD, Ledebour seit 1900 Mitglied des Reichstags für Berlin VI, dazu dann aber eine ganze Phalanx aus den etwa 100 Revolutionären Obleuten: Paul Eckert, Paul Wegmann, Paul Neuendorf von der USPD, sowie Ernst Jülich, Oskar Rusch, Max Maynz, Franz Büchel18. Somit war der Vollzugsrat hinsichtlich der personellen Zusammensetzung deutlich ein Berliner Organ. Die Soldatenräte vertraten zwar Berliner Truppenteile, waren aber durchweg keine »Berliner«, sondern spiegelten schon eine breitere deutsche Landsmannschaft und andere soziale Schichten wider. Aus den zunächst gewählten Soldaten sind neben den erwähnten Vorsitzenden wohl Eduard Walz19, Hans Paasche20 und Max Cohen-Reuß21 sowie der »Arbeiterrat« Hermann Müller zu erwähnen, zwei prominente Mitglieder des Parteivorstandes der SPD22. Cohen-Reuß trug mit Julius Kaliski Überlegungen zur Rätebewegung bei, die die Mehrheit des Parteivorstandes ablehnten. Einem Vorschlag der SPD-Fraktion (Reinhold Vietz, Schriftführer des Soldaten-Rates) folgend, bildeten die Berliner Soldatenräte am 20. November einen gesonderten Vorstand mit Alfred Gottschling als Vorsitzenden, der Anfang Dezember Mitglied des Vollzugsrates wurde.23 Es war sicher auch eine Folge der von Berlinern dominierten Zusammensetzung des Vollzugsrates, dass sich »sehr bald…in weiten Teilen des Reiches eine starke Mißstimmung gegen den Berliner Vollzugsrat geltend« machte, wie Hermann Müller in seinen »Erinnerungen« feststellte. Er zitiert den Soldatenrat Gerhardt mit seiner Unzufriedenheit: »Der Vollzugsrat hat nicht Fühlung mit den Süddeutschen aufgenommen, sondern die Vertreter der süddeutschen Kameraden mußten erst hierher kommen«.24 Dies traf zu diesem Zeitpunkt so nicht mehr zu, denn bereits am 15. November bedankte sich der Vollzugsrat bei der »Republik der Bayrischen Arbeiter- und Soldatenräte« für deren »brüderlichen Gruß« und forderte sie auf, »gemeinsam alle Kräfte einzusetzen, die Errungenschaften der Revolution zu sichern und auszubauen«25. Am 23. November nahmen schon zwei Vertreter des Arbeiterund Soldaten-Rates Badens (Emil Baer und Johannes Krayer) – sie hatten am 21. 11. Gespräche mit den Berliner Vorsitzenden geführt – sowie drei Delegierte von etwa 400.000 Soldaten der Ostfront an der Vollzugsratssitzung teil; sie wurden in den Rat aufgenommen. Sehr bedeutsam war die Teilnahme von Regierungsvertretern Preußens und Bayerns (mit Kurt Eisner) als bedeutendste deutsche Bundesstaaten an der Sitzung des Vollzugsrates am 25. November26 sowie die Anwesenheit Kieler Delegierter am 26. 11.27, später (am 30. 11.) Bremer und Münchener28. Als weitere Vertreter der Länder wurden Max König und Lemke für Elsaß-Lothringen (!), Fritz Heckert und Max Heldt für Sachsen sowie der Arbeiterrat Heinrich Schäfer für die besetzten linksrheinischen Gebiete Mitglieder des Vollzugsrates, wobei Heckert (Spartakusbund) und Heldt (SPD) ihre Arbeit im Rat nicht aufnahmen29. Schließlich beschloss der Vollzugsrat nach der Soldatenratskonferenz am 1. 12. 18 in Bad Ems seine Erweiterung um fünf Delegierte der Soldatenräte der im Westen befindlichen Truppen; dann traten noch drei Abgeordnete des Zentralrats der Marine (53er Ausschuß) hinzu, so dass der Vollzugsrat am Vorabend des Rätekongresses 45 Mitglieder zählte, die mehrheitlich durch den Zutritt der Soldatenräte der SPD folgten und der deutlich über seine ursprüngliche Zentriertheit auf Berlin hinausgewachsen war. Er entsprach damit der politischen Zusammensetzung vieler deutscher Räte. Trotz anfänglichem Paritätsprinzip SPD-USPD, was eigentlich dem Räteprinzip widersprach, hatte die SPD bald vielerorten die Mehrheit errungen, zumal längst nicht überall USPD- oder gar Spartakusorganisationen existierten.30 Entscheidend für die politische Rolle des Vollzugsrates wie auch des Rates der Volksbeauftragten war jedoch seine Politik, seine Beschlüsse und sein Vermögen, diese zu verbreiten und zu realisieren. Erst daran läßt sich die Stellung Berlins im Revolutionsprozeß festmachen. Gerhard Engel hat in seinem Aufsatz über den Vollzugsrat als zentrales Räteorgan31 darauf hingewiesen, daß der Vollzugsrat entsprechend seinem Anspruch »hauptstadtübergreifende Probleme« behandelte, also Berlin als Zentrum der revolutionären Veränderungen zu respektieren war: so die Verlautbarung über die exekutive Gewalt gerichtet auf Reich, Preußen und Hauptstadt. Aber der Aufruf war lediglich an die Arbeiter und Soldaten GroßBerlins mitgeteilt; der Aufruf zur Bildung der Roten Garde, die Wahlrichtlinien für die Arbeiterräte, die Ressorts des Vollzugsrates – alles nur auf Berlin zugeschnitten. Andererseits schickte man Kuriere ins Land, bestimmte mindestens formal Bildung und Zusammensetzung der Preußischen Regierung, die Überprüfung der preußischen Regional- und Lokalbehörden. Schließlich gab es auch Ansätze, direkt Reichskompetenz in Anspruch zu nehmen, zum Beispiel Berlin als europäische Hauptstadt zu behaupten: so der Aufruf an die Völker Frankreichs, Italiens, Englands und Amerikas als Zeichen der Berliner als Sprecher deutschen Räte. Die Grundsätze revolutionärer Politik ausgearbeitet und damit die Rolle Berlins deutlich gemacht hat Ernst Däumig mit dem Entwurf seiner Leitsätze mit dem Kernpunkt: »proletarische Demokratie« gegen die »bürgerlich-demokratische Republik« über die Wahl einer Nationalversammlung; diese Leitsätze wurden am 16./17. November im Vollzugsrat diskutiert und mit 12 : 10 Stimmen abgelehnt. Schließlich entsprach der Aufruf des Vollzugsrates zur gesamtdeutschen Delegiertenkonferenz am 23. 11. seiner zentralen Rolle, die Entscheidung aber war verschoben. Dennoch: obgleich es keine umfassende Orientierung oder gar Organisation der Revolutionsbewegung, der Räte, gab, waren die Unterschiede in den Forderungen in den verschiedenen Zentren der Revolution bei ihrem Ausbruch in den Hauptpunkten identisch oder ähnlich formuliert: schleunigste Herbeiführung des Friedens, Beseitigung des monarchistischen Regimes, eine freie demokratische Republik, Brot, demokratische Rechte und Freiheiten in einer sozialistischen Gesellschaft. Allgemein war auch die Illusion, mit dem 9./10 November sei bereits die sozialistische Republik errungen und Träger der politischen Macht seien die Räte. Gefordert wurde vielfach die Verbindung zur russischen Sowjetrepublik32. Man braucht nicht zu wiederholen, dass die Auseinandersetzungen sehr bald um die Weiterentwicklung des revolutionären Prozesses entbrannten, eigentlich waren sie nur kurzzeitig bei den Kompromissen um den 9./10 11. überdeckt. Einerseits die um den Rat der Volksbeauftragten, also die Führung der SPD und Teilen der USPD formierten Kräfte, der alte Staatsapparat, die OHL (Wilhelm Groener/Paul von Hindenburg) und der überwiegende Teil des Militärs, Gewerkschaftsführer und Unternehmerverbände in Industrie und Landwirtschaft (Carl Legien – Hugo Stinnes), die Kirchen, Schulen und Medien, die Justiz, Bürgerräte und die neu gebildeten bürgerlichen Parteien, verbunden und verbündet mit der Regierungsforderung nach einer Nationalversammlung, die nach allgemeinem, gleichen und geheimem Wahlrecht, auch für Frauen, die künftige Gestaltung des Reiches als bürgerlich-demokratische Republik zu bestimmen hätte. Andererseits die auf eine Weiterführung der Revolution bis zur Errichtung einer sozialistischen Re45 publik, der Rätemacht, unterschiedlich als eine »sozialistische« oder »proletarische« Demokratie bezeichnet, teilweise als Synonym auch als »Diktatur des Proletariats« formuliert, orientierenden Kräfte: die linke USPD, in Berlin also USPD-Funktionäre des Vollzugsrates, die Mehrheit der revolutionären Obleute und die Spartakusführer, die sich zwar am 11. November zum Bund, aber noch nicht zur selbständigen Partei zusammenfanden, wie sich zeigte, in der Berliner Arbeiterschaft unterstützt, jedoch nicht mehrheitlich. Die Gegenrevolution konzentrierte sich von Anfang an auf Berlin, bereitete die militärische Besetzung der Stadt vor und organisierte die konterrevolutionäre Propaganda gegen die Räte, bis zur Rufmordhetze gegen Karl Liebknecht bereits Ende November. In der Provinz machte die bürgerliche Presse zudem Stimmung gegen das »rote« Berlin: »Berlin ist von allen guten Geistern verlassen…Liebknecht ist der Mann von morgen, wenn ihn nicht andere Mächte in Fesseln schlagen als das Kollegium der sechs Männer… Berlin wird das ganze Deutschland in den Abgrund reißen, wenn das Reich in seinen Einzelstämmen nicht die Entschlußkraft findet, die einstige Reichshauptstadt abzuschütteln und sein Schicksal selbst zu bestimmen. Dort locken die Sirenen des Bolschewismus.. In einer solchen Stunde heißt es: Rette sich wer kann! Die Augen auf …und los von Berlin«33. Diese Losung kulminierte in den Bestrebungen nach einer »Republik GroßThüringen« nach dem Beispiel der Rheinisch-westfälischen Separatisten und ähnlicher Machenschaften in Bayern und Oberschlesien34. Obgleich Ebert der Hessischen Regierung bereits am 21. 11. auf ihre Befürchtungen über »die Entwicklung in Berlin« geantwortet hatte, dass »nicht nach der Diktatur einer Stadt« gestrebt werde35 und dies auf der Reichskonferenz der Ministerpräsidenten der deutschen Staaten am 25. 11. in Berlin neuerlich unterstrichen hatte36, es wurden weiter die Anti-Berlin-Losungen als Teil der konterrevolutionären Propaganda verbreitet. Und die Konferenz der süddeutschen Staaten am 28./29. November erklärte: »Die Verhältnisse in Berlin …bedrohen auch die Einheit des Deutschen Reiches«37. Wir können den Hass der Konterrevolution gegen das »rote« Berlin auch positiv wenden: man erkennt in der Hauptstadt das Zentrum der Revolution. Am gleichen Tag, als der zitierte Artikel in Eisenach erschien, am 6. Dezember, 46 kam es in Berlin zum ersten blutigen Zusammenstoß zwischen Anhängern der Revolution und Militärs in der Chausseestraße. Es war noch nicht eine Regierungsaktion, sondern ein unprovozierter militärischer Gewaltakt, ein Vorbote. Am 10. Dezember begrüßten Ebert und der Magistrat am Brandenburger Tor die heimkehrenden, »im Felde unbesiegten« Truppen. Über die Pläne, die die OHL mit Zustimmung Eberts mit dem Militäreinmarsch der 10 Divisionen in Berlin nach diesem Tag verfolgte, hat sich General Groener später deutlich geäußert: »Das nächste Ziel« war, »in Berlin die Gewalt den Arbeiter- und Soldatenräten zu entreißen« und »eine feste Regierung in Berlin aufzustellen«38. Bevor es aber zur Militäraktion, zum »Krieg gegen die Revolution« 39, kam, fand im Preußischen Abgeordnetenhaus der von allen Seiten mit Spannung erwartete 1. Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16.–20. 12. statt, ein klares Zeichen für die Akzeptanz der Hauptstadt als Zentrum der Räte, die immer noch zehntausende Demonstranten mobilisieren konnten. Der Rätekongreß öffnete jedoch mit seinem mehrheitlichen Beschluß über die Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919 den Weg nach Weimar. War der Rätekongreß ein Beispiel für ein »sozialistisches« Parlament? Bekanntlich schloß sein Wahlreglement alle Bürger von der Wahl aus, die Wahl sollte aus den »bestehenden Arbeiter- und Soldaten- Räten« erfolgen; so kamen selbst die Vorkämpfer für eine Rätemacht, Luxemburg und Liebknecht, nicht zu einem Mandat. Der offene Angriff auf das revolutionäre Berlin begann mit den so genannten Weihnachtskämpfen, dem Bombardement der kaiserlichen Artillerie auf Schloß und Marstall, Symbole des Königs- und Kaiserreichs, die von der Volksmarinedivision allerdings ohne jeden Beschuss besetzt worden waren. Das Ergebnis war eher dürftig für die Angreifer, führte schließlich zum Austritt der rechten USPD-Vertreter aus der Regierung, die nun mit Noske, dem mit der OHL und den Freikorps zum brutalen Vorgehen entschlossenen »Bluthund«, seine reine SPD-Zusammensetzung erhielt und die alleinige Verantwortung übernahm.40 Die Gründung der KPD am Jahresende im Preußischen Abgeordnetenhaus unterstrich erneut die zentrale Rolle Berlins bei der Herausbildung und schließlichen Formierung einer alternativen Linkspartei. Sie war sicher ein wichtiges Ergebnis der Revolution, jedoch nicht das wichtigste und historisch be- deutsamste, wie wir in DDR-Publikationen immer wieder lesen konnten.41 Bekanntlich gab es Widersprüche zwischen der Minderheit um Rosa Luxemburg, die nach dem Rätekongreß (am 23. 12. in der »Roten Fahne«) auf einen Kompromiss, nämlich die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung und gleichzeitigem Festhalten am Rätesystem orientierte, und dagegen der unrealistisch, zum Teil anarchistisch votierenden Mehrheit, die weiter an der Illusion von der unmittelbaren Errichtung der Rätemacht, der Diktatur des Proletariats, festhielt. Es ist hier nicht der Platz, die theoretischen und parteipolitischen Diskrepanzen der jungen Partei zu erörtern, auch nicht beispielsweise die 1966 in der »Chronik zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«42 getroffene Feststellung zu erörtern, die Kämpfe in der Revolution hätten bewiesen, daß es in Deutschland unmöglich war, »in einem Sprung zur Diktatur des Proletariats« zu gelangen. Konnte das überhaupt das aktuelle Ziel sein ? Eine Diskussion wäre nötig über »Rätemacht und Diktatur des Proletariats«, die noch 1983 im »Wörterbuch der Geschichte« als »die bis dahin umfassendste Demokratie« bezeichnet wird.43 Wichtig in unserem Zusammenhang ist es festzuhalten, dass es nicht gelang, mit dem fortgeschrittenen Teil der Berliner Arbeiterschaft, vertreten durch die Revolutionären Obleute, zu einem wie auch immer gearteten festen Zusammenschluss zu kommen und damit weiteren größeren Einfluss in Richtung einer Rätedemokratie zu gewinnen. Die umstrittene Erklärung des »RevolutionsAusschusses« vom 6. Januar 1919 über die Absetzung der Regierung Ebert war dazu mindestens ungeeignet. Andererseits muss man feststellen, dass die nachfolgenden Kämpfe, fälschlich »Spartakusaufstand« genannt, die Massen der Berliner Arbeiter, ihre Obleute, den Berliner USPD-Vorstand und die KPD in der Abwehr des weißen Terrors zusammenführten, der in der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts kulminierte. Der erste offene brutale Schlag der Konterrevolution richtete sich also gegen das Berliner Proletariat, und wir haben versucht an einigen Schnittpunkten zu zeigen, warum dies der Fall war. Es folgten bekanntlich sehr bald weitere Militäraktionen gegen revolutionäre Zentren, Räterepubliken zumal, wie sie sich in Bremen (10. 1.–4. 2. 1919) und dann in München (13. 4.–3. 5. 1919) konstituiert hatten, gegen die Arbei- ter Mitteldeutschlands und im Ruhrgebiet. Waren dies Beispiele für eine »sozialistische Demokratie«? Auch in Berlin war man sich seiner Sache noch immer nicht sicher. Schon während des Rätekongresses, am 17. Dezember 1918, hatte der »Vorwärts« vorausschauend geschrieben, dass man in einer Stadt wie Berlin, wo man vor Demonstrationen und Angriffen der Massen nicht sicher sei, das »höchste Symbol der Demokratie«, die Nationalversammlung, nicht tagen lassen könne, man sollte in Kassel, Erfurt oder in einem anderen Ort zusammenkommen.44 Ende Dezember 1918 äußerte sich Ebert zu diesem Problem: » Die Sicherheit der Nationalversammlung« in Berlin zu gewährleisten sei einerseits »sehr schwierig, selbst wenn man nicht vor einer starken militärischen Sicherung zurückschrecken würde«, auch die wachsenden Anti-Berlin-Stimmungen und die Gefahr des Separatismus, die Beziehungen zu den Bundesstaaten legten den Gedanken nahe, die Nationalversammlung »näher nach dem Herzen Deutschlands« zu verlegen. Am 14. Januar 1919 meinte er: »Man sollte den Erfolg gegenüber den Unabhängigen und Spartakisten nicht überschätzen. Eine absolute Sicherheit läßt sich in einer solchen Riesenstadt wie Berlin nicht schaffen.«45 Scheidemann zog ebenfalls in Betracht, »dass man in Berlin jeden Tag Hunderttausende von Menschen auf die Beine bringen kann, die sich wie Mauern um die Gebäude legen. Dagegen schützen alle militärischen Machtmittel gar nicht. Man kann auf diese Menschenmassen nicht einfach schießen«.46 (Das konnte man weiterhin, so auch in Berlin im März 1919). Weimar als die »Stadt Goethes« sei »ein gutes Symbol für die junge deutsche Republik«47. Weimar sei auch aus Gründen des »Einheitsgedankens« und der »Zusammengehörigkeit des Reiches« auszuwählen; wenn man den »Geist von Weimar« mit dem Aufbau eines »neuen Deutschen Reiches verbindet«, so würde das in der ganzen Welt »angenehm empfunden werden«, meinte Ebert48. Es traten noch weitere Überlegungen hinzu: der USA-Präsident W. Wilson würde zustimmen, man könne einen »besseren Frieden« erhalten49, und schließlich fasste die Regierung am Tag nach den Wahlen zur Nationalversammlung den Beschluss, Weimar als ihren Tagungsort zu bestimmen.50 »Die Konstituante soll die revolutionären Zustände beenden und dazu muss sie absolut sichergestellt sein«, hatte der Unterstaatssekretär und Chef der Reichskanzlei, Curt Baake, bereits am 14. 1. gesagt: »In Berlin ist das aber nicht möglich … Hat die Konstituante erst einmal eine legale Gewalt geschaffen, so werden wir mit Berlin sehr viel eher fertig werden, denn diese legale Gewalt kann viel entschlossener, unbekümmerter und rücksichtsloser vorgehen als die gegenwärtige Regierung«. Dann könne man auch bestimmen, »dass Berlin das Zentrum von Deutschland bleibt«.51 Berlin also erst nach der Liquidation der Revolution wieder das Zentrum. Es war, wie wir gesehen haben, eines der Zentren der deutschen Revolution, der Ursprung der Republik lag hier, aber Berlin wurde nicht ihr Namensgeber, sondern die Nationalversammlung im Nationaltheater, das bürgerliche Weimar, gab dem aus der Revolution geborenen Staat für die nächsten 14 Jahre seinen Namen. Professor Dr. Ingo Materna 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 Vgl. allgemein: Geschichte Berlins, hg. von Wolfgang Ribbe, Berlin 2002 (Forschungen der Historischen Kommission zu Berlin, 2 Bde.), hier Bd. 2. Vgl. immer noch am ausführlichsten im Detail: Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung, hg. von der Bezirksleitung der SED, Kommission zur Erforschung der örtlichen Arbeiterbewegung. Bd. 1. Von den Anfängen bis 1917, Berlin 1987. Vgl. auch die Einleitung zu: Dokumente aus geheimen Archiven. Bd. 4, 1914–1918. Berichte des Berliner Polizeipräsidenten zur Stimmung und Lage der Bevölkerung in Berlin, bearb. von Ingo Materna und Hans-Joachim Schreckenbach unter Mitarbeit von Bärbel Holtz, Weimar 1987 (im Folgenden zit. als: Berichte 1914–1918). Dieter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869 bis 1917, 2 Bde, Leipzig 1987, Bd. 1, S. 377. Vgl. die Literatur in: Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/19, Dokumente der Vollversammlungen und des Vollzugsrates. Vom Ausbruch der Revolution bis zum 1. Reichsrätekongreß, hg. von Gerhard Engel, Bärbel Holtz und Ingo Materna, Berlin 1993, S. XVIII, Anm. 40 Im Folgenden (zit. als: Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1.) Am ausführlichsten: Heinrich Scheel, Der Aprilstreik 1917 in Berlin, in: Revolutionäre Ereignisse und Probleme in Deutschland während der Periode der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1917/1918, hg. von Albert Schreiner, Berlin 1957, S. 1–88. Walter Bartel, Der Januarstreik 1918 in Berlin, in: ebd., S. 141–184. Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918–1937, Frankfurt a.M. 1961, S. 18; zit. nach Heinrich A. Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 29. Vgl. Ernst-Heinrich Schmidt, Heimatheer und Revolution 1918. Die militärischen Gewalten im Heimatgebiet zwischen Oktoberreform und Novemberrevolution, Stuttgart 1981, S. 204 ff. Vgl. ebd., S. 433 ff. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 8 Bde., Bd. 3, Berlin 1966, S. 108. Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S.XXVI, XXVIII, 34. Jetzt erstmalig eine präzise Biographie von Ralf Hoffrogge, Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, Dietz Berlin, 2008; vgl. auch ders., Räteaktivisten in der USPD: Richard Müller und die Revolutionären Obleute, in: JahrBuch 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Jan. 2008, H. 1, S. 36–45. Im übrigen vgl. die biographischen Nachschlagewerke sowie auch in : Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, passim. Nachzutragen wäre für Ebert: Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006; zu Hugo Haase: Dieter Engelmann u. Horst Naumann, Hugo Haase, Lebensweg und politisches Vermächtnis eines streitbaren Sozialisten, Berlin 1999. Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S. 20, Anm. 12. Ebd., S. 16, Anm. 7. Ebd., S. 5 (mit Lit.). Ebd., S. 8 (mit Lit.). Zu allen Arbeiterräten s. Ebd., S. 22 ff. Zu Franz Büchel (S. 222, Anm. 19) ergänzend s. ANLAGE (1). Zu E. Walz (Ebd., S. 16) s. ausführlich in den ANLAGEN (4). Zu H. Paasche (Ebd. S. 23) ist nachzutragen: Werner Lange, Hans Paasches Forschungsreise ins innerste Deutschland. Eine Biographie. Mit einem Geleitwort von Helga Paasche, Bremen 1995. Ebd., S. 34, s. ANLAGEN (2). Vgl. Hermann Müller, Die Novemberrevolution. Erinnerungen, Berlin 1928, S. 104 f. Ausführlich über A. Gottschling in ANLAGEN (3). Vgl. auch Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S. XXXIII. Hermann Müller, a. a. O, S. 106. Wörtlich übereinstimmend mit Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S. 414 (Sitzung des VR am 28. 11. 1918). Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S. 66 f. Ebd., S. 234 ff., 316 ff., 355. Ebd., S. 357, 374. Ebd., S. 469, S. 480 f. Ebd., S. XXXVI. Ebd., S. XXXVII. Gerhard Engel, Der Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte Groß-Berlins als zentrales Räteorgan (Über Zentralisation und Dezentralisation in der deutschen Rätebewegung), in: 75 Jahre deutsche Novemberrevolution. Schriftenreihe der Marx/Engels-Stiftung, Bd. 21, Köln 1994, S. 151–161. Vgl. den Aufruf der Vollversammlung der Berliner Räte am 10. 11. 1918, in : Groß-Berliner A.- und S.Räte, 1, S. 24 f. Es wäre eine spezielle Untersuchung zu dieser Problematik angebracht. Erfurter Allgemeiner Anzeiger v. 6. 12. 1918, zit in: Gerhard Schulze, Die Novemberrevolution 1918 in Thüringen, Erfurt 1976, S, 136. Vgl. die knappe Übersicht bei: Gerhard A. Ritter u. Susanne Miller, Die deutsche Revolution 1918/1919. Dokumente, Frankfurt a.M. 1983, S. 416 ff. Ebd., S. 399. Ebd., S. 394 ff., ausführlich in: Rat der Volksbeauftragten 1918/1919, bearb v.. Susanne Miller unter Mitwirkung von H. Potthoff. Eingel. v. E. Matthias, 2 T. Düsseldorf 1969, T. 1, S. 149 ff. Ritter/Miller, a. a. O, S. 401. Ebd., S. 136, 137. Die Rote Fahne, 25. 12. 1918. Vgl. Wolfram Wette, Gustav Noske. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987. Vgl. z. b. Lothar Berthold u. Helmut Neef, Militarismus und Opportunismus gegen die Novemberrevolution, 2. Aufl., Berlin 1978, S. 109: Die Gründung der KPD »wurde zum wichtigsten Ereignis der Novemberrevolution«. Chronik zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, T. II, Berlin 1966, S. 53. Wörterbuch der Geschichte, 2. Aufl. Berlin 1983, S. 237, 238. Es wird der »demokratische Charakter« der Diktatur des Proletariats ausdrücklich unterstrichen. Vorwärts, 17. 12. 1918 (M.) Die Regierung der Volksbeauftragten, T. 2, a. a. O, S. 225., auch S. 206 f. Ebd., S. 227. Ebd., S. 228 f. Ebd., S. 225. So Staatssekretär Graf Rantzau, ebd., S. 228. Ebd., S. 283. Ebd., S. 230 f. – Im weiteren vgl. J. S. Drabkin, Die Entstehung der Weimarer Republik, Berlin 1983, S. 7 ff. 47 Anlagen: (1) Ergänzung zu Franz Büchel (vgl. Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte, a. a. O, 1, S. 222 Anm. 19): geb. in Berlin 17. 4. 1890, als Metallarbeiter seit 1917 zum Kreis der sozialdemokratischen Betriebsobleute gehörig; 1919/20 aktiv gegen die USPD-Regierung in Gotha; Juni 1920 Kandidat für die Reichstagswahlen; 1921–1923 sozialpolitischer Leiter der Deutschen Werke in Kassel; 1924–1933 2. Bezirksleiter der SPD in Kassel-Bettenhausen; nach 1933 politisch verfolgt, zeitweilig 1933/34 und 1944/45 inhaftiert. 1945 zunächst Vors. des SPD-Ortsvereins Erkner und Mitgl. des Bez.-Vorstandes der SPD Brandenburg, zeitweilig 2. Vors. des SPD-Prov.Verbandes Brandenburg; Sept. 1945 Kritik an der Politik in der SBZ (Vergewaltigungen und Plünderungen, Oder-Neiße-Linie), 17. 10. 1945 Verhaftung durch das NKWD, bis 19. 1. 1950 Lagerhaft u. a. in Sachsenhausen und Buchenwald; nach Entlassung Vors. des »Bundes der Opfer der Sowjet-KZ« (BOS) in der BRD; gest. 19. 9. 1970. (Ergänzungen mitgeteilt durch Andreas Herbst, Berlin). (2) Ergänzung zu Max Cohen-Reuß (vgl. Groß-Berliner A.- und S.-Räte, a. a. O, 1, S. 34, Anm. 3. Briefe an den Berliner Senatsdirektor Hans Emil Hirschfeld 1960, jetzt im Landesarchiv Berlin E. Rep. 200 – 15,3 aus Neuilly sur – Seine 43 Rue de la Ferme 24. 2. 1960, über 80jährig): bis 1933 Mitgl. des von Josephson gegründeten Angestelltenvereins in Berlin; in der Emigration für die Force Ouvière journalistisch tätig; Kontakte zu den bekannten Sozialdemokraten Paul Hertz und Siegfried Aufhäuser. (3) Neues zur Biographie von Alfred Gottschling (bisher ohne Vornamen und Daten in Groß-Berliner A.- und S.Räte, a. a. O., 1, S. XXXIII u. a.; sicher auch mit dem S. 30 erwähnten Soldaten Gottstein identisch): Alfred Gottschling (16. 9. 1879 –19. 7. 1952) war vom 21. 11. 1918 bis 7. 12. 1919 Vorsitzender der Berliner Soldatenräte, genauer: ihres ständigen Büros, das Verbindung zwischen dem »Großen Soldatenrat« und dem Vollzugsrat der Groß-Berliner A.und S.-Räte halten sollte (ebd., S. 231, Anm.3). Über seine Stellung entzündete sich ein Streit in der Vollversammlung der S.-Räte, da er bereits eine bezahlte Stellung als Kurier beim Vollzugsrat (ebd., S. 412, Anm. 1) hatte. Seine politische Position vertrat A. G. in der Voll48 versammlung der S.-Räte am 30. 11., in der er sich für eine sozialistische Republik und zugleich für eine (spätere) Nationalversammlung einsetzte, ähnlich wie führende USPD-Funktionäre auch (ebd., S. 500, 502; vgl. »Die Freiheit« Nr. 30 v. 1. 12. 1918 – mit Foto des Präsidiums der Berliner S. Räte und Auszügen aus dem Referat A. G.: gegen die »Konjunktursozialisten«, die »Gefahr von rechts«, »für die sozialistische Republik und die soziale Gesellschaftsordnung«). Am 5. 12. wurde er in den »Vollzugsausschuß« (das ist der Vollzugsrat) gewählt (ebd., S. 609, 658). Damit war er in die »Alltagsarbeit« des Vollzugsrates eingebunden (ebd., S. 765, 778 f., 784 f., 802 f.), trat mit einer Warnung vor konterrevolutionären Unteroffizieren und Offizieren hervor (S. 665) und setzte sich für die Teilnahme der russischen Sowjetdelegation am Reichsrätekongress ein; er lehnte den pompösen Einmarsch der Fronttruppen am 10. 12. ab (S. 717). Schließlich verlangte er Rechenschaft von der Regierung über die Verwendung von Finanzen vor dem Rätekongreß am 18. 12., an dem er vermutlich als Mitglied des Vollzugsrates teilnahm (S. 893). Am 20. 12. 1918 erklärte er im Vollzugsrat: »Auch ich habe morgen zu tun, da ich meine Entlassung durchführen und nach Hause fahren will.« Er übergab seine Unterlagen an den Groß-Berliner Ausschuß und den Soldatenrat (S. 905). Alfred Gottschlings »Zuhause« war Gotha, wo er seit etwa 1910 in der Sozialdemokratie wirkte. 1916 trat er in der oppositionellen sozialdemokratischen »Freien Jugend« Gotha auf, sprach im Werther´schen Gasthof, auch im Gasthaus »Zum Mohren« (wo im April 1917 der Gründungskongreß der USPD stattfand) u. a. über »Gesetzesbestimmungen und Gerichts- Angelegenheiten«. Vor dem 1. Mai 1918 wurde er zum Militär eingezogen, »der bis dahin ein eifriger Agitator (gegen den Krieg) in der Waggonfabrik war« (nach Ewald Buchsbaum, Die Linksentwicklung der Gothaer Arbeiterbewegung von 1914 bis 1920, Diss. Halle 1965, auch für das Folgende). Am 11. Januar hielt A. G., »der kurz vorher aus Berlin zurückgekehrt war«, am Abend im Theatergebäude ein mehrstündiges Referat zum Thema »Die Waffen der Revolution«. Im »Gothaer Volksblatt« (29. 1. 1919) wird von einer Versammlung berichtet, auf der A.G. den Gegensatz zwischen den Rechten und Linken in der Gothaer Arbeiterbewegung diskutierte und sich für »die Einigung des Proletariats über die Köpfe der Führer hinweg« einsetzte. »Da Alfred Gottschling über bedeutende rhetorische Fähigkeiten verfügte, dadurch Zustimmung bei vielen Werktätigen fand«, verstand es A.G. »die Gothaer Arbeiter irrezuführen« (meint E. Buchsbaum, a. a. O, S. 142 völlig unbegründet!). Dagegen erklärte Wilhelm Bock auf dem Parteitag der USPD in Berlin (2.–6. 3. 1919): »G. hat in der Partei die spartakistischen Tendenzen vertreten«. Bei der Berichterstattung über diesen Parteitag am 4./ 5. 5. 1919 in Gotha erklärte sich A.G. erneut für das Rätesystem. Auf dem Parteitag selbst sagte er (USPD. Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages vom 2. bis 6.März 1919 in Berlin, Berlin (1919), S. 180), ohne die Diktatur des Proletariats und die »Verwurzelung des Rätesystems gäbe es keine sozialistische Gesellschaftsordnung«. Außerdem bezog er sich auf einen »Vorgang vor 8 Jahren«, wo es eine gerichtliche Auseinandersetzung mit einem gewissen Rollwagen gegeben habe, offenbar über ein »Parteiangelegenheit« (S. 190 des Protokolls). Nach dem Kapp-Putsch im März 1920 in Gotha wegen »Hochverrats« angeklagt, soll A. G. durch »einflußreiche Gothaer« gerettet worden sein .(Diese Mitteilung und alles Folgende verdanke ich Herrn Ingo Fuhrmann, Enkel Alfred Gottschlings, Düsseldorf, der durch seine Kenntnisse den Weg zum Lebenslauf seines Großvaters ermöglichte). A. G. hat sich dann auch literarisch betätigt, sein Theaterstück »Menschen der Arbeit«, ein »soziales Drama in 3 Akten« wurde im Dezember 1930 in Ruhla (wo er vermutlich derzeit lebte) aufgeführt (Vgl. Eisenacher Tagespost 51. Jg., Nr. 295 v. 17. 12. 1930). Offenbar hat seine Ehefrau Martha (gest. 1961 in Gotha) einige seiner Gedichte »Aus der Schublade eines deutschen Arbeiters« aufgezeichnet, die erhalten sind. Es gibt eine Gipsbüste, gefertigt von einem Freund. Schließlich hatte A.G. während der NS-Herrschaft »wahrscheinlich … auch zu (dem kommunistischen Lehrer und Widerstandskämpfer-I.M.) Neubauer Kontakt, als dieser in Ruhla unterrichtete«. – A.G. hat dort einen Handwerksbetrieb mit mehreren Gesellen geführt; da ihn »politische Diskussionen in den Gasthäusern« mehr anzogen als das Handwerk, »ging er konsequent in Konkurs«. Nach dem 2. Weltkrieg malte – kopierte – er für »russische Offiziere, die bei ihm ständige Gäste waren, Stalin-Bilder und schrieb weiter Theaterstücke, unterhielt sogar ein eigenes Theater«. (4) Eduard Walz Obgleich fast in jeder Publikation über die Revolution 1918/19 der Name Eduard Walz genannt wird, war bis zur Publikation »Groß-Berliner A.- und S.-Räte«, a. a. O, 1) über seine Person nichts bekannt. Hier (S. 16) konnten erstmalig, gestützt auf einige Briefe von E. W. an das Entschädigungsamt Berlin und dessen Leiter Hans Emil Hirschfeld (im Landesarchiv Berlin E Rep. 200-18, Bd, 3), einige Daten mitgeteilt werden. Die folgende biographische Skizze berücksichtigt weitere Quellen, die durch neuerliche Studien in oben genannten Akten und Nachforschungen von Andreas Herbst in der Landesversicherungsanstalt Berlin, Entschädigungsbehörde (Reg. Nr. 173.312 – Devisen Ausländer) vervollständigt werden konnten. Wichtigstes Dokument ist ein von E.W. maschinenschriftlich verfaßter Lebenslauf (ohne Datum, offenbar Ende der 1950er Jahre in Paris für den Antrag auf Entschädigung für in der NS-Herrschaft Erlittenes), der allerdings einer quellenkritischen Bearbeitung bedarf, da er die für unseren Zusammenhang wichtigste Periode, nämlich die Zeit vor und während der Revolution 1918, ausläßt, in unserer Skizze nach Möglichkeit ergänzt wird. Die Biographie Eduard Walz: Eduard Paul Walz wurde am 22. 1. 1895 in München als Sohn des Kaiserlichen Marineoberingenieurs Ernst Walz (1846– 1918) und der Elisabeth W., geb. Schack (1864–1910) geboren, besuchte die Volksschule in Starnberg, das Gymnasium in Sigmaringen und trat, angeblich ohne Mittel für ein Studium, am 22. 11. 1913 als Fahnenjunker in das Füselierregiment 40 in Rastatt ein, am 18. 7. 1914 zum Fähnrich, am 8. 10. 1914 zum Leutnant, am 20. 6. 1918 zum Oberleutnant befördert; nach Teilnahme am Krieg 1914–1918 als Pionieroffizier, schied er am 6. 10. 1918 aus dem Heeresdienst (schweres Nervenleiden). Etwa zu dieser Zeit nahm er Kontakt zu Georg Ledebour in Berlin auf, lernte Emil Barth, Ernst Däumig und Richard Müller kennen, die alle Vertrauen zum ihm fassten und ihn, den Oberleutnant »Lindner«, in die Gespräche über die Vorbereitung des revolutionären Aufstandes einbezogen. Am 3./4. November wurde E. W. durch das Generalkommando verhaftet, in der Vernehmung am 5. 11. gab er seine Kenntnisse über Personen und Pläne der Revolutionäre preis (Folge: Verhaftung von Däumig am 8. 11.), angeblich aus »Dummheit«. Am 9. 11. aus der Haft befreit, wurde E. W. in der Vollversammlung der Räte am 10. 11. kurzzeitig als deren 2. Vorsitzender in den Vollzugsrat gewählt und zur »Kontrolle« des Preußischen Kriegsministeriums bestellt. E. W. erklärte sich in der Vollzugsratssitzung am 16. 11. mit den Leitsätzen E. Däumigs, für Sozialismus und Räterepublik, keine vorschnelle Wahl der Konstituante, gegen »Bauernräte« mit Gutsbesitzern, für Räte der Landarbeiter, gegen die weitere Dekoration der Offiziere mit Abzeichen und Degen. Am 22. 11. beriet der Vollzugsrat erstmalig über die »Angelegenheit Walz«, sein eigenmächtiges Vorgehen im Kriegsministerium; dann erfolgte (am 23. 11.) durch E. Barth die Aufklärung seines Verhaltens nach der Verhaftung am 3. 11., die mit der Festsetzung im Gebäude des Vollzugsrats, Einsetzung einer Untersuchungskommission, seinem »Verzicht« auf den Sitz im Voll- zugsrat (am 26. 11.) endete. Ihm wurde (u. a. durch G. Ledebour und R. Müller) dringend geraten, Berlin zu verlassen, zu seinem Schwiegervater, einem Medizinalrat am Starnberger See, zu gehen; Walz selbst sprach von seiner Ehefrau, (die in seinem Lebenslauf nicht vorkommt !). 1919 eröffnete er in München ein Antiquariat, studierte dann Kunstgeschichte in München, Amsterdam, in der Schweiz und arbeitete als erster Deutscher (!) als Deutschlektor an der Sorbonne. 1929–1933 wohnte er in Berlin-Frohnau bei der Mutter eines seiner Studenten, der verwitweten Jüdin Ida Rosenberg (1880–1946), mit deren Vermögen er mehrere Bäckereien/Konditoreien (zuletzt 4 gutgehende Geschäfte) in Berlin betrieb, ab 1933 ständige Angriffe durch SA, Boykott. Im April 1933 mit Frau R. nach Paris geflohen, arbeitete E. W. als Lektor für deutschsprachige und holländische Presse beim französischen Außenministerium, im September 1939 zeitweilig interniert, dann von Juni 1940–23. 8. 1944 illegal in Paris, vom Kleinhandel existierend, Wohnungsdurchsuchung durch Gestapo Paris VIII, rue Duplot, illegale Wohnung in 31 Avenue de L´Opera mit Frau Rosenberg bei der Mutter von Jeanne Honoré, einer Pianistin, die er 1944 heiratet; wohnhaft dann I rue Mizon, Paris XV. E.W. bemühte sich um freundschaftliche Beziehungen Frankreichs zur BRD und erhielt nach langwierigen Bemühungen (1958–1962) schließlich 1962 eine monatliche Rente von 700 DM (Berufsschadenrente), rückwirkend ab 1953. Am 18. 5. 1985 ist Eduard Walz hochbetagt in Paris verstorben. Professor Dr. Ingo Materna 49 Der Arbeiterkinderklub »Nordost« in Berlin-Prenzlauer Berg 1929 bis 1933 »Eins merke Dir Arbeiterkind! Wir weder Onkel noch Tante sind. Kommst Du herein und hebst die Flosse, grüßt ›Seid bereit‹ und sagst ›Genosse‹!« Im Zuge eines Projektes, in dem ich den Archivbestand der Bezirksorganisation Prenzlauer Berg der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschisten erschließe, stieß ich immer wieder auf interessante Dokumente. So auch auf eine Akte über den Arbeiterkinderklub »Nordost« der von 1929 bis 1933 am Helmholtzplatz, einer damaligen Hochburg der KPD, bestand. Die Informationen, welche für mich als ehemaligem Jung- und Thälmannpionier sehr interessant und aufschlussreich waren, möchte ich auch den Lesern des Rundbriefes nicht vorenthalten. Der Arbeiterkinderklub »Nordost« war der erste Klub für Arbeiterkinder in ganz Berlin. Er wurde im November 1929 auf Initiative des Jungspartakusbundes eingerichtet und hieß zunächst »Heim Lenin«. Für die »Roten Jungpioniere«, die sich vorher in den Vereinszimmern der Arbeiterlokale mit aufhalten mussten, sollte ein eigener Anlaufpunkt geschaffen werden. Da der Klub aber allen Arbeiterkindern offen stehen sollte, also auch sozialdemokratischen, christlichen und parteilosen, wurde er nach kurzer Zeit in »Nordost« umbenannt. Ziel war es, die von der damals herrschenden Wirtschaftskrise betroffenen Arbeiterkinder, welche hungern mussten und sich oft auf herumtrieben, von der Straße zu holen und sie sinnvoll zu beschäftigen. Zunächst befand sich der Klub in der Dunckerstraße 86 in einem ehemaligen Kino. 1930 zog er in die Lettestraße 8 in eine ehemalige Drogerie um, weil dort die Miete, welche teilweise von der KPD gestellt wurde, billiger war. Die Umzugskosten wurden vom KJVD getragen. In der Dunckerstraße hatte der Klub drei Räume gehabt: ein Bastelzimmer mit drei Hobelbänken, einen Waschraum mit zwei Handwaschbecken und 40 Kleiderhaken sowie ein Spielzimmer mit einem kleinen eisernen Ofen. 50 In der Lettestraße hatte der Klub zwei große Räume, einen großen eisernen Ofen und ein Terrarium mit einer Schlange. Die Öfen spielten eine zentrale Rolle, da besonders im Winter in den Klub viele Kinder kamen, weil es noch keine Schulhorte gab und zuhause die Stuben oft unbeheizt blieben. Damals gab es im Winter – so wie heute im Sommer manchmal hitzefrei – »Kohlferien«. Dann wurden von den Kindern in den Häusern rund um den Helmholtzplatz – der früher im Volksmund auch »Läuseplatz« hieß – Kohlen für diese Öfen gesammelt. Im Klub wurden Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren betreut. Da in den umliegenden Schulen in der Pappelallee, der Duncker- und der Danziger Straße die Kinder in Schichten vormittags und nachmittags unterrichtet wurden, musste der Klub auch vormittags zugänglich sein. Dies stellte deshalb kein Problem dar, weil der Klubleiter, wie viele seiner Genossen derzeit, arbeitslos war und den ganzen Tag vor Ort sein konnte. Auch viele andere Arbeitslose halfen im Kinderklub ehrenamtlich mit. Stellvertretend sei an dieser Stelle von den vielen Helfern nur der wohl bekannteste von ihnen genannt, und zwar Genosse H. Burchert – wegen seiner herausragenden Körpergröße auch »Antenne« genannt –, der später als Kinderbuchautor unter dem Pseudonym »Hein Butt« bekannt werden sollte. Abends wurde der Klub von der KPD, dem KJVD und der Roten Hilfe für Versammlungen genutzt. Zeitweise (besonders im Winter) strömten hunderte Kinder aus den anliegenden Straßen in den Klub, um die Angebote wahrzunehmen. Jedoch waren nur wenige Mitglieder in der Pionierorganisation, hauptsächlich Kinder von KPD-Genossen. Aus der gesamten Greifswalder Straße zum Beispiel waren es nur 20 Pioniere, diese kamen aber regelmäßig. Zu den Beschäftigungen gehörten basteln, malen und Lieder lernen, aber auch (von älteren erfahrenen Genossen angeleitet) so sinnvolle Tätigkeiten, wie das Gestalten von Wandzeitungen. An den Wochenenden und Feiertagen wurden Wanderungen im Berliner Umland sowie Museumsbesuche unternommen. Im Winter wurden Weihnachtsgeschenke gebastelt und ein Julklapp durchgeführt, in den Sommerferien die Kinder in zentrale Pionierlager geschickt. Auch wurden von den Kindern regelrechte Programme einstudiert, die auf Parteiveranstaltungen und anderen Gelegenheiten, etwa im nahe gelegenen »Saalbau Friedrichshain«, Am Friedrichshain 16–23, oder im »Ledigenheim«, Pappelallee 15, aufgeführt wurden. Um die Fahrten und die Klubmiete (teilweise) zu finanzieren, führten die Pioniere Spendensammelaktionen durch und verkauften die Pionierzeitschrift »Trommel«, welche in der Druckerei der »Roten Fahne« gedruckt wurde. Meist standen die Pioniere mit den »Trommeln« an der Ecke Schönhauser Allee. Manchmal wurden ihnen die Zeitungen von SA oder Schupos gewaltsam entrissen. Nach der Machtübertragung an die Nazis im Januar 1933 wurde der Klub geschlossen. Darauf demonstrierten die Kinder auf dem Helmholtzplatz und riefen: »Gebt uns unseren Kinderklub wieder!«, bis die Polizei kam und die Demonstration auflöste. Im Jahre 1933 wurde die Arbeit mit den Kindern dann auch eingestellt, weil man mit ihnen selbstverständlich nicht illegal arbeiten konnte und wollte. Jedoch waren die Pioniere in den wenigen Jahren des Bestehens des Klubs dauerhaft geprägt worden: Bis in die siebziger Jahre trafen sich die ehemaligen Klubmitglieder jedes Jahr auf der Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Demonstration, die zum Friedhof der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde führt. Quellen: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv: BY 9/PB 555 Arbeiterkinderklub »Nordost« 1929–1933 BY 9/PB 137 Ilse Fuss Oliver Reschke M.A. Ein sozialdemokratisches Widerstandskämpferschicksal: Willi Scheinhardt, Gauleiter des hannoverschen Fabrikarbeiterverbandes von 1925 bis 1933 Willi Scheinhardt wird am 10. Januar 1892 als Sohn eines Bergarbeiters in Etzdorf/Mansfelder Seekreis (Provinz Sachsen) geboren. Nach Abschluss der Volksschule arbeitet er in chemischen Fabriken als ungelernter Hilfsarbeiter. Er engagiert sich früh politisch, tritt 1908, erst 16 Jahre alt, in die Gewerkschaft ein und 1910 auch in Bitterfeld in die SPD, wo er sich als Leiter der Arbeiterjugend profiliert. Im April 1919 nimmt er eine Stelle als Sekretär des Fabrikarbeiterverbandes in Harburg an, der ihn im November 1922 als Agitationsleiter nach Hannover beordert. Von 1925 bis 1933 ist Willi Scheinhardt in Hannover als Gauleiter des Fabrikarbeiterverbandes tätig. Geschichtliches zum Deutschen Fabrikarbeiterverband Vom 29. Juni bis 2. Juli 1880 findet in Hannover mit Delegierten aus 28 Orten des Deutschen Reiches der «Kongress aller nichtgewerblichen Arbeiter Deutschlands« statt. Es entsteht eine neue Organisation, der «Verband der Fabrik-, Land- und gewerblichen Hilfsarbeiter Deutschlands«. Mit der Gründung des Verbandes gelingt es allmählich, zersplitterte Lokalvereine von ungelernten Arbeitern in einen festgefügten Zentralverband einzubinden, um verbesserte Lohn- und Arbeitsbedingungen für die Arbeiterschaft zu erreichen. Der Fabrikarbeiterverband will es Arbeitern ohne Berufsausbildung ermöglichen, sich jeweiligen Berufsorganisationen anzuschließen. Der erste Verbandsvorsitzende des Fabrikarbeiterverbandes ist August Brey. Seine Amtszeit wird von 1880 bis 1931 dauern. Die ersten Jahre nach seiner Gründung verlaufen für den Verband krisenreich. Doch ab 1895 setzt trotz der Existenzbehinderungen durch Unternehmer, Polizei und Justiz im wilhelminischen Obrigkeitsstaat ein Aufschwung ein. Angesichts der unruhigen gravierenden politischen Abläufe während des Ersten Weltkrieges, der Nachkriegszeit, der Novemberrevolution 1918 und der politischen Umbrüche, erlebt der Verband ein Auf und Nieder. Doch gegen Ende der Weimarer Zeit hat sich der Fabrikarbeiterverband zum viertgrößten Verband der im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) zusammengeschlossenen Freien Gewerkschaften entwickelt. Damit verliert er seinen Status als Verband der ungelernten Arbeiter. Die neue Zentrale des Fabrikarbeiterverbandes in Hannover wird im Februar 1930 als erstes eigenes Verbandsgebäude käuflich erworben. Bis dahin hat in dem Haus eine Filiale der Berliner Diskonto-Bank ihren Sitz. Der Umzug zum Rathenauplatz 3 vollzieht sich im Juni 1930. Da der Verband aber auch am 28. Juni 1930 sein 40jähriges Dienstjubiläum begeht, bezieht er in die Feierlichkeiten die Einweihung des neuen Verbandshauses mit dem Hauptsitz Am Rathenauplatz 3 ein. Während des Festaktes in der Stadthalle Hannover sind zahlreiche namhafte Gründungsmitglieder der ersten Stunde präsent, so August Brey, dessen Name im engen Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte des Fabrikarbeiterverbandes steht. Die »Deutsche Welle« überträgt die charismatische Festrede Breys im Rundfunk. Anwesend sind ferner August Lohrberg (Hannover), Claas de Jonge als Vertreter der Fabrikarbeiter-Internationale, Heinrich Martens (Harburg) und Peter Graßmann vom Bundesvorstand des ADGB. Aus gegebenem Anlass hat der Vorstand des Fabrikarbeiterverbandes bereits im Sommer 1929 beschlossen, einen Dokumentarfilm zur Geschichte des Verbandes zu produzieren. Weil der hannoversche Gauleiter Willi Scheinhardt den neuen Agitationsmethoden und den zeitgemäßen Medien wie Film und Rundfunk aufgeschlossen und fachkundig gegenüber steht, betraut ihn der Verband mit der Projektleitung. In Kooperation mit dem Regisseur Albert Blum entsteht der Film »Aufstieg«, der eine positive Resonanz findet. Der Dokumentarfilm geht in den Wirren des Zweiten Weltkrieges verloren. Willi Scheinhardt äußert sich dazu weitsichtig in einem Artikel: «Ein wichtiges Propagandamittel ist der Film. Wir verwenden ihn seit 4 Jahren. Unsere 4jährige Erfahrung reicht aus, um uns ein Urteil bilden zu können. Wir sind zu der Überzeugung gekommen, dass der Film eins der wichtigsten Propagandamittel ist. Er wirkt überzeugend und lockert den Boden ordentlich auf, der zu bearbeiten ist. Die Filmpropaganda ist nicht, wie landläufig angenommen wird, die teuerste, sondern sie ist die billigste. Die durchschnittliche Besucherzahl unserer Filmveranstaltungen beträgt seit 4 Jahren 200. Mit Hilfe des Films tragen wir den gewerkschaftlichen Gedanken in die Familien. Wir arbeiten nicht nur auf großen Hauptstraßen und Märkten, wir gehen auch in die Quer- und Nebenstraßen, d. h. in das kleinste Dorf. Heute wird allgemein ausgesprochen, dass die Hausagitation in dieser Zeit das geeignetste Mittel ist, um zu werben. Wir bestreiten das nicht. Wir sagen aber: Der Werber hat bei der Hausagitation einen viel größeren Erfolg, wenn durch eine großzügige Propaganda der Boden ordentlich aufgerissen ist, der zu bearbeiten ist. – Werfen wir einen Blick in unsere Tages- und Gewerkschaftszeitungen, so sehen wir, dass sie arm sind an Artikeln, die sich mit dem Schicksal des Arbeiters, seinen Nöten und seinen Sorgen beschäftigen. Hier war uns die alte Zeit überlegen«. Die neue Zentrale stellt für den Fabrikarbeiterverband nicht allein ein äußeres Zeichen von Erfolg und Aufstieg dar, sie bietet außerdem unübersehbare bessere Arbeitsbedingungen für die einzelnen Abteilungen des Hauptvorstandes.1 Durch Um- und Ausbaumaßnahmen im Gebäude Am Rathenauplatz 3 entsteht eine weitere Etage mit Wohnraum für die Verbandsangehörigen und ihre Familien. Der Gauleiter Willi Scheinhardt, seine Ehefrau Emma (geborene Gerig), die am 14. Oktober 1924 geborene Tochter Gerda, der Reichstagsabgeordnete und Sekretär der Tarifabteilung Richard Partzsch2 sowie der Hausmeister Willi Krahtz ziehen ein. Durch die Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 häufen sich bald die bedrohlichen politischen Ereignisse, die sich durch spürbare Repressalien in Form von Aus- und Gleichschaltung und Ermordung der vermeintlichen Gegner aller Richtungen äußern. Einbezogen sind Gewerkschaften und Verbände. Bereits im Februar 1933 finden in Hannover Aufmärsche der Nazis anlässlich Hitlers Ernennung zum Reichskanzler statt. Der 1. April 1933 ist der Tag des Boykotts jüdischer Geschäfte in Deutschland. Die Nazis besetzen in Hannover 51 die Gewerkschaftshäuser und verhaften Gewerkschafter und Angestellte. Auch der Gauleiter Willi Scheinhardt wird von der SS verhaftet. Im Gegensatz zu seinen Kollegen bleibt er länger im Gefängnis und kommt erst später wieder frei. Die SS dringt in das Verbandsgebäude am Rathenauplatz ein, beschlagnahmt Verbandseigentum und -vermögen, versiegelt die Räume und hisst auf dem Dach die Hakenkreuzfahne. Die im Haus der Hauptverwaltung ansässigen Familien Scheinhardt und Partzsch dürfen nur mit (von der SA-Hilfspolizei ausgestellten) »Erlaubnisscheinen« ihre eigenen Wohnungen betreten und verlassen. Die im Haus der Hauptverwaltung ansässigen Familien Scheinhardt und Partzsch dürfen nur mit (von der SAHilfspolizei ausgestellten) »Erlaubnisscheinen« ihre eigenen Wohnungen betreten und verlassen. Die Bewohner werden aus dem Haus vertrieben. Familie Scheinhardt zieht in die Rodenstr. 9 (Hannover-Linden) und lebt ab 1935 in der Hagenstr. 58 (Hannover-List). Mitte April 1933 ist die Zentrale wieder zugänglich und benutzbar. Der Fabrikarbeiterverband hat jedoch bereits am 1. April 1933 seine Eigenständigkeit verloren. Der materielle Verlust nach dem begangenen Überfall bringt den schwer geschädigten Gewerkschaftsangehörigen Existenzkrisen. Davon betroffen ist auch die Familie Scheinhardt, die wie die anderen Genossen aus der Not heraus nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten sucht. Das Ehepaar Scheinhardt steigt in einen Wäscheverkauf ein. Frau Emma führt das Geschäft nach Verhaftung und Ermordung ihres Mannes bis 1938 allein weiter. Weil die geringe Rente zum Leben für sie und ihre Tochter Gerda nicht ausreicht, arbeitet Frau Emma Scheinhardt außerdem als Aushilfe in einer Gastwirtschaft bei Bekannten. Politische Aktivitäten3 und Widerstand gegen die Faschisten Schon bald erkennt der Fabrikarbeiterverband in der NSDAP den gefährlichsten Feind der deutschen Gewerkschaftsbewegung und nimmt die illegale Widerstandsarbeit auf. Willi Scheinhardt hat ahnungsvoll bereits Ende der zwanziger Jahre den propagandistischen Kampf gegen die Nazis eingeleitet. Anfang 1933 reist er häufig nach Amsterdam zum Sitz der Fabrikarbeiter-Internationale, um dort rechtzeitig die wichtigsten Verbandsdokumente in Sicherheit zu bringen. Er schließt sich der von Werner Blumenberg im Jahre 1932 gegründeten Widerstandsorganisation »Sozialistische Front« an, für die er illegales Material in Deutschland verbreitet. Noch am 2. März 1933 werden einige leitende Gewerkschafter, darunter auch Willi Scheinhardt, in seiner Funktion als Gauleiter von Hannover nach Süddeutschland delegiert, um eine zweite Gewerkschaftszentrale des Verbandes der Fabrikarbeiter Deutschlands zu gründen. Verhaftung, Deportation und Ermordung Willi Scheinhardts Noch 1936 hält er den Kontakt mit weiteren SPD-Genossen aufrecht. Sie betreiben unter anderem gemeinsam ein Wanderkino, das jedoch unter die Zensur der Nazis fällt und verboten wird. Im Januar 1936 zerschlägt die Gestapo die Widerstandsorganisation »Sozialistische Front« und verhaftet dabei auch Willi Scheinhardt in Hannover. Im Gestapogefängnis Hildesheim bleibt er unter dem Vorwurf des Hochverrats in Haft. Am 6. Oktober 1936 stirbt er an den Folgen grausamer Folterungen durch die Gestapo. Der »Neue Vorwärts« berichtet am 8. November 1936 in seiner Nr. 178: »Der frühere Gauleiter des Deutschen Fabrikarbeiterverbandes, der Genosse Willi Scheinhardt, ist Anfang Oktober den Misshandlungen durch die Gestapo erlegen und am 14. Oktober in aller Stille eingeäschert worden. Der Genosse Willi Scheinhardt, der jetzt im Alter von 44 Jahren einen so grausamen Tod erleiden musste, hat von früher Jugend an als Sozialdemokrat und Gewerkschafter selbstlos der Gesamtbewegung und ihren Zielen gedient; er ist auch nach Hitlers Machtantritt seiner sozialistischen Überzeugung treu geblieben und muss- 52 te nun seine Treue zu unseren Ideen mit dem Leben büßen.-Der Generalstaatsanwalt dokumentierte am 17. Oktober 1936, dass er zwischen dem 29. 9.und 6. 10. 1936 zu Tode geprügelt worden ist, weil er »vermutlich kein vollständiges Geständnis abgelegt hat.« Die Gestapo verweigert den Familienangehörigen zunächst die offizielle Freigabe des Leichnams. Die Urnenbeisetzung erfolgt am 14. Oktober 1936 auf dem Friedhof Hannover-Ricklingen. Es ist der 12. Geburtstag seiner Tochter Gerda. Das Grab wurde inzwischen eingeebnet. Das Schicksal der Familie nach der Ermordung Willi Scheinhardts 1944 wird Frau Scheinhardt ausgebombt und kommt mit ihrer Tochter Gerda bei Bekannten in Ricklingen unter. Später bewohnen beide bis zu ihrem Umzug nach Hannover-Ricklingen in ihr eigenes Haus im Jahre 1952 zwei Zimmer in Hannover-Waldhausen. Frau Emma Scheinhardt stirbt 1984 im Alter von über 92 Jahren in Hannover. Heide Kramer 1 2 Nach1945 wird das Haus zum Sitz der IG Chemie (Nachfolge des Fabrikarbeiterverbandes), später Niederlassung einiger Banken. RichardPartzsch (geboren am 15. 11. 1881 in Dresden, gestorben am 6. 11. 1953 in Hannover) Er wird nach der Schule Dekorationsmaler. Seit 1902 ist er Mitglied der SPD und Gewerkschaft. Dann einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg Vorsitzender des SPD-Ortsvereins in Dresden-Cotta. Ab 1913 Geschäftsführer des freigewerkschaftlichen Fa- 3 brikarbeiterverbandes in Köslin. Zwischen 1919 und 1922 Stadtverordneter und Mitglied des Deutschen Reichstages in Köslin. Während dieser Zeit ist Partzsch Mitglied des Provinziallandtages von Pommern. Im März 1920 außerdem Zivilkommissar in Köslin, zwischen 1919 und 1922 in Köslin ebenfalls Stadtverordneter, 1920 für einige Monate erstmals Mitglied des Reichstages. Ab 1922 lebt er in Hannover, wirkt dort als Gewerkschaftssekretär im Hauptvorstand des Verbandes der Fabrikarbeiter Deutschlands. 1932/33 erneut Mitglied des Deutschen Reichstages, ab 1933 Angehöriger der lokalen Widerstandsgruppe der Sozialistischen Front. Partzsch wird 1936 von der Gestapo in Hannover verhaftet und erst 1937 freigelassen. 1944 erfolgt eine erneute Verhaftung im Rahmen der Aktion »Gewitter«. Von 1945 bis zu seinem Ausscheiden ist Richard Parztsch im Büro des SPD-Vorsitzenden Dr. Kurt Schumacher tätig und Mitglied im Vorstand der SPD. Beitrag von Willi Scheinhardt, Hannover, September 1931 (Der Artikel ist von Willi Scheinhardt mit der Schreibmaschine verfasst und hier vollständig wiedergegeben worden). Zeitungsartikel von Willi Scheinhardt, Hannover, September 1931: Warum neue Formen der gewerkschaftlichen Agitation? Zunächst eine Bemerkung: Ich will nicht sprechen über Dinge, die uns – die wir hier sind – geläufig sind. Aber ich vertrete die Auffassung, dass wir Organisationskunde und Großbetriebslehre brauchen, wenn wir nicht von der Hand in den Mund leben wollen. In meinem Vortrage will ich zeigen, auf was unsere Erfolge zurückzuführen sind und warum wir in der Gegenwart und Zukunft zu einer Erweiterung unserer bisherigen Agitationsformen und –methoden kommen müssen und gleichzeitig andeuten, welche Wege wir einzuschlagen haben. Ich glaube, so das zu behandelnde Gebiet abgesteckt zu haben. Meiner Arbeit liegt folgender Satz zugrunde: »Nur der kann der Natur gebieten, der ihren Gesetzen zu gehorchen weiß«. Die Idee als werbende Kraft Dass die Arbeitskraft eines Volkes den Reichtum des Volkes darstellt und dass das jährliche einkommen eines Volkes sich zu verteilen hat nach dem Prinzip der freien Konkurrenz, diese Auffassung hat die Welt nicht erschüttert. Dass Menschen Reichtum zusammenscharrten aus der Arbeit der von ihnen beschäftigten Arbeiter, indem sie ihnen keinen auskömmlichen Lohn zahlten und dass es für die Arbeiter in der kapitalistischen Welt keine Arbeit gibt, wenn nicht der Unternehmergewinn gesichert ist, diese Auffassung hat die Welt erschüttert. Das Wort «alle Menschen sind Brüder« hat die Welt nicht aus ihren Angeln gehoben. Aber das Wort «Proletarier aller Länder vereinigt Euch« hat die Welt tief aufgewühlt. Dem langen Arbeitstag setzten die Arbeiter die 8 stündige Arbeitszeit entgegen. Der einseitigen Festsetzung des Lohnes den Tarifvertrag, der Arbeitslosigkeit innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft die Arbeitslosenversicherung und der kapitalistischen Wirtschaft die sozialistische Wirtschaft. Aus diesen Gedanken heraus bildete sich die gewerkschaftliche Idee, geboren aus der Not der Zeit, die Idee, ein Gedankenbild in den Köpfen der Arbeiter wie die Welt nach ihren Anschauungen sein müsste. Die Idee wurde die geistige Einstellung der schaffenden Menschen. Für die Gewerkschaftsbewegung war die Idee der große Agitator eine werbende Kraft ersten Ranges. Sie förderte die Liebe und den Idealismus zur Bewegung, sie gab der Bewegung Schwung, Kraft und Inhalt, sie war der Sauerteig der agitatorischen Kräfte. Sie ließ die Bewegung in den Köpfen von vielen Tausenden von Arbeitern nicht als Rechenexempel erscheinen. Die Idee versetzte Berge. Der Glaube an die Kraft und Macht der Bewegung ließ die Idee nicht erschüttern. Ein ebenso großer Werber war das Wort «Solidarität« und das Wort «Proletarier«. Aus beiden spricht Sorge und Not, Kampfesfreude und Kampfeswille und Opferbereit – schaft. Opfer bringen für alle die, denen es schlechter geht als uns. Das Wort «Solidarität« gab der Gewerkschaftsbewegung den nötigen Kitt. Die gewerkschaftliche Solidarität machte aber auch den Gewerkschaftler zum Weltbürger. Als drittes kommt hinzu, dass es einen Streit über die Wege, die zum Ziel führten, nicht gab. Wir hatten fast eine einheitliche, in sich geschlossene Arbeiterbewegung. Die sich über den Weg zum Ziel stritten, war eine Handvoll Literaten. Sie standen nicht mitten unter den Arbeitern. Der Riss ging nicht durch die Arbeiter des Industriebetriebes. Im Betriebe hieß es: Wer nicht mit uns, ist gegen uns. Es gab nur eine Auffassung, dort gab es nur einen Willen: Die Werbung für den Verband stärkt die Front! Wer sich abfällig über die Gewerkschaftsbewegung oder deren Einrichtung äußerte, wurde in Acht und Bann getan. Wer das tat, der gehörte nicht zum Volke, der war nicht Mann vom Bau, der war kein echter Arbeiter. Als viertes kam hinzu: Wir hatten vor dem Kriege eine günstige Entwicklung der Wirtschaft. Diese Erscheinung war 53 nicht nur national, sondern auch international. Wir können sagen, wir hatten in der Vorkriegszeit eine Hochkonjunktur der Weltwirtschaft. Zwei Zahlen: 1900 bis 1913 erhöhte sich die Kohlenproduktion von 9 auf 11 1/2 Mill. T., Ausfuhr stieg von 3 auf 8 Milliarden Mark. Der Arbeiter hatte eine große Auswahl in seinen Arbeitgebern. Stiller Protest. Dieses Ereignis war günstig für die gewerkschaftliche Entwicklung. Sieg der Idee Der Durchbruch der gewerkschaftlichen Idee erfolgte 1918 bis 1921. Hunderttausende von Arbeitern wurden Mitglieder der Gewerkschaften. Wir hatten eine Mitgliederzunahme ohne Werbung. Die Idee feierte ihren Sieg. Das ließ in den Köpfen vieler Hundert die Meinung aufkommen, man brauchte sich nicht mehr emsig um die Werbung zu kümmern. Es gab nicht wenig Funktionäre, die die Meinung vertraten, man brauchte nun alle die Wege, die man früher gegangen war, nicht mehr zu gehen. Jüngere Angestellte verlernten überhaupt das Werben von Mitgliedern; sie schwammen auf dem Öl der verflossenen Jahrzehnte. Die Veränderung der Gesamtlage Über die Volksvertretung zur Regierungsbank und Mitverantwortung im Staat. Noske als Kritiker des Militäretats. Noske als Reichswehrminister. Der Polizeipräsident – Eigentum. Der Übergang war hart, zu schnell. Die Spaltung der Arbeiterklasse. Das Bürgertum fühlt sich in seiner Existenz bedroht. Es ist nicht mehr mit den Kapitalisten Alleinberater der Regierung. Infolgedessen Radikalisierung des Bürgertums. Vorübergehende Erscheinung? In wirtschaftlicher Hinsicht zeigt uns heute der Industriebetrieb ein anderes Gesicht als das vor 10 und 15 Jahren der Fall war. Der einzelne Betriebsunternehmer tritt in den Hintergrund. Eine starke kartell- und konzernmäßige Bindung ist eingetreten. Es erfolgt eine starke Konzentration der Betriebe nach wirtschaftlichen produktions- und absatztechnischen Gesichtspunkten. Dabei spielt die Phantasie für den Großbetrieb eine wichtige Rolle. Der Großbetrieb ist eine Betriebsform, die wir schon aus der Vorkriegszeit her kennen, die aber in jener Zeit in der gewerkschaftlichen Agitation nicht die Bedeutung hatte, wie das heute der Fall ist. Es waren Betriebe, die wie alle Betriebe historisch gewachsen waren. Man hoffte im54 mer noch, die Arbeiter dieser Betriebe organisieren zu können. Der Großbetrieb der neuesten Zeit ist etwas ganz anderes. Er ist als Großbetrieb entstanden, es fehlt das historische Wachsen. Diese Betriebe sind von vornherein reichlich mit Kapital ausgestattet. Sie entstehen über Nacht. Im alten Großbetrieb der traditionelle Werkmeister, verbunden mit Werk und Unternehmer, zum Teil auch Arbeiter. Im neuen Großbetrieb ganz anders. Wir können die Menschen geistig nicht so schnell beeinflussen, wie sie in den Betrieb hineinströmen. Die geistige Beeinflussung dieser Arbeiter ist eine der großen Aufgaben, die wir in der Gegenwart und Zukunft lösen werden müssen. Die Arbeitsteilung ist das Prinzip des Fabrikbetriebes. Es ist uns also nichts Neues. Es war immer vorherrschend. Neu dagegen ist die vollständige Aufteilung des Arbeitsprozesses, des weiteren ist neu, dass in einer Fabrik nur ein bestimmtes Produkt oder ein Teilprodukt hergestellt wird. Z. b. bei der Continental. Im Hauptwerk: nur Autoreifen, Motorradreifen: nur im Werk Excelsior. Das schafft uns einen ganz anderen Menschen. In Frage kommt weiter die ständige Zunahme der Arbeitsmaschine, ihre Entwicklung vom Halb- zum Vollautomat. Die motorische Kraft und maschinelle Kraft findet eine größere Verwendung als der arbeitende Mensch. Nebenher läuft eine scharfe Aufteilung des Betriebes in einzelne Betriebsabteilungen. Da steht nicht überall mehr der Kaufmann und der Jurist, sondern an der Spitze steht der Ingenieur und der Techniker. Das alles wirkt zerstörend auf den (unleserlich) … willen der Arbeiterschaft. Stilllegung in der Kali-Industrie, zweimal die letzte Schicht. Zerreibung der Arbeitskraft. Durch unser gewerkschaftliches Wirken wird aber auch das agitatorische Element geschwächt. Wir schaffen für a l l e Tariflöhne, Arbeitszeitverkürzung, Arbeitslosenversicherung, für alle Schutz gegen die Gefahren der Arbeit. Das gewerkschaftliche Wirken schafft also selbst etwas Entspanntes. Die zeitliche Entfernung 70 Jahre vom Anfang der Bewegung entfernt. Zwei Generationen sind verbraucht. Die eine, die die Gewerkschaft gründete und die andere, die sie bis in die Gegenwart hinein geführt hat. In 70 Jahren hat sich alles verändert. Da entsteht die Frage: Wo stehen wir? Die Antwort ist: Wir stehen in einer Zeit, in der der ideale Gedanke des Arbeiters stark geknickt wird. Idee und Wirklichkeit rücken weiter auseinander als das je der Fall war. Die lange Arbeitslosigkeit zerreibt die Seele des Menschen. Der treue Republikaner als Arbeiter wird fortgesetzt von dem antirepublikanischen Arbeitgeber auf Straßenpflaster gesetzt. Dadurch tritt bei ihm die Meinung auf, dass der republikanische Staat ein Schwächling gegenüber dem kapitalistischen Arbeiter ist. Wenn sich das nicht ändert, werden wir mit einer tiefen geistigen Umschichtung innerhalb der Arbeiterbewegung rechnen müssen. Ob sie gewerkschaftsfreundlich ist, lässt sich nicht sagen. Wir stehen aber jedenfalls an einer Stelle, (unleserlich) eine Schwankung zu unseren (unleserlich) möglich ist. Da drängt sich die Frage auf: Kommen wir mit den bisherigen Agitationsmethoden infolge der total veränderten Lage aus? Jetzt werden alle Agitationsmethoden, die wir anwenden, blitzschnell durch Eure Gehirne fliegen und die Antwort wird lauten: Wir sind bisher mit diesen Methoden ganz gut ausgekommen. Wenn wir aber die Frage aufwerfen würden: Können wir heute nach derselben Methode allgemein im ganzen Lande noch Ziegelsteine herstellen, wie wir sie vor 60 oder 70 Jahren hergestellt haben, sofort würde das von allen verneint werden. Ich möchte natürlich keine der bisherigen Methoden vermissen. Aber wir müssen modernisieren und ergänzen. Im politischen Kampfe haben die Nationalsozialisten und Kommunisten einen Teil dieser Methoden modernisiert (Straßenkolonne). Bisher herrschte in der Agitation bei uns Hand- und Faustrecht, d. h. jeder auf seine Art und Weise ist überall so eingebürgert, dass man es für unkollegial hält, darüber zu sprechen. Seit Bestehen unseres Verbandes hat man sich auf keinem der Verbandstage mit der Frage der Agitation beschäftigt, sondern nur hier und dort im Vorstandsbericht hat man mal Anfragen gestellt oder Wünsche geäußert. Wie oft sind uns schon die Flugblätter mit ihren ganz vortrefflichen Bildern der KPD recht unangenehm auf unsere Seele gefallen. Sehr viele dieser Bilder sind zeitgemäß vortreffliche Zeichnungen. Die K.P.D. hat in Berlin eine große Propaganda-Schule und bildet hier nicht alle, aber einen Teil der Funktionäre aus. Die Auflockerung des Bodens Zunächst muss der Boden aufgelockert werden. Will man das aber tun, so muss man wissen, was für Boden aufzulockern ist, um mit dem richtigen Werkzeug an die Arbeit gehen zu können. Wir müssen den Arbeiter und seine Arbeitsstätte genau kennen. Wir alle stehen vielleicht zwei Jahrzehnte und etwas mehr nicht mehr im Betriebe und vieles hat sich im Laufe der Jahre geändert. Der Arbeiter in der Gegenwart Für die Lebensschicksale der Arbeiter und Arbeiterinnen ist zunächst entscheidend, in welche wirtschaftliche Umwelt sie hineingestoßen werden. Die wirtschaftlichen Verhältnisse und der Arbeitsplatz sind mitbestimmend für die geistige Einstellung des Arbeiters. Der Arbeiter zeigt uns heute ein ganz anderes Gesicht als (wie) vor zwei Jahrzehnten. Die junge Arbeiterin und der Arbeiter treten uns heute entgegen mit einer ganz anderen Schulbildung und Lebensauffassung. Ihr Leben wird durch die stark veränderten wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse geformt. Ihr Blick für alle diese Dinge hebt sich weit ab von dem der jungen Arbeiter vor 20 oder 30 Jahren. Sie finden ein ganz anderes Arbeitsfeld. Das kulturelle und gesellschaftliche Leben hat sich ganz anders gestaltet. Jeder einzelne von uns betrachte nur, wie er daheim erzogen wurde und wie heute die Kinder erzogen werden. Der ältere Arbeiter Aber auch im Leben des älteren Arbeiters hat sich vieles verändert. Ist er 40 Jahre alt, so sieht er keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr, ihn erfüllt nur die eine Sorge, wie erhälst du deinen Arbeitsplatz. – Fällt er von seinem Arbeitsplatz, so geht vieles verloren. Er sieht keine Möglichkeit, sich wieder hochzuarbeiten. Er führt einen ständigen Kampf um die Erhaltung seines Arbeitsplatzes. Die Maschine macht seinen Arbeitsplatz unsicher. Alle diese Dinge haben wir zu betrachten, wenn wir den agitatorischen Boden auflockern wollen. Die Masse Die Arbeiterschaft ist ein Massenvolk. Ist sie eine farblose Masse? (blaue Bluse) Eine Masse mit einem ausgespro- chenen politischen und wirtschaftlichen Kampfeswillen. Es sind Schicksalsgenossen. Was müssen wir von dieser Masse wissen? Worauf sie reagiert. Wie man eine Masse zu führen hat, wieweit man sie führen kann.Verband ist Masse. Auseinanderfallen? Zerstörung! Ich muss wissen, ob ich auf Massenstimmung einschalte. Versuche zwecklos. Lebendige Bilder auf der Straße, Uniform, Trommel, Kokarde, Marsch. Wir müssen mit den Dingen fertig werden. Aber wie wollen wir alle inneren Kämpfe und alle Konflikte lösen, wenn wir das Seelenleben der Masse nicht begreifen lernen? Aus der Masse können neue Führer auftreten. Die Zeitung Das erste Mittel neben dem gesprochenen Wort ist das, was auf die Masse wirkt, das geschriebene Wort, - die Zeitung. Ein Blick auf unsere Tageszeitungen. Tageszeitung Gewerkschaftsteil, Wirtschaftsteil Gewerkschaftszeitung Vom Arbeiter muss die Zeitung sprechen, vom Leben seiner Klassengenossen. Der Lebensinhalt des Arbeiterlebens soll gestärkt werden. Die Zeitung muss ein Spiegel der Gesamtbewegung sein. Das Flugblatt Modern, sachlich, kein Leitartikel. Verbindung mit dem Betrieb, dem Arbeiter und der Organisation. Ein Flugblatt muss etwas sein, was man von einem Berg herabwirft und die Leute begierig danach greifen. Das Bild Für Zeitung und Flugblatt. Nicht irgend ein Bild, sondern was uns angeht. Das Krankenauto fährt vom Fabrikbetrieb oder der Betriebsunfallwagen aus der Werkswohnung werden die Möbel des Arbeiters auf die Straße gestellt.ein Betrieb wird stillgelegt, die letzte Schicht, die Landjäger schätzen Streikposten. Kollege Schulz ist 40 Jahre Mitglied unseres Verbandes und erhält Invalidenunterstützung. Wir brauchen im Bild nicht die Villa des Direktors zu bringen. Uns interessiert vielmehr das Leben des Arbeiters. Das Lichtbild für die Mitgliederveranstaltung. Als Demonstrationsmittel, ArbeitslosenUnterstützung, Krankenunterstützung, Unfall-Unterstützung. Die Versammlung muss ein Erlebnis sein. Das Lichtbild zur öffentlichen Werbung. Kein Kitsch, gute Bilder, Zeichnung, Farbe, Lebendiggestaltung, der Vortragende muss alles beherrschen. Wir sind zufrieden. Der Film Es geht auch nicht von selbst, gute Vorbereitungen, Beispiel Hildesheim. Film ist Leben. Auch der stumme Film spricht. Was erreichen wir? Kollegen, deren Frauen, die Jugend, die Unorganisierten. Wir pflegen Geist und Idee. Die Musik »Aufstieg« Proletarier aller Länder vereinigt Euch!« 100 Veranstaltungen, je 280 Besucher, 28 000 Menschen. Das Radio Pflege der Geselligkeit Festrede mit Musik. Ein solches Fest muss mit der Arbeit im Zusammenhang stehen. Brauchen nicht Lieder vom Rhein und Wein, von schönen Rosen und Frühling zu sein. Unser Leben wird geformt durch Fabrikschlote, Maschinen, Not und Sorge. Das muss zum Ausdruck kommen. Die Lebendiggestaltung der Idee Fast 200 Jahre entfernt, als die Worte »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« geformt wurden und 100 Jahre entfernt von der Zeit, als das Wort »Sozialismus« und »Proletarier« allgemein bekannt wurden. Technik und Wissenschaft schafft täglich neue Existenzen. Wir stehen an der Stelle, wo religiöse, politische und soziale Anschauungen zerstört werden. Die einzige Idee, die aus diesen Trümmern lebendig hervorgeht, kann und muss der Sozialismus sein! 1 1 Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-EbertStiftung Bonn. 55 Der »Bund der Freunde der Sowjetunion« und der antifaschistische Wider-Stand: Neue Fakten aus den Akten des Bundeaarchivs Am 4. November 1928 wurde der »Bund der Freunde der Sowjetunion« gegründet. Der »Bund« trat dem Antikommunismus und Antisowjetismus entschieden entgegen und verbreitete konkrete Kenntnisse über die Sowjetunion. Ein erster entscheidender Schritt zur Gründung des »Bundes der Freunde der Sowjetunion« (BdFSU) war die Tagung am 18. September 1928 in Berlin, auf der sich das Berliner Komitee des BdFSU konstituierte. Der Arzt Dr. Max Hodann, der den Vorsitz des Berliner Komitees übernahm, führte über die Aufgabenstellung des Bundes unter anderem aus: »Die Bewegung der Freunde der Sowjetunion stelle als politische Organisation keine Konkurrenz zur ›Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland‹ dar, da diese Gesellschaft ein wissenschaftliches und künstlerisches Tätigkeitsfeld habe. Die ›Bewegung der Freunde der Sowjetunion‹ hingegen will alle Aktivposten aus den Arbeiterorganisationen und intellektuellen Kreisen sammeln zu einer Front gegen die drohende Kriegsgefahr zum Schutze für die Sowjetunion.«1 Von dieser Berliner Tagung aus trafen die Freunde des Bundes die Vorbereitungen für den ersten Kongress im Reichsmaßstab. Dieser erste Reichskongreß des BdFSU wurde für den 4. November 1928 nach Berlin in das ehemalige Preußische Herrenhaus in der Leipziger Straße (heute der Sitz des Deutsches Bundesrates) einberufen. Das Vorbereitungskomitee verfasste einen Aufruf, der am 1. Oktober 1928 an die progressive, demokratische Presse gegeben wurde. Er erschien Mitte Oktober gleichzeitig in mehreren Zeitungen und Zeitschriften. Der Aufruf begann mit den Worten: »An alle Arbeiterorganisationen! Arbeiter, Intellektuelle, Freunde der Sowjetunion! Auf zum ersten Reichskongress der Freunde der Sowjetunion! …«2 165 Delegierte, darunter die Werktätigen von 35 Berliner Betrieben, sowie Kulturschaffende aus Kunst, Wissenschaft und Literatur, die sich mit dem Proletariat und der Sowjetunion verbunden fühlten, beschlossen die Gründung des BdFSU. Delegiert waren Vertreter bereits bestehender Ortskomitees des BdFSU, von proletarischen 56 Massenorganisationen und von pazifistischen Vereinigungen. Von den Delegierten des Kongresses gehörten 58 der KPD, 35 der SPD an, 66 waren parteilos, 3 gehörten dem Sozialistischen Bund, 2 dem KJVD und 1 Teilnehmer der Christlich-Sozialistischen Reichspartei an. Repräsentativ vertreten waren auf dem Kongress das »Einheits«Komitee, das die Arbeiterdelegationen in die UdSSR organisierte, die Internationale Arbeiter-Hilfe (IAH), der Rote Frauen- und Mädchenbund (RFMB), die Liga für Menschenrechte und die »Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland.«3 Der Kongress gestaltete sich zu einer eindrucksvoll verlaufenden Kundgebung. Als Redner traten unter anderem auf: Dr. Max Hodann, Ernst Toller, Dr. Gumbel. Kurze Ansprachen hielten Helene Overlach als Vertreterin des »Frauenbundes« und Theo Overhagen im Namen der Arbeiterdelegierten, die die Sowjetunion besucht hatten. In der Nachmittagssitzung stand der organisatorische Aufbau des Bundes zur Debatte. Die Delegierten beschlossen, in Form von lokalen Komitees, die im ganzen Reichsgebiet zu organisieren waren, die Basis des Bunds zu schaffen. Nach dem Vorbild der KPD-Betriebszellen sollten die Mitglieder des Bundes auch auf Betriebsbasis organisiert werden. Diese Betriebsgruppen sollten dann den Kern der BdFSUOrtsgruppen bilden. In der Diskussion hoben einige Delegierte hervor, das Schwergewicht des Bundes müsse auf die Verbreitung von Kenntnissen über die Sowjetunion – teils durch Gäste, teils durch Vorträge sogenannter Russlandreisender (Delegierter) – gelegt werden. Die Kongressdelegierten wählten ein Reichskomitee, bestehend aus 29 Personen. Ihm gehörten neben anderen an: Fritz Heckert und Franz Dahlem, beide KPD-Mitglieder und Abgeordnete des Reichstages (KPD), Mitglied des Reichstages, Dr Helene Stöcker, vom Bund für Mutterschutz und führendes Mitglied der »Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland«, Dr. Max Hodann, Arzt und Sexualhygieniker, Dr. Kurt Hiller, Schriftsteller, Prof. Dr. Gumbel, Historiker und Publizist und Adolf Deters, Vertreter der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), der neben weiteren Vertretern Berliner Großbetriebe wie der AEG und der Siemens-Werke, in den Vorstand gewählt wurde. Über das Ziel des Bundes geben die Texte der Mitgliedskarten Auskunft. Es konnten noch einige über die Zeit der NS-Diktatur aufbewahrt werden, so zum Beispiel von der mitgliederstarken, auch nach 1933 illegal wirkenden Leipziger Gruppe um Lina und Richard Plock sowie von Berliner Mitgliedern des BdFSU. Zweck und Ziel des Bundes, hieß es auf den roten Mitgliederkarten, ist die Zusammenfassung aller Kräfte, die bereit sind, die Sowjetunion zu verteidigen sowie die weiteste Aufklärung über die wirkliche Lage in der Sowjetunion zu verbreiten. Aus der Sicht einer Gruppe sozialdemokratischer Arbeiter bestand das Ziel des Bundes in der »Schaffung einer kampfbereiten Einheitsfront zur Verteidigung der Sowjetunion in den Betrieben und allen Schichten des arbeitenden Volkes.«4 Große Aktivitäten entfaltete der Bund von 1928 bis 1933 bei der Vorbereitung und Durchführung der Antikriegskundgebungen, die am 1. August jedes Jahres stattfanden. Nach der Machtübertragung an die Faschisten reihten sich nicht wenige Freunde des BdFSU in die unsichtbare Front der Widerstehenden gegen das NS-Regime ein; ganz unabhängig davon, ob sie bis 1933 in der KPD, in der SPD oder in den ADGB- Gewerkschaften organisiert waren oder, ob sie parteilos waren. Jetzt, nach der Konstituierung der braunen Diktatur, setzten sie sich mit ganzer Kraft gegen sie zur Wehr. Bereits im Februar und März 1933 prangerten sie in selbstgefertigten Flugschriften, die in Gartenlokalen, Sprechzimmern von Ärzten, in Kaufhäusern, Straßenbahnen und auch bei Behörden verbreitet wurden, den Terror der SAHorden an. Oft tauchten Handzettel auf, worauf geschrieben stand: »Der Bund der Freunde der Sowjetunion Lebt!« Von der Lebenskraft der Landesorganisation in Sachsen zeugen beispielsweise die fortbestehende Verbindung zur Reichsleitung in Berlin und die Kontakte nach Essen, Zwickau, Reichenbach, Plauen, Aue, Borna, Chemnitz, Zschopau, Zwickau und Meuselwitz bei Leipzig.5 Die umfangreichen Aktivitäten des Bundes blieben der Gestapo nicht verborgen. Fieberhaft suchte sie nach dessen Mitgliedern. In einem Lagebericht der Gestapo im Frühjahr 1935 heißt es: »Unmittelbar nach der Auflösung der KPD und ihrer Nebenorganisationen am 3. März 1933 (gemeint ist die Notwendigkeit, in die Illegalität zu gehen – G.W.) setzte die illegale Tätigkeit der ehemaligen Funktionäre der Freunde der Sowjetunion ein. Der damalige Reichsleiter Karl Becker geb. am 19. 11. 1894 in Hannover Zurzeit vermutlich in Prag oder Amsterdam aufhältlich und der Expedient Paul Dietrich Zurzeit in den skandinavischen Ländern, beriefen im März/ April 1933 eine Funktionärsversammlung zur Tegeler Heide ein, an der ca. 35–40 Personen teilnahmen. Bei dieser Versammlung unter freiem Himmel wurde beschlossen, dass der Bund der Freunde seine Tätigkeit wieder aufnehmen müsse. Es wurde angeregt, rege Propaganda zu treiben, die alten Genossen aufzusuchen, Mitgliedsbeiträge zu kassieren und die illegalen Schriften des Bundes zu vertreiben. Zunächst begnügte man sich damit illegale Schriften mit Schreibmaschine geschrieben und auf Wachsmatrize abgezogen herzustellen. …«6 Maßgeblich beteiligt am Herstellen und Verbreiten der Flugschriften waren die in Berlin-Neukölln lebenden Antifaschisten Bruno Dieckow, Friedrich Scharfenberg und Otto Tech nebst weiteren Helfern aus anderen Berliner Stadtbezirken. Vermutlich ab März 1934 erschien die erste im Rotationsdruck hergestellte Miniaturausgabe des Bundes mit dem Kopf »Sowjetrußland heute – Organ der Freunde der Sowjetunion Deutschlands.« In Berlin wurden monatlich für das Jahr 1934 900 illegale Schriften verbreitet. Es gelang auch, nach Leipzig, Chemnitz und in das Rheinland etwa 1.000 Exemplare zu versenden. Im Frühjahr 1933 setzte sich die Reichsleitung des Bundes aus folgenden Personen zusammen: Karl Becker, Paul Dietrich (mit dem Decknamen »Scholli«) und Gerda Platschek. Diese Leitung bestand bis zum November 1933, weil zu diesem Zeitpunkt Paul Dietrich in die Emigration ging. Die Berliner Leitung des Bundes bestand bis Oktober/November 1933 aus den Bundesmitgliedern Robert Steglich, Friedrich Scharfenberger, Walter Heller und dem Antifaschisten »Harry« (sein richtiger Name blieb unbekannt) sowie Georg Müller mit dem Deckna- men »Egon«. Ab November 1933 wurde aus konspirativen Gründen die Reichsleitung mit der Berliner Leitung zusammengelegt. Ihr gehörten an: Karl Becker, Gerda Platschek, Georg Müller, Alfred Lindemann, Walter Heller, Siegmund Sredzki, »Harry« und »Piepel«, der ebenfalls namentlich nicht ermittelt werden konnte. Im Oktober 1934 ging Karl Becker in die Emigration, da er als langjähriger Reichsleiter des Bundes und Mitglied des Preußischen Landtages zu bekannt und gefährdet war. Die Leitung des Bundes bemühte sich um eine rege illegale Propaganda in den Berliner Betrieben. Aus diesem Grund sind 1934 drei Delegationen bestehend aus Frauen und Männern nach Rußland entsandt worden. Die notwendigen Reisepapiere und Geldmittel beschaffte der Bund. Dank vieler Helfer konnten die verdeckten Reiserouten zusammengestellt werden, um das Ziel Sowjetunion zu erreichen. Die Antifaschisten nutzten insbesondere die legale Reisemöglichkeit in die Tschechoslowakei. In Prag trafen sich die einzelnen Reisenden, um dann gemeinsam weiterzureisen. Die Teilnehmer der Delegationen betrieben nach ihrer Rückkehr rege Propaganda für den Bund der Freunde der Sowjetunion. Die im März, Mai und November 1934 entsandten Delegationen zeugen von der erfolgreichen konspirativen Tätigkeit des Bundes. Die Reisenden berichteten nach ihrer Rückkehr in Berlin und anderen Orten über die persönlichen Eindrücke ihrer Reise. In der UdSSR selbst informierten sie ihre Gastgeber über das herrschende Terrorregime in Deutschland. Die im März 1934 organisierte Reisegruppe bestand überwiegend aus Frauen, die zum Internationalen Frauentag nach Moskau reisten. Zu den Teilnehmerinnen gehörten aus Berlin-Prenzlauer Berg Irene Harloff, Anna Krause und Margarethe Sredzki. Irene Harloff schrieb in ihren Erinnerungen begeistert von dem herzlichen Empfang in Moskau, von den Begegnungen mit sowjetischen Frauen. In den drei Wochen ihres Aufenthalts sammelten die Reiseteilnehmerinnen nachhaltige Eindrücke über das Leben in der Sowjetunion. Treffen mit Arbeitern festigten die Freundschaft und die internationale Solidarität. Anna Krause, eines der ältesten Delegationsmitglieder, erhielt als Geschenk eine goldene Damenbanduhr mit eingravierter Widmung, die an ihre Teilnahme am Internationalen Frauentag 1934 in Moskau erinnerte. Die Uhr überdauerte die Zeit der Illegalität. Nach ihrer Rückkehr verbreiteten die Frauen ihre Erlebnisse durch geschickte Mundpropaganda. Dank der Überzeugskraft und den organisatorischen Fähigkeiten des Leitungsmitgliedes Siegmund Sredzki war es möglich, dass unter den harten illegalen Bedingungen »der Bund der Freunde der Sowjetunion in den Jahren 1933 und 1934 sein Wirken fortsetzen konnte.«7 Monatelang bemühte sich die Gestapo, die in Berlin und den anderen Städten wirkenden Antifaschisten des Bundes aufzuspüren. Am 7. Dezember 1934 wurde Siegmund Sredzki nebst zehn Kampfgefährten verhaftet. In den nachfolgenden Wochen bis Mitte März 1935 erfolgte eine Verhaftungswelle, der 149 Antifaschisten zum Opfer fielen. Nach wochenlangen Verhören erfolgte die Anklage durch die NS-Justiz. In 9 Prozessen, aufgegliedert von »A bis J«, bekamen die Frauen und Männer, die illegal den Bund der Freunde der Sowjetunion bis zum Ende des Jahres 1934 erfolgreich weitergeführt hatten, die Rache des Nazi-Terrorregimes zu spüren. Im Prozeß »A«, in dem die Hauptverantwortlichen nach Ansicht des Oberreichsanwaltes beim Volksgerichtshofs zusammengefaßt waren waren, wurden angeklagt und verurteilt: Der Dreher Siegmud Sredzki, seine Frau Margarethe Sredzki, beide in Berlin Prenzlauer Berg wohnhaft, die Stenotypistin Gerda Platschek aus Berlin-Mitte, der Friseur Georg Müller aus Berlin-Pankow, die Versicherungsbeamtin Therese Dorfner aus BerlinPrenzlauer Berg, der Weber Robert Steglich aus Berlin-Friedrichshain, der Theaterleiter Alfred Lindemann aus Berlin-Prenzlauer Berg, der Schlosser Friedrich Scharfenberger aus BerlinPrenzlauer Berg, der Werkzeugmacher Erich Brachmann aus Berlin-Neukölln und der kaufmännische Angestellte Otto Stahl aus Berlin-Mitte. In der über fünfzig Seiten starken Anklageschrift hob der Staatsanwalt hervor, dass die Angeklagten »… im Innland, insbesondere in Berlin, Leipzig und Magdeburg, die Angeschuldigten Müller, Gerda Platschek und Margarete Sredzki auch im Ausland insbesondere in Prag und Moskau in den Jahren 1933 und 1934 unter sich und mit anderen gemeinschaftlich und fortgesetzt illegal handelten. …«8 Ausführlich ging der anklagende Staatsanwalt des »Volksgerichtshofes« darauf ein, dass die Angeschuldigten am Wiederaufbau beziehungsweise an der Aufrechterhaltung des Bundes der Sowjetfreunde an führender Stelle sowie 57 an der Verbreitung von Druckschriften beteiligt waren. Gerda Platschek wurde ferner vorgeworfen, die Kassenleiterin der Reichsleitung gewesen zu sein, während Georg Müller attestiert wurde, als Verbindungsmann der Reichsleitung zur Berliner Leitung des Bundes tätig gewesen zu sein. Hervorgehoben wurde auch, dass am 3. März 1933 die Räume des Internationalen Büros des Bundes in Berlin-Mitte, Dorotheenstr. 19, nach einer Durchsuchung polizeilich geschlossen wurden. Laut Anklageschrift hatte zu diesem Zeitpunkt der Bund etwa 30.000 Mitglieder. Als Bundeszeitung wurde die in der Citydruckerei hergestellte Druckschrift »Sowjetrußland heute« in einer Auflage von 60.000 Exemplaren herausgegeben.9 Ferner ist dem Schriftstück zu entnehmen, dass unmittelbar nach der Schließung des Büros in Berlin Karl Becker und Paul Dietrich erste Schritte in die Illegalität des Bundes einleiteten. Sie beriefen die zu erreichenden Mitglieder zu einer Beratung in der Tegeler Heide ein. Dort wurden die notwendigen Schritte erörtert, um illegal weiterzuarbeiten. Bereits im April 1933 erschien die erste Ausgabe einer illegalen Bundeszeitung im monatlichen Abstand mit einer Auflagenhöhe von 100 bis 300 Exemplaren. Die Vervielfältigung erfolgte an verschiedenen Orten Berlins. Die Verbreitung innerhalb der Stadt organisierte Georg Müller. Zu Beginn des Jahres 1934 schuf die Reichsleitung Voraussetzungen für die Herausgabe einer illegal gedruckten Zeitung, die offensichtlich im Ausland gedruckt wurde, da sich im Innland keine Druckmöglichkeit fand. Im Juni/Juli 1934 erschien die erste Nummer der Druckschrift »Sowjetrußland – heute« im Kleinformat. Diese erste illegale Auflage betrug etwa 2.000 Exemplare. Neben der Bundeszeitung gab die Reichsleitung einen hektografierten Pressedienst heraus, der fast jede Woche, aber auch in größeren Zeitabständen erschien. Besonders hervorgehoben wurde in der Anklageschrift »A«, dass in den illegalen Druckschriften der »Nationalsozialismus« verhöhnt, die Maßnahmen der Reichsregierung auf dem Gebiet der Innen- und Außenpolitik in ungewöhnlich verlogener und gehässiger Weise verunglimpft wurden sowie den Lesern die Anschauung nahe gelegt wurde, dass eine Beseitigung des faschistischen Regimes im Interesse aller Werktätigen geboten sei. »Die hochverräterischen Ziele des Bundes«, so der Staatsanwalt, »kenn58 zeichnet am treffendsten zweifellos ein von den Angeschuldigten abgedruckter Artikel in der Ausgabe Nr. 8 1934 mit der Überschrift: Die Aufgaben der FSU in Deutschland 1. Wir müssen verstehen und danach handeln, dass unser Kampf für die Wahrheit über die Sowjetunion und ihre Verteidigung nur als Kampf gegen die Hitlerregierung geführt werden kann. 2. dass der Kriegspolitik der deutschen Bourgeoisie gegen Sowjetrußland nur mit dem Sturz der Hitlerregierung … ein Ende gemacht werden kann … Unsere Aufgaben liegen in erster Linie auf agitatorischem Gebiet. … Unser wichtigstes Mittel sind unsere Zeitungen. … Ein Mittel von nichtgeringerer ist das organisierte Abhören des Moskauer Rundfunks. … Von großer Bedeutung für unsere Arbeit sind die Arbeiterdelegationen nach der SU und ihre Berichterstattung. Wir haben bereits einige Delegationen trotz Naziterror mit gutem Erfolg entsandt. Wir werden weitere entsenden. Ihre Basis muss aber noch breiter, ihre Berichterstattung noch besser organisiert werden. Insbesondere gilt es dabei, dass wir mit unserer ganzen Agitation Richtung nehmen auf die Arbeiter in den kriegswichtigen Betrieben und Industrien, aus ihren Reihen Delegierte zu entsenden, in ihren Reihen Bericht zu erstatten. Ebenso gilt es, in den faschistischen Massenorganisationen, wie Arbeitsfront, Hitlerjugend, usw. jede Möglichkeit für unsere Agitation auszunutzen.«10 Zusammenfassend hob der Ankläger in der siebzig Seiten starken Anklageschrift hervor, dass alle zehn Angeklagten sich in erschwerter Form des Verbrechens der Vorbereitung zum Hochverrat zu verantworten haben. Am 4., 5. und 8. Juni 1936 erfolgte vor dem 1. Senat des »Volksgerichthofs« der Prozess und die Verurteilung von Siegmund Sredzki und dessen Kampfgefährten. Die Angeklagte Therese Dorfner wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Das Verfahren gegen Alfred Lindemann wurde eingestellt, da ihm der innere Tatbestand eines Verbrechens der Vorbereitung zum Hochverrat nicht nachzuweisen war, sondern nur der Verstoß gegen das Parteiengesetz. Georg Müller erhielt mit sechs Jahren Zuchthaus die höchste Strafe ihm folgte Siegmund Sredzki mit fünf Jahren Zuchthaus. Das Strafmaß für die anderen Angeklagten schwankte zwischen drei und zwei Jahren 6 Monaten Zuchthaus. Lediglich Robert Steglich erhielt wegen geringfügiger Teilnahme an den Widderstandsaktionen des Bundes 1 Jahr Gefängnis. Im Prozeß »B« standen 15 Angehörige des Bundes am 8. Oktober 1935 vor dem 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin. Sie kamen überwiegend aus Berlin-Neukölln, vier Angeklagte wohnten in Finowfurt, je einer in BerlinSpandau und Ruhlsdorf. In dieser Prozessgruppe befanden sich zwei Frauen. Der Fliesenleger Bruno Dieckow wurde mit fünf Jahren Zuchthaus am härtesten bestraft. Ihm wurde vor allem vorgeworfen, bereits seit 1930/31 bis zu seiner Verhaftung am 7. Januar 1935 ununterbrochen für die Ziele des Bundes der Freunde der Sowjetunion gewirkt zu haben. Seine Kampfgefährten erhielten ebenfalls langjährige Zuchthausstrafen. Im Prozeß »C« standen 19 Angeklagte vor dem Kammergericht in Berlin, das im Zeitraum Oktober/November 1935 alle Prozesse von »B« bis »J« durchführte. Insgesamt wurden 129 Antifaschisten zu langjährigen Zuchtaus- bzw. Gefängnisstrafen verurteilt.11 In den Prozessen »H« und »J« standen Jugendliche zwischen 16 bis 21 Jahren vor den NS-Richtern. Sie hatten wie Gerhard Sredzki, der Sohn von Margarete und Siegmund Sredzki, sich im illegalen Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) engagiert und indirekt den Bund der Freunde der Sowjetunion unterstützt, ohne dort Mitglied gewesen zu sein. Karl Becker, der als Reichsleiter in die Emigration gegangen war, von Amsterdam und Paris aus die Weiterführung des Bundes mitorganisierte sowie nach Kriegsausbruch in den Reihen der französischen Résistance kämpfte, wurde im Juni 1941 von der französischen Polizei verhaftet und an die Gestapo ausgeliefert. Er wurde am 4. September 1942 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und im Strafgefängnis BerlinPlötzensee am 1. Dezember 1942 hingerichtet. Sein Kampfgefährte Siegmund Sredzki kam unmittelbar nach seiner Strafverbüßung in das KZ Sachsenhausen. Dort fand er Anschluß an die illegale Lagergruppe deutscher und ausländischer Häftlinge und leistete mit ihnen unter den unmenschlichen Bedingungen im Konzentrationslager illegale politische Arbeit. Er wurde am 11. Oktober 1944 mit 23 deutschen und französischen Häftlingen wegen der Teilnahme am Widerstand im Konzentrationslager Sachsenhausen erschossen. An sein Widerstehen gegen das NS-Regime erinnert die Sredzki Straße in Ber- lin-Prenzlauer Berg und die Gedenktafel an der Ringmauer der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde. Mit der Zerschlagung der Struktur des Bundes der Sowjetunion hörte der Widerstand der Wenigen, die den Massenverhaftungen 1934/35 entkamen, jedoch nicht auf. Sie suchten sich neue Kontakte zu Gleichgesinnten. Auch die aus den Haftanstalten Entlassenen wie Gerhard Sredzki und seine Frau Gerda Sredzki (geb. Wess) sowie Karl Ziegler setzen nach dem Kriegsausbruch in der Jacob/Saefkow/Bästlein-Organisation ihren Kampf gegen die braune Barbarei fort. Dr. Günter Wehner 1 2 3 4 Der drohende Krieg. Organ des BdFSU, Jg. 1/1928, S. 70. Die Einheit, Jg. 1928, Novemberheft, H. 3. Vgl. Die Rote Fahne, 6. 11. 1928. Sozialdemokratische Arbeiter über den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion. Berlin 1928, S. 56. 5 6 7 8 9 10 11 Vgl. Curt. Remer u. a., Aus der Geschichte des Bundes der Freunde der Sowjetunion in Sachsen bis 1935; in: Jahrbuch für Geschichte der deutsch-slawischen Beziehungen in Ost- u. Mitteleuropa, Bd. II, 1958, S. 30 ff.. Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZC 13171, Bd. 6, Bl. 70 ff.. Vgl. Zur Geschichte des Kampfes gegen Faschismus in Berlin-Prenzlauer Berg 1933 bis 1945, hrsg. vom Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR, Kreiskomitee BerlinPrenzlauer Berg, Berlin 1987, S. 69 ff.. Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZC 13171, Bd. 5, Bl 2 ff.. Vgl. Ebenda. Ebenda, Bd. 5, Bl. 12–14. Vgl. Ebenda Bd. 5, Bl. 36 ff. 59 Leistungen und Fehlleistungen marxistischer Faschismustheorien aus heutiger Sicht. Einige Vorüberlegungen für eine neue materialistische allgemeine Theorie der Faschismen1 Die erste produktive Phase: Marxistische Reaktionen auf den aufkommenden Faschismus Zu den vielen bis heute umstrittenen Fragen der faschismustheoretischen Diskussion gehört die nach dem Zeitpunkt, an dem das, was später allgemein »Faschismus« genannt wurde, zuerst auftrat. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass bereits einige extrem nationalistische Gruppierungen, die Ende des 19. Jh. in Frankreich und Italien entstanden, die wichtigsten faschistischen Wesenszüge aufwiesen, so die Associazione Nazionalista Italiana (ANI) um Enrico Corradini und die Action Francaise (AF) um Charles Maurras. Die Marxist/ innen jedenfalls realisierten die entstehende tödliche Gefahr in vollem Umfang erst, als 1919 die sich selbst »faschistisch« nennende Massenbewegung in Italien entstanden war und ihre paramilitärischen squadren einen beispiellosen, bürgerkriegsähnlichen Terror gegen Gewerkschaften und Sozialistische Partei entfesselt hatten. Es scheint, als seien die Marxist/innen in- und außerhalb Italiens von der Mobilisierungskraft und terroristischen Wirksamkeit der Faschisten bis zu einem gewissen Grad überrascht worden. Die ersten prominenten marxistischen Interpretationen des Faschismus, wie sie 1923 auf einer Erweiterten Exekutivkonferenz der Kommunistischen Internationale (EKKI) entfaltet wurden, offenbaren ausnahmslos eine enttäuschte Revolutionshoffnung und auch eine gewisse Ratlosigkeit: Wie konnte es sein, dass sich bedeutende Teile der kleinbürgerlichen Bevölkerung, besonders der Jugend, den Faschisten zuwendeten, wo doch die Marxist/innen – in ihrer Selbstwahrnehmung – eine so strahlende, überzeugende und vernünftige gesellschaftliche und politische Alternative angeboten und dazu noch die historischen Gesetzmäßigkeiten auf ihrer Seite hatten? Der Erfolg des Faschismus musste den meisten Marxist/innen als Anomalie der Geschichte erscheinen. Es machte ihnen allerdings keinerlei Schwierigkeiten, seine Nutznießer und Urheber zu bestimmen. Ab spätestens 1920 hatte sich die faschistische Bewegung, deren Wurzeln eigentlich im syndikalistischen und auch im sozialistischen Milieu lagen, mit den radikalen 60 Nationalisten und Imperialisten verschmolzen, ihren ursprünglichen Republikanismus und Antiklerikalismus zurückgestellt und sich zum bereitwilligen terroristischen Werkzeug der Großbürger und Großagrarier gegen die drohende soziale Revolution gemacht. Der Faschismus als Söldner- und Hilfstruppe der alten herrschenden Klassen gegen die vor der Tür stehende Arbeiterrevolution – dieses Erklärungsmuster sollte paradigmatisch für die marxistische Faschismustheorie werden. Doch wenn dies stimmte – handelte dann der kleinbürgerliche und teilweise sogar »unterbürgerliche«, oft jugendliche Massenanhang der Faschisten nicht gegen seine objektiven, seine eigentlichen Interessen? Und wie war diese irrationale Entscheidung materialistisch zu erklären? Der – vermeintliche – Widerspruch zwischen sozialer Funktion und sozialer Basis des Faschismus, oder anders ausgedrückt zwischen seiner großbürgerlichen und großagrarischen Klassen- und seiner klein- und unterbürgerlichen Massenbasis war von Beginn an das zentrale Problem der marxistischen Faschismustheorien. Im Unterschied zu den späteren Dogmen der stalinisierten Kommunistischen Internationale vom Faschismus als »Diktatur der reaktionärsten usw. Elemente des Finanzkapitals« und vom »Sozialfaschismus« bemühten sich die marxistischen Faschismustheoreme der frühen zwanziger Jahre immerhin noch ernsthaft um ein Verständnis der Motive der faschisierten Massen. Clara Zetkin nahm die faschistischen Versprechen von sozialer Gerechtigkeit und nationaler Klasseneinheit durchaus ernst, würdigte den subjektiv ehrlichen Glauben vieler Faschisten an ihre Ideale und fragte nach den seelischen Bedürfnissen breitester Massen, an die der Faschismus geschickt anknüpfte. Karl Radek begriff den Faschismus als nationalistische, nach Klassenharmonie strebende Kleinbürgerbewegung, deren Erfolge der welthistorischen Niederlage und dem Versagen der Arbeiterbewegung geschuldet sei.2 Einige Jahre nach Zetkin und Radek betonte der italienische Sozialist Filippo Turati die Bedeutung der Weltkriegskatastrophe und schwerer strategischer Fehler der Linken für die Entstehung des Faschismus. Auch Palmiro Togliatti und Antonio Gramsci gehörten zu den wenigen namhaften Marxist/innen, welche die Motive und die Ideologie der Faschisten ernst nahmen und sie nicht einfach als Lug und Trug denunzierten.3 Ernst Bloch, etwas später schreibend als die Vorgenannten, wurde gleichfalls davon angetrieben, die Beweggründe der Faschisten verstehen zu wollen: Die gleichzeitige Existenz und dabei Ungleichzeitigkeit moderner und vormoderner Produktionsweisen und Bewusstseinsformen sei der Kraftquell des Faschismus und dieser eine Revolte gegen die kalte und gefühllose Welt der kapitalistischen Moderne. Bloch war einer der wenigen, dem zu diesem frühen Zeitpunkt die besondere Anziehungskraft des Faschismus auf die männliche Jugend des Bürgertums auffiel. Der unkonventionelle Marxist Bloch kann somit als erster Theoretiker gelten, der die Geschlechterdimension der Faschismen ansprach. Wie viele derjenigen Gegner/ innen des Faschismus, welche die Gedankenwelt der Faschisten ernst nahmen und nicht als irrelevant abtaten, plädierte auch Bloch leidenschaftlich dafür, den Faschisten ihre Symbole, Phrasen und Ideale zu entwinden, um die faschisierten Massen zu den Kommunist/innen herüber zu ziehen. Und wie viele seinesgleichen tadelte er die oft arrogante, phantasielose und ineffektive Agitation der Kommunist/innen – um im gleichen Atemzug den Stalinismus zu seiner ideologischen Wiedereingliederung von Familie, Nation und Volksgemeinschaft in die kommunistische Ideologie zu beglückwünschen! Bloch empfahl, den esoterischen, heilslehrenhaften Aspekt des Kommunismus gegen den faschistischen Mythos zu stellen. Auch Leo Trotzki, dessen Faschismusinterpretation ansonsten dem Spektrum der Bonapartismustheorien zugehört, erklärte wie Bloch die faschistische Massenanziehungskraft mit einem Atavismus – der Faschismus als Rückfall in urzeitliche Barbarei: »Der Faschismus hat die Niederungen der Gesellschaft zur Politik erhoben. Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in den städtischen Wolkenkratzern leben noch heute neben dem zwanzigsten Jahrhundert das zehnte und das dreizehnte. Hunderte von Millionen Menschen gebrauchen den elektrischen Strom und hören doch nicht auf, an die magische Gewalt der Gesten und Beschwörungen zu glauben. Der römische Papst verbreitet das Mirakel der Verwandlung von Brot und Wein durch das Radio. Die Filmstars gehen zu den Astrologen. Die Flugkapitäne, welche wunderbare, vom Menschengeist geschaffene Apparate steuern, tragen Amulette auf ihren Pullovern! Welch unerschöpfliche Reserven von Dunkelheit, Unwissenheit und Barbarei!«4 Blochs und Trotzkis Faschismuserklärung beinhaltet sicherlich das Wahre, dass die ideologische Arbeit der Faschisten auf jeder irrationalen und reaktionären Tradition aufbauen beziehungsweise bei ihr Anleihen machen konnte und ihnen jedes Ressentiment gegen die moderne Welt zugute kam. Doch scheint das Erklärungsmodell des Atavismus viel zu wenig komplex und unspezifisch, um die Faschismen von anderen irrationalen und obskuren Erscheinungen abzugrenzen. Die Spezifik der faschistischen Antwort auf die Krisen des modernen Kapitalismus lässt sich damit jedenfalls nicht einfangen. Marxisten an den Ursprüngen der Modernisierungstheorien des Faschismus und der Totalitarismustheorien Vielleicht war es nur natürlich, dass die Marxist/innen als erste Hauptgegner und Hauptopfer des Faschismus besonders produktiv bei der Bildung von Theorien über ihn waren. Vor allem sie gaben seit 1922 allen möglichen rechten Bewegungen und Regimen den Namen des Faschismus, den viele für sich selbst nicht verwendeten. Die Marxist/innen trugen so einerseits maßgeblich dazu bei, den Faschismusbegriff als allgemeine Kategorie zu etablieren, welche die Wesensähnlichkeit zahlreicher extrem rechter Bewegungen und Regime der Zwischenkriegszeit und ihren ursächlichen Zusammenhang mit dem Kapitalismus nennbar machte. Andererseits begründeten sie durch inflationären Gebrauch die unselige linke Tradition der Entgrenzung des Faschismusbegriffs, die ihn in dem Maße untauglich machte, wie sie ihn polemisch gegen alle im weiteren Sinne rechten und autoritären Phänomene in Anschlag brachte. Marxist/innen standen am Anfang der meisten wichtigen Faschismustheorien, sei es, dass sie diese tatsächlich begründeten oder substanziell beeinflussten und anregten. Ein Großteil der nicht-marxistischen Faschismustheorien verdankte seine Entstehung dem bürgerlichen Bedürfnis, der marxistischen Deutung eine triftigere Interpretation entgegenzusetzen. Diese Dynamik wurde selten treffender beschrieben als vom US-amerikanischen Historiker Henry Ashby Turner, der seinerseits angetreten war, um die marxistischen Gewissheiten über das Verhältnis von Faschismus und Großkapital ins Wanken zu bringen: »Entspricht die weit verbreitete Ansicht, daß der Faschismus ein Produkt des modernen Kapitalismus ist, den Tatsachen, dann ist dieses System kaum zu verteidigen. Ist diese Meinung jedoch falsch, dann ist es auch die Voraussetzung, auf der die Einstellung vieler Menschen […] zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung beruht.«5 Ein dissidenter deutscher Kommunist, Franz Borkenau, gehörte zu den Begründern der Modernisierungstheorien des Faschismus. Sein zentrales Theorem: In schwach entwickelten kapitalistischen Ländern wie Italien sind starke Arbeiterbewegungen ein Hemmnis der Industrialisierung. Der Faschismus stellt eine Entwicklungsdiktatur dar mit der historischen Aufgabe, dieses Hindernis zu zerstören. Zu Borkenaus Unglück wurden diese 1933 veröffentlichten Annahmen durch die historischen Tatsachen sofort grundsätzlich in Frage gestellt: Der Faschismus kam auch sowohl in hoch entwickelten Industrieländern wie Deutschland als auch in Ländern ohne Industrie und Arbeiterbewegung wie Rumänien hoch. Dies hinderte aber Gelehrte wie D. E. Apter, C. A. Black und A. F. K. Organski nicht daran, weiterhin Modernisierungstheorien des Faschismus aufzustellen.6 Zweifellos zielten die faschistischen Ideologien und Regime auf eine pervertierte Form von Modernisierung ab. Die im engeren Sinne modernisierenden Elemente der Faschismen finden jedoch ihre Entsprechung in zahlreichen nichtfaschistischen Entwicklungswegen, die von industrialisierten oder sich industrialisierenden Gesellschaften seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts beschritten wurden. Die umfassende staatliche Durchdringung und Beeinflussung der Gesellschaft, insbesondere der Wirtschaft, die aktive gesellschaftsplanerische und wissenschaftlich angeleitete Tätigkeit des Staates, sein autoritäres Krisenmanagement – all das gehörte zu den allgemeinen Merkmalen der kapita- listischen Entwicklung. Diese Entwicklungstendenz konnte sich auch unter faschistischen Vorzeichen verwirklichen, sie ist aber nicht identisch mit der Spezifik der Faschismen.7 Vielfach ist vergessen worden, dass auch am Anfang der Totalitarismustheorien sozialdemokratische Marxisten wie Karl Kautsky standen, die Faschismus und Leninismus bzw. Stalinismus als Erscheinungsformen eines Gleichen auffassten. Wie viele nicht-stalinistische Marxisten der zwanziger und dreißiger Jahre versuchten diese Sozialdemokraten, den Faschismus mit Hilfe von Marx‘ Schrift »Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte« zu analysieren, gehörten also zu den frühen Repräsentanten der »Bonapartismustheorien« des Faschismus. Analog zum Regime Napoleons III. in Frankreich von 1852 bis 1870 sollten sich faschistischer und bolschewistischer Staat gegenüber ihrer sozialen Basis »verselbständigt« haben. Dies erkläre den überdurchschnittlich tyrannischen und terroristischen Charakter dieser Regime.8 Die Gleichsetzung von Leninismus bzw. Stalinismus und Faschismus durch einige Sozialdemokraten verhielt sich analog zu der stalinistischen Gleichsetzung von Sozialdemokratie und Faschismus, wie sie die Rede vom »Sozialfaschismus« ausdrückte. Klassische Ausformung und Stagnation: Die Agenten- und Bonapartismustheorien Die meisten Vertreter/innen der Bonapartismustheorien hielten sich von solchen Gleichsetzungen frei. Fast alle Marxist/innen der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre, die sich der Stalinisierung entzogen, vertraten Spielarten der Bonapartismustheorie, so Julius Braunthal, Oda Olberg, Wilhelm Ellenbogen, Paul Kampffmeyer, Otto Bauer, Arkadij Gurland, Franz Borkenau, Georg Decker, Alexander Schifrin, Rudolf Hilferding, Angelo Tasca, Pietro Nenni, August Thalheimer, Wolfgang Abendroth, Leo Trotzki und Antonio Gramsci.9 Die »Bonapartismustheoetiker/innen« beriefen sich auf verschiedene Ähnlichkeiten: Faschismus wie Bonapartismus befriedeten oppositionelle Teile der Gesellschaft durch eine Doppelstrategie aus Repression und Integration und genossen wegen ihrer Sozialreformen und zeitweiligen außenpolitischen Erfolge plebiszitäre Unterstützung.10 Diese auf dem Vergleich von Herrschaftstechniken beruhende Parallelisierung blendet aus, dass keines der als Bonapartismus bezeichneten 61 Regime (neben Napoleon III. figurieren mitunter auch Camillo Cavour, Otto von Bismarck, Fürst Schwarzenberg in Österreich-Ungarn und der britische Premierminister Benjamin Disraeli als Herrscher bonapartistischen Typs) wesentliche Elemente der Faschismen wie Massenmobilisierung, Massenpartei und Parteimiliz hervorbrachte.11 Die ideologischen Ähnlichkeiten zwischen Bonapartismus und Faschismus – Führerideologie, Etatismus, Militarismus, Expansionismus, Sozialreformismus, plebiszitäre Elemente12 – erlauben weder einzeln noch in Kombination eine hinreichende Abgrenzung der Faschismen von nicht-faschistischen autoritären und diktatorischen Regimen. Für den an Stalin orientierten Teil der sozialistisch-kommunistischen Weltbewegung wurde eine später häufig mit dem Begriff: »Agententheorie« gekennzeichnete Auffassung des Faschismus kanonisch, deren Kern die Komintern-Definition von 1934 ausdrückt: Faschismus sei »die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«. Beide Hauptströmungen der marxistischen Faschismustheorie gehen fehl – sowohl die Agententheorie, nach der faschistische Bewegungen einfach Instrumente der Klassenherrschaft sind, als auch die »Bonapartismustheorien«, nach denen der Faschismus Kleinbürger- und Deklassiertenbewegung ist, der im Moment relativer Kräftebalance zwischen Bourgeoisie und Proletariat von Ersterer die staatliche Herrschaft übertragen wird, woraufhin es zu einer »Verselbständigung« des Staates kommt. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Unterschied zwischen Agenten- und Bonapartismustheorien bloß graduell ist: In beiden handelt der Faschismus im Auftrag und im Interesse der herrschenden Kapitalistenklasse, nur dass die »Bonapartismustheoretiker/innen« mittels des Verselbständigungstheorems zu erklären versuchen, wieso die faschistische Herrschaft sich in manchen Fällen auch gegen die objektiven Interessen der Großbourgeoisie wenden kann.13 Dass die marxistischen Faschismustheorien den ihrer Meinung nach bürgerlichen Klassencharakter des Faschismus derart stark betonten, war keineswegs nur dem marxistischen Interesse an der Delegitimation der kapitalistischen Gesellschaftsordnung geschuldet. Vielmehr spiegelte sich darin eine historische Erfahrung: Wo die Faschisten tatsächlich die Staatsmacht 62 besetzen konnten wie in Italien und Deutschland, gelang ihnen dies nur im Bündnis mit traditionellen Führungsgruppen – wichtigen Teilen des Großkapitals, der hohen Bürokratie, der Militärführung, des Adel und des hohen Klerus – oder zumindest mit deren Duldung. Historisch-empirische Zweifel an Grundaussagen der marxistischen Faschismustheorien Vor aller Kritik an den theoretischen Grundlagen der marxistischen Faschismustheorien kann schon jetzt festgestellt werden, dass sich die marxistische Deutung des Faschismus aus heutiger Sicht nur schwer mit den historischen Fakten in Übereinstimmung bringen lässt. In den weitaus meisten Ländern Europas setzten die traditionellen Führungsgruppen nicht auf die Faschisten, sondern sahen in ihnen die längste Zeit gefährliche Rivalen, die sie hart unterdrückten – so in Ungarn unter Admiral Horthy und in Rumänien unter Antonescu. In anderen Ländern verbündeten sich die politischen Vertreter der traditionellen Führungsgruppen zwar mit den Faschisten, bemühten sich aber um ihre Assimilation und Neutralisierung, um sie schließlich ganz an den Rand zu drücken und zu entmachten, wie es unter Franco in Spanien und unter Salazar in Portugal geschah. Diese unterschiedlichen Konstellationen mussten den Marxist/ innen entgehen und tun dies manchmal bis heute, weil ihnen jedes konservative, autoritäre oder diktatorische Regime größtenteils ohne Weiteres als »faschistisch« galt, so dass sie die gravierende ideologische und praktische Differenz zwischen Faschisten und Konservativen nicht wahrnehmen konnten. Auch in Deutschland und Italien unterstützten maßgebliche Teile der sozialen Führungsgruppen, allen voran das vorwiegend an Staatsaufträgen und am Binnenmarkt interessierte Großkapital der Schwer- und Rüstungsindustrie, die Faschisten erst dann, als ihre eigentlichen Favoriten, die traditionellen rechten Parteien, abgewirtschaftet hatten und man die Faschisten wegen deren Massenbasis nicht mehr länger ignorieren konnte. Agenten- und Bonapartismustheorien passen außerdem wenig auf diejenigen faschistischen Bewegungen, die wie die rumänischen »Legionäre« oder die kroatischen »Ustascha« in Ländern empor kamen, denen eine entwickelte Industrie und folglich sowohl eine starke Bourgeoisie als auch eine Arbeiterbewegung weitgehend fehlten. Es bleibt aber ein Verdienst der marxistischen Faschismustheorien und der von ihnen inspirierten Forschung, reiches empirisches Material über die vielfach unleugbare Komplizenschaft zwischen traditionellen Führungsgruppen, vor allem Großkapitalisten, und den verschiedenen faschistischen Bewegungen zusammen getragen zu haben. Neben ihren grundsätzlichen Annahmen über das Verhältnis zwischen Kapitalistenklasse und Faschisten teilten Agenten- und Bonapartismustheorien auch folgende Grundauffassung: Die faschistischen Bewegungen entstehen und werden von den herrschenden Klassen zur Machtsicherung herangezogen, weil die Arbeiterbewegung eine solche Stärke gewonnen hat, dass Macht und Privilegien der Herrschenden nicht mehr anders erhalten werden können. Während allerdings für die Agententheorien der frühen dreißiger Jahre kennzeichnend war, den Faschismus geradezu für das letzte verzweifelte Bollwerk gegen die nah bevorstehende Revolution zu halten – erinnert sei an die grandiose Fehleinschätzung der KPD, wonach die Herrschaft des Nazifaschismus den revolutionären Prozess in Deutschland nur beschleunigen könne – charakterisierten die Bonapartismustheorien ihn als Notlösung, welche die Bourgeoisie in der Situation eines Kräftegleichgewichts zwischen den Hauptklassen wählt. Diese zentralen marxistischen Annahmen über die historische Ausgangssituation der faschistischen Herrschaft sind mehr als zweifelhaft. Wo der Faschismus die Macht erlangte, bestand weder ein Kräftegleichgewicht der Klassen noch eine revolutionäre oder vorrevolutionäre Situation, sondern Arbeiterbewegung und Linke hatten entscheidende Niederlagen erlitten.14 Alle europäischen Faschismen der Zwischenkriegszeit gediehen nur, wenn ihre Gegenspieler, also demokratische und liberale sowie vor allem sozialdemokratische, sozialistische, kommunistische und anarchistische Kräfte, durch vorangegangene Niederlagen geschwächt und desorientiert, durch tief greifende Fragmentierungsprozesse und verfehlte politische Einschätzungen zu angemessenem Handeln unfähig oder in der jeweiligen Gesellschaft ohnehin schwach vorhanden waren. Bis heute haben nur wenige Marxist/ innen den vollen Umfang der welthistorischen Niederlage der Linken begriffen, die das historische Fenster für die Faschismen öffnete. Es war dies die Situation des Weltkriegsausbruchs 1914: Anstatt den praktischen Beweis für die Wahrheit ihres Internationalismus zu erbringen, fügten sich die im Zenit ihrer Organisationsmacht stehenden europäischen Arbeiterparteien mehrheitlich in klassen- und lagerübergreifende Kriegskoalitionen ein. Der Sommer 1914 war das Menetekel der marxistischen Arbeiterbewegung, der Beweis der praktischen Unmöglichkeit der Weltrevolution auf Generationen hin. Interessanter weise lernten schon Marx und Engels den europäischen Krieg, den sie lange als Katalysator der Revolution herbei gesehnt hatten, am Ende ihres Lebens fürchten: Der Übergang zum Sozialismus könne in Europa nur durch einen allgemeinen Krieg verhindert werden, der den Chauvinismus obsiegen ließe. Vor allem der später als Marx verstorbene Engels sah seine revolutionären Hoffnungen durch den Nationalismus gefährdet.15 Materialistische Faschismustheorien nach 1945 In den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Untergang der faschistischen Regime in Europa stagnierte die marxistische Theoriebildung weitgehend. Die Dogmen des Marxismus-Leninismus ließen Innovation sowieso kaum zu, aber auch von den »Bonapartismustheoretiker/innen« kamen keine substanziellen Weiterentwicklungen. Das Bekanntwerden der ungeheuerlichen Verbrechen der Faschisten im Zweiten Weltkrieg, vor allem der deutschen, veranlasste die meisten Marxist/innen keineswegs, die Faschismen schärfer von autoritärkonservativen Phänomenen abzugrenzen, sondern steigerte im Gegenteil die Verlockung, alle möglichen politischen Gegner als »faschistisch« zu brandmarken. Der ohnehin schon ausgefranste Begriff des Faschismus wurde noch weiter entgrenzt. Unterdessen vollzogen sich abseits des Traditionsmarxismus und in scharfem Gegensatz zu ihm spannende theoretische Entwicklungen, die marxistischen Vorarbeiten unendlich viel verdankten und bis heute nicht in vollem Umfang für marxistische Faschismustheorie nutzbar gemacht wurden. Da wäre zunächst die Kritische Theorie zu beachten. Schockiert von der klassenübergreifenden Mobilisierungskraft vor allem des Nazifaschismus suchten ihre Repräsentanten nach sozialpsychologischen Erklärungen. Viele Marxist/innen kritisierten seither, dass sozialpsychologische Erklärungsansätze die Frage nach der Schuld an der Errichtung faschistischer Herrschaft von den sozialen Führungs- gruppen auf den Massenanhang faschistischer Bewegungen verlagern würden. Beim kapitalistischen System verbleibe nur die vage Restschuld, verantwortlich für die massenhafte Ausprägung Faschismusanfälliger Persönlichkeitsstrukturen zu sein. Doch tragen sozialpsychologische Erklärungsversuche, ob nun von der Kritischen Theorie oder anderen Richtungen formuliert, zweifellos mehr zur Erklärung der faschistischen Massenbasis bei als das meiste, was die Traditionsmarxist/innen zu diesem Thema zu sagen hatten. Um so interessanter ist es, dass die Kritische Theorie dort, wo sie den Faschismus nicht psychologisch, sondern sozialökonomisch erklärte, teilweise recht nahe bei den marxistischen Agententheorien angesiedelt war. Wie bei diesen herrschte in der Kritischen Theorie mitunter krasser Ökonomismus: Der Faschismus wurde als eine mögliche Herrschaftsform von mehreren in der schon an sich totalitären Industriegesellschaft, die faschistische Ideologie als inhaltlich beliebig und rein manipulatorisch begriffen, so etwa von Adorno: »Man kann wahrscheinlich zu den tiefsten Einsichten in die Struktur des Faszismus gelangen durchs Studium der Reklame, die in ihm erstmals ins politische Zentrum – oder besser in den politischen Vordergrund – tritt und deren ökonomische Voraussetzungen wahrscheinlich wieder mit denen des Faszismus korrespondieren.«16 Die politische Spitze dieser Interpretation richtete sich zwar auch gegen die bürgerliche Demokratie in der Industriegesellschaft, aber natürlich ebenso und noch stärker gegen den Staatssozialismus sowjetischer Prägung. Hierdurch geriet die Kritische Theorie in unübersehbare Nähe zu den Totalitarismustheorien, was die meisten Marxist/ innen nachhaltig daran hinderte, die in ihr möglicherweise enthaltenen Anregungen aufzunehmen. Hannah Arendt als die kraetivste und differenzierteste Vertreterin der Totalitarismustheorien lehnte den marxistischen Faschismusbegriff zwar entschieden ab, ihre materialistische Ableitung des Nazifaschismus aus Krise und Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft, aus Imperialismus, Rassismus und Antisemitismus aber kann für materialistische Faschismustheorie anregender und fruchtbarer sein als die Schablonen der Agenten- und Bonapartismustheorien. Dabei fällt besonders bei ihren Überlegungen zum Imperialismus die eklatante Nähe zu marxistischen Theorien ins Auge. Arendts rigider Antikommunismus, ihre hanebüchene Gleichsetzung von Bolschewismus und Nationalsozialismus, ihre mangelnde Differenzierung zwischen Marxismus, Leninismus und Stalinismus sowie die sich durch ihr ganzes Werk ziehende Apologie der bürgerlichen Gesellschaft jedoch hinderten die meisten Marxist/innen daran, ihre Arbeiten vorurteilsfrei für sich zu nutzen. Theoretischer Wiederaufschwung ab den 1960er Jahren Der Aufschwung fundamentaler Gesellschaftskritik und oppositioneller sozialer Bewegungen in den sechziger Jahren brachte zunächst einen weiteren Schub in der verderblichen Entgrenzung des Faschismusbegriffs. In der Linken verbreitete sich ein Theorem namens »Neuer Faschismus«, nach dem der Faschismus sich heute nicht mehr als politische Bewegung zu formieren brauche, sondern gleich in Struktur und Praxis der staatlichen Institutionen in wachsendem Maße zum Ausdruck komme (»Faschisierung«), wo er ohnehin schon immer angelegt sei. Dieses Theorem ermöglichte es, jede staatliche Repression und jede Einschränkung demokratischer Rechte als faschistisch anzuprangern. Nicht zuletzt verschaffte es bewaffneten Gruppen wie der »Rote Armee Fraktion« (RAF) eine vermeintlich antifaschistische Legitimation. Neben solchen Instrumentalisierungen des Faschismusbegriffs im politischen Handgemenge entspann sich aber auch eine lange, erkenntnisreiche theoretische Diskussion, die während der siebziger Jahre unter anderem in der westdeutschen marxistischen Zeitschrift »Das Argument« ausgetragen wurde. Eine Weiterentwicklung der Agententheorien stellte die realistischere Monopolgruppentheorie dar, die vor allem über das Verhältnis zwischen traditionellen Führungsgruppen und Faschisten in Deutschland wichtiges Wissen vermittelte. Die Monopolgruppentheorie versuchte, den Widerspruch zwischen der realen, relativen Eigenständigkeit der faschistischen Ideologien, Bewegungen und Regime und dem marxistisch-leninistischen Dogma vom Faschismus als Herrschaft des Monopolkapitals durch die Ausdifferenzierung des Monopolkapitals zu lösen. Die Autonomie des Faschismus sollte aus den Widersprüchen der unterschiedlichen auf den Staat einwirkenden Kapitalfraktionen zu erklären sein. Trotz ihrer Teileinsichten war die Monopolgruppentheorie zu abenteuerlichen, ja mystifizierenden Konstruktionen und zum Lavieren gegenüber der 63 eigentlich offenkundigen Tatsache gezwungen, dass große Teile der faschistischen Herrschaftspraxis eben nicht ökonomisch, sondern vielmehr vorrangig ideologisch determiniert waren. Als Hauptproblem der marxistischen Faschismustheorien stellte sich nach wie vor die Erklärung der faschistischen Massenbasis.17 Eine Lösung sollte die prominent durch Reinhard Kühnl vertretene Theorie vom Bündnis zwischen Faschismus und Monopolkapital bieten. Aber auch Kühnl ging wie so viele Marxist/innen nicht mit der gebotenen Ausführlichkeit auf die Eigenständigkeit und die spezifischen Inhalte der faschistischen Ideologien ein. Immerhin erwähnte er zu Recht die Rolle des fetischisierten Bewusstseins bei der Herausbildung faschistischer Ideologie. Er blieb damit jedoch viel zu unspezifisch, denn dieses Bewusstsein liegt allen auf kapitalistischem Boden entstandenen Ideologien zugrunde.18 Der andere große westdeutsche Faschismustheoretiker der sechziger und siebziger Jahre, Reinhard Opitz, der an der orthodoxen Theorie vom Faschismus als Herrschaft des Monopolkapitals festhielt, gelangte bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen faschistischer Klassen- und Massenbasis auf die richtige Fährte des Ideologischen. Der Faschismus sei: »der im Protest gegen die vom Monopolkapital geschaffenen Verhältnisse von unten her in Gestalt rechter Bewegungen aufsteigende Autoritarismus«. »Nichtmonopolistische Schichten«, die in imperialistischer Ideologie befangen seien, würden durch die ständige Verletzung ihrer objektiven Interessen, vor allem wegen ihrer Verelendung, rebellisch gegen die offiziellen monopolistischen Parteien. Die Radikalisierung bestimmter Formen bürgerlicher Ideologie durch die genannten Schichten verlange nach hartem Durchgreifen gegen wirkliche und vermeintliche Feinde – Demokraten, Linke, äußere Gegner, Juden etc.: »Das Kennzeichen dieser Mentalität besteht, auf einen Satz gebracht, darin, dass sie aus dem imperialistischen Feindbild die Gewaltkonsequenz zieht und nach deren praktischer Einlösung verlangt.« Opitz verfolgte aber die richtige Spur des Ideologischen nicht mehr weiter. Sein Klassenreduktionismus ließ ihn nicht nur die Möglichkeit einer Interessenidentität zwischen Großkapital und anderen Klassen im Zeichen der Nation und damit die Zugkraft der faschistischen Versprechungen verkennen. Der Akzent, den Opitz auf die Rolle des Monopolkapitals legte, führte ihn auch 64 dazu, einfache Militärdiktaturen als faschistisch ansehen. Seine Faschismusdefinition, die kaum über die bekannte der Kommunistischen Internationale hinausging, gab alle gewonnenen Erkenntnisse wieder auf.19 Höhepunkt marxistischer Faschismustheoriebildung: Die »Projektgruppe Ideologie-Theorie« (PIT) Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre wirkte in Westdeutschland das marxistische »Projekt IdeologieTheorie« (PIT), deren bekanntestes Mitglied Wolfgang Fritz Haug, Professor für Philosophie an der Freien Universität in West-Berlin, war. Das PIT formulierte eine Kritik und gleichzeitig Selbstkritik, die meines Erachtens voll ins Schwarze traf: Der stark ausgeprägte Ökonomismus und Klassenreduktionismus der bisherigen Hauptströmungen der marxistischen Faschismustheorien helfe nicht, die Wirkungsmacht der faschistischen Ideologie zu verstehen. Die Zurückführung der faschistischen Ideologie auf Klassenherrschaft und Klasseninteresse vermag zwar Absichten zu erhellen, aber keine Wirkungen. Von daher sei Ökonomismus auch hilflos bei der Entwicklung von antifaschistischen Strategien. Der Zusammenhang zwischen kapitalistischer Klassenstruktur und Faschismus könne nur über die Ideologie und nicht durch reine Ableitung aus der Ökonomie verständlich gemacht werden.20 Zweifellos gehören die Texte des PIT zu den fortgeschrittensten, bis heute anscheinend nicht eingeholten Arbeiten in der marxistischen Faschismustheorie – allerdings nicht hinsichtlich ihrer politisch-strategischen Schlussfolgerungen. Der sicher richtige Grundgedanke des PIT besteht darin, den Faschisten alle psychischen und emotionalen Energien, welche diese für sich einzuspannen trachten, zu entwinden, um sie dann demokratisch bzw. emanzipatorisch zu kanalisieren. Problematisch wird es bei den – nur angedeuteten – praktischen Empfehlungen, den Diskurs um Volk und Nation von links zu besetzen.21 Dies würde entgegen den hierein gesetzten Hoffnungen des PIT wahrscheinlich weniger zu einer Demokratisierung des Nationalismus als zu einer Faschisierung der Linken führen. Ungeachtet dessen bestechen die Arbeiten der PIT dadurch, dass sie das Ideologische wirklich ernst nehmen und auf simple Ableitungsversuche verzichten. Dabei gehen sie von einer maßgeblich durch den französischen Marxisten Louis Althusser inspirierten IdeologieTheorie aus, die Ideologie vorrangig als materielle Praxis auffasst. Mit folgenden Worten umriss Haug treffend das progressive Potenzial des PIT-Ansatzes: »Wir sind gut beraten, wenn wir aufmerksam untersuchen, was die Faschisten wirklich tun. […] Und wir werden von einer funktionalhistorischen Bestimmung des Ideologischen ausgehen. Sie sucht nicht primär Ideengebäude, auch weder Klassenbewusstsein noch sonstige Formen ›wertbezognen‹ oder ›handlungsorientierten‹ ›Bewusstseins‹. Wir suchen Formen der auf innere Selbstunterstellung der Individuen zielenden Reproduktion von Herrschaft. […] Und wir suchen vor allem die faschistische Spezifik im Ensemble der ideologischen Mächte, Beziehungen, Praxen etc. Wir suchen also nicht primär nach einer faschistischen Ideologie, sondern nach der Faschisierung des Ideologischen und nach der ideologischen Transformationsarbeit der Faschisten.«22 Leider trifft beim PIT dieses althusserianische Konzept von Ideologie auf verschiedene traditionsmarxistische Restbestände: Der Staat wird immer noch zu sehr als Instrument der Klassenherrschaft interpretiert, seine relative Autonomie nicht in vollem Ausmaß erkannt. Dass das PIT den Faschismus demzufolge gleichfalls als Klassenherrschaft bestimmt23, führt sie wie so viele Marxist/ innen zur Vernachlässigung der spezifisch faschistischen Form von Antikapitalismus zugunsten des faschistischen Antikommunismus. Das PIT hätte vielleicht gut daran getan, doch ein wenig mehr nach einer spezifisch »faschistischen Ideologie« zu suchen, anstatt »Hitlers Standpunkt« lediglich folgendermaßen zu bestimmen: »Reorganisierte Reproduktion der bestehenden Ordnung«.24 Außerdem ist es bedauerlich, dass das PIT keine allgemeine Faschismustheorie leistete, sondern ihre Arbeit weitgehend auf den deutschen Extrem- und Sonderfall des Faschismus beschränkt blieb. Und heute? Die Zeiten, in denen linke Gelehrte mit ihren Faschismustheorien in der Wissenschaftslandschaft der BRD prominent vertreten waren und der Faschismusbegriff wie selbstverständlich verwendet wurde, sind lange vorbei. Parallel zum Abklingen der oppositionellen sozialen Bewegungen in den siebziger und achtziger Jahren und zum sich schon lange vor 1989/90 abzeichnenden Zusammenbruch des Staatssozialismus sowjetischer Prägung, wurde die Verwendung des Faschismusbegriffs immer stärker zum Ausweis linker Gesinnung und damit hochgradig unmodisch.25 Dies beginnt sich allmählich zu verändern, dennoch wurde die wahre Renaissance allgemeiner (»generischer«) Faschismustheorien, die sich seit der ersten Hälfte der neunziger Jahre im angelsächsischen Raum abspielte, in Deutschland lange verschlafen. Am bis heute schlechten Image des Faschismusbegriffs in Deutschland ist die inflationäre und oft rein polemische Verwendung des Begriffs von linker Seite nicht unschuldig. Aber auch die historisch bedingte Fokussierung der Forschung hierzulande auf den deutschen Extrem- und Sonderfall des Faschismus, den Nationalsozialismus, trug ihren Teil zur Vernachlässigung allgemeiner Faschismustheorie und vergleichender Faschismusforschung bei. Selbstverständlich hatte die Sache auch eine eminent politische Seite: Gerade in Deutschland nach 1989/90 wollten der triumphierende Kapitalismus und der neu erstarkende Nationalismus lieber nicht an ihre historische und ursächliche Beziehung zu den Naziverbrechen erinnert werden. Innerhalb der linken Szenerie war der Faschismusbegriff zwar immer etabliert und wurde und wird in vielerlei Zusammenhängen verwendet, doch ist seine theoretische Klärung seit den siebziger Jahren anscheinend keinen Schritt voran gekommen. Nicht allein muss konstatiert werden, dass selbst die am wenigsten aufgeklärtesten Versionen der Agententheorie nach wie vor zahlreiche Anhänger/innen haben. Generell fällt genuin linke oder marxistische Faschismustheorie am meisten durch ihre Abwesenheit auf. In der Antifa-Bewegung beispielsweise können Menschen ihre ganze politische Sozialisation hinter sich bringen, ohne auch nur ein einziges Mal tiefer gehend mit Faschismustheorie in Berührung gekommen zu sein – eigentlich erstaunlich bei einer Bewegung, die den Faschismusbegriff im Namen trägt und zumindest teilweise nicht so theoriefern ist wie ihr Ruf mancherorts. Das Gedankengut des israelischen Historikers Zeev Sternhell, der entschieden dafür eintritt, die Rekonstruktion einer spezifisch faschistischen Ideologie zum Ausgangspunkt der Faschismusanalyse und -theorie zu nehmen, wurde zwar in Teilen der deutschen Linken aufgenommen, jedoch scheinbar ohne größere Folgen. Noch immer ist das, was es an marxistischer oder überhaupt linksemanzipatorischer Faschismustheorie gibt, völlig auf den Faschismus als Herrschaftsform konzentriert und vernachlässigt hierüber die Faschismen als Ideologien und (Oppositions-) Bewegungen. Die linksradikale Theoriezeitschrift »Phase 2« schaffte es in ihrer kürzlich erschienenen Ausgabe zum Themenschwerpunkt Faschismustheorie, dass in keinem einzigen der informativen Beiträge die faschistischen Ideologien als solche behandelt wurden. Wenn in der Linken das Ideologische der Faschismen verhandelt wird, dann meist im Zusammenhang mit Ideologien der Ungleichheit, die ein viel größeres politisches Spektrum als das eigentlich faschistische betreffen: Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und so weiter. Oft wird angegeben, dass der Faschismus in ideologischer Hinsicht eben eine Radikaliserung der genannten und anderer antiemanzipatorischer Ideologien sei, eine Auffassung, die in orthodox marxistischleninistischer Formulierung schon bei Reinhard Opitz anzutreffen war. Dabei bleibt weiterhin unklar, ab wann denn zum Beispiel ein »normaler« Nationalist zum Faschisten wird, wie diese unterschiedlichen Ideologien und Ideologeme bei den Faschisten zusammenhängen und sich bedingen und ob es nicht vielleicht doch eine genuin faschistische Ideologie gibt, deren Spezifik in der Weise der Kombination der ideologischen Elemente liegt und durch die sich die Faschisten von anderen Rechten zuverlässig abgrenzen lassen. Grundlagenkritik der marxistischen Faschismustheorien und Anforderungen an eine neue allgemeine materialistische Theorie der Faschismen Die breite Akzeptanz der Agententheorien im Marxismus lässt sich zunächst damit erklären, dass diesem eine eigentliche Staatstheorie fehlt. Bei Marx finden sich nur wenige und dazu widersprüchliche staatstheoretische Fragmente. Was Engels und später Lenin an Theorie des Staates zuwege brachten, ließ diesem nur noch wenig Eigenständigkeit.26 Das erschwerte das Verständnis des überaus »verselbständigten« faschistischen Staates. Wer daran gewöhnt ist, in allem Staatlichen den direkten Ausdruck herrschender Klasseninteressen zu sehen, für den können faschistische Regime nur bloße Agenturen sein. Ähnliches betrifft Ideologien: Wer in diesen nur entweder Klasseninteresse oder Verschleierung wahrer Absichten erblicken kann, dem wird sich die massenhafte Anziehungskraft der faschistischen Ideologien auch auf Ar- beiter/innen nicht erschließen können. Der sozialdemokratisch-marxistische Theoretiker Rudolf Hilferding hat die faschismustheoretische Schwäche der Marxist/innen in einem kurz vor seiner Ermordung durch die Nazis geschriebenen und erst 1948 bekannt gewordenen Aufsatz klar erkannt: Der Faschismus sei mit marxistischen Kategorien kaum beschreibbar, das heißt. weder ökonomisch noch klassentheoretisch direkt ableitbar.27 Anders als selbst die differenziertesten Ausprägungen der Agententheorie vermögen die Bonapartismustheorien mittels des Verselbständigungstheorems immerhin zu denken, dass sich der Faschismus an der Macht auch gegen die traditionellen Führungsgruppen wenden kann. Den Kardinalfehler der Verkennung der relativen Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit des Ideologischen haben Agenten- und Bonapartismustheorien jedoch gemeinsam. Bei den Bonapartismustheorien wird die Selbständigkeit der faschistischen Ideologie aus der angeblich vorwiegend kleinbürgerlichen Basis der Faschismen abgeleitet oder als mehr oder weniger über den sozialen Bedingungen Schwebendes, von ihnen Losgelöstes dargestellt. Überhaupt stellt sich das Verselbständigungstheorem als systemimmanentes und daher ebenso falsches Gegenstück der Agententheorie dar. Reduziert der marxistisch-leninistische Ökonomismus Staat und Ideologie gnadenlos auf einen machtlosen, völlig unselbständigen Rest, so ersetzt das Verselbständigungstheorem den Zusammenhang der gesellschaftlichen Bereiche durch ein unverbundenes Nebeneinander.28 Zwar können die Bonapartismustheorien mehr Wahrheitsmomente als die Agententheorien beanspruchen, aber trotzdem lässt sich mit ihnen nicht viel anfangen. Der Eindruck drängt sich auf, dass die Marxist/innen, als sie sahen, wie ratlos sie den Faschismen gegenüberstanden, verzweifelt nach Ideen im Werk der »Klassiker« suchten, die sich irgendwie auf die Faschismen beziehen ließen. Agenten- und Bonapartismustheorien teilen das grundsätzliche Desinteresse am Ideologischen und die Fixierung auf den Faschismus als Herrschaftsform.29 Insofern der Faschismus an der Macht selbstverständlich wesentlich mehr Unheil anrichten kann als eine faschistische Bewegung in der Opposition, hat diese Fixierung auch eine gewisse theoriepolitische Berechtigung. Dennoch versteht sich von selbst, dass die marxistischen Faschismustheorien da65 durch nur sehr begrenzt tauglich sind zur Analyse der übergroßen Mehrzahl der Faschismen, die nie an die Staatsmacht kamen. Nazi- und Italofaschismus blieben Ausnahmen; alle anderen faschistischen Regime Europas wurden im Laufe des Zweiten Weltkriegs von Deutschen und Italienern eingesetzt. Es dürfte feststehen, dass ohne Unterstützung durch wesentliche Teile der sozialen Führungsgruppen kein Faschismus an die Macht gelangt wäre und gelangen würde. Aber die Faschismen existieren auch ohnedies als Ideologien und Bewegungen, und sie werden für Führungsgruppen nur in dem Maße interessant, wie sie Massenanhang bekommen. Die immense Dynamik der Faschismen als politische Bewegungen, die Gründe für die Anziehungskraft, der »genuine Antrieb einiger Zehntausend Fanatiker«30 entzogen sich somit weitgehend dem marxistischen Verständnis. Die marxistische Ignoranz gegenüber den faschistischen Ideologien lässt sich nur so erklären, dass die Marxist/innen im vermeintlichen Vollbesitz der Wahrheit gar nicht auf den Gedanken kamen, dass ihre faschistischen Gegner auch denkende Wesen sein und tatsächlich für eigene – herrschaftliche – Interessen und Privilegien eintreten könnten.31 Die meisten Marxist/innen weigern sich bis heute, die Aussagen der Faschisten zu ihrem Selbstverständnis, ihren Motiven und Zielen für bare Münze zu nehmen. Das, was gemeinhin als faschistische Ideologie gilt, gilt vielen Marxist/innen demnach nur als demagogische Tarnung und Täuschung. Ein guter Neuanfang wäre, die Aussagen der Faschisten endlich wortwörtlich ernst zu nehmen.32 Dies würde bedeuten davon auszugehen, dass die Faschisten in der Regel – wie viele andere Akteure in der politischen Arena – keine käuflichen Agenten oder zynischen Machtmenschen sind, sondern dass die meisten von ihnen oft wirklich meinen, was sie sagen. Faschisten werden wie andere politische Akteure meistens von einer aufwühlenden Wahrnehmung gesellschaftlicher Probleme umgetrieben und von dem dringenden Wunsch geleitet, ihnen Abhilfe zu schaffen. Es steht völlig außer Frage, dass die meisten Faschisten subjektiv ehrlich davon überzeugt waren und sind, das Gute und Richtige zu tun. Dies schließt weder aus, dass einzelne faschistische Akteure tatsächlich einen rein instrumentellen Zugang zum Ideologischen haben, noch dass der gespürte Erfolg eines Ideologems zu seiner verstärkten Benutzung führt und gewissermaßen auch auf den 66 Ideologen selbst wirkt, das heißt seinen Glauben an dieses Ideologem intensiviert.33 Zur materialistischen Rekonstruktion der spezifisch faschistischen Ideologie müsste zunächst der historischen Entstehungssituation der Faschismen – imperialistische Mächtekonfrontation und Erster Weltkrieg – nachgegangen werden: Was war die spezifisch faschistische Antwort auf die allgemein wahrgenommenen existenziellen Herausforderungen und Probleme der Epoche? Um weiter das Verhältnis von Kapitalismus und Faschismen zu klären, erscheint es zweckmäßig, die faschistische Interpretation und Kritik des Kapitalismus zu betrachten: Was haben die Faschisten am Kapitalismus zu kritisieren und wie tun sie es? Wie sieht ihr sozialer Gegenentwurf aus? Zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Kapitalismus und Faschismus gehören auch klassentheoretische Überlegungen, die (nicht nur) in der marxistischen Faschismustheorie traditionell viel angestellt wurden: Welche Interessen und Mentalitäten von sozialen Klassen, Schichten und Gruppen drücken sich in den Faschismen aus beziehungsweise machen besonders anfällig für faschistische Ideologien? Wer sind die Träger und wer die Nutznießer der Faschismen? Anders als vielen nicht-marxistischen Faschismustheorien kann den marxistischen nicht vorgeworfen werden, den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus zu verschleiern. Im Gegenteil neigt der marxistische Antikapitalismus meist zu einer Verwischung der Spezifik faschistischer Regime gegenüber anderen kapitalistischen Herrschaftsformen, seien sie nun parlamentarisch-demokratisch oder autoritär-diktatorisch. Ähnlich verkennen die Marxist/innen meist die Besonderheit der faschistischen Ideologien gegenüber nicht-faschistischem Nationalismen und dem Konservatismus. Wo sich aus marxistischer Perspektive mit faschistischen Ideologien beschäftigt wurde, da verhinderte die Fixiertheit auf den faschistischen Antimarxismus die Erkenntnis der großen Bedeutung, welche die Feindschaft gegen Liberalismus, Individualismus, bürgerlichen Lebensstil und Hedonismus für die Faschismen hatte. Stattdessen müsste eine adäquate materialistische Faschismustheorie in undogmatisch-marxistischer Tradition sowohl den Bruch als auch die Kontinuität im Verhältnis von Faschismen und Kapitalismus bestimmen können. Mathias Wörsching M.A. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Die Wahl der Pluralform deutet an, dass die Faschismen zwar eine kategoriale Einheit darstellen, sich aber dennoch von Land zu Land ganz erheblich unterscheiden. Damit wird einer vor allem mit den Namen George L. Mosse und Roger Griffin verbundenen theoretischen Linie gefolgt, nach der die Faschismen in ideologischer Hinsicht zunächst als ultranationalistische Bewegungen aufgefasst werden müssen, woraus ihre frappierende Pluralität herrührt: »Jedes Land entwickelte den Faschismus, der seinem spezifischen Nationalismus gerecht wurde.« Vgl. George L. Mosse, Die Völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1991 (zuerst: New York 1964), S. Vf. Der Historiker Roger Griffin verwendet das Wort »Faschismus« häufig, ohne sich konsequent für Singular oder Plural zu entscheiden. 2 Vgl. Ernst Nolte, Einleitung, in: derselbe, Hrsg., Theorien über den Faschismus, Königstein/Taunus 1984, S. 21 ff. Vgl. Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen in marxistischen Faschismustheorien, in: Projekt Ideologie-Theorie (PIT), Faschismus und Ideologie, Berlin 1980 (Argument-Sonderheft 60), S. 25 ff. Zitiert nach: Ernst Nolte, Theorien, S. 56 f.. Zitiert nach: Reinhard Opitz, Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus, in: Das Argument, Heft 87, November 1974, 544. Vgl. Max Horkheimer in: Die Juden und Europa (1939): »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.« (Zitiert nach: Wolfgang Fritz Haug, Annäherung an die faschistische Modalität des Ideologischen, in: PIT, Faschismus und Ideologie, S. 44.) Vgl. Wolfgang Wippermann, Europäischer Faschismus im Vergleich, Frankfurt a.M. 1983, S. 20 u. derselbe, Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion, Darmstadt 1989, S. 80 ff. Vgl. Rajani Palme Dutt, Was ist Faschismus? (1934), in: Ernst Nolte, Theorien über den Faschismus, S. 297 ff., wo im Rahmen einer marxistischagententheoretischen Argumentation bestimmte Elemente der Modernisierung kapitalistischer Industriegesellschaften (Aufbau eines Systems der organisierten Klassenzusammenarbeit, Ausdehnung der staatlichen monopolistischen Organisation von Industrie und Finanz) als zentrale faschistische Inhalte bestimmt und infolgedessen Roosevelt und Brüning als Proto- oder Quasifaschisten aufgefasst werden. Strukturell ähnlich argumentierte auch Johannes Agnoli: Der Faschismus sei die politische Entsprechung der monopolkapitalistischen, imperialistischen, etatistischen Phase des Kapitalismus im Gegensatz zum Konkurrenzkapitalismus. Kritik an Agnolis Gleichsetzung von Korporatismus und Faschismus und der daraus folgenden Tendenz zur Inflation des Faschismusbegriffs übt Reinhard Opitz, Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus, S. 581. Zur Differenz zwischen dem, was für Opitz die normale »staatsmonopolistische Formierung« ist, und dem Faschismus vgl. ebd., 584 ff. Vgl. Wolfgang Wippermann, Die Bonapartismustheorie von Marx und Engels, Stuttgart 1983, S.209 f. Ebenda, S. 8 ff., 15, 207 f. Vgl. derselbe, Europäischer Faschismus, S. 124 f.. Dagegen spricht Wolfgang Abendroth, Das Problem der sozialen Funktion und der sozialen Voraussetzungen des Faschismus, in: Das Argument, 12. Jg., H. 4–6, August 1970, S. 252, von der »breiten und partial militanten auf Mittelklassen und Deklassierte gestützten Massenbewegung (Dezembergesellschaft)« des Louis Bonaparte. Allerdings »war es nicht möglich, diese Massenbewegung zu einer permanenten selbständigen politischen Herrschaftsgruppe zu organisieren und zu stabilisieren. Noch waren die sozialen Techniken ungenügend entwickelt«. Vgl. zu den – fundamentalen – Unterschieden zwischen Bonapartismus und Faschismus ebd., 254. Vgl. Wolfgang Wippermann, Bonapartismustheorie, S. 12, 23 ff., 173; derselbe, Faschismustheorien, S. 68 ff.; Wolfgang Abendroth, Das Problem der sozialen Funktion, S. 251. 13 14 15 16 So drückte es der österreichische sozialdemokratische Führer Otto Bauer aus: »Wenn sie (die Kapitalistenklasse; d. Verf.) die faschistischen Banden auf das Proletariat loslässt, so wird sie selbst zur Gefangenen der faschistischen Banden. Sie kann … (sie) nicht mehr niederwerfen, ohne sich der Revanche des Proletariats auszusetzen. Sie muss sich daher selbst der faschistischen Diktatur der faschistischen Banden unterwerfen«. Zitiert nach: Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S.18. Dies sahen auch einige Marxisten so, z. b. mit August Thalheimer mindestens ein prominenter Vertreter der Bonapartismustheorie (vgl. Wolfgang Wippermann, Bonapartismustheorie, S. 205 ff.), und außerdem Karl Radek und Clara Zetkin. Vgl. Clara Zetkin, Der Kampf gegen den Faschismus, in: Ernst Nolte, Theorien über den Faschismus, S.88 f., 95 f., 106 f.; Ernst Nolte, Einleitung, in: derselbe, Theorien, S. 21 ff.; Daniel Guerin, Faschismus und Kapitalismus, in: ebenda, S. 271 f. Für Franz Borkenau, in: ebenda, S. 156 ff, ist der Faschismus die Welt-Konterrevolution nach der abgebrochenen marxistischen Weltrevolution. Ebenda wird harsche Kritik an Otto Bauer, August Thalheimer und ihren modifizierten Bonapartismustheorien geübt: Der Faschismus sei ein Symptom der Schwäche der Linken, nicht ihres nah bevorstehenden Sieges oder einer Kräftebalance. Reinhard Kühnl, Probleme der Interpretation des deutschen Faschismus, in: Das Argument, 12. Jg., H. 4–6, August 1970, S. 273 f., kritisiert die vom orthodoxen Marxismus-Leninismus vorgetragene Interpretation, wonach der Nazifaschismus einer proletarischen Revolution zuvorkommen sollte. Diese sei Anfang der 1930 er Jahre unwahrscheinlich gewesen. Desgleichen auch Reinhard Opitz, Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus, 585 und Nicos Poulantzas. Vgl. Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S. 31. Vgl. Wolfgang Wippermann, Bonapartismustheorie, S. 79 ff.; Ernst Nolte, Faschismus über den Faschismus (Rückblick), S. VIII ff. Zitiert nach Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005, S. 47. Das Zitat ist sehr früh, noch aus den 30 er Jahren. 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 Prägnant wird das Problem bei Reinhard Kühnl, Probleme der Interpretation des deutschen Faschismus, S. 272 ff., gefasst. Ebenfalls bei Reinhard Opitz, Fragen der Faschismusdiskussion. Zu Reinhard Kühnls Bestimmung des Faschismusbegriffs, in: Das Argument, 12. Jg., H. 4–6, August 1970, S. 282 u. 288 f. Das Problem ist auch ein Hauptthema des genannten Aufsatzes von Opitz. Vgl. die Kritik an Kühnl bei Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S. 24. Vgl. Reinhard Opitz, Fragen der Faschismusdiskussion, S. 286; Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus, S. 591–602. Vgl. die Kritik des PIT bei Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S.21 ff., so z. b. ebd., S. 22: »Opitz kapituliert vor seinem eigenen Anspruch der theoretischen Vermittlung.« Vgl. PIT, Faschismus und Ideologie, Vorwort, S. 8 u. 11; Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S. 13 ff. Vgl. dazu ebenda, S. 35; Wolfgang Fritz Haug, Annäherung an die faschistische Modalität des Ideologischen, S. 76 ff. Vgl. ebenda, S. 47 u. S. 76: »Dies ist unser Forschungsgegenstand und die leitende Frage: Wie hat sich die faschistische Macht über die Herzen des Volkes befestigt?« Vgl. Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S. 14 u. 24. Vgl. Wolfgang Fritz Haug, Annäherung an die faschistische Modalität des Ideologischen, S. 54– 59. Vgl. ebenda, S. 59 ff.: »National-Sozialismus als Gegen-Bolschewismus«. Vgl. Busch, S. 32; Wolfgang Wippermann Wippermann, Totalitarismustheorie, S. 2 f. Vor allem in den Schriften: »Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« (Friedrich Engels) und »Staat und Revolution« (Wladimir I. Lenin). Vgl. Wolfgang Wippermann, Bonapartismustheorie, 210 ff. Eine sehr differenzierte, nicht mehr agententheoretische Erklärung des Faschismus – allerdings wieder nur des Faschismus an der Macht – lieferte auch Nicos Poulantzas. Sie wird gleichwohl beherrscht vom Klassenreduktionismus, d. h. von dem Bemühen, bestimmte Ideolo- 28 29 30 31 32 33 gien bzw. Ideologeme eindeutig den Interessen bestimmter Klassen zuzuordnen (vgl. hierzu die Kritik des PIT bei Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S. 28–35. Vgl. ebenda, S. 15–21. Vgl. Wolfgang Wippermann, Faschismustheorien, S. 76. Vgl. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Action Francaise, Italienischer Faschismus, Nationalsozialismus. Mit einem »Rückblick nach 30 Jahren«, München 1984 (zuerst: 1963), S. 453 f. Beispielhaft ist Wolfgang Abendroth, Das Problem der sozialen Funktion, S. 254: »Den diesen Sozialschichten [v. a. dem Kleinbürgertum – M.W.] angebotenen antibolschewistischen und antimarxistischen Parolen wurde der Schein ›antikapitalistischer‹ Ideologie zugesetzt, um ihnen die Illusion des Kampfes für ihre eigenen Interessen zu geben. Mit Hilfe dieser Parolenmixtur sollte das Mittelstandsaufgebot die Arbeiterorganisationen ausschalten.« Deswegen bleibt die richtige Feststellung ebd., dass die »Rechtsstaatlichkeit […] durch einen […] unverhüllt dezisionistisch-repressiven Teil staatlicher Tätigkeit weithin verdrängt wurde«, auch unbegründet in der Luft hängen. Um diesen Umstand zu erklären, hätte es ja der Ideologie bedurft, der oben jegliche Eigenständigkeit abgesprochen wurde. Kritik an der völligen Abwesenheit sozialpsychologischer – und damit immer auch Ideologie-bezogener – Erklärungsmodelle bei vielen Marxisten übt auch Kühnl, Probleme der Interpretation des deutschen Faschismus, S. 278. Vgl. Zeev Sternhell, Faschistische Ideologie. Eine Einführung, Berlin 2002. S. 13 f.; Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, S. 54 f. Vgl. PIT, Faschismus und Ideologie, Vorwort, S. 8: »Bei den Materialstudien machten wir die verblüffende Erfahrung, dass die Kommentare der führenden Faschisten die Strukturen und Wirkungsweisen ideologischer Praxen klarer beschreiben als der größte Teil der faschismuskritischen Autoren.« Vgl. Wolfgang Fritz Haug, Annäherung an die faschistische Modalität des Ideologischen, S. 65 ff. (hier am Beispiel des Hitlerschen Antisemitismus). 67 Das antifaschistische Thema in der DDR-Literatur Demokratische Erneuerung war die Losung, mit der deutsche Antifaschisten aus dem Exil und aus dem Widerstand im Jahre 1945 ihre Aufbauarbeit in der sowjetischen Besatzungszone begannen. Um die verstörten und orientierungslosen Menschen für eine antifaschistische Neugestaltung ihrer Lebensverhältnisse zu gewinnen, musste Klarheit geschaffen werden über Wesen und Wurzeln des Hitlerfaschismus. Schluss gemacht werden musste vor allem mit militaristischen und chauvinistischen Ideologien, die der Nationalsozialismus ausgenutzt hatte – ganz zu schweigen vom Rassismus und Herrenmenschentum der Funktionsträger und Nutznießer des deutschen Faschismus.1 Die Verantwortung des deutschen Volkes für das, was in seinem Namen geschehen war, die Bereitschaft zur Wiedergutmachung musste geweckt werden. Dafür wurde in der sowjetischen Besatzungszone und in der frühen DDR viel getan und die Literatur hat einen hervorragenden Anteil daran gehabt. Einer der ersten, die in die zerstörte Heimat zurückkamen, war der Dichter Johannes R. Becher Seinen Bemühungen ist die Gründung des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands zu danken, der ersten Organisation von Intellektuellen und kulturinteressierten Menschen, die in Deutschland entstand. Sie sollte zum Kern einer geistigen Erneuerungsbewegung werden, in der Menschen aller Weltanschauungen und politischen Richtungen zusammenfinden konnten, die den Faschismus ablehnten oder Widerstand geleistet hatten. Bald öffneten sich die Reihen des Kulturbundes aber auch für solche, die zeitweise den Nationalsozialisten gefolgt waren und erst jetzt den verbrecherischen Charakter des Naziregimes und seines Raubkrieges zu begreifen begannen. Es ging Johannes R. Becher und seinen Freunden im Kulturbund um ein »nationales Befreiungs- und Aufbauwerk größten Stils auf ideologisch-moralischem Gebiet«2. Deshalb war er, der entschiedene Antifaschist und Kommunist, der vom ersten Tage an leidenschaftlich gegen den deutschen Faschismus gekämpft hatte, als Dichter bemüht, sich mit den Menschen in Deutschland zu solidarisieren und zu identifizieren. »An die Sieger« heißt ein Gedicht aus dem Band »Volk im Dunkel wandelnd« (1948): 68 »Ihr, die ihr Sieger seid, lasst mir das eine: Lasst mich beweinen meines Volkes Leid, Darin ich aller Welt Leid mit beweine – Lasst mir dies eine, die ihr Sieger seid! Ich bitt euch nicht, dass ihr uns sollt verzeihn. Nur eines bitt ich. Lasst mich darum bitten, – noch ist das ganze Leid nicht ausgelitten – Lasst mich verzweifelt sein und traurig sein.«3 Er suchte den Ton zu finden, den seine Landsleute, seine erhofften Leser verstehen konnten, suchte den Willen zur Umkehr und zur Abrechung mit der Vergangenheit zu wecken und zu stärken. Gerade von manchen Hitlergegnern ist dieser Versuch nicht immer verstanden worden, die Verführten und mitschuldig gewordenen Menschen, die Mehrheit der Deutschen anzusprechen. Manchen, die aus den Konzentrationslagern oder – wie Becher selbst – aus der Emigration zurückkamen, hielten es für wichtiger, sozialistische Überzeugungen – vor allem in der Arbeiterklasse – zu stärken.4 Ihnen hielt der Dichter entgegen, dass proletarisches Klassenbewusstsein erst wieder erweckt und den Menschen aller Schichten wieder ein humanistischer Lebenssinn vermittelt werden müsse. Unter den Aktivisten der ersten Stunde, den Mitbegründern des Kulturbundes, waren Männer wie der bekannte Romancier Bernhard Kellermann. Er war in Deutschland geblieben und hatte sogar Bücher veröffentlichen können, obwohl er von den Nazis mit Misstrauen betrachtet wurde. 1945 griff er sofort in die Auseinandersetzungen mit der Naziideologie ein und unterstützte die Bemühungen um eine antifaschistischen und demokratischen Umgestaltung des gesellschaftlichen und intellektuellen Lebens.5 Ihn beschäftigte das Problem, warum viele, besonders aus kleinbürgerlichen Kreisen stammende Menschen dem Einfluss des deutschen Faschismus erlegen waren. So schrieb er den Roman »Totentanz« (1948).6 Es ging ihm darum – wie er im Vorwort schreibt – »die gefährliche militaristische Weltanschauung vor dem deutschen Volk anzuprangern« und »der erschreckenden Mentalität der herrschenden Klassen schonungslos die Maske vom Gesicht zu reißen«. Für einen bürgerlichen Autor ist das ein bemerkenswertes Programm. In dem Buch wird ein Rechtsanwalt geschildert, der sich anfangs nicht zu entscheiden weiß und schließlich zum Mitläufer der Nazis wird. Kellermann erzählt zügig und teils kolportagehaft, wie der Tod der beiden Söhne dieses Mannes im Kriege ihn allmählich zur Besinnung bringt. Doch seine Einsicht reicht nicht bis zum aktiven Widerstand. Er beginnt zwar zu ahnen, wer hinter dem deutschen Faschismus steht: die Herren der Industrie. Aber der Tanz um das goldene Kalb wird zum Totentanz. Der Held des Buches geht in den Freitod. Auch Hans Falladas Buch »Jeder stirbt für sich allein« (1947)7 ist ein wichtiger Versuch der Auseinandersetzung mit den Nazi-Jahren. Fallada war in Deutschland geblieben und hatte sogar zeitweise mehr als problematische Zugeständnisse an die faschistischen Machthaber gemacht. Doch blieben seine Bücher in der Substanz realistische Schilderungen der zwanziger und dreißiger Jahre mit deutlich gesellschaftskritischen Zügen. Johannes R. Becher kannte die schriftstellerische Begabung Falladas und wusste, dass dieser Autor einen weiten Leserkreis erreichen konnte. Deshalb verschaffte er dem – schwerkranken und suchtabhängigen – Fallada Einsicht in Gestapo-Akten, in denen von einer individuellen Widerstandsaktion eines einfachen, unpolitischen Ehepaars gegen das Naziregime und seinen verbrecherischen Krieg berichtet wurde. Der Stoff faszinierte den Romanschreiber sehr und er schrieb in kurzer Zeit seinen Roman über den Widerstand des Ehepaars Quangel. Als beider Sohn in Frankreich gefallen ist, beginnt der völlig unpolitische Quangel ganz spontan hitlerfeindliche Postkarten zu schreiben, handgeschriebene Flugblätter also. Die Gestapo vermutet – zu Unrecht – eine Widerstandsorganisation, wo nur aus tiefem Schmerz um den Tod des Sohnes ein moralischer Protest und ein humanes Verantwortungsgefühl erwachsen sind. Ein drittes Buch schließlich wäre hier noch zu nennen, das in den ersten Nachkriegsjahren eine große Wirkung getan hat – Theodor Pliviers Roman »Stalingrad« (1945).8 Das Buch ist noch im sowjetischen Exil geschrieben worden, sein Autor stand den Kommunisten nahe und war nach seiner Rückkehr nach Deutschland zunächst Vorsitzender des Kulturbundes in Thüringen. Er hat dann bald die sowjetische Besatzungszone verlassen und in seinen später im Westen veröffentlichten Büchern dem antikomummunistischen Zeitgeist seinen Tribut gezollt. Der Roman »Stalingrad« war und bleibt ein literarisches Ereignis von großem Gewicht und einer lang andauernden Wirkungskraft. Hier wurde zwar kaum etwas über das geschichtliche Wesen des Nationalsozialismus gesagt, aber die intensive Darstellung der Tragödie von Stalingrad in einer Fülle von Einzelschicksalen hat das Buch zu einer der erregendsten Kriegsschilderungen gemacht, die nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland erschienen sind. Sicher: die Gestalten sind oft skizzenhaft dargestellt und der Autor verzichtet weitgehend auf eine Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge. Aber das Massenschicksal der im Kessel von Stalingrad sinnlos geopferten Armee und die Schilderung der individuellen Leiden lassen den Leser begreifen, dass Stalingrad die Wende des Krieges war. Für die Vernichtung militaristischer Denkweisen und die Kritik der faschistischen Verherrlichung des Krieges hat das Buch einen bemerkenswerten Beitrag geleistet. Der Untergang des faschistischen Okkupationsheeres wurde von den Lesern mit Recht als gleichnishaft für die Aussichtslosigkeit des nazistischen Kriegsabenteuers insgesamt empfunden. Wie breit die Palette der damals in der sowjetischen Besatzungszone entstehenden Literatur war, die sich mit dem Faschismus auseinandersetzte, zeigt der Roman der katholischen Autorin Elisabeth Langgässer »Das unauslöschliche Siegel« (1946).9 Der Titel bezieht sich auf das Sakrament der Taufe, das die Autorin zum Zentrum ihres Buches macht. Erzählt wird die Geschichte eines getauften Juden, der zu Beginn des ersten Weltkrieges nach Frankreich fährt und dort interniert wird. Er erkennt, dass seine Konversion nur oberflächlich war und schwört dem Glauben ab. Aber – so will es die Schreiberin – die Gnade Gottes bewirkt seine plötzliche Bekehrung. Er geht zurück nach Deutschland und wird dort – als Christ jüdischer Abstammung – während der Naziherrschaft ins Konzentrationslager verbracht. Nach der Befreiung schlägt er sich als ein armer Bettler durchs Land und folgt dem Weg der Roten Armee nach Westen. Für die Autorin ist er ein Symbol der Hoffnung auf Rettung aus der Katastrophe des Krieges und der Vernichtung: einer Rettung freilich, die nur aus dem Glauben kommen soll. Zur Analyse des Faschismus gibt das Buch wenig her. Die streitbare Katholikin mit jüdischen Vorfahren sieht die Ursache des Faschismus letztlich im Abfall der Menschen von der katholischen Kirche, in der Glaubensspaltung und der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts, der die französische Revolution folgte. Sie meint, der Mensch könne nicht aktiv eingreifen in die Weltgeschichte, denn diese Weltgeschichte ist für sie eine Heilsgeschichte, bestimmt vom Kampf zwischen Gott und dem Satan. Dennoch wendet sich ihr Buch klar gegen den Nazifaschismus und enthält starke Momente einer religiös-moralischen Kritik des bürgerlichen Zeitalters. Der linkskatholische Publizist Walter Dirks hat 1948 in den »Frankfurter Heften« geschrieben, die Bücher von Elisabeth Langgässer, Theodor Plivier und dazu noch der Roman »Das siebte Kreuz« von Anna Seghers seien die repräsentativen Zeugnisse der Nachkriegsliteratur.10 Dass der westdeutsche Autor damit drei Bücher nennt, deren Autoren zunächst in der sowjetischen Besatzungszone lebten, bezeichnet die damalige Situation ebenso wie die Tatsache, dass zwei von ihnen eben zu dieser Zeit in den Westen übersiedelten. Damals wurde die deutsche Literatur noch als eine Einheit betrachtet. Die in Berlin lebende Elisabeth Langgässer veröffentlichte ihren Roman in Hamburg – das galt zu jener Zeit als normal. Ihre Übersiedlung in ihre rheinhessische Heimat nach Rheinzabern vollzog sich 1948 sogar mit Unterstützung der sowjetischen Besatzungsorgane. Sie hat zeitweise im Kulturbund mitgearbeitet und Hörspiele für den Berliner Rundfunk geschrieben. Aber sie mochte sich nicht den gesellschaftlichen Umwälzungen in der Sowjetzone anbequemen. Während Elisabeth Langgässer in ihre katholische Heimat übersiedelte, kam Anna Seghers, die Dirks als eine wesentliche Autorin der Nachkriegszeit genannt hatte, nach Berlin. Sie war zu Beginn der Nazizeit nach Frankreich emigriert, musste 1940 vor der einmarschierenden Wehrmacht fliehen und fand in Mexiko ein Asyl. Nun war sie – wenn auch zögernd – aus dem Exil dorthin zurückgekehrt, wo sie als kommunistische Schriftstellerin ihren wichtigsten Wirkungskreis sah: in die sowjetischen Besatzungszone. In ihrem Gepäck lag das beinahe fertige Manuskript eines neuen Romans mit dem Titel »Die Toten bleiben jung« (1949).11 Anders als »Das siebte Kreuz« umfasste dieser Roman ein großes historisches Panorama. Die Erschießung eines Spartakisten im Jahr 1919 steht am Anfang und die Handlung des Buches verfolgt in mehreren parallelen Fabeln die Schicksale von Menschen, die mit diesem Toten und seinem gewaltsamen Tod verbunden waren: die Schicksale seiner Mörder und die Schicksale seiner Freunde und Genossen – vor allem der Frau, die ihn geliebt und ihm ein Kind geboren hat. Die Handlung um den Mörder führt in die großkapitalistischen und JunkerKreise, die den deutschen Faschismus vorbereiteten und schließlich an die Macht geschoben haben. Sie zeigt aber auch Menschen aus diesen Kreisen, die aus moralischer Verantwortung sich der Herrschaft Hitlers widersetzen. Auf der anderen Seite wird das Schicksal der »kleinen Leute«, von sozialistischen und von unpolitischen Proletariern dargestellt. Spontane Solidarität und Klassenverbundenheit zeigt sich ebenso wie die unselige Spaltung der Arbeiterbewegung – immer in individuellen Handlungen und Reaktionen, im alltäglichen Leben der Leute. Anna Seghers zeigt, dass der Faschismus viele, ja die meisten Menschen verführen und korrumpieren, aber nicht den Widerstandswillen und die Kampfbereitschaft der besten Vertreter der Arbeiterbewegung ersticken konnte. Sie stellt dar, woher sich – trotz Niederlage und Terror – der Widerstand immer wieder rekrutierte. Der Sohn des toten Spartakisten wird am Schluss des Buches wiederum erschossen – er ist ein Widerstandskämpfer geworden und wie sein Vater bezahlt er mit dem Leben: Die Toten bleiben jung. Doch als Symbol der Hoffnung steht auch diesmal ein ungeborenes Kind. Ebenso wichtig an diesem Buch von Anna Seghers scheint mir die Art und Weise zu sein, wie die Verbindungen zwischen Monopolkapital und preußisch-deutschem Militarismus erzählerisch bloßgelegt werden. Das geschieht nicht als soziologische Lehre, sondern ganz und gar innerhalb persönlicher Beziehungen und sozialer Prozesse, in die die handelnden Figuren eingebunden sind. Ob das sozialistisch-kommunistischen Milieu, einflussreiche Industriellenfamilien oder die Militärkaste Gegenstand der epischen Erzählung sind, immer gelingt es der Autorin, die soziale Mentalität und die persönlichen Erfahrungen der Protagonisten genau darzustellen, aus denen faschistische oder antifaschistische Haltungen erwachsen. Antifaschistische Thematik, wie ich sie hier verstehe, umfasst den unmittelbaren Bezug der Bücher auf die – wie Johannes R. Becher einmal formulierte – 69 »politisch-moralische Vernichtung des Faschismus«.12 Schon im Exil in Mexiko hatte Anna Seghers geschrieben – es war 1942 –, die Macht des Faschismus vermöge nicht nur Länder zu besetzen und Völker zu unterdrücken, sondern auch ganze Strecken geistigen Besitzes zu verwüsten, »alte, teuere Begriffe zu verfälschen«. Es gebe eine Anzahl von Worten, die viele Menschen nicht mehr ohne Ekel anhören können – wie beispielsweise: Vaterland, Heimaterde, Volk. Der antifaschistische Schriftsteller müsse solche Verfälschungen aufbrechen und die Konflikte bewusst machen, die sich dahinter verbergen. Er müsse die wichtigsten Vorgänge innerhalb eines Volkes sichtbar werden lassen, die zum Austragen dieser Konflikte führen. Und schließlich müsse er sich mit jener Schicht seines Volkes identifizieren, »die die progressive Geschichte, die Freiheit seines Volkes sichert«.13 Im Jahr 1944 fragte Anna Seghers, welche Rolle die Kunst in naher Zukunft haben werde, wenn der Kampf mit den Waffen entschieden sein wird, aber »der Kampf von Verstand zu Verstand, von Geist zu Geist noch lange andauern wird, ein erbitterter Kampf zwischen Weltanschauungsfronten«. Ihre Antwort ist, der Künstler von heute müsse »die Angriffspunkte ersinnen, von denen aus er die Mentalität der faschistischen Jugend von ungeheurem Wahn, von lügenhaften Vorstellungen, von totenstarrhafter Verkrampftheit in Herrschsucht und mechanischem Gehorsam befreien kann«. Er – der Künstler – dürfe sich nie scheuen, die Angriffspunkte zu benutzen, auf denen Karl Marx in seiner Zeit bestanden hat: die Erniedrigung, in die Deutschland gefallen ist, noch furchtbarer machen durch das Bewusstsein der Erniedrigung, durch das rücksichtslose Aufzeigen aller Folgen, aller Kennzeichen der politischen Ohnmacht, die nicht nur das Dasein der Nation, die das Dasein jedes einzelnen in der Nation brandmarken, in zahllosen, oft nur unbewussten Einwirkungen«. Vor allem aber müsse der antifaschistische Künstler die Begriffe von drei Werten in der deutschen Jugend neu erwecken: Das »Individuum, das Volk, die Menschheit«14. Antifaschismus wird hier von Anna Seghers nicht als eine Haltung bestimmt, die nur als ein »Gegen«, nur vom Negativen her definiert werden kann. Dieser Begriff ziele vielmehr auf eine demokratische Erneuerung. In diesem Sinne – möchte ich verallgemeinern – ist die antifaschistische Thematik für die Literatur in der DDR ein konstitutives Moment ersten Ranges geworden. 70 Die Wendung an die Jugend ist deshalb ein charakteristischer Zug in der Literatur der Nachkriegszeit. Friedrich Wolf gibt seinem 1947 in Berlin geschriebenen Stück »Wie Tiere des Waldes« den Untertitel »Ein Schauspiel von Hetzjagd, Liebe und Tod einer Jugend«.15 Das Stück spielt im April 1945 in der Nähe von Berlin und beruht auf einer tatsächlichen Begebenheit. Ein junger Soldat ist in den letzten Kriegstagen desertiert und versucht, mit seiner Freundin zu entkommen. Die beiden wollen ihre Liebe verteidigen und ihr Leben retten. Doch sie geraten in die Maschinerie des Amok laufenden Nazisystems: sie werden gehetzt und in die Enge getrieben. Das Mädchen wird getötet, der junge Soldat gefangen. Wolf will nicht stehen bleiben bei der bloßen Darstellung der Unmenschlichkeit und Brutalität des Naziregimes, bei der Bedenkenlosigkeit der Henker und ihrer Helfershelfer. Als kämpferischer Antifaschist zeigt er, wie die Großmutter des Jungen zusammen mit anderen um das Leben des Neunzehnjährigen kämpft und schließlich Erfolg hat. Die humane Tat soll den Weg eröffnen in eine Zukunft, die Wolf mit voller Absicht noch unbestimmt lässt. Die Ratlosigkeit, die er dem geretteten Soldaten zuschreibt, soll gerade junge Zuschauer zu einer Identifizierung veranlassen – denn er will vor allem Resignation und Hoffnungslosigkeit überwinden helfen. Das Zeitstück betont die humane, die moralische Entscheidung, um diese Zuschauer an die kommende politische Entscheidung heranzuführen. Sehr erfolgreich war er freilich damit nicht. Für viele Autoren, die aus dem Exil in ihre Heimat zurückkamen, war es nicht leicht, Mentalität und Gedankenwelt der Deutschen während und unmittelbar nach der faschistischen Herrschaft zu verstehen und zu gestalten. Doch sie verstanden rasch, dass in der moralischen Entscheidung der Leute zur Ehrlichkeit gegen sich selbst, in der Entscheidung zur Einsicht in ihre Mitverantwortung für faschistische Verbrechen oder gar die Mitschuld an ihnen eine wesentliche Voraussetzung lag, mit der faschistischen Vergangenheit zu brechen und einen neuen Anfang zu finden. Willi Bredels Erzählung »Das schweigende Dorf« (1948)16 behandelt eben diese Frage. Berichtet wird von den Bewohnern eines mecklenburgischen Dorfes, die kurz vor Kriegsende den SS-Mördern geholfen haben, sechzig entflohene KZ-Häftlinge zu fangen und zu ermorden. Die Bauern vereinbarten, Schweigen darüber zu bewahren. Nur ein Mädchen hat eines der Häftlingskinder gerettet, und durch sie erfährt ein junger Heimkehrer aus dem Kriegsgefangenenlager den Vorfall. Der – fiktive – Bericht zeigt exemplarisch, dass eben dieses Schweigen, die Weigerung, das Verbrechen öffentlich zu bekennen, das schweigende Dorf hindert, das nötige Umdenken, die notwendige Umgestaltung ihres Lebens zu vollziehen. Denn die Gemeinsamkeit des Schweigens bedeutet, die Schuldigen zu decken und eine Selbstabrechnung zu verweigern. Wie die Leute dieses Dorfes dazu finden sollen, mit ihrer Vergangenheit abzurechnen, weiß Bredel nicht. Seine Erzählung ist ein Gleichnis für gesamtgesellschaftliche Vorgänge und zeigt die Schwierigkeit, denen Antifaschisten zu begegnen hatten. Er zeigt auch, wie isoliert sie sich oft fühlen mochten gegenüber den vielen Menschen, welche die eigene Vergangenheit zu verdrängen, aber nicht zu bewältigen wussten. Das damit verbundene Problem für die Schriftsteller hat Anna Seghers auf dem zweiten deutschen Schriftstellerkongress 1950 unmissverständlich formuliert. Sie zitiert eine Zeitung, in der zu lesen war, viele der Aktivisten des Zweijahrplans seien zwar früher Nazis gewesen, aber auf Grund ihres Elans, ihrer Arbeitsmoral, zu einer großen moralischen Kraft gekommen. Anna Seghers stimmt dem zwar völlig zu, betont jedoch zugleich, das sei nur eine Seite der Sache. Denn ein Schriftsteller könne unmöglich die Arbeit der Aktivisten, die grandiose Aufbauarbeit schildern, ohne zu wissen, dass er als Schreiber »nicht abbrechen (darf) mit der Vergangenheit«, das heißt nicht ignorieren darf, was die Menschen ringsum während der Nazijahre gedacht und getan haben. Ein antifaschistischer Schriftsteller – mahnt sie – könne nicht auslassen, was sein Herz bewegt. Er könne doch nicht seine Angehörigen vergessen, die unter dem Faschismus ermordet wurden, und sich der Aufbauarbeit zuwenden, als sei nichts geschehen. Der großartige Aufbau, die Verwirklichung des Fünfjahrplans vollziehe sich nicht nach denselben Gesetzen und mit demselben Tempo im Innern eines Menschen. Ein Schriftsteller müsse das wissen, sonst laufe er Gefahr, dass es ihm geht wie einem Arzt, der eine Krankheit geheilt glaubt, während sie sich in Wahrheit nur in tiefere Schichten des Körpers hinein verzogen hat.17 Die Folgerungen aus dieser Einsicht hat Anna Seghers auch als Autorin gezogen, indem sie die Erzählung »Der Mann und sein Name« (1952)18 schrieb. Das war ein neuartiger Zugriff zum antifaschistischen Thema. Sie erzählt die Geschichte einer Wandlung, aber in einer außergewöhnlichen Zuspitzung. Ihr Held ist ein ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS, der sich nach dem Krieg den Namen eines Widerstandskämpfers zulegt, um sich zu tarnen. Alte Faschisten helfen ihm dabei, wollen ihn zu ihrem Werkzeug machen. Der junge Mann, der sich zunächst verstellt und heuchelt, ein Antifaschist zu sein, gerät immer mehr in Widerspruch zu sich selbst und seinen alten Freunden. Die Arbeit für die neue Ordnung, das Zusammensein mit Genossen der Sozialistischen Einheitspartei, die neuen menschlichen Beziehungen und das Gefühl, gebraucht zu werden und wiedergutmachen zu können, verursachen eine tief greifende Wandlung. Er wendet sich nun gegen die Feinde der neuen Ordnung, gerät damit jedoch in einen neuen Widerspruch. Seiner gewandelten Überzeugung nach muss er bekennen, unter falschem Namen zu leben, aber sein Bekenntnis bedeutet zugleich, das er ausgeschlossen wird aus dem Kreis, in den er hineingewachsen und in dem er wirksam geworden ist. Er entschließt sich zur Ehrlichkeit, in der Hoffnung, seine Schuld sühnen zu können. Die Geschichte erzählt – ganz im Sinne der damals unter aufgeschlossenen Leuten gängigen Vorstellungen – von einem neuen Charakter der Arbeit und von neuen Beziehungen unter den Menschen. Aber sie erzählt auch von den zerreißenden Widersprüchen, die dennoch wirksam sind – und das ist der realistischere Teil des Ganzen. Gewiss hat Anna Seghers mit dieser Geschichte und der darin vorgetragenen Sicht auf die Gegenwart dazu beigetragen, dass nun eine neue Schriftstellergeneration sich selbst und ihre Erfahrungen im Krieg und im Nachkrieg zu artikulieren wagte. Wie ein Engagement für die – wie der offizielle Terminus lautete – antifaschistisch-demokratische Ordnung beitragen konnte, die eigene Vergangenheit zu bewältigen, das war für viele der jungen Autoren der fünfziger Jahre ein lebenswichtiges Thema: das Thema der Abrechnung mit der eigenen Jugend unter dem Faschismus und der Wandlung zu einer neuen Haltung und Weltanschauung. Eines der bemerkenswertesten Bücher der beginnenden fünfziger Jahre nennt Anna Seghers in ihrer Rede auf dem sowjetischen Schriftstellerkongress. Bisher – sagte sie da – sei von den Autoren der DDR noch kein bedeutendes Buch über den Krieg geschrieben worden. Aber mehrere junge Schriftsteller hätten begonnen, ihre Kriegserlebnisse zu verarbeiten. So habe Franz Fühmann in seiner Dichtung »Die Fahrt nach Stalingrad« (1953) »entscheidende Punkte herausgebracht in dem Prozess seiner eigenen Veränderung. Er schildert drei Fahrten nach Stalingrad in Gedichtform: als Soldat, als Gefangener und als Gast«19. Sie beschließen zu schweigen und glauben sich mit den faschistischen Leitbegriffen wie Kameradschaft und Treue vor sich selbst rechtfertigen zu können. Nach dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion veranlasst ein Naziführer, der Vater eines der drei Soldaten, dass der Tod des Mädchens sowjetischen Soldaten angelastet wird und – als angebliche »Vergeltung« – zwei russische Mädchen erhängt werden. Tief erschüttert bricht einer der drei Kameraden jetzt das Schweigen – und wird selber erschossen. Sein Gewissen ließ ihm keine andere Wahl. Fühmanns Poem ist nach einer Delegationsreise deutscher Schriftsteller geschrieben worden, die ihn im Mai 1953 in die Sowjetunion führte. Diese dritte Begegnung mit der Stadt Stalingrad wird für den Dichter Anlass der Selbstabrechnung – und der Selbstverständigung über die Wandlung, die er durchlaufen hat. Es ist ein autobiographisches Poem und ein Weltanschauungspoem, mit großer Ehrlichkeit geschrieben und mit großer Strenge. »O Wunder/dieser Gefangenschaft!« – heißt es darin. »Die uns einst Feinde hießen,/erkennen wir als unsere wahren Freunde;…«. Deutschland-Pathos bestimmt das Gedicht, wie es der Programmatik dieser beginnenden fünfziger Jahre entsprach: ein einheitliches, demokratisches Deutschland ohne Kriegstreiber und Monopolisten zu schaffen. Weniger polemisch formuliert bedeutet das: ein neutralisiertes Land, das sozialen Umgestaltungen aufgeschlossen gegenüber steht. Diese Hoffnung ging 1955 mit den Pariser Verträgen und der Remilitarisierung der Bundesrepublik zu Ende. Ein Grundton des Poems aber, der schon Fühmanns frühes Werk bestimmt, ist die Wendung gegen das Vergessen: »Nein, wir dürfen nicht vergessen,/bis an das Ende unseres Lebens nicht; und unsere Kinder,/sie sollen immer wissen, was geschah …«.20 Die Novelle ist in strenger und klarer Prosa geschrieben, sie eröffnet eine Reihe epischer Versuche Fühmanns, das Thema des tragischen Widerspruchs vieler junger Soldaten zu gestalten, die beeindruckt von faschistischer Ideologie, sich dennoch »anständig« zu verhalten versuchen – und angesichts der Realität des faschistischen Weltanschaungsund Vernichtungskrieges scheitern müssen. Ein Band »Stürzende Schatten« (1959)22 ist hier ebenso zu nennen wie die gesammelten Erzählungen unter dem Titel »König Ödipus« (1966).23 Dieser Band enthält neben der eindrucksvollen Titelgeschichte aus dem besetzten Griechenland mit dem aktualisierten Ödipus-Motiv auch die Erzählung »Barlach in Güstrow«, eine eindringliche Auseinandersetzung mit der beklemmenden Situation des großen Bildhauers in Nazideutschland. Und in der Erzählung »Böhmen am Meer« (1963) verschränkt der Autor kunstvoll die Geschichte einer böhmischen Umsiedlerin, die in ihrer neuen Heimat Fuß fasst, mit dem Erleben des Erzählers, welcher in Westberlin gleichzeitig den Forderungen ewiggestriger Revanchisten konfrontiert wird, die die Korrektur der Nachkriegsgrenzen fordern. Hatte Anna Seghers 1954 noch festgestellt, es gebe noch kein episches Werk, das den Romanen vergleichbar wäre, die nach dem ersten Weltkrieg in Deutschland geschrieben wurden – von Ludwig Renn bis Arnold Zweig -, so war es wiederum Fühmann, der 1955 mit seiner Novelle »Kameraden«21 den Durchbruch zu einer neuen Fragestellung erreichte. Die Handlung spielt am Vorabend des Überfalls auf die Sowjetunion. Drei deutsche Soldaten erschießen unbeabsichtigt die Tochter eines Offiziers. Mit unerbittlicher Konsequenz ist Fühmann den Problemen der Wandlung nachgegangen. In dem Band »Das Judenauto« (1962)24 sucht er in vierzehn Episoden die Etappen seiner eigenen Entwicklung nachzuzeichnen. Welcher Mechanismus ihn als Kind im Sudetenland an ein dämonisch-gefährliches »Judenauto« glauben ließ und antisemitische, rassistische Gefühle weckte; wie er als Sohn einer kleinbürgerlichen Familie zum Antikommunisten und SA-Mann gemacht wird und sich einspannen lässt in die Zerschlagung des tschechoslowakischen Staates – alles das wird erzählt und fortgeführt bis zur Entscheidung für ein Leben in der DDR. 71 Schärfer wird der Blick in den »Studien zur bürgerlichen Gesellschaft«, die unter dem Titel »Der Jongleur im Kino« (1970)25 erschienen sind. Diese vier Erzählungen handeln von Erfahrungen des Kindes mit der Erwachsenenwelt der dreißiger Jahre, mit der bürgerlichen Lebensweise. Dargestellt wird, wie die Zwänge des Besitzdenkens und der sozialen Abhängigkeit den Menschen deformieren, wie sie zu verkehrten Bildern von der Wirklichkeit und zu antihumanen Haltungen und Handlungen führen. Am Schluss steht – als böser Triumph des Kindes über die Erwachsenen – das wie eine Monstranz erhobene Hitler-Bild. Mit ihm ist die Drohung verbunden, alle zu vernichten, die den »Führer« nicht lieben wollen. Die Lust zu verletzen, andern wehe zu tun, sie einzuschüchtern und zu beherrschen, erweist sich als eine – sozial begründete – emotionale Grundlage faschistischer Denkweise und Haltung. Fühmann legt Wert darauf, dass diese Haltung durch eine politische Entscheidung nicht spurlos verschwindet. Dieses Durcharbeiten individueller und kollektiver Erfahrungen – vertieft durch Studien der Mythen als »Modelle von Menschheitserfahrung«26 – führt Fühmann schließlich zu einer grundlegenden Neubewertung seines bisher zentralen Themas: der Wandlung vom bürgerlichen zum sozialistisch engagierten Menschen. In »Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens«(1973) wird das Tagebuch einer Reise nach Ungarn zum Ausgangspunkt einer philosophish-weltanschaulichen Selbstbesinnung großen Stils. Sie umfasst eine neue Vorstellung von Dichtung, in der Mythologeme, Verallgemeinerungen von Menschheiterfahrungen, als Grundstoff und Urmuster erscheinen. Aufgabe des Chronisten sei nicht, etwas zu ändern, heißt es bei Fühmann, sondern Merkwürdiges festzuhalten. Die Funktion des Dichters ist aus solcher Sicht: jenes Stückchen Literatur zu schaffen, das nur er und kein anderer schreiben kann. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine Distanzierung von kulturpolitischen Forderungen an die Literatur, wie sie in der DDR jener Jahre gängig waren. Zugleich reflektiert Fühmann seine vergeblichen Versuche, das, was man Wandlung nennt, (92) überzeugend zu beschreiben. Damit gelangt er zu der Frage, worin denn die typischen Züge faschistischen Handelns und Denkens bestanden haben (94), und er kommt schließlich zu der erschreckenden Einsicht: »Gesetzt, du wärest nach Ausch72 witz kommandiert worden, was hättest du dort getan? … Du hättest in Auschwitz vor der Gaskammer genau so funktioniert, wie du in Charkow oder Athen hinter deinem Fernschreiber funktioniert hast«.27 Fühmann nimmt Abschied von der romantischen Auffassung von einem geistig-moralisch souveränen Individuum. Mit einer solchen Vorstellung – meint er nun – seien die Bewegungen dieses Jahrhunderts nicht mehr fassbar: »Nicht das ist der Faschismus: dass irgendwo ein Rauch nach Menschenfleisch riecht, sondern dass die Vergaser auswechselbar sind«.28 Und so formuliert er eine wichtige Einsicht von grundsätzlichem Gewicht: »Ich bin gleich Tausenden anderen meiner Generation zum Sozialismus nicht über den proletarischen Klassenkampf oder von der marxistischen Theorie her, ich bin über Auschwitz in die andere Gesellschaftsordnung gekommen. Das unterscheidet meine Generation von denen vor ihr und nach ihr, und eben dieser Unterschied bedingt unsere Aufgaben in der Literatur.«29 Natürlich ist das nicht ohne weiteres verallgemeinerbar, die Formulierung Fühmanns ist eine poetologische Prinzipienerklärung, welche zuerst und vor allem ihn selber und sein Schaffen erfasst. Aber er spricht damit doch auch eine Tendenz aus, die nicht auf den ein oder anderen Schreiber begrenzbar ist. Die Durcharbeitung von Faschismuserfahrungen im antifaschistischen Thema vollzieht sich in der Literatur der DDR in charakteristischen Etappen. In den sechziger Jahren herrschte das Bemühen vor, der Forderung Anna Seghers gerecht zu werden: epische Darstellungen des zweiten Weltkrieges zu geben. Dieter Nolls Roman »Die Abenteuer des Werner Holt«30 ist 1960 erschienen. Das Buch ist viel gelesen worden, vor allem von den jungen Menschen, die den Krieg noch hautnah erlebt hatten. Es war aber auch jenseits der Grenzen der DDR erfolgreich, weil der Autor die Mentaltität junger Hitlersoldaten in ihrer Differenziertheit begreiflich machte und zeigte, wie der Mechanismus ihrer Integration in den Raubkrieg Hitlers funktionierte. Dabei wollte er freilich nicht stehen bleiben. Er ging vielmehr darauf aus, es nicht bei der Entscheidung seines Helden gegen den Krieg und gegen den Faschismus zu belassen, sondern in anschließenden Bänden eine – nicht weniger komplizierte und umwegige – Entscheidung seines Helden für den Sozialismus herbeizuführen. An dieser künstlerischen Zielstellung scheiterte Noll freilich, wie ich meine vor allem deshalb, weil eine solche Sicht auf das Thema wenig Spielraum ließ. Sie drängt, bei allen möglichen Komplikationen, auf eine zweite Entscheidung, deren Endpunkt und Ergebnis letztlich politisch vorgegeben und vom Leser leider allzu folgerichtig abzusehen war. Das verleiht der Fortsetzung der Erzählung – selbst bei beträchtlicher Realitätshaltigkeit im einzelnen – einen unbefriedigenden, einen ermüdenden Charakter.31 Eine solche – zum mehrbändigen Entwicklungsroman tendierende – Strukturierung ist für eine ganze Reihe von Versuchen bezeichnend, von der individuellen Auseinandersetzung mit dem Kriegserlebnis zu einer als epochentypisch aufgefassten Wandlung und Persönlichkeitsentwicklung eines jungen Helden zu kommen. Dessen Entscheidung gegen den Krieg soll sich in der Entscheidung für ein sozialistisches Engagement bewähren. Auch Max Walter Schulz’ Roman »Wir sind nicht Staub im Wind« (1962)32 ist nach einem solchen Muster aufgebaut. Anders als bei Noll wird hier freilich der Versuch gemacht, die Desillusionierung der Zentralfigur Rudolf Hagedorn in der faschistischen Armee als eine Auseinandersetzung mit der Wehrlosigkeit eines Bildungshumanismus zu geben, der an Traditionen der machtgeschützten Innerlichkeit deutscher Art orientiert ist. Thomas Mann hat Pate gestanden bei diesem bildungsbewussten Buch, das klassisches Erbe und klassisches Denken in die aktuelle Auseinandersetzung des Helden einbezieht. Die Lehre des Buches läuft darauf hinaus, die Beschränkung auf eine kontemplative Verehrung und Verinnerlichung klassischer Bildungsideale reiche nicht aus, um sich der Anziehung und der Bedrohung entziehen zu können, die der Nationalsozialismus für die junge Intelligenz zweifellos besaß. Auch dieser ursprünglich auf mehrere Bände geplante Roman ist nicht zu Ende geführt worden. Aber mit der Novelle »Der Soldat und die Frau« (1978)33 erzählt Schulz die Geschichte eines deutschen Soldaten, der als Kriegsgefangener sowjetischen Menschen begegnet, russischen Frauen, deren Hass sich in Vertrautheit und schließlich elementare menschliche Gemeinschaft verwandelt. Der kleine Mann, der den Krieg der Herren führte, obwohl er weder die Herren noch den Krieg gewollt hat, erfährt in dieser legendenhaften Erzählung Solidarität, Liebe, Gemeinsamkeit und gewinnt ein bisher nie gekanntes Selbstbewusstsein. Zu nennen ist hier auch der Roman »Der Hohlweg« von Günter de Bruyn (1963).34 Der Autor hat sich später – im Jahr 1974 – in einem Essay mit dem ironischen Titel »Der Holzweg« recht kritisch mit seinem Erstling auseinandergesetzt. Vorgeschwebt habe ihm, den Bewusstseinszustand junger Menschen zu zeigen, die noch wenig Gelegenheit hatten, schuldig zu werden und das Ende des Krieges als einen geistigen Zustand der Schwerelosigkeit, der Leere, der Offenheit, der Herrschafts- und Verantwortungslosigkeit erlebten: als das »Glück der Anarchie«. Die Erinnerung an diesen selbst erlebten Zustand sei für ihn eine Art »Mythos vom verlorenen Paradies« geworden. Diese besondere Art der Befreiung, des SichLosmachens vom Faschismus aber sei im Roman nicht mehr zu erkennen. Dort werde statt des Gefühls, endlich Herr seiner selbst zu sein, allein, groß und frei, ein Gefühl der Verzweiflung und eine Haltung des Suchens beschrieben: »Die Erkenntnis, dass es kein geistiges Vakuum gibt, verführte dazu, auch das Gefühl davon zu leugnen«.35 So – meint der Autor – sei das Buch zum Klischee geworden und er habe sein Thema verfehlt. Eine solche Kritik falscher Geradlinigkeit der Entwicklung korrespondiert mit Fühmanns Überlegungen und weist damit auf die literarische Neuansätze der siebziger Jahre. Im Jahr 1948 hatte Walter Ulbricht die SED-Schriftsteller gemahnt, sie seien zurückgeblieben hinter der Gegenwart und hielten sich mit Emigrationsliteratur, KZ-Literatur oder gar mit dem ersten Weltkrieg auf, statt die Bodenreform zu gestalten.36 Der in diesem Fall sehr kurzsichtige Politiker ahnte nicht, dass ein Jahrzehnt später gerade ein Roman über die Befreiung von Buchenwald zu einen der größten Bucherfolge der DDR in der Welt werden würde: Bruno Apitz’ Roman »Nackt unter Wölfen« (1958).37 Das ist ein Roman über das Konzentrationslager Buchenwald, kein Tatsachenbericht. Neu und fesselnd war an dem Buch, dass nicht nur Leiden und Aufbegehren der Häftlinge dargestellt, sondern als Kern der Fabel die Geschichte von der Rettung eines Kindes erzählt wurde. Das war ein Hoheslied der Menschlichkeit, gerade deshalb, weil schroff ein Konflikt herausgearbeitet wurde, in dem politische Zweckmäßigkeit gegen humane Verpflichtung stand: Sollte die bewaffnete Widerstandsorganisation der Häftlinge gefährdet werden um eines Kindes will? Durfte sie gefährdet werden? Oder war nicht gerade die Rettung des Kindes ein Sieg, der mehr als irgendetwas das Selbstbewusstsein der Häftlinge heben konnte? Um solche Fragen ging es, und damit letztlich um die schwierige und gefährdete Einheit von revolutionärer Moral und humaner Solidarität. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse des XX. Parteitages der KPdSU und seiner Enthüllungen über die Ungesetzlichkeiten unter Stalin war das eine bedrängende Problematik. Und nachdem in der DDR der Übergang von der antifaschistisch-demokratischen Phase zur sozialistischen offiziell verkündet und schließlich als vollzogen erklärt wurde, rückten verschiedene Maßnahmen zur Konsolidierung und Stärkung des Staatswesen in der DDR solche Fragen individueller und kollektiver Verantwortung und Entscheidung immer wieder ins Zentrum öffentlicher Selbstverständigung. Wenn Ende der sechziger Jahre eine ganze Reihe von Büchern sich ausdrücklich wieder des scheinbar so fernen Themas von Ghetto, Lager und Zuchthaus zuwandten, so steht dahinter das Bedürfnis, sich von vereinfachenden Klischees bei der Aufarbeitung der Nazivergangenheit zu lösen, den Spuren nachzugehen, die sie hinterlassen hat. Und natürlich spielte auch das Hervortreten von neofaschistischen Tendenzen in der Bundesrepublik eine Rolle, die in beiden deutschen Staaten durchaus als bedrohlich empfunden wurde. Jurek Becker erzählte in »Jakob, der Lügner« (1968)38 die Geschichte von Jakob, der im Ghetto mit tausenden Leidensgefährten gefangen, die Hoffnung auf Rettung aufrechterhält, weil er behauptet, ein Radio zu besitzen. So erzählt er von der nahenden Roten Armee und anderen Dingen, die Rettung verheißen. Jakob ist – wenn man so will – ein Hochstapler und Schelm, aber einer, der durch »wohltätige Lügen« seinen Freunden »Kraft zum Überleben« vermittelt. Jüdisches Schicksal und Erlebnis des Widerstandes verbindet Peter Edel in seinem Roman »Die Bilder des Zeugen Schattmann« (1969)39 und dem autobiographischen Bericht »Wenn es ans Leben geht« (1979).40 Im gleichen Jahr ist auch Eva Lippolds autobiographischer Roman »Haus der schweren Tore« (1979)41 erschienen, ein Bericht von Widerstand und Haft im Nazizuchthaus, der – von Günter Rücker zum Filmszenarium frei umgestaltet – durch den Film »Die Verlobte« (1980)42 zu ei- nen tief bewegenden Erlebnis für Millionen von Zuschauern geworden ist. Die Kraft dieser Darstellung liegt nicht zuletzt in der ungeschminkten und ganz und gar unheroischen Erfassung des Alltags, des alltäglichen Lebens und der individuellen psychischen Welt der Figuren. Ein Film des großen Regisseurs Michail Romm trug den Titel »Der gewöhnliche Faschismus« (1965), und es kann als ein wichtiger Ansatz einer neuen Reflexion und Gestaltung des antifaschistischen Themas in den siebziger Jahren gelten, dass dem faschistischen Alltag, dem Alltagsfaschismus nachgegangen wird.43 In seinem Drama »Die Schlacht«44 – entstanden zwischen 1951 und 1974 – hat Heiner Müller eine rigorose Faschismuskritik gegeben. Mit Mitteln satirischer Überhöhung und grotesker Stilisierung gelingt ihm eine paradoxe Leistung: alltägliche Wirklichkeit des Lebens im faschistischen Deutschland durch die Darstellung extremer Situationen nachvollziehbar zu machen. Große Widersprüche werden erfasst, in denen alltägliches Erleben große geschichtliche Konturen erhält. Da tötet ein Widerständler seinen Bruder, weil dieser zum Verräter geworden war. Doch dass er es wurde, hat seinen Grund darin, dass ihn seine Genossen als Fremden behandeln mussten, nachdem er von den Nazis verhaftet worden war. Da werden deutsche Soldaten im Schnee im buchstäblichen Sinn zu dem, was sie im übertragenen Sinn immer waren: zu Kannibalen. Schließlich wird ein Nazi-Kleinbürger vorgeführt, der nach Hitlers Selbstmord erst seine Tochter und dann die sich sträubende eigene Frau erschießt – um dann am Leben zu bleiben. Selten sind die Deformierungen der Menschen so konsequent ausgestellt worden wie hier bei Müller. Hatte Fühmann geschrieben, die Endform der bürgerlichen Gesellschaft sei das KZ45, so sind Müllers »Szenen aus Deutschland« Warnbilder einer kollektiven Deformation, die nur mühsam aufgebrochen werden kann. Ob die notwendige Befreiung möglich ist, scheint der Autor seinen Lesern und Zuschauern freilich nicht in der Form einer nachvollziehbaren Botschaft vermitteln zu wollen. Das ist eine irritierende Wendung an die gegenwärtigen Leser und Zuschauer. Es ist nicht zu übersehen: Die Neuaufnahme des antifaschistischen Themas ist vielschichtiger und problemgeladener geworden. »Blickwechsel«46 hat Christa Wolf eine Darstellung des ersten Augenblicks der Freiheit 1945 ge73 nannt. »Ich hatte keine Lust auf Befreiung«, schreibt sie darin und schildert den Treck und die Tieffliegerangriffe, mit der emotionalen Genauigkeit wie sie ihre Ich-Figur erlebt hat. Fremd sind ihr die Vorgänge von damals, ob KZHäftlinge sich statt auf Brot auf die Gewehre im Straßengraben stürzen oder polnische Fremdarbeiter einen deutschen Gutsbesitzer beiseite schieben und seine geschwungene Peitsche wortlos zu Boden fallen lassen. Im Roman »Kindheitsmuster« (1976)47 will Christa Wolf die »Struktur der Vergangenheitsbeziehungen« ihrer Generation erforschen, indem sie drei Zeitebenen in Beziehung setzt: die Kindheit unter dem Faschismus, eine Familienreise in den Heimatort, der heute in Polen liegt, und schließlich die Zeit des Schreibvorgangs zu Beginn der siebziger Jahre. Über ihr Anliegen bemerkt sie pointiert, ein Autor, der heute über den Faschismus schreibe, habe es »bereits mit anderen Sachverhalten zu tun als die antifaschistischen Schriftsteller in der Emigration oder kurz nach dem Krieg«. Die Zeit – schreibt sie – also unsere Lebenszeit seitdem, gebe der Periode unserer Geschichte fortlaufend eine neue Dimension. Deshalb sei der Sachverhalt, der sich ihr als Stoff anbietet, nicht mehr: Faschismus (d. h. seine sozialökonomischen Wurzeln, die Eigentumsverhältnisse, aus denen er entstehen konnte etc,), sondern »die Struktur der Vergangenheitsbeziehungen meiner Generation, das heißt: Bewältigung der Vergangenheit in der Gegenwart«.48 Überwindung oder Weiterwirken der »Kindheitsmuster« in dieser Gegenwart werden reflektiert. Am Ende des Romans bleibt die Frage: »Das Kind, das in mir verkrochen war – ist es hervorgekommen? Oder hat es sich, aufgescheucht, ein tieferes, unzugänglicheres Versteck gesucht? Hat das Gedächtnis seine Schuldigkeit getan? Oder hat es sich dazu hergegeben, durch Irreführung zu beweisen, dass es unmöglich ist, der Todsünde dieser Zeit zu entgehen, die da heißt: Sich nicht kennen lernen zu wollen?«49 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 (Diesem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, der am 22. März 1985 vor japanischen Germanisten in Berlin – Hauptstadt der DDR – gehalten wurde.) 20 Professor Dr. Dieter Schiller 74 Vgl. Johannes R. Becher, Zur Frage der politischmoralischen Vernichtung des Faschismus (1945), in: derselbe, Publizistik 2 1939–1945 (Gesammelte Werke Band 16), Berlin und Weimar 1978, S. 403 ff. Vgl. auch Dieter Schiller, Bechers Gedanke einer demokratischen Erneuerung der deutschen Kultur und der Kulturbund 1943–1947, in: Bulletin des Arbeitskreises »Zweiter Weltkrieg« Nr. 1–4, 1985, S. 165–181. Johannes R. Becher, Bemerkungen zu unseren Kulturaufgaben (1944), in: Johannes R. Becher, Publizistik 2, S. 362 ff. Johannes R. Becher, Gedichte 1942–1948 (Gesammelte Werke Band 5), Berlin und Weimar 1967, S. 538. Vgl. Fritz Selbmann, Aufbruch des Geistes. Zur Frage der neuen deutschen Volkskultur. Referat auf der Kulturtagung des Antifaschistischen Blocks, Leipzig, 29. Juni 1945, Hg. Zentralausschuss Antifaschistischer Block Leipzig, S. 4. Bernhard Kellermann: Was sollen wir tun? Auferstehung aus Schutt und Asche. Berlin 1945 Bernhard Kellermann: Totentanz, Berlin 1948; weitere Ausgaben: 1951, 1960, 1983. – Vgl. Bernhard Kellermann, Eine Nachlese 1906–1951, hrsg. v. H.D. Tschärtner. Berlin 1979, S. 45 ff. Hans Fallada, Jeder stirbt für sich allein. Berlin 1947. Die Ausgabe besorgte Paul Wiegler. – Auch: Hans Fallada: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben VIII, hrsg. v. Günter Caspar. Berlin und Weimar 1981. Theodor Plievier, Stalingrad, Berlin 1945. Elisabeth Langgässer, Das unauslöschliche Siegel. Hamburg 1946. – Vgl. dazu ergänzend Dieter Schiller, Drama zwischen Gott und Satan. Elisabeth Langgässers Auseinandersetzung mit dem Faschismus in »Das unauslöschliche Siegel«, in: Erfahrung Nazideutschland. Romane in Deutschland 1933–1945, hrsg. v. Sigrid Bock und Manfred Hahn, Berlin und Weimar 1987, S. 412 ff. Walter Dirks, Elisabeth Langgässer, in: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik. Frankfurt am Main, 3. Jg., Heft 12/1948, S. 1127. Anna Seghers, Die Toten bleiben jung. Roman. Berlin 1949. – Vgl. auch Sigrid Bock, Erziehungsfunktion und Romanexperiment. Anna Seghers: Die Toten bleiben jung, in: Erfahrung Exil. Antifaschistische Romane 1933–1945, hrsg. von Sigrid Bock und Manfred Hahn, Berlin und Weimar 1979. Johannes R. Becher, Publizistik 2, S. 403. Anna Seghers, Volk und Schriftsteller, in: Anna Seghers: Aufsätze, Ansprachen, Essays 1927– 1953 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben Band XIII), Berlin und Weimar 1980, S. 114 ff. Anna Seghers, Aufgaben der Kunst, in: ebenda, S. 168 ff. Friedrich Wolf, Wie Tiere des Waldes. Ein Schauspiel von Hetzjagd, Liebe und Tod einer Jugend, in: derselbe, Gesammelte Dramen Band IV, Berlin 1952, S. 195 ff. – Geschrieben 1947 in Berlin. Willi Bredel, Das schweigende Dorf und andere Erzählungen, Rostock 1949. – Siehe auch Willi Bredel, Auf den Heerstraßen der Zeit. Erzählungen, Berlin 1957, S. 526 ff. Anna Seghers, Aufsätze, Ansprachen, Essays, S. 336 f. Anna Seghers, Der Mann und sein Name, Berlin 1952. Anna Seghers, Zum zweiten Kongress der Sowjetschriftsteller, in: dieselbe, Aufsätze, Ansprachen, Essays 1954–1979 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben Band XIV), Berlin und Weimar 1980, S. 39. – Anna Seghers schätzte die Dichtung Fühmanns und hat eine essayistische Studie mit dem Titel »Fahrt nach Stalingrad« darüber veröffentlicht. Vgl. Aufsätze, Ansprachen Essays 1954–1979, S. 49 ff. – Fühmann hat diese frühe Arbeit nicht in seine Werkausgabe aufgenommen. Franz Fühmann, Die Fahrt nach Stalingrad. Eine Dichtung, Berlin 1953, S. 49 und 60 f. 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 Franz Fühmann, Kameraden. Novelle, Berlin 1955. Franz Fühmann, Stürzende Schatten. Novellen. Illustrationen von Hans und Lea Grundig, Berlin 1959 (Enthält: Das Gottesgericht, Kapitulation, Das Erinnern). Franz Fühmann, König Ödipus. Gesammelte Erzählungen, Berlin und Weimar 1966. Franz Fühmann, Das Judenauto. Vierzehn Tage aus zwei Jahrzehnten, Berlin 1962. Franz Fühmann, Der Jongleur im Kino oder Die Insel der Träume, Rostock 1970. Franz Fühmann, Das mythische Element in der Literatur, in: derselbe, Erfahrungen und Widersprüche. Versuche über Literatur, Rostock 1975, S. 164. Franz Fühmann, Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. Rostock 1973, S. 198 ff.; vgl. auch S. 36, 41, 79, 92, 181 ff. Ebenda, S. 198. Ebenda, S. 200. Dieter Noll, Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Jugend, Berlin 1960. Dieter Noll, Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Heimkehr, Berlin 1963. Max Walter Schulz, Wir sind nicht Staub im Wind. Roman einer unverlorenen Generation. Buch 1, Halle 1962. Max Walter Schulz, Der Soldat und die Frau. Novelle, Halle-Leipzig 1978. Günter de Bruyn, Der Hohlweg. Roman, Halle 1963. Eröffnungen. Schriftsteller über ihr Erstlingswerk, hrsg. v. Gerhard Schneider, Berlin und Weimar 1974, S. 138 ff., insbes. S. 141. Walter Ulbricht, Der Künstler im Zweijahrplan. Diskussionsrede auf der Arbeitstagung der SEDSchriftsteller und Künstler. 2. September 1948, in: derselbe, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen. Band III: 1946–1950, Berlin 1953, S. 313 Bruno Apitz, Nackt unter Wölfen. Roman. Halle 1958. Jurek Becker, Jakob der Lügner, Berlin und Weimar 1969. Peter Edel, Die Bilder des Zeugen Schattmann. Ein Roman über deutsche Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1969. Peter Edel, Wenn es ans Leben geht. Meine Geschichte. Erster und zweiter Teil, Berlin 1979. Eva Lippold, Haus der schweren Tore. Roman, Berlin 1971; Leben, wo gestorben wird. Berlin 1974 Günther Rücker, Die Verlobte, in: derselbe, Die Verlobte u. a. Berlin 1988, S. 361 ff. – Der Film »Die Verlobte« (Regie Günther Rücker/Günter Reisch) hatte am 2. September 1980 Premiere. Vgl. hierzu auch: Rolf Richter, Reicht es aus, sich mit dem Alltag zu befassen? Zur Analyse und Kritik der nichtmarxistischen Alltagsgeschichtsschreibung, in: Konsequent, Westberlin, H. 4/1982, S. 81–91 u. derselbe, Zur Analyse und Kritik der nichtmarxistischen Geschichtsschreibung über den Alltag im deutschen Faschismus, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft 6/1983, S. 824–834. Heiner Müller, Die Schlacht. Szenen aus Deutschland, in: derselbe, Die Schlacht/Traktor. Leben Gundlings. Friedrich von Preußen. Lessings SchlafTraumSchrei. Mit einem Nachwort von Joachim Fiebach, Berlin 1977, S. 7 ff. Franz Fühmann, Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens, S. 195. Christa Wolf, Blickwechsel, in: Der erste Augenblick der Freiheit, hrsg. v. Elli Schmidt, Rostock 1970, S.329 ff. Christa Wolf, Kindheitsmuster, Berlin und Weimar 1976. Christa Wolf, Fortgesetzter Versuch. Aufsätze, Gespräche, Essays, Leipzig 1982, S. 92. Christa Wolf, Kindheitsmuster, S. 530. 75 BERICHTE UND INFORMATIONEN 2. Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Rechtsextremismus/Antifaschismus der Linkspartei im Jahre 2008 Am 6. Dezember 2008 fand im Berliner Karl-Liebknecht-Haus die zweite Tagung der BAG statt. Horst Helas konnte dazu für den Sprecherrat 40 Mitglieder und Gäste begrüßen, darunter Vertreter mehrerer antifaschistischer Organisationen und erstmals auch Vertreter der Landesarbeitsgemeinschaft Antifaschismus der Linkspartei aus dem Saarland. Im ersten Tagesordnungspunkt erörterten die Beratungsteilnehmer – ausgehend von den Erfahrungen der letzten Monate und mit Blick auf die Vorbereitung wichtiger Wahlen im Jahre 2009 – aktuelle Einschätzungen zum Rechtsextremismus und zu den Gegenstrategien. Impulse dafür gab zunächst das Mitglied der Bundestagsfraktion Die Linke MdB Ulla Jelpke. Außerdem hatte der Sprecherrat in Vorbereitung der Beratung ein Diskussionspapier »Rechtsextremismus und Antifaschismus in Deutschland« versandt und auch mit dem neuen Rundbrief 4/2008 lagen weitere Einzelanalysen zur Situation in den Bundesländern vor. Ulla Jelpke vermittelte eingangs einen Überblick über das gegenwärtige Agieren der drei wichtigsten Strömungen des Rechtsextremismus im Lande: die eher rechtspopulistischen Kräfte (hier unter anderem die Pro-Bewegungen und die nicht mehr vom Verfassungsschutz beobachteten Republikaner), die neonazistischen Parteien (NPD, DVU), die militant und aggressiv auftretenden Gruppierungen (von der Kameradschaftsszene bis hin zu den erstarkenden »Autonomen Sozialisten«). Dabei verdient die NPD nach wie vor besondere Aufmerksamkeit, die mit ihren zur Zeit 7.300 Mitgliedern inzwischen auch die weiter an Einfluss verlierende DVU überholt hat, die verstärkt ihren völkischen »Antikapitalismus« propagiert und versucht, den Spagat zwischen den eher auf »Ankommen« in der bürgerlichen Mitte ausgerichteten Kräften und ihrem mit den »Freien Kräften« operierenden militanten Flügel auszuhalten. Jelpke betonte, dass aus den für diese meist enttäuschenden Wahlergebnissen im letzten Jahr und aus den fortwährenden personellen und finanziellen 76 Krisen rechtsextremer Parteien keinesfalls eine Entwarnung vor den bestehenden Gefahren herausgelesen werden kann. Aus ihrer Erfahrung im Bundestag setzte sich die Referentin mit den verschiedenen Standpunkten zu einem Verbot der NPD auseinander. Da es sich zeigt, dass bei vielem Wortgeklingel von Seiten anderer Parteien eine ernsthafte Bekämpfung dieser neonazistischen Partei fehlt, bleibt für die Linke als nächster Schritt neben der ständigen Entlarvung der NPD auch weiterhin die Forderung nach Abschaltung der V-Leute des Verfassungsschutzes auf der Tagesordnung. Für die Wahlen im Jahre 2009 müssen auch die Aktivitäten der Pro-Bewegung, die zum Beispiel in NordrheinWestfalen bei den Kommunalwahlen flächendeckend antreten will, die der Republikaner und ähnlicher Kräfte im Visier behalten werden, die allesamt auf einer nationalistischen, rassistischen und ausländerfeindlichen Plattform agieren. In der anschließenden regen Diskussion wurde ein breiter Fragenkreis berührt – von der Zunahme der rechtsextremen Militanz und Gewalt in einigen Bundesländern (unter anderem in RheinlandPfalz und im Berliner Umland), der Einschätzung der Situation in der NPD, der Beurteilung von Wahlergebnissen, der Rolle der Musik für den Einfluss der Neonazis bis zur Reaktion der rechtsextremen Parteien auf die weltweite Finanzkrise. Einen besonderen Schwerpunkt bildeten dabei Erfahrungen aus den Kommunen. Aus dem Einzug einer ganzen Reihe von Neonazis in die kommunalen Parlamente, wie jüngst bei den Kommunalwahlen in Brandenburg im September 2008, ergeben sich neue Probleme. Auch wenn eine Anzahl dieser Leute erst sehr geringe Erfahrungen in ihrem parlamentarischen Auftreten hat, so sind doch die Anstrengungen der Neonazis zu deren Schulung und zur Koordinierung überörtlich nicht zu übersehen. Wie die sächsischen NPD-Erfolge bei den Kreistagswahlen zeigen, sind diese auch das Sprungbrett für weitere Aktivitäten bei Landtagswahlen und darüber hinaus. Für die Linke ergeben sich deshalb Notwendigkeiten einer verstärkten Hilfe in schriftlicher und mündlicher Form für ihre Vertreter in den kommunalen Parlamenten, wie unter anderem Reiner Tietz und Gerhard Seifert an Beispielen aus dem Kreis Oberhavel demonstrierten. Aus Beiträgen zur Heranziehung historischer Erfahrungen für die kommenden Auseinandersetzungen (die unter anderem von Rolf Richter und Heinz Engelstädter vorgetragen wurden) ergab sich, dass der Kampf um die Aufrechterhaltung demokratischer Verhältnisse angesichts der zahlreichen Versuche, demokratische Rechte der Bürger auch von Regierungsseite her zu beschneiden und angesichts immer neuer Provokationen der Neonazis im Straßenkampf, nach wie vor höchste Priorität genießen muss. Stets braucht es breite, demokratische Bündnisse und zivilgesellschaftliches Engagement, besonders auch dort, wo es gilt, junge Menschen vor neonazistischem Einfluss zu schützen. Und massenpsychologisch – so wurde ebenfalls mit Bezug auf geschichtliche Lehren und auf Erfahrungen im antifaschistischen Kampf beruhend hervorgehoben – müssen dabei stets die sozialpolitischen Forderungen im Vordergrund stehen, um der Demagogie der Neonazis keinen Raum zu lassen. Wichtige Informationen enthielt auch der Beitrag des Bundessprechers der VVN-BdA, Prof. Gerhard Fischer. Er würdigte die Erfolge der Kampagne 2008 »NPD-Verbot jetzt!«, deren Ergebnisse mit 175.000 Unterschriften vom Bundestag letztlich doch nicht einfach weggewischt werden konnten und dankte für die Unterstützung, die auch aus den Reihen der Linkspartei kam. Auch im nächsten Jahr wird die NPD keine Ruhe haben, es wird Fortsetzungen der Kampagne geben, auch das Logo »NoNPD« wird uns weiter begleiten. Im zweiten Punkt der Tagesordnung beschäftigten sich die Teilnehmer der Beratung mit der Situation in den Gedenkstätten für die Opfer der faschistischen Diktatur, darunter mit der sogenannten Gedenkstättenkonzeption der Bundesregierung. Anerkennende Worte fanden sie für die fleißige Arbeit der Mitarbeiter in den Gedenkstätten und den Einsatz vieler Zeitzeugen für den Erhalt und die Betreuung der Besucher der Einrichtungen. Besondere Anerkennung zollten sie intensiver Jugendarbeit in manchen Gedenkstätten, über die zum Beispiel Peter Hochmuth von der Lagergemeinschaft Buchenwald und Karl-Heinz Lutkat von der verdi-Jugend berichteten. Gleichzeitig hielten sie mit ihrem Unverständnis und ihrer Kritik an dem Dokument der Bundesregierung nicht zurück, die mit der Vermischung der Gedenkstätten-Konzeptionen für die Opfer der Nazidiktatur und der »DDR-Diktatur« und der Schwerpunktsetzung der Förderung auf letztere dem Geschichtsrevisionismus Tür und Tor öffnet und neue Instrumente zur »Delegitimierung« der DDR schafft. Dr. Detlef Kannapin, Mitarbeiter der Bundestagsfraktion Die Linke, zeichnete in seinem einführenden Vortrag den Werdegang der Konzeption der Bundesregierung nach, die auch nach vielen Diskussionsrunden in der nun im November von der Mehrheit des Bundestages gebilligten Fassung keinen wirklich akzeptablen Rahmen gefunden hat. Zwar konnte im Verlauf der letzten beiden Jahre die im ersten Entwurf praktisch geleugnete Singularität der faschistischen Verbrechen nun im Dokument verankert werden, doch bleibt dieses Papier in seiner antikommunistischen Diktion. Mussten zum ersten Entwurf auch Leiter der Gedenkstätten für die Opfer des Faschismus feststellen, dass hier ein regelrechter »geschichtsrevisionistischer Putsch« versucht wurde, so bleibt nach dessen Entschärfung auch heute die Absicht deutlich und die Gefahr reaktionären Missbrauchs virulent. Kommt die Konzeption doch nicht nur jenen entgegen, die ganz offenkundig die gesamte Geschichte der DDR hinter Stasi-Gebäuden und die hinter den Erinnerungen an die Sonderlager der sowjetischen Besatzungsmacht in Buchenwald und Sachsenhausen die KZGedenkstätten verschwinden lassen wollen. Sie steht auch nicht zufällig im Rahmen der CDU-Debatten über den Umgang mit der eigenen Geschichte, über die Erinnerungen in der Bevölkerung an die DDR und um die künftige antikommunistische Beeinflussung der Schüler. Auch die Einrichtung eines Zentrums in Berlin, das Erika Steinbachs Versionen von Vertreibungen darstellen soll und die Schaffung neuer Denkmale für tote Bundeswehrsoldaten und vor dem Neubau des Berliner Schlosses hat damit zu tun. In der Diskussion wurde betont, dass beträchtliche Mittel in die Baulichkeiten der KZ-Gedenkstätten investiert wurden, dass es aber gleichzeitig dort nicht genügend Gelder für die notwendige pädagogische Arbeit und dazu gehörende Ausstellungen gibt. Hinsichtlich der immer weniger werdenden Zeitzeu- gen wurde vermerkt, dass es wichtig ist, deren Wissen und Erfahrungen solange wie möglich gerade im Gespräch mit Jugendlichen zu nutzen, dass es aber auch gilt, die von ihnen hinterlassenen schriftlichen und audiovisuellen Quellen vor Verfälschungen zu schützen. Heute führt die Konzeption der Bundesregierung zur Förderung der Gedenkstätten bei denen mit »doppelter Vergangenheit« wie Sachsenhausen und Buchenwald dazu, dass bewusst mehr Gelder für die Darstellung der »Sonderlager« fließen, während andererseits zu den Rettern vor dem Faschismus immer weniger gesagt wird. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass es in den alten Bundesländern auch eine Erinnerung an die »doppelte Vergangenheit« mancher Einrichtungen geben müsste. So ist zwar das Gefängnis Wolfenbüttel als faschistische Kerkerund Opferstätte bekannt, verschwiegen wird aber, dass es nach 1945 in den Jahren des kalten Krieges gleich wieder als Kerker für Antifaschisten, Kommunisten und Kriegsgegner diente. Am Schluss der Beratung erläuterte Dr. Gerd Wiegel die Vorbereitungen für eine zentrale Konferenz der Bundestagsfraktion Die Linke und der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Rechtsextremismus, die am 24. und 25. Januar 2009 im Berliner Abgeordnetenhaus stattfinden wird. Dr. sc. Roland Bach 77 78 »Es brennt!« Eine Ausstellung zum antijüdischen Terror im November 1938 Am 6. November 2008 wurde eine neue Ausstellung in Berlin eröffnet. Im Centrum Judaicum ist sie bis 1. März 2009 zu sehen. Und es gibt einen reich illustrierten und informativen Begleitband zur Ausstellung – zum erschwinglichen Preis von 15 Euro. Die drei für Ausstellung und Publikation projektverantwortlichen Stiftungen (Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum; Stiftung Topographie des Terrors; Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas) haben untertrieben, indem sie diesen Band als »Katalog« bezeichneten. Erschienen ist vielmehr eine gelungene Mischung aus Essay-Band und Ausstellungskommentierung. Bilder einer Ausstellung sollte man nicht zu beschreiben versuchen. Die ganz individuelle Betrachtung macht doch den Reiz aus, auch in diesem besonderen Falle. Mir fiel als Gemeinsames an den kaum bekannten Fotos vom Novemberpogrom 1938 besonders auf: Die Spuren von Gewalt sind im Straßenbild unübersehbar gewesen, ebenso das Nichtstun vieler Gaffer und das Tun von sich an fremdem Eigentum bereichernden Raffern. Das Gezielte der Aktion vom November 1938 wird erkennbar, wenn Straßenzüge zu sehen sind, wo zerschlagene Schaufensterscheiben neben unberührten Geschäftsauslagen zu sehen sind. Aus Nachbarn waren Juden geworden. Der Begleitband/Katalog wird eingeleitet durch drei kurze Beiträge: Einem Vorwort der Direktoren der genannten Stiftungen (Dr. Hermann Simon, Prof. Dr. Andreas Nachama und Uwe Neumärker), einem Grußwort des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit, sowie einem Text des Direktors des Zentrums für Anti- semitismusforschung an der TU Berlin, Prof. Dr. Wolfgang Benz. Der erste Teil des Bandes beschreibt verschiedene Aspekte der Vorgeschichte und des Verlaufs des Pogroms. Im Zentrum stehen die zeitgenössischen Fotos. Zwei am Beginn dieses Abschnitts (S. 46 f.) gegenübergestellte historische Karten gewinnen ihre Aussagekraft nicht durch die Detailgenauigkeit als Wegweiser zur Suche nach historischen Orten. Sie bestechen durch zwei Aussagen. Die Dichte jüdischer Einrichtung, die für das Deutschland der Weimarer Republik davon zeugten, dass jüdisches Leben zum Alltag gehörte. Und die Dichte der Übergriffe im November 1938. 1283 Synagogen und jüdische Betesäle wurden im November 1938 zerstört. Die Forschungen sind nicht abgeschlossen, immer wieder kommen weitere, bislang nicht bekannte Beispiele hinzu. Angemerkt sei, dass auch ein weit verbreiteter Irrtum aufgeklärt wird, er betrifft die Neue Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße. »Das Foto, das die brennende Synagoge im November 1938 zeigt, ist um das Jahr 1948 entstanden. Dabei handelt es sich um eine Fälschung: Flammen sind in eine Aufnahme, die nach dem Bombenangriff (vom November 1943) gemacht wurde, hineinretuschiert worden. Dennoch dient dieses Foto immer wieder dazu, die Geschehnisse des November 1938 zu illustrieren.« (S. 103) Der Teil zwei des Begleitbandes/Kataloges umfasst sechs Beiträge, die bloße Nennung ihrer Titel soll die Neugier potentieller Leser fördern: Frühe Berichte von Verfolgten des antijüdischen Terrors im November 1938 (Ulrich Baumann); Der Novemberpogrom 1938 im Spiegel diplomatischer Berichte aus Berlin (Hermann Simon); Reaktionen auf den Novemberpogrom in der jüdischen Pres- se in Polen 1938/39 (Ingo Loose); Zur bildlichen Überlieferung des Novemberpogroms (Klaus Hesse); Die justizielle Ahndung von »Reichskristallnacht«-Verbrechen durch die westdeutsche Justiz seit 1945 (Edith Raim); Das Gedenken an den Novemberpogrom 1938 (Andreas Nachama). Der Begleitband/Katalog wird im Anhang durch ein Orts- und Personenregister sowie Literaturempfehlungen komplettiert. Die Verantwortlichen für Ausstellung und Katalog sehen ihr Wirken als Beitrag, »den 9. November 1938 als Gedenktag für die jüdischen Opfer aus dem Deutschen Reich wieder in den Vordergrund der deutschen Erinnerungskultur zu rücken«. (S. 9) Dass dies im Herbst 2008 in hohem Maße gelungen ist, davon zeugt eine große Zahl von Initiativen, Veranstaltungen und Ausstellungen überall in Deutschland. Leider gibt es aber auch eine andere Tendenz. Mehr als in den Jahren zuvor berichteten die Medien in den Tagen des Jubiläums über Fälle von Gewalt gegenüber Juden als Personen und jüdischen Einrichtungen sowie über notwendigen Bürgerprotest gegen rechtsextremistische Verunglimpfung dieses Gedenkens. Aachen, Berlin, Erfurt, Fulda, Gotha, Moers, Schöneiche, Waren, Wetter und andere Orte wären hier zu nennen. Die Anstrengungen zur Zurückweisung jeglicher Erscheinung von Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft – immer sofort, überall und mit aller Konsequenz – bleibt eine zentrale Aufgabe. Schließlich die übliche Anregung: Die Ausstellung selbst besuchen, den Katalog kaufen und Freunde wie Bekannte auf beides hinzuweisen. Dr. Horst Helas 79 »Stille Helden« – Noch eine Gedenkstätte in Berlin? Ja, und das ist gut so. Am 27. Oktober 2008 wurde die neue Gedenkstätte Stille Helden feierlich eröffnet, unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit. Auf zwei Ausstellungsetagen werden am Hackeschen Markt ausgewählte Beispiele jahrelanger Forschungen vorgestellt. In einem Begleitbuch zur Präsentation kann man dazu Näheres nachlesen.1 Im Buch wie in der Dauerausstellung werden unterschiedliche Hilfsaktionen erläutert, die alle einem gemeinsamen Ziel dienten: bedrängten Juden in Deutschland zu helfen – auf dem Weg ins rettende Exil oder in die Illegalität mitten in Deutschland. Allein 1.700 Frauen, Männer und Kinder versteckten sich als so genannte UBoote in Berlin, 3.000 waren es in ganz Deutschland. Porträtiert werden bekannte Helfer wie Oskar und Emilie Schindler oder der Helferkreis in Berlin um Maria Grä- 80 fin von Maltzan. Aber auch an weniger bekannte, mutige Menschen, die keine Juden waren (nach NS-Terminologie »Arier«) und mit ihren Taten das eigene Leben gefährdeten, wird erinnert. Die neue Gedenkstätte ist eine Zweigstelle der von Prof. Dr. Johannes Tuchel geleiteten Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Dr. Beate Kosmala und Barbara Schieb, die seit Jahren nach »Stillen Helden« suchten, erhielten in der Rosenthaler Straße 39 eine neue Wirkungsstätte mit verbesserten Arbeitsbedingungen. Sie sammeln weiter Berichte, Fotos und Dokumente. Jede mündliche Erinnerung ist willkommen und wird in Bild und Ton festgehalten.2 Für die Gedenkstätte Stille Helden wurde mit der Adresse Rosenthaler Straße 39 ein besonders günstiger Ort gefunden. Dies meint nicht nur die verkehrsgünstige Lage am S-Bahnhof Hacke- scher Markt. Unter dieser Adresse kann man nun gleich drei Orte des Gedenkens an früheres Jüdisches Leben besuchen. Die anderen beiden, die sich schon längere Zeit regen Zuspruchs erfreuen, sind das Anne-Frank-Zentrum Berlin3 und das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt.4 Berlinern und Berlin-Besuchern, allen Geschichtsinteressierten und namentlich vielen Schülern mit engagierten Lehrern sei dieser »Geheimtipp« für eine historische Spurensuche wärmstens ans Herz gelegt. Dr. Horst Helas 1 2 3 4 Siehe: Gedenkstätte Stille Helden. Eine Dokumentation der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 2008. Kontaktadressen: [email protected]; [email protected] Siehe: www.annefrank.de Siehe: [email protected] 81 ZUR DISKUSSION Anmerkungen zu einer strittigen Frage – Zu Horst Helas’ Artikel zum Antisemitismus in der DDR Horst Helas ist nicht der Einzige, der hinsichtlich der Anfänge der PDS die Feststellung betont, man habe endgültig und für ewig dem Stalinismus Valet gesagt. 1 Es ist allerdings schon merkwürdig, dass regelmäßig nur die verkündete konsequente Überwindung des Stalinismus als das zu Merkende des Außerordentlichen Parteitages der SED/PDS vom Dezember 1989 genannt wird. Das ist die Negativaussage über das, was die Partei niemals mehr sein dürfe: stalinistisch. Selbstverständlich ist es richtig, beim Rückblick auf die Geschichte der DDR dort, wo stalinistische Praxis vollzogen wurde, diese auch zu benennen und zu kritisieren. Allerdings sollte das dann auch korrekt geschehen. Die Überwindung des Stalinismus wie von Gebetsmühlen herabzubeten, ohne exakte Angaben darüber, was als schändliche Praxis angesehen werden muss, verzichtet auf geschichtliche Wahrheit. Offenbar meint man aber, dass alles abstrafbar ist, wenn es nur gehörig oft behauptet wird. Wozu auch die inzwischen als antisemitisch verteufelte DDR gehört, in der es, was nicht bestritten werden kann und soll, zeitweilig antisemitisches Verhalten gab. Warum verweist man eigentlich immer wieder lediglich und nur auf die Überwindung des Stalinismus und »vergisst«, über den Bericht an den Parteitag zum Stalinismus hinauszugehen und sich des Beschlussentwurfs und des Statuts zu erinnern? Dort nämlich sind in der Zielstellung auch das Konstruktive formuliert, das den Inhalt der Parteinahme und – arbeit der entstalinisierten Partei bestimmen sollte. In der »Zusammenfassung« zum Beschlussentwurf der Redaktionskommission, die von Lothar Bisky vorgetragen wurde, heißt es unter anderem, dass eine neue sozialistische Partei entstehen solle, »die die Traditionen der Arbeiterbewegung fortsetzt. Sie knüpft an sozialdemokratisches, sozialistisches, kommunistisches, antifaschistisches und pazifistisches Erbe an. … Unsere Partei stützt sich in ihrer Politik auf die modernen Gesellschaftswissenschaften. Marx und Lenin sind uns dabei historisches 82 Vorbild.«2 Und in der Präambel des Statuts, das am 17. Dezember 1989 beschlossen wurde, heißt es: »Die Partei ist eine marxistische sozialistische Partei. … Theoretische Grundlage der Partei ist der Marxismus. … Ziel der Partei ist ein neuer menschlicher, demokratischer Sozialismus in der DDR, jenseits von Profitwirtschaft, Ausbeutung und administrativ-bürokratischem Sozialismus. … Die Partei kämpft entschieden gegen jede Form von Nationalismus, Faschismus, Rassismus und Chauvinismus. … Die internationale Solidarität mit allen um nationale und soziale Befreiung Kämpfenden ist ihr ein wesentliches Anliegen.«3 Dazu würde dann auch eine objektive Betrachtung der Frage gehören, ob und inwieweit es Antisemitismus in der DDR gegeben hat. Nun muss man feststellen, dass die genannte Politikbestimmung der SED/ PDS Schritt für Schritt einer Wandlung unterlag und unterliegt, wobei ein tendenzielles Abgehen vom Marxismus und eine sukzessive Sozialdemokratisierung nicht zu übersehen sind. Schritt für Schritt ist in den nachfolgenden Jahren von dieser klaren Inhaltsbestimmung der Partei Abstand genommen worden. Dennoch wäre es wohl sinnreich, sich auch dieser Ausgangssítuation immer wieder zu erinnern, wenn man mit Verve auf die Ablehnung des Stalinismus verweist. Der Kampf gegen den Rassismus war in der DDR Realität. Bedauerlicherweise gab es zu einem bestimmten Zeitpunkt – in den 50 er Jahren – Verstöße gegen das hehre Ziel auch dadurch, dass jüdische Personen bestimmten Sanktionen ausgesetzt waren bzw. aus Furcht vor derartigen Repressionen die DDR fluchtartig verließen. Diese Phase wurde überwunden, obwohl kritisch zu vermerken ist, dass eine offene Kritik und Selbstkritik der Verantwortlichen für diese dem Charakter nach auch antisemitischen Entgleisungen leider nicht erfolgte. Was jedoch durchaus der üblichen Praxis der Parteiführung entsprach, Negatives »im Vorwärtsschreiten« zu überwinden und sich nicht durch »rückwärtsgewandte Diskussion« hemmen zu lassen. Aber man wird wohl kaum, sofern man nicht konsequenter Ignorant ist, ableugnen können, dass die DDR in der internationalen Auseinandersetzung Front gegen Rassismus machte, was nicht zuletzt die Entkolonisierung verlangte. Die DDR stand auf der Seite jener, die die nationale Befreiung erstritten. Was letzten Endes auch die Unterstützung der Palästinenser und der PLO erklärt, die unter anderem einen sichtbaren Ausdruck in der Anerkennung von Yassir Arafat als ihrem politischen Repräsentanten fand. Diese Tatsache löste bei den politischen Spitzen Israels keine Freude aus. So wie auch die Annäherung der DDR an Staaten des Nahen Ostens, mit der unter anderem die gegen die Souveränität und internationale Anerkennung der DDR gerichtete bundesdeutsche Hallstein-Doktrin durchbrochen werden konnte, missbilligt wurde. Die israelische Seite hatte sich nach der Staatsgründung, die mit Billigung der UdSSR stattfand, sukzessive nach Westen orientiert. So wie die UdSSR diese Hinwendung nicht begrüßte, verhielt sich auch die DDR. Wenn der DDR das Fehlen diplomatischer Beziehungen zu Israel angelastet wird, dann muss deutlich gemacht werden, dass Israel als der früher konstituierte Staat das Angebot an den später entstandenen Staat hätte unterbreiten müssen. Israel hat weder dies getan, noch der Aufnahme der DDR in die UNO zugestimmt als das auf der Tagesordnung stand. Prinzipiell falsch ist die Praxis, Israel, den Zionismus und das Judentum, was durchaus unterschiedliche Sachverhalte sind, zu vermengen und daraus Antisemitismus abzuleiten. Dass die DDR den Zionismus einseitig für einen bürgerlichen aggressiven Nationalismus hielt, der zur Legitimierung des Handelns Israels genutzt wurde, traf mit Sicherheit nicht auf alle Formen des Zionismus zu, war jedoch kein Antisemitismus. Man sollte sich auch daran erinnern, dass nicht wenige dem Judentum angehörende Bürgerinnen und Bürger durchaus Kritiker des nationalistischen Zionismus waren und sind. Dass Israel sich als ein Staat des westlichen Weltlagers mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen der Klassenauseinandersetzung gegenüber der DDR antikommunistisch verhielt, um den heutzutage verpönten, jedoch kennzeichnenden Begriff zu gebrauchen, hatte entsprechende Wirkungen, wie sie sich für die DDR im Verhältnis zu allen Staaten des imperialistischen Lagers ergaben. Antisemitismus war diese Haltung jedenfalls nicht. Dass die DDR an Israel keine Wiedergutmachung leistete, war kein Antisemitismus, sondern die Konsequenz aus dem, was die DDR im Gefolge der Niederlage des deutschen Faschismus an Wiedergutmachung gemäß dem Potsdamer Abkommen bereits geleistet hatte. Im Verständnis Israels hat die DDR keine Wiedergutmachung geleistet. Im Verständnis der DDR ist diese eine Wiedergutmachung in zweifacher Hinsicht realisiert worden: Erstens durch die Beseitigung der ökonomischen, politischen und ideologischen Grundlagen für die beispiellose Vernichtung von jüdischen Menschen, wie sie der deutsche Faschismus unter der menschenverachtenden Losung einer »Endlösung der Judenfrage« vollzogen hatte; zweitens durch die Reparationsleistungen an die Sowjetunion als Folge des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion. Israel hat nie akzeptiert, dass die DDR nach 1945 als Konsequenz aus der faschistischen Aggression eine Wiedergutmachung zu leisten hatte, die im Potsdamer Abkommen und anderen alliierten Dokumenten in Gestalt der Reparationen eingefordert wurde. Diese Reparationen gingen nach alliierten Festlegungen an die UdSSR. Die Sowjetunion hatte ihre Reparationsforderungen gegenüber Deutschland auf 10 Milliarden Dollar zu den Preisen von 1933 beziffert. »Gemäß der von den Westmächten auf der Potsdamer Konferenz maßgeblich beeinflussten Reparationsregelung war die Sowjetunion darauf angewiesen, die ihr zuerkannten Reparationsansprüche fast ausschließlich aus ihrer Besatzungszone zu befriedigen. Die vereinbarten ergänzenden Lieferungen aus Demontagen in den Westzonen waren relativ gering; eine Einigung über die dafür auszusuchenden Objekte erwies sich als schwierig, und der Realisierung erfolgte schleppend oder gar nicht.«4 Die Reparationen erfolgten auf drei Wegen: 1. durch Demontagen, 2. aus der laufenden Produktion und 3. durch die Verpflichtung von deutschen Wissenschaftlern zu wissen- schaftlich-technischer Arbeit für die Sowjetunion. Die Demontagen erfolgten unter anderem in folgendem Bereichen: »In der Reifenindustrie waren alle Produktionsmittel abgebaut. Die Demontage des Anlagevermögens belief sich beim Schienenfahrzeugbau auf 80 Prozent, im polygrafischen Maschinenbau auf zwischen 95 und 60 Prozent, im Werkzeugmaschinenbau auf 55 Prozent, in der Strick- und Wirkwarenindustrie auf 43 und in den Spinnereien auf 10,6 Prozent.« Das zweite Gleis wurde auf dem Gebiet der Ostzone demontiert, so dass sich die Kilometerzahl von 6.081, 27 im Jahre 1944 auf 1.063,09 im Jahre 1948 verringerte. Es versteht sich, dass sich daraus schwerwiegende Verpflichtungen für einen Neuaufbau der industriellen Grundlagen ergaben. Die bundesdeutschen Reparationen an die Westmächte beliefen sich auf lediglich 517 Millionen Dollar (Handelsflotte, Auslandswerte, Erträge von Demontagen). 5 Und die BRD profitierte vom Marshallplan. Wenn man die Haltung der DDR zu Israel beurteilen will, dann muss man zweifelsohne die Haltung Israels zur DDR mit bedenken. Zwar wünscht Horst Helas ausdrücklich, von dem Totschlagargument, die BRD sei viel antisemitischer gewesen als die DDR, verschont zu bleiben, es ist aber doch merkwürdig, dass Israel sich gegenüber der DDR strikt antikommunistisch verhielt, aber offenbar keinerlei Bedenken daran hatte, dass beispielsweise ein Hans Globke in der BRD eine hohe staatliche Funktion ausübte, um nur eine herausragende Figur mit nazistischer Vergangenheit zu benennen. Juden erhielten allerdings im obersten Leitungsgefüge der BRD kein Betätigungsfeld. Demgegenüber waren – um nur dieses Beispiel zu nennen –, zwei Juden, Albert Norden und Hermann Axen, Mitglieder des Politbüros der SED. Jedenfalls wurde die BRD offiziell und als Staat nie als antisemitisch charakterisiert. Wenn man dies zweifelnd überdenken würde, stellte man sich schon die Frage, ob dabei eine Rolle spielte, dass die BRD Israel mit erklecklichen Summen unterstützte, die keineswegs zwingend für die direkte Entschädigung von Opfern des deutschen Faschismus eingesetzt sein mussten. Asher Ben Nathan konstatiert, die Sowjetunion habe massive Waffenlieferungen an arabische Staaten geleistet. »Strauß’ Ziel war, Israel zu einem Bollwerk gegen den sowjetischen Einfluss zu machen. Soweit war er auch Gründer der Globalpolitik.«6 Kurz gesagt: Wir befanden uns mitten im Kalten Krieg. An dieser Tatsache kommt niemand vorbei, der Geschichte objektiv schreiben will. Es ist nicht meine Absicht, hier eine Geschichte der Beziehungen zwischen Israel und der DDR darzulegen. Mein Anliegen ist es, jenem Ansinnen Paroli zu bieten, das verkündet, die DDR sei antisemitisch gewesen. Wohlgemerkt: Es geht nicht um gelegentliche antisemitische Exzesse einzelner Personen oder von Personengruppen, auch nicht um Handlungen, die als antisemitisch bewertbar sind, wie das beispielsweise bei der Schändung von Friedhöfen anzunehmen ist. In den Unterlagen des MfS ist die Zahl derartiger Untaten nachzulesen. Allerdings bestand durchaus keine Notwendigkeit, einen propagandistischen oder/und strafrechtlichen Feldzug zu eröffnen. Dazu waren die Fakten selbst zu geringfügig gegenüber der sozialistischen »Staatsräson« der DDR, der sich die DDR verpflichtet fühlte, um diesen aktuellen Begriff einmal zu verwenden. Besonders gern wird heutzutage dargelegt, dass Menschen jüdischer Herkunft von ihren Eltern in der DDR oft nicht erfuhren, dass sie jüdischer Abstammung waren. Das hätte sie überrascht und bestürzt gemacht. Abgeleitet aus solchen den Eltern angelasteten Beispielen wird dann geschlussfolgert, man habe es mit Antisemitismus zu tun, weil die Eltern aus unterschiedlichem Interesse ihre Abstammung nicht offen verbreitet hätten. Einige Kinder solcher Eltern verbreiten in ihrem heutigen Auftreten oft den Eindruck stärkster Betroffenheit, was gern als Beweis für einen schändlichen DDR-Antisemitismus gewertet wird. Dass die Eltern es damals für wichtiger hielten, als Sozialisten/Kommunisten an der Gestaltung der sozialistischen DDR mitzuwirken, statt die jüdische Abstammung zu betonen, die für sie nur eine sekundäre Rolle spielte, zählt bei diesen Kindern dann nicht. Mit dem Untergang der DDR hat nun bei manchen Personen die Erinnerung an das Judentum Konjunktur. Dabei wird heute so getan, als hätten sie isoliert und einsam in der DDR gelebt und wären völlig unwissend bezüglich einer jüdischen Abkunft gewesen. Ihr jüdisches ICH habe sich de facto erst nach dem DDR-Untergang entfalten können. Dabei setzen sie den Beginn ihrer Zerrissenheit in der gelebten DDR-Realität immer früher an. Herauskommen soll ein von der DDR zu verantwortendes Zwanghaftes 83 und das Jüdischsein Unterdrückendes. Man kann schlecht dagegen sprechen, wenn solche Gefühle behauptet werden, es ist nur merkwürdig, wie diese Gefühle immer zunehmender den Vorwurf einer Repression artikulieren, so dass am Ende nur ein verdammenswürdiges Dasein, das sich sozialistischer Staat nannte, der zudem antisemitisch gefärbt gewesen sei, übrig bleibt. Womit Klaus Kinkel in Jubelschreie ausbrechen könnte: Wieder ist ein Teil an DDR-Delegitimierung im Gange. In einem kann man Horst Helas durchaus folgen: Es ist nicht eindeutig zu beweisen, welche positiven (oder negativen) Wirkungen alle jene Bemühungen um das Vermitteln und Kennenlernen des Jüdischen und des Wissens von den Verbrechen gegen die Juden bei den Adressaten insbesondere der Werke von Kunst und Literatur gehabt haben. Bestenfalls kann man aus dem nachweisbaren Interesse an den Werken schlussfolgern, dass positiv-menschliche Beeinflussungen des Bewusstseins vieler Bürgerinnen und Bürger der DDR erreicht werden konnten. Millionen Käufer und Leser des Buches »Nackt unter Wölfen« von Bruno Apitz, Millionen Besucher der gleichnamigen Filmvorführung und die spürbare Sympathie, als 84 Stefan Jerzy Zweig, das »Buchenwaldkind«7, gefunden wurde und die DDR besuchte, sind keine Fiktion. Niemand wurde gezwungen, sich mit dem Schicksal eines jüdischen Kindes zu befassen. Es ist schandbar, wenn, um es vorsichtig zu formulieren, stalinistische Dogmatiker sich damit befassten, beispielsweise Friedrich Wolf und seinen »Professor Mamlock« politisch/ideologisch zu verdächtigten. Was bei den damaligen Verhältnissen in der UdSSR durchaus lebensgefährliche Folgen haben konnte. Was aber im Geheimen geschah und in den nun zugänglichen Akten dokumentiert ist, hat nicht zwingend auf die Adressaten solcher dramatischen Werke wie »Professor Mamlock« gewirkt. Diese wussten ja von dem nichts, was sich hinter den Kulissen abspielte und konnten das Kunstwerk/den Roman auf sich einwirken lassen und beeindruckt sein. Sie erlebten im Gegenteil, dass Friedrich Wolf im August 1949 in Weimar einen Nationalpreis 2. Klasse erhielt, wobei »Professor Mamlock« ausdrücklich erwähnt wurde.8 Jedenfalls ist es nicht akzeptabel, aus solchen Tatsachen »hinter den Kulissen« auf die gesamtgesellschaftlichen Zustände zu schlussfolgern. Interner Streit, interne Intrigen, politische Diffamierungen gab es bedauerlicherweise. Das Üble besteht darin, dass aus den Aktenfunden generalisiert und am Ende, gewürzt durch eigene Erfahrungen als Schüler der DDR-Schule, heute eben die Behauptung akzeptiert werden soll, die DDR, um die es hier konkret geht, habe beispielsweise in der Schule ideologisch nicht gegen Antisemitismus wirksam sein können. Die »logische« Schlussfolgerung – und was zu beweisen war: Die DDR sei selbst antisemitisch gewesen. Dr. sc. Detlef Joseph 1 2 3 4 5 6 7 8 Vgl. Horst Helas, Fast zwanzig Jahre später: Zur »linken« Streitkultur in Deutschland, in: Rundbrief, Heft 4/2008 (hrsg. von der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE), S. 20 ff. Außerordentlicher Parteitag der SED-PDS. Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin, Berlin 1990, S. 154. Außerordentlicher Parteitag der SED-PDS. Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin, Berlin 1990, S. 438 f. Autorenkollektiv, Deutsche Geschichte, Bd. 9: Die antifaschistisch-demokratische Umwälzung, der Kampf gegen die Spaltung Deutschlands und die Entstehung der DDR von 1945 bis 1949, Berlin/ DDR 1989, S. 206. Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 18, S. 301. Richard Chaim Schneider, Hg., Wir sind da! Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis heute, Berlin 2000, S. 212. Stefan Jerzy Zweig. Der große Bericht über das Buchenwaldkind. Sonderdruck (2. Auflage) der Zeitung »BZ am Abend, Februar 1964. Neues Deutschland, 26. August 1949. 85 Die »Linken« und ihre Geschichte Nachdenken über die eigene Geschichte und deren Platz im historischen Prozess ist eine unerlässliche Voraussetzung für das aktuelle Selbstverständnis sowie die Erarbeitung einer alternativen politischen Strategie und Taktik einer Linkspartei. Das gilt um so mehr, als diese Partei auf mehr als 150 Jahre politischen Kampfes der verschiedensten linken Strömungen zurückblicken kann. Diese Geschichte umfasst nicht nur Erfolge und positive Seiten ihres Wirkens, sondern die geschichtliche Gesamtbilanz weist auch Fehlentwicklungen, Versagen und Vergehen gegen die eigenen Grundsätze auf, die unnachsichtig analysiert werden müssen, um daraus Schlußfolgerungen für die heutige und zukünftige Tätigkeit ziehen zu können. Die Verständigung darüber erfordert einen breiten sachorientierten Diskurs . Die jüngst veröffentlichte Wortmeldung des Ältestenrates der Partei DIE LINKE kann meines Erachtens als eine Wortmeldung dazu angesehen werden.1 Sie stellt Existenz und Wirken der heutigen Linken in die Gesamtgeschichte des. Kampfes um eine sozial gerechte und menschenwürdige Gesellschaft und geht davon aus, dass sie für die Bewährung unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen sich der Gesamtheit der dabei erwachsenen Erfahrungen versichern muss. Richtig wird dabei die Notwendigkeit unterstrichen, sich mit Fehlern und geschichtlichem Versagen auseinanderzusetzen, ohne dabei die Legitimität und die Leistungen des Kampfes namentlich der Arbeiterbewegung infrage zu stellen. Das Papier des Ältestenrates ist nicht als abschließende und endgültige »linke« Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit der Geschichte anzusehen – so war es auch nicht gedacht. Mir scheint es nach der Lektüre des Papiers angebracht, bevor einzelne Etappen und Entwicklungsstränge auf ihre Bedeutsamkeit für die aktuelle Positionsbestimmung abgeklopft werden, einige Grundsätze zu formulieren, die für die Geschichtsdebatte der Linken durchgängig zu beachten wären. Darunter würde ich zum Beispiel erstens verstehen, an der Vision einer sozial gerechten und menschenwürdigen Gesellschaft mit ökologisch verträglicher Wirtschaftsweise und einer grundsätzlichen friedfertigen Außenpolitik festzuhalten. Sie ergibt sich daraus, dass trotz partiell dauerhafter sozialer Verbesserungen die bestehenden kapi86 talistischen Verhältnisse nach wie vor diesen genannten Ansprüchen nicht gerecht zu werden vermögen. Auf dieser unumstößlichen geschichtlichen Tatsache beruht die Existenzberechtigung und –notwendigkeit alternativer Bewegungen und Parteien, als deren eine sich die Partei »DIE LINKE« versteht. Zum Zweiten: Eine glaubhafte Bezugnahme auf die Geschichte der eigenen Bewegung in diesem Sinne muss nach dem Scheitern des in der Sowjetunion und danach in anderen osteuropäischen Ländern eingeschlagenen Weges zur Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft auch klar Position dazu beziehen, wovon DIE LINKE sich bei Verfolgung einer alternativen Politik ein für allemal abgrenzt, was also weder als Inhalt noch als Methode sozialistischer Politik nicht mehr infrage kommt. In wenigen Worten gesagt: Die Verwirklichung von sozialistischen Zielen darf niemals demokratischen Formen ihrer Durchsetzung gegenübergestellt werden. Ein Monopolanspruch auf den Besitz der allein richtigen Kenntnis der einzuschlagenden Wege für eine Partei gibt es nicht. Gesellschaftliche Veränderungen bedürfen der Akzeptanz von Bevölkerungsmehrheiten, um die linke Bewegungen ringen müssen. Dazu gehört die Bereitschaft, die eigene Politik einer ständigen kritischen Überprüfung zu unterziehen, ob sie den angestrebten Zielen gerecht wird. Wenn sie diese Anforderung nicht erfüllt, muss sie korrigiert oder modifiziert werden. Ich würde mir auch wünschen, deutlicher als im Papier des Ältestenrates auszudrücken, dass die Ursachen für das Scheitern des Sozialismus in erster Linie im Versagen der Bewegung selbst gesucht werden müssen. Selbstverständlich haben die Gegner einer sozialistischen Erneuerung der Gesellschaft, die herrschenden Klassen der kapitalistischen Welt und besonders auch der Faschismus, kein Mittel unversucht gelassen, um den Sozialismus zu diskriminieren, zu schädigen und zu beseitigen, kriminelle und aggressiv-militärische Machenschaften eingeschlossen. Aber das ist nun einmal so: Neues stößt immer auf Gegenwehr des Alten. Für DIE LINKE ist jedoch wichtig zu erkennen, dass die Gegenseite nur einen solchen durchschlagenden Erfolg erringen konnte, weil er durch unser Versagen begünstigt wurde. Deshalb muss es in dem Umgang mit unserer eigenen Geschichte darum gehen, sorgsam auf- zudecken, worin die Ursachen für Fehlentscheidungen und Verstöße gegen die Grundsätze der Errichtung einer sozial gerechten und menschenwürdigen Ordnung bestanden, damit sichergestellt wird, das solche Fehler nicht wieder begangen werden. Und noch eines ist wichtig. Fehlentscheidungen, Misserfolge und Versagen bleiben keiner Bewegung, keiner Partei erspart, die in der Gesellschaft agieren. Deswegen gilt es aus der Geschichte der sozialistischen, insbesondere der kommunistischen Bewegung zu lernen, dass ein ehrlicher Umgang mit Fehlern unerlässlich ist. Die Losung, »Keine Fehlerdiskussion zuzulassen«, hat nicht nur keinen Nutzen gebracht, sie hat irreparablen Schaden zugefügt. Fehler machen ist menschlich, sie nicht einzugestehen und zur Korrektur nicht bereit zu sein, zieht schädliche Folgen nach sich, wie wir drastisch erleben mussten.. Solche Präliminarien voranzustellen, halte ich für sehr sinnvoll. Damit könnte auch dem rationellen Kern der Bedenken, wie sie Michael Wolff in seinem Leserbrief massiv äußert, Rechnung getragen werden.2 Allerdings gibt sein Beitrag auch Anlass, auf eine Unsitte linker Diskussionskultur zu sprechen zu kommen. Offenbar fällt es linken Kräfte immer noch schwer, sich von den unseligen Gepflogenheiten jenes Umgangs mit Ihresgleichen zu lösen, die dazu geführt haben, dass in der sozialistischen und vor allem kommunistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts kein kreativer Diskurs zustande kommen konnte. Es ist auffällig: Wenn Linke miteinander diskutieren, werden, was bedauerlicherweise auch heute noch so ist, wie der Leserbrief von Michael Wolff erkennen lässt, Meinungsdifferenzen dazu benutzt, um sofort Abweichungen von einer imaginären vorgegebenen Linie vorzuwerfen. Statt von den gemeinsamen Positionen auszugehen und sich auf deren Grundlage argumentativ um Annäherung zu bemühen, werden in erster Linie die strittigen Positionen einander so gegenübergestellt, dass der unbefangene Leser den Eindruck gewinnen muss, hier liefern sich unversöhnliche Gegner ein Gefecht. Dann wimmelt es von »Fragwürdigem« in den Äußerungen der anderen und es wird »ein Vorbeimogeln an Tatsachen« unterstellt, um die Wortwahl des Leserbriefschreibers zu wählen. Viel sinnvoller wäre es doch, sachliche Einwände zu formulieren, die an die Sachargumente des kritisierten Textes anschließen, dann würde sich zeigen, dass die Diskutanten oft gar nicht so weit auseinander liegen. Nehmen wir nur den Einwand von Michael Wolf gegen die Feststellung des Ältestenrates, dass die sozialistische Bewegung im 20.Jh. einen »Höhepunkt« erreicht hatte. Die Tatsache, dass am Ende des Jahrhunderts die sozialistische Bewegung eine schwere Niederlage erlitten hat und die von ihr vertretene Konzeption einer sozialistischen Gesellschaft gescheitert ist, bedeutet ohne Frage einem Tiefpunkt. Andererseits schafft das die Tatsache nicht aus der Welt, dass die organisierte Arbeiterbewegung noch nie einen solchen Höhepunkt ihres Einflusses auf die gesellschaftliche Entwicklung verbuchen konnte, wie dies im 20. Jahrhundert der Fall war. Bekanntlich haben Höhepunkte es an sich, zu Ausgangspunkten des Niedergangs zu werden, wenn politische Kräfte nicht fähig sind, durch eine flexible, auf neue Herausforderungen reagierende Politik die erreichten Positionen zu sichern. Im Volksmund sagt man nicht umsonst, dass man sich »tot siegen« kann. Ein Schicksal, dass übrigens nicht nur der sozialistischen Bewegung passiert ist, wenn ein Seitenblick auf aktuelle Erscheinungen erlaubt ist. Das aber ist gerade unserer Bewegung und namentlich ihren Führungskräften passiert. Im Vollgefühl der Macht wurde unterlassen, ständig ein ehrliche Bilanz über den durchschrittenen Weg zu ziehen und zu überprüfen, ob die verfolgte Strategie und die angewandten Mittel im Einklang mit den Zielstellungen standen: Vor allem bestimmte Krisensituationen hätten unbedingt der Anlass sein müssen, um unnachsichtig die Frage nach Ursachen der entstandenen Krisen zu stellen. Stattdessen wurde nur an Symptomen herumgedoktert und nicht bis zu »Systemfehlern« vorgedrungen. Das kann man aber heute nur produktiv machen, wenn man den geschichtlichen Weg der sozialistischen Bewegung in seiner Gesamtheit analysiert. Nur so lässt sich die Frage beantworten, warum trotz beachtlicher Erfolge und großer Möglichkeiten die sozialistische Alternative so kläglich gescheitert ist und damit auch richtige und wichtige Errungenschaften letztlich ihrer Wirkung beraubt wurden. Dem kann man aber nicht gerecht werden, wenn man der Geschichtssicht der Linken eine undialektisch einseitige Negativ-Darstellung der Geschichte der sich sozialistisch verstehenden Länder einschließlich der DDR aufnötigen will, wie das Michael Wolff offenbar für richtig hält. Er begründet das damit, dass die realen Verhältnisse in diesen Ländern mit sozialistischen Idealen nichts zutun gehabt hätten. Ich kann dieser These nichts abgewinnen. Wenn, wie ich vermute, diese These verteten wird, um damit die Belastung heutiger alternativer politischer Bewegungen zu mindern, weil sie sich von den Geschehnissen dieser geschichtlichen Periode lossagen, so kann man nur sagen, dass sie einem kolossalen Irrtum unterliegen. Gegner des Sozialismus werden sich davon nicht beeindrucken lassen. Aber es stimmt auch sachlich nicht, dass eine breite Bewegung im vergangenen Jahrhundert große Opfer in Kauf nahm, um aus dem kapitalistischen System, das sie aus praktischem Erleben zu Recht für wirtschaftliche Ausplünderung, soziale Benachteiligung, für die Entstehung ökonomischer Krisen, von Kriegen und politischer Unterdrückung verantwortlich machten, auszubrechen, und die Vision einer freien, sozial gerechten und menschenwürdigen Gesellschaft zu verwirklichen. Dieser humanistischen Vision darf man wohl auch dann die Legitimation nicht versagen, wenn diese Entwicklung nicht zu dem angestrebten Ergebnis geführt hat. Solche rigorosen pauschalen Abwertungen sind aber nichts anderes als die Verweigerung der Legitimität von Gesellschaftsveränderungen, was sicherlich den heute Herrschenden durchaus Recht sein kann, aber nicht denjenigen Kräften, die an der Notwendigkeit festhalten, die Gesellschaft weiter zu demokratisieren und die verhängnisvollen Folgen kapitalistischer Profitgier zu beseitigen. Es ist also mit dem Geschichtsverständnis einer Linkspartei schlichtweg unvereinbar, eine solche nihilistische Haltung gegenüber der Geschichte des Sozialismus zu kultivieren. Vielmehr müsste man dieser Periode mit dem schuldigen Respekt gegenübertreten, der sowohl die Anstrengungen und Leistungen würdigt, als auch die Ursachen und Entscheidungssituationen aufdeckt, die zu Misserfolgen, Fehlern und auch zu Verbrechen des Stalinismus geführt haben. Im Leserbrief von Michael Wolff sind also Positionen zum Umgang mit der Geschichte formuliert, die einer produktiven Aneignung der geschichtlichen Erfahrungen nicht sonderlich dienlich erscheinen.. Das wird sofort deutlich, wenn man einige Thesen zu Ende denkt. Dazu gehört das sehr vordergründige Bemühen, die Linke zu veranlassen, sich möglichst nicht mit der DDR-Vergangen- heit und der Geschichte des Kampfes der Arbeiterbewegung in Verbindung zu bringen. So schreibt er beispielsweise: »Die guten Absichten und der oft Kräfte zehrende Einsatz vieler DDR-Bürger und SED-Mitglieder (der Autor dieser Zeilen eingeschlossen) hat letztlich weder den Zusammenbruch noch die Fehlentwicklungen und die im Namen des Sozialismus begangenen Verbrechen verhindern können. … Schlimmer noch, durch unseren Einsatz haben wir auch die Herrschaftsverhältnisse der DDR (Ich bleibe mal bei dieser) stabilisiert und damit vieles (z. b. auch den Mauertoten) billigend in Kauf genommen. Ein Bekenntnis zu unserer Verantwortung, Schuld bzw. Mitschuld ist kein Kniefall vor wem auch immer, sondern Verantwortung für einen ehrlichen Neuanfang linker Politik.«3 Diese Bemerkungen besagen eigentlich nichts anderes, als dass eigentlich alle DDR-Bürger, übrigens sogar die Mehrzahl der Oppositionellen, die ihrer Arbeit nachgegangen sind, auch wenn sie sich den sozialistischen Idealen nicht verpflichtet gefühlt haben, für alles und jedes, was in der DDR geschehen ist, verantwortlich sind. Denn sie haben alle auf die eine oder andere Art dazu beigetragen, die Funktionsweise des »Systems« aufrecht zu erhalten. Nach Wolff müssten sie dieses Verhalten auf das schärfste verurteilen und könnten nur als »reuige Sünder« eventuell die Berechtigung erwerben, sich heute als »Linke« zu bezeichnen. Im Grunde genommen läuft ein solches Herangehen an die Geschichte darauf hinaus, dass jeder, der zum Beispiel in dieser Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland seiner Arbeit nachgeht, eine beliebige Verantwortung ausübt und überhaupt am öffentlichen Leben teilnimmt, eigentlich in einer linken Partei fehl am Platze ist; denn er hält das bestehende System mit all seinen Unzulänglichkeiten, seiner Krisenhaftigkeit, seiner sozialen Kälte, seiner Ausplünderung der Dritten Welt und seinen Kriegsabenteuern am Laufen, wogegen ja wohl eine Linkspartei in Opposition steht. Um auf diesen »starken Tobak« ebenso rigoros zu reagieren, bedeutet dies, dass eigentlich nur unschuldige Kinder und so genannte Aussteiger als Mitglieder für eine Partei infrage kommen, die eine alternative Politik vertritt. Wolff verwahrt sich zwar dagegen, mit seiner Haltung einen Kniefall vor »wem auch immer« zu begehen! Dass das nicht seine Absicht ist, will ich ihm gern zugestehen. Aber objektiv bewegt er sich nun einmal unbestritten auf Pfa87 den, wie diejenigen Politiker und Journalisten, die unter anderem dem sächsischen Ministerpräsidenten Tillich zum Vorwurf machten, als stellvertretender Vorsitzender des Rates des Kreises Kamenz für Handel und Versorgung durch eventuell gute Amtsführung besonders verwerflich gehandelt zu haben, weil er dadurch das SED-Herrschaftssystem befestigt habe. Dieses Vorgehen zeigt, dass solcherlei Argumentationen nichts mit Wahrheitsfindung und Aufarbeitung von Geschichte zu tun haben, sondern politische Instrumentalisierung von Geschichte sind, indem sie Werkzeuge für eine politische Disziplinierung und Ausgrenzung schaffen. Dabei tut es nichts zur Sache, dass im Falle Tillich diesmal ein Angehöriger der herrschenden politischen Klasse durch diese Verfahrensweise in Verlegenheit gebracht werden sollte. Nun möchte ich noch einen letzten Gedanken, angeregt durch das Papier des Ältestenrates, äußern. Die Linkspartei ist auf dem Wege, eine gesamtdeutsche Partei zu werden, wozu es hohe Zeit ist. Das erfordert auch, bei der Bilanzierung der eigenen Geschichte diese Tatsache zu beherzigen. Zu unserer Geschichtsbilanz muss auch die Analyse des Wirkens aller lin- 88 ken Kräfte in Westdeutschland seit 1945/1949 gehören. Im Papier des Ältestenrates wird durchaus auf die geschichtlichen Erfahrungen der SPD hingewiesen, aber das allein reicht nicht. Es geht um die vielen alternativen Ansätze und Anläufe, die teilweise in kritischer Distanz zu der Entwicklung in der DDR entstanden sind. Es gehört sich dabei nicht nur, deutliche Worte dafür zu finden, dass Fehler und Versagen, Repressionsakte und Vergehen der Partei- und Staatsorgane in der DDR dazu beigetragen haben, um alternative Bewegungen zu diskreditieren, sondern es gilt auch die Frage zu untersuchen, was an Aktionen in der BRD geeignet war, alternative Entwicklungen zu inaugurieren und was sie behindert hat. Man kann an der Tatsache nicht vorübergehen, dass alle diese Bewegungen letztlich auch gescheitert sind. Für eine unter heutigen Bedingungen zu entwickelnde alternative Politik ist es wichtig, sich der Erfahrungen zu bemächtigen, die unter kapitalistischen Verhältnissen von linken Kräften gesammelt wurden. Auch hier geht es sowohl um positive als auch negative Erfahrungen. Auch hier muss Stellung dazu bezogen werden, woran man anknüpft, und was man als total verfehlt ansieht. Es sei nur an die Aktionen der RAF erinnert.4 Nach meinem Dafürhalten gibt es dieser Hinsicht erheblichen Nachholbedarf. Abschließend möchte ich noch einmal unterstreichen, dass ich eine kontroverse Diskussion befürworte; denn nur dadurch können die verschiedensten Meinungen und Aspekte zur Geltung gebracht werden. Aber es sollte eine Suche unter Gleichgesinnten sein, die sich auch in der Form manifestieren muss, das heißt, sie muss allen Teilnehmern das Bestreben zubilligen, einen Beitrag zu einem tragfähigen Umgang mit der eigenen Geschichte leisten zu wollen. Professor Dr. Helmut Meier 1 2 3 4 Siehe: Anregungen des Ältestenrates der Partei DIE Linke zum Umgang mit der Geschichte. In: Rundbrief. AG Rechtswextremismus/Antifaschismus beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE. 4/08, S. 41 ff. Siehe: Michael Wolf: An Tatsachen nicht vorbeimogeln, in: ebenda, S. 45. Ebenda Vgl. hierzu die folgenden Beiträge im »Rundbrief«: Reiner Zilkenat, Christian Klar, Inge Viett, die RAF und die Linke, in: H. 1–2/2007, S. 37 ff; Birgit Wulf, Leserbrief, in: ebenda, H. 3–4/2007, S. 49 u. die »Anmerkungen« hierzu von Reiner Zilkenat, ebenda. LESERBRIEFE Leserbrief zu Beiträgen im Heft 4/2008: Der Artikel »Zur linken Streitkultur in Deutschland…« von Dr. Horst Helas war für mich Anlass, einiges zu durchdenken und schriftlich festzuhalten. Zur Stalinismus-Problematik: Erstens: Ein Problem dürfte sein, dass die Mehrheit unserer Mitglieder eine Diskussion für nicht notwendig hält, sie auch keinen Bezug mehr zur Problematik Stalinismus und auch nicht das Wissen darüber haben. Ich meine, dass es auch unter uns Linken Erscheinungen gibt, die ich dem Wesen des Stalinismus zuordnen würde (Glorifizierung der DDR, Negierung richtiger Erfahrungen und Tatsachen aus der DDR, keine objektive Geschichtsbewertung, Unsachlichkeit beim Streit, unbedingt recht haben wollen usw.). Zweitens: Stalinismus wird von vielen unserer Mitglieder sehr häufig als unmittelbare Politik Stalins bis 1953 betrachtet. Ich meine, dass der Stalinismus ein System darstellt, welches unmittelbar nach der Oktoberrevolution sich auszuprägen begann und sich in den folgenden Jahrzehnten in der UdSSR zu Machtmissbrauch, zur Politik des Verbrechens und der Diskriminierung der Ideen des Sozialismus/ Kommunismus führte (geistige und physische Vernichtung Andersdenkender, Kollektivierungszwang, Hungersnot in der SU, sinnloses in den Tod treiben der eigenen Soldaten im II. Weltkrieg usw.). Stalin hätte aber niemals seine Maßnahmen durchsetzen können, wenn er nicht willige Vollstrecker gefunden hätte (Speichellecker, Karrieristen). Leider – und das ist die Tragik – waren auch viele Menschen von der Richtigkeit seiner Maßnahmen überzeugt (»Stalin wird schon wissen, was er macht«, »Unser Väterchen Stalin«). Hinzu kam auch, dass sich unter Stalin für viele Sowjetbürger die Lebensbedingungen verbesserten und Stalin als der Kopf des Sieges über die deutschen Faschisten galt. Drittens: In der Internationalen Arbeiterbewegung hat der Stalinismus meines Erachtens seine Ursachen darin; dass die SU das Vorbild für die Möglichkeit des Sieges der Unterdrückten wurde, die KPdSU die erste Macht ausübende kommunistische Partei war, die Kommunistischen Parteien den Marxismus-Leninismus nicht verarbeitet hatten, unkritisch sich verhielten, alles gläubig übernahmen was vom »Großen Vaterland aller Arbeiter« kam und in der Endkonsequenz jegliche stalinistische Handlungsweisen bedingungslos als richtig und notwendig und im Interesse der Sowjetunion und der eigenen Partei betrachteten. Frage: Konnte man es überhaupt unter den Bedingungen des damaligen Entwicklungsstandes, der ständig größer werdenden faschistischen Gefahr, des konkreten Widerstandes usw. anders sehen? Waren die Fehler der einzelnen Parteien in der Kommunistischen Internationale »objektiv« hervorgerufen durch den großen Einfluss der KPdSU? Wir haben es heute leichter. Sprichwort »Der Abend ist klüger als der Morgen«. Viertens: Ich glaube, dass in unserer Entwicklung in der DDR der Stalinismus durch die Tatsache des Sieges im II. Weltkrieg, deieRolle der Besatzungsmacht, das Exil führender KPD-Funktionäre in der UdSSR, die unkritische Übernahme von »Erfahrungen« aus der SU in Ideologie, Politik, Kultur, Wirtschaft, der Einfluss der KPdSU auf SED usw. gefördert wurde und sich dann eine deutsche Erscheinungsform des Stalinismus herausbildete (z. b.: Rolle des Politbüros und des Generalsekretärs, Überbetonung des Zentralismus, Negierung der Demokratie, die Unterordnung der Staatsmacht, Haltung zur SPD, unsere eigene Unterordnung unter die Parteidisziplin) Wir haben aus Stalin eine Kultfigur gemacht (Wahl in das »Ehrenpräsidium«, »4. Klassiker«, uneingeschränkte Bejahung seiner theoretischen Auffassungen, nicht zuletzt seine Anschauung: je weiter die Entwicklung zum Sozialismus geht, um so schärfer werde der Klassenkampf. Für uns – und das galt auch für mich – brach mit dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 eine Welt zusammen, denn meine Generation ist mit dem Namen Stalin erzogen worden. Ich habe einmal versucht, den Begriff »Stalinismus« zu definieren. Es ist mir nicht gelungen und ich glaube, man kann die Vielfältigkeit seiner Erscheinungen auch nicht in eine Definition pressen. Wäre aber nicht eine Abgrenzung doch notwendig? Neigen wir eventuell dazu, alles was uns an unserer Bewegung nicht gefällt, als Erscheinungen des Stalinismus zu bezeichnen? Wenn ja, dann würden wir damit unsere eige- nen Mängel und Unzulänglichkeiten entschuldigen! Zum Artikel des Ältestenrates zur Auseinandersetzung mit der Geschichte: Erste Bemerkung: »Linke … betreiben die Auseinandersetzung mit geschichtlichen Themen zuerst um ihrer selbst willen. Es muss … erlaubt sein, eigene früher für absolute Wahrheiten gehaltenen Ansichten kritisch und selbstkritisch neu zu befragen« Ich meine, dass in unserer Partei die Auseinandersetzung über geschichtliche Ereignisse, Bewertungen usw. viel zu gering entwickelt ist. Das beginnt aber bereits bei den Leitungen. Die Erklärung des Ältestenrates habe ich zustimmend gelesen, musste aber feststellen, dass sie weitgehend unbekannt ist und kaum Beachtung findet. Deswegen muss ich sogar von einer Ignoranz unter großen Teilen der Linken zur Bewertung geschichtlicher Prozesse, Personen usw. Sprechen. Zweite Bemerkung: Als ehemaliger Geschichts- und Staatsbürgerkundelehrer musste ich 1989/90 begreifen, dass ich viele Details in der Politik der DDR falsch eingeschätzt und somit auch nicht »objektiv« meinen Schülern übermittelt habe. Das tat ich nicht bewusst, sondern entsprechend den mir übermittelten bzw. bekannten Tatsachen. Mit Zorn und Verbitterung musste ich feststellen, dass die Parteiorgane der SED und auch die Staatsorgane uns in vielen Dingen belogen hatten und auch viele Historiker nicht die ihnen bekannten Wahrheiten schrieben, sondern sich der »Parteimeinung« anpassten: da betraf zum Beispiel Katyn, die Geheimabkommen zwischen dem faschistischen Deutschland und der UdSSR. Sehr interessant war dabei für mich in diesem Zusammenhang das im letzten Jahr veröffentlichte Buch von Professor Kurt Pätzold »Die Geschichte kennt kein Pardon« und seine Rezension im »Rundbrief«. Ich musste also nach 1989/90 umdenken und vieles neu bewerten. Dafür schäme ich mich nicht, auch wenn manche meiner Weggefährten in mir nun einen »Abweichler« sehen. Dritte Bemerkung: Wir – und auch ich – sprechen oft von einer objektiven Bewertung der Ge89 schichte. Ich glaube, das ist nur bedingt richtig, denn unsere Meinungsbildung beruht doch oftmals auf den Meinungen anderer bei der Durcharbeitung von Literatur, des eigenen Erlebens und so ist immer ein subjektiver Faktor vorhanden. Sollten wir nicht besser von einer wahrheitsgemäßen Bewertung entsprechend des gegebenen Kenntnisstandes sprechen? Zur Problematik des Antisemitismus: Was verstehen wir unter Antisemitismus? Ich habe bisher keine wissenschaftlich begründete Erklärung dafür gefunden und meine, dass »Judenfeindlichkeit« zu wenig aussagt, denn der Antisemitismus tritt meines Erachtens in vielen Variationen auf. Ich denke, dass es in der DDR keinen offenen, aber einen versteckten Antisemitismus gab. Das zeigte sich in der Nichtbereitschaft, sich mit der Geschichte des Judentums öffentlich zu befassen, der Haltung zu bestimmten Persönlichkeiten jüdischer Abstammung, der Reduzierung der Jüdischen Geschichte in Lehrbüchern, wissenschaftlichen Abhandlungen usw. auf ein Minimum und auf die Nichtakzeptanz des Staates Israels. Doch ob »versteckter oder offener« Antisemitismus, Antisemitismus bleibt Antisemitismus. Ich war der erste im Kreis Guben, der sich mit der Geschichte der dortigen Jüdischen Gemeinde befasste und dazu auch im Gubener Heimatkalender 1988 meine Ergebnisse veröffentlichte. 90 Antifaschismus schloss nicht Antisemitismus aus, denn wir haben den Begriff des Antifaschismus fast ausschließlich auf die Haltung zur UdSSR, führender Politiker, des Widerstandes von KPDMitgliedern gegen den Faschismus usw. begrenzt. Unsere Kranzniederlegungen am 8. Mai und andere Veranstaltungen ähnlicher Art wurden hinsichtlich der Teilnahme »organisiert«, doch die wenigsten Teilnehmer fühlten sich als Antifaschisten, einfach deswegen nicht, weil sie kaum noch Erinnerungen an den Faschismus hatten bzw. sein Wesen einzuschätzen wussten. Doch das kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen, denn wir haben doch immer den »antifaschistischen Charakter« der DDR betont und den Charakter und die Politik des Faschismus fast nur von seiner diktatorischen Form versucht aufzuarbeiten. Große Probleme habe ich zur Zeit mit meiner Haltung zum Staat Israel. Ich anerkenne selbstverständlich das Recht der jüdischen Menschen auf einen selbständigen eigenen Staat und ich unterscheide zwischen der Haltung dieser jüdischen Staatsbürger und der aggressiven Außenpolitik ihrer Regierung. Ich betrachte diese Außenpolitik als inhuman und unmenschlich und lehne sie strickt ab. Frage: Bin ich deshalb antisemitisch? Ich habe mich in den letzten Jahren besonders mit der faschistischen Politik von 1933 bis 1945 in Guben befasst und dazu auch im Gubener Heimatkalender eine Anzahl Beiträge veröffentlicht. Ver- sucht habe ich auch, den antifaschistischen Widerstand in Guben aufzuarbeiten und schriftlich niederzulegen. Ich will damit nur andeuten, dass ich mich mit der Problematik des Antisemitismus, Antifaschismus und Faschismus stärker befasse, als viele andere in unserer Stadt. Trotz der neuen Erkenntnisse, die ich seit 1989/90 gewonnen habe, blieb die DDR meine Heimat. Ich bin in ihr – Jahrgang 1930 – aufgewachsen, ich half, sie mit zu gestalten und bin nun über die oftmals falsche und einseitige Darstellung des Lebens in der DDR durch die Medien, durch Politik und Historiker – besonders aus den alten Bundesländern – empört. Überzeugt bin ich davon, dass im Jahr 2009 die Flut der Verleumdungen über unser Leben in der DDR weiter anwachsen wird und ich frage mich, was tut die Partei, der ich angehöre, dagegen. Wiederholt habe ich – wie bereits erwähnt – versucht, örtliche Parteiorgane für eine ehrliche Geschichtsaufarbeitung zu gewinnen, doch das Ergebnis ist unbefriedigend. Ich spreche mich für eine »objektive« oder besser wahrheitsgemäße Darstellung der geschichtlichen Entwicklung in den beiden deutschen Staaten und in der jetzigen BRD aus und versuche dafür auf regionalem Gebiet durch bestimmte Veröffentlichungen und Veranstaltungen meinen bescheidenen Beitrag zu leisten. Manfred Augustyniak Leserbrief zum Heft 4/2008 des »Rundbriefs« »Die Rundbriefe, die ich seit dem Jahr 2004 erhalte, habe ich stets aufmerksam gelesen und auch einzelne Artikel daraus mit dem Fotokopiergerät in der Geschäftsstelle der LINKEN abgelichtet und an Vorstandsmitglieder des Kreisverbandes Elbe-Elster (im Süden Brandenburgs gelegend.Red.) gegeben. (…) Aus dem Rundbrief 4/08 habe ich den Artikel ›Anregungen des Ältestenrats der Partei zum Umgang mit der Geschichte‹ in 10 Exemplaren abgelichtet und verteilt. Ich halte die Bekanntmachung dieser Erklärung für besonders notwendig, da von Mitgliedern des Bundesvorstandes schon oft Geschichtslügen verbreitet wurden oder in Doku- menten der Partei Eingang fanden. Ich verurteile die Verschweigetaktik, da diese Erklärung des Ältestenrats nicht mal im »Disput« zu finden war. Das…Material über Rechtsextremismus halte ich für sehr wertvoll und wissenswert, vor allem für führende Genossen in unserer Kreisorganisation. Ablichtungen habe ich der Geschäftsstelle übergeben und je ein Exemplar den Kreisvorsitzenden und der Landtagsabgeordneten Carolin SteinmetzerMann zugestellt. Seit 1994 habe ich in den von mir erarbeiteten Wahlanalysen des Elbe-Elster-Kreises auf die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Einfluss der rechtsextremen Parteien hingewie- sen. Bei der Kreistagswahl 2008 erhielt die DVU 5,1 Prozent der Stimmen (2003: 3,7 Prozent) und bekam 3 Sitze im Kreistag gegenüber 2 bei der vorherigen Wahl. Landesweit kam die DVU auf 1,6 Prozent. Im Elbe-Elster-Kreis ist es besonders das Schradenland im Altkreis Bad Liebenwerda, wo die DVU in manchen Orten mehr Stimmen hat, als die LINKE. Unser Kreisvorsitzender wohnt im Altkreis Bad Liebenwerda und beschäftigt sich seit einigen Jahren verstärkt mit dem Problem Rechtsextremismus/Antifaschismus. (…)« Gerhard Rohr, Finsterwalde (Brandenburg) Horst Helas, Dagmar Rubisch, Rainer Zilkenat (Hrsg.) Neues vom Antisemitismus: Zustände in Deutschland Texte 46 der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Karl Dietz Verlag Berlin 2008, 175 Seiten, Broschur, 14,90 Euro, ISBN 978-3-320-02142-9 Antisemitismus ist in der deutschen Gesellschaft eine seit vielen Jahren relativ unveränderte Einstellung eines großen Teils der Bevölkerung. Trotz dieses Befundes ist die Har tnäckigkeit der vielen Akteure beim Kampf um die Zurückdrängung des Antisemitismus in Deutschland bewunderns- und unterstützenswert. Mehrere Beiträge in dieser Publikation belegen die lange Entwicklungsgeschichte von Antisemitismus. Andere beleuchten aktuelle Aspekte dieses Phänomens. Sie bekräftigen, dass der Kampf gegen Antisemitismus einen unverwechselbar eigenständigen Platz in der Bekämpfung von Phobien verschiedenster Art innehat, der nicht relativiert werden sollte. Im Zentrum des Buches stehen die Referate und ausgewählte Diskussionsbeiträge der Antisemitismus-Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 11. Januar 2007. Dort wurde das Bedürfnis bekräftigt, grundlegende Erfahrungen der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus einem breiten Interessentenkreis zugänglich zu machen. Die Herausgeber möchten vier Aspekte ihrer grundsätzlichen Haltung benennen: 1. Für Menschen, die sich zu „den Linken“ zählen, ist der Antifaschismus ein unverzichtbarer Grundwert. Dass dieser Antifaschismus keinesfalls monolithisch zu verstehen ist, versteht sich von selbst. In Deutschland hat es vor wie nach 1945 immer Antifaschismen gegeben. Das entsprechende Handeln von Menschen verschiedener Herkunft und Weltanschauung gründet sich auch in der Gegenwart auf unterschiedliche Motive. Zudem meint Antifaschismus heute immer auch ein PRO, das Eintreten für bestimmte Grundwerte der bestehenden Gesellschaft, ihre Verteidigung wie Ausgestaltung. 2. „Die Linke“ muss sich fast 60 Jahre nach der Gründung zweier deutscher Staaten und fast 20 Jahre nach der erneuten Herstellung der Einstaatlichkeit mit allen Facetten ihrer Geschichte differenziert, kritisch und sachlich auseinandersetzen. Auch hier versteht es sich von selbst, die äußeren Aspekte, beispielsweise die Zwänge des Kalten Kriegs, zu berücksichtigen. Dies sollte aber nicht zur Entschuldigung für Unzulänglichkeiten, Fehlentwicklungen und auch Verbrechen im jeweiligen Deutschland. Dies gilt auch für eine solche Frage wie die, ob es in der DDR Antisemitismus gegeben habe. Dieses Spezialthema der Geschichte der DDR verdient Aufmerksamkeit. 3. Staatliche Organe, Wissenschaftler wie Publizisten sollten aufhören, zwischen Rechtsextremismus und sogenanntem Linksextremismus ein Gleichheitszeichen zu setzen – auch hinsichtlich des Antisemitismus. In Theorie wie gesellschaftlicher Praxis sollte man den Trennungsstrich zwischen all jenen Kräften, die die demokratische Grundordnung in Deutschland als ihren Handlungsrahmen ansehen, und jenen, die das „ganze System“ und „alle Systemparteien“ überwinden wollen, klar kenntlich lassen. 4. In Publizistik wie wissenschaftlicher Debatte erleben wir immer wieder, dass ein beliebiger Autor mit seinen Aussagen von Vorgestern immer wieder neu konfrontiert wird. Dies geschieht manchmal in der Erwartung, der Zitierte möge sich rechtfertigen. 91 Die Pogrome begannen am 7. November 1938 Horst Helas und Reiner Zilkenat haben anlässlich des 70. Jahrestages der antisemitischen Pogrome eine verdienstvolle Dokumentation vorgelegt, die noch einmal in einem Querschnitt die wichtigsten Aspekte dieses faschistischen Verbrechens benennt. Diese Ergänzung soll nur im Detail eine Erweiterung der Blickrichtung und eine notwendige Korrektur der historischen Chronologie bringen. Es geht um die Anfänge der Pogrome und damit auch deren politische Bewertung. Völlig zurecht schreiben Helas und Zilkenat: »Keine zentrale Direktiven – weder von Goebbels oder gar von Hitler unterschrieben – lagen dem Novemberpogrom zu Grunde. Gleichwohl wähnten sich die Anführer vor Ort durch den Trend der allgemeinen Politik gedeckt, ja ermuntert.« Dies gilt auch und gerade für die ersten Pogrome, die bekanntlich in Nordhessen, nämlich in Kassel, Sontra und Bebra stattfanden. Dort starteten die Pogrome nicht erst am 8. November, als die Morgenzeitungen vom Attentat in Paris berichteten, sondern die Pogrome wüteten dort bereits am Abend des 7. November. Die Nachricht über das Attentat auf den Legationsrat vom Rath wurde natürlich auch im Radio verbreitet. Und in Kassel startete am Abend – nach einer Versammlung der örtlichen NSDAP – unter aktiver Mitwirkung von SS-Angehörigen aus Arolsen, die in Zivil mitmischten, der Sturm auf das jüdische Cafe Heinemann, anschließend 92 auf die große jüdische Synagoge in der Bremer Straße (Untere Königstraße) und das jüdischen Schul- und Gemeindezentrum in der Großen Rosenstraße. Die Pogrome begannen um 21 Uhr 45 und dauerten bis etwa 1 Uhr, wobei die Zahlenangaben der Beteiligten schwankten. Bestätigt ist, dass neben einem organisierten Kern von gut dreißig Anführern sich noch mehrere Hundert Mitwirkende und Schaulustige beteiligten. Bilanziert wurde die Zerstörung von 20 jüdischen Geschäften und die Tatsache, dass es bis zum Vormittag des 8. November zu »Plünderungen kleineren Umfangs« gekommen sei. Bereits im Laufe des 8. November berichtete die Stapostelle Kassel direkt an SSGruppenführer Reinhard Heydrich in Berlin über diese Vorgänge. Der Bericht über die Kasseler Aktion machte seine Runde bis in die Staatskanzlei und diente als Vorbild für ähnliche Aktionen in den folgenden Tagen. Dabei war dieser Bericht noch nicht einmal vollständig. Denn in der nordhessischen Provinz kam es ebenfalls in dieser Nacht zu weiteren Ausschreitungen. Für Bebra liegen mehrere Berichte vor. In den Unterlagen des Prozesses, der 1946 gegen die Verantwortlichen der Pogrome in Bebra vor dem Landgericht Kassel geführt wurde, heißt es: »Bei einer Parteiversammlung, die am Abend des 7. November im hessischen Hof stattfand, hatte der stellvertretende Kreisleiter die Judenaktion angekündigt und zur Vergeltung aufgefordert. Um dieser so genannten Vergeltungsaktion die gewünschte Richtung und das erstrebte Ausmaß zu geben, hatte die Parteileitung auswärtige Einsatztrupps herangezogen«. Hierbei handelte es sich um Kasseler SS-Angehörige. Da die örtliche NSDAP auf diese Kräfte einige Zeit warten musste, begannen die Ausschreitungen erst um Mitternacht. Ungeachtet dessen wurden die Synagoge, die jüdische Schule sowie Wohn- und Geschäftshäuser demoliert. In einem Bericht des Bürgermeisters von Bebra vom 23. November 1938 wurde auch der zweite Beweggrund der Pogrome anschaulich deutlich, nämlich die »polizeiliche Sicherstellung« von Waren aus jüdischem Besitz. Zerknirscht musste der Bürgermeister eingestehen: »Zu vermeiden war nicht, dass mehrere Diebstähle begangen wurden. Zum teil konnte das Diebesgut wieder herbeigeschafft werden. Von der Parteileitung sind Goldund Silbergegenstände der Polizei zur Aufbewahrung übergeben worden.« Merke: Wenn einzelne Nazis sich bei den Pogromen jüdisches Eigentum aneignen, ist es Diebstahl, wenn der Staat es macht, ist es legal. Und dieser ökonomische Aspekt der antisemitischen Ausschreitungen hat ebenfalls von Anfang an eine Rolle gespielt, nicht erst nach der Verkündigung der kollektiven Sühnezahlung, auf deren Basis verbliebenes jüdisches Eigentum »arisiert« wurde. Dr. Ulrich Schneider, Kassel LITERATURBERICHT Neue Veröffentlichungen zur Geschichte der »Sudetendeutschen« Dr. Reiner Zilkenat 93 94 95 96 REZERNSIONEN UND ANNOTATIONEN Der »Generalplan Ost« und die »Kollaboration« bildungsbürgerlicher Eliten mit dem Naziregime Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 2008 (Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hrsg. von Rüdiger vom Bruch, Ulrich Herbert und Patrick Wagner, Band 3). Der »Generalplan Ost« und die »Kollaboration« bildungsbürgerlicher Eliten mit dem Naziregime Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 2008 (Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hrsg. von Rüdiger vom Bruch, Ulrich Herbert und Patrick Wagner, Band 3). Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat seit 1965 schon drei Darstellungen zu ihrer Geschichte in Auftrag gegeben. Aber unabhängig davon, ob Kurt Zierold, Thomas Nipperdey und Ludwig Schmugge oder Notker Hammerstein zur Feder griffen, sie alle umgingen, verharmlosten oder rechtfertigten die Verantwortung der DFG für die Ausrichtung der Forschungen auf Rüstung und Krieg in der Nazizeit.1 Der vierte Anlauf soll das korrigieren und eine kritische Geschichte dieser Institution erbringen. Das von Rüdiger vom Bruch und Ulrich Herbert geleitete Projekt umfaßt inzwischen mehr als zwanzig Einzelprojekte, unter anderem eine Serie von Konferenzen, eine eigene Schriftenreihe, Stipendien, Qualifizierungsschriften und Ringvorlesungen. Eine DFG-Wanderausstellung zum »Generalplan Ost«, die im Februar 2008 auch in Berlin zu sehen war, wurde dem historischen Gewicht dieser Verbrechensplanung jedoch noch nicht gerecht. Einen integralen Teil des Großprojekts bildet die kürzlich veröffentlichte Dissertation von Sören Flachowsky. Deren Gegenstand ist nicht unmittelbar die DFG, sondern der 1937 gebildete Reichsforschungsrat (RFR). Dieser verkörperte eine zweite Etappe bei der Orientierung der staatlichen Wissenschaftsförderung auf die Bedürfnisse der Diktatur und Kriegsvorbereitung und blieb an die DFG gebunden. Die Entscheidungskompetenzen fielen an den Rat, die DFG hatte die Mittel auszuzahlen. So verkümmerte die DFG zur Kassenabteilung des RFR. Der Autor arbeitet diesen Zusammenhang explizit heraus, stellt die Ge- schichte dieser Institution seit dem ersten Weltkrieg dar und beweist, dass den stärksten Hebel jeglicher Forschungsförderung die Bedürfnisse der naturwissenschaftlichen und technischen Grundlagenforschung für den Krieg bildeten. An die interinstitutionelle Kooperation und Steuerung der Forschung durch die zu diesem Zweck gegründete »Kaiser-Wilhelm-Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft« mitten im Ersten Weltkrieg knüpften alle späteren Fortsetzungen an. Voraussetzungen für die Gründung des RFR schufen Görings Vierjahresplan, der den rüstungswirtschaftlichen Kurs auf die Vorbereitung des Krieges festlegte, und ein Bündnis der ansonsten wenig einflußreichen Wissenschaftsbürokratie des Reichserziehungsministeriums mit dem Heereswaffenamt. Dieses Ministerium hatte schon zu Beginn der Nazidiktatur mittels einer Reichsakademie die Forschung steuern wollen, war aber gescheitert. Jetzt jedoch konnten die führenden Männer von Forschungsgemeinschaft und Forschungsrat, Bernhard Rust und Rudolf Mentzel, das OKW, die Luftwaffe und die Vierjahresplanbehörde als Entscheidungsträger in die Rüstungsforschung einbinden. Der RFR setzte das Führerprinzip an die Stelle von Fachausschüssen, Fachspartenleiter entschieden allein und diktatorisch über Anträge. Natürlich regulierte der RFR nicht die gesamte Rüstungsforschung, diejenige für die Luftwaffe blieb z. b. selbständig. Flachowsky korrigiert zwei Fehlurteile: erstens die Ansicht, die DFG hätte hauptsächlich die »normale Forschung« gefördert, zweitens die Ausrede, daß der Reichsforschungsrat so uneffektiv gearbeitet hätte, dass er kaum Bedeutung für die Kriegsforschung habe gewinnen können und gescheitert sei. In der These vom Scheitern trafen und treffen sich divergente Interessen, zunächst die von hohen Mitarbeitern des RFR an ihrer eigenen Entlastung, dann die mancher US-Kommissionen nach 1945 an der Abwertung der Konkurrenz, bei Autoren der verschiedenen Geschichten der DFG die Apologetik für einen Auftragge- ber, der sich »völlig herkömmliche, unideologische Forschungen« (Notker Hammerstein) bescheinigen ließ, gegenüber der Wissenschaftsfeindlichkeit und forschungspolitischen Konzeptionslosigkeit der Nazidiktatur, deren Stiefkind angeblich die natur- und technikwissenschaftliche Forschung gewesen sei (Karl Heinz Ludwig). Flachowsky rückt hier einiges zurecht. Unbestreitbar ist, daß die vom Reichsforschungsrat vergebenen Mittel der DFG der Kriegs- und Expansionspolitik nicht nur dort dienten, wo es um Menschenversuche an politisch und rassisch Verfolgten oder um (Um)Siedlungsplanungen für die besetzten Ostgebiete ging. Bereits mit der Gründung war entschieden worden, daß Forschungen für den Vierjahresplan Priorität erhalten sollten. Gefördert wurden die Entwicklung von Radargeräten, Torpedosprengköpfen, Gas- und Biokampfstoffen, von Metalllegierungen für Geschoßführungsringe und Flugzeugmotoren, die Erschließung neuer Rohstoffvorkommen ebenso wie die Züchtung winter- bzw. dürreresistenter Getreidesorten und die im »Generalplan Ost« verankerten Maßnahmen der Vertreibung, Umsiedlung und des Völkermords. Gestützt auf eine solide Quellengrundlage belegt Flachowsky, daß dem RFR bei der Koordinierung der Rüstungsforschung eine zentrale Rolle zukam und er in der Endphase des Zweiten Weltkrieges die rüstungsrelevante Forschung über alle Fächer hinweg auf breiter Front finanzierte. Die menschenfeindlichen Ziele mußten den Wissenschaftlern nicht aufgezwungen werden, sie schrieen geradezu danach. Seit den Tagen des Ersten Weltkriegs hatte eine große Zahl nationalkonservativer Wissenschaftler die entsprechenden Netzwerke geschaffen und sie nahezu nahtlos über die Weimarer Republik in die faschistische Diktatur überführt. Flachowsky nennt dies »Selbstindienstnahme« und spricht von »Kollaboration« bildungsbürgerlicher Eliten mit dem Naziregime. 97 Professor Dr. Werner Röhr 1 Vgl. Kurt Zierold: Forschungsförderung in drei Epochen. Deutsche Forschungsgemeinschaft. Geschiche – Arbeitsweise – Kommentar, Wiesbaden 1968; Thomas Nipperdey, Ludwig Schmugge: 50 Jahre Forschungsförderung in Deutschland. Ein Abriß der Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1920 – 1970, Berlin-West 1970; Notker Hammerstein: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur, München 1999; vgl. auch: Karl Heinz Ludwig: Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Düsseldorf 1979. 98 »Sie waren die Boys«. Die Geschichte von 732 jungen Holocaust-Überlebenden. Martin Gilbert, Sie waren die »Boys«. Die Geschichte von 732 HolocaustÜberlebenden, Verlag für Berlin-Brandenburg, 560 Seiten. 1996 war dieses Buch von Martin Gilbert in London erschienen, im Januar 2008 konnte die deutsche Übersetzung präsentiert werden. Endlich! Seit 1968 gilt Martin Gilbert in Großbritannien als der »offizielle« ChurchillBiograf. Sein Buch über die »Boys« hat einen ganz anderen Gegenstand. Im Sommer 1945 erlaubte die britische Regierung, dass 1.000 jüdische Kinder und Jugendliche in das Land einreisen durften. Am Ende der Aktion waren es 732. Diese jungen Holocaust-Überlebenden hatten Grauenhaftes erlebt, sie waren zumeist Vollwaisen. Manche von ihnen hatten den Tod ihrer Eltern und Geschwister mit ansehen müssen. Worte wie »Ghetto«, »Arbeitslager« »Deportation«, »KZ«, »Todesmarsch«, waren für sie keine abstrakten Begriffe. Sie kannten sie aus eigenem Erleben. Nach Großbritannien kamen sie aus Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald, Theresienstadt und anderen Konzentrationsoder Zwangsarbeiterlagern. Sie waren schwer traumatisiert und brauchten viele Jahre, um wieder ein »normales Leben« führen zu können. Erwachsene, manche nicht viel älter als die Betreuten und selbst jüdische Opfer des NS-Regimes, halfen ihnen durch Fürsorge und Zuwendung, mittels der Suche nach geeigneten beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten und mit vielfältigen Freizeitangeboten, sich allmählich im Alltag zurecht zu finden. Die 15 bis 19 Jahre alten »Boys«, unter ihnen auch 80 Mädchen, lernten es, wieder jung zu sein – mit allen Problemen von Heranwachsenden. Das Buch über die »Boys« besticht durch die Kompaktheit des Dargestellten. Eine persönliche Erinnerung nach der anderen wird vorgestellt, nur selten von zusammenfassenden Kommentaren begleitet. Die Nüchternheit und Fülle der wiedergegebenen Berichte über Erlebtes erschreckt in jedem der Einzelfälle. In der Summe lässt sich das ganze Ausmaß der Nazi-Verbrechen an den europäischen Juden dennoch nur erahnen. Das Wort »Kollektivbiografie« ist eigentlich der falsche Begriff für dieses Kompendium von Einzelschicksalen. Martin Gilberts Buch ist in 23 Kapitel unterteilt. Elf schildern Wege aus der Kindheit über das Erleben in der NS-Zeit bis zur Befreiung 1945. Der Leser bekommt im ersten Kapitel eine Vorstellung vom Leben in den jüdischen Gemeinden Polens, in Dörfern, kleinen und größeren Städten. Von Entbehrungen im Alltag und familiärer Geborgenheit ist ebenso die Rede wie davon, inwieweit jüdische Sitten und Bräuche befolgt wurden. All diese jüdischen Gemeinden (wie auch alle anderen in Ost- und Südosteuropa) existieren nicht mehr, ihre Mitglieder wurden zumeist ermordet. Und noch eines gehört zu den Kindheitserfahrungen der »Boys«. Perec Zylberberg aus Lodz resümiert: »Schon als Schulkind hatte ich viele Fälle von offenem oder verdecktem Antisemitismus seitens polnischer Kinder und Erwachsener erlebt; manchmal mehr von Seiten der Kinder, manchmal auch umgekehrt. Das Bewusstsein, dass dieser Antisemitismus existierte, begleitete uns ständig.« (S. 55). Die Hoffnung, dass für die Juden die deutsche Besatzungsmacht – wie in den Jahren des 1. Weltkrieges – ab September 1939 wieder relativ mild vorgehen würde, erwies sich als trügerisch. Arek Hersch findet im Nachhinein die Worte, dass nach einer »allgemeinen Kampagne der Furcht«, was kommen würde, für Juden eine »neue Gestalt des Schreckens des Krieges« begann (S. 73). Geiselerschießungen; brennende Synagogen; Einrichtung von Ghettos in jedem kleinen Ort; schamlose Plünderungen und Denunziation, auch von früheren nichtjüdischen Nachbarn; Familientrennung; Deportation; Vergasungen oder Arbeitslager, nicht enden wollende Schläge und ständiger Hunger bestimmten für über fünf Jahre das Leben der »Boys«. Zum Zeitpunkt ihrer Befreiung waren »die wenigen Überlebenden an der äußersten Grenze ihrer Leidensfähigkeit angelangt.« (S. 258) In den Kapiteln elf bis zweiundzwanzig werden die verschiedenen Etappen des Ankommens der »Boys« in Großbritannien, die einzelnen Orte ihrer Unterbringung und Beispiele des Heimischwerdens in einem fremden Land beschrieben. Die meisten der »Boys« blieben in Großbritannien, aber auch die USA, Israel, Kanada, die Schweiz, Argentinien, Australien oder Brasilien wurde manchen von ihnen zur neuen Heimat. Die meisten der »Boys« lernten sich erst in Großbritannien kennen. Neue Freundschaften entstanden, die jahrzehntelang hielten. Nur wenige hatten das Glück, noch lebende Familienangehörige ausfindig zu machen oder Weggefährten wieder zu treffen, mit denen sie ein Teilstück ihres Leidensweges gegangen waren. Auch hier ist die Bilanz bitter – und sollte Nichtbetroffene immer wieder zu Sensibilität mit solchen »Zeitzeugen« mahnen. »Für die Überlebenden stellte es eine besondere Härte dar, dass das Schicksal ihrer Angehörigen niemals vollständig aufgeklärt werden konnte. Die meisten Familienangehörigen wurden zwischen 1942 und 1944 ermordet, andere starben während der Todesmärsche des Jahres 1945. Doch die genauen Umstände ihres Todes sind unbekannt, da keinerlei Dokumente existieren. Nur die Asche, die in jedem Lager zuhauf zu finden ist, bezeugt das ganze Ausmaß der Vernichtung.« (S. 422) Das 23. Kapitel stellt die »’45 Aid Society« vor, die eigene Wohltätigkeitsorganisation der »Boys«, deren Mitglieder sich jährlich zum Wiedersehen und Gedankenaustausch treffen. Auch im hohen Alter verstehen sie sich und handeln als verschworene, solidarische Gemeinschaft. Ihr jährliches Gedenken an ihre Befreiung ist für die »Boys« dabei besonders wichtig. Komplettiert wird das Buch durch eine Liste der bis 1996 verstorbener »Boys«, historische Karten sowie ein Personenund Ortsregister. Martin Gilbert wurde zu diesem Buchvorhaben von zwei »Boys« ermuntert und in den Mühen der Bearbeitung von über einhundertfünfzig Erinnerungsberichten zu einem einzigartigen Buch begleitet: Rabbi Hugo Gryn (1996 verstorben) und Ben Helfgott. Sie ermunterten Martin Gilbert zu dem Buchprojekt und begleiteten es bis zum erfolgreichen Abschluss 1996. Diese beiden waren es auch, die ab 1993 die anderen »Boys« dazu ermunterten Erinnerungen schriftlich festzuhalten, Verdrängtes noch einmal zu beschreiben, es völlig fremden Menschen mitzuteilen. Sie alle fällten auch diese Entscheidung, die Ihnen sehr viel abverlangte, jeder ganz für sich allein und schließlich sehr bewusst. Texte entstan99 den, von denen manche zwanzig bis dreißig Seiten lang waren, alle ein eigenes Buch wert. Die »Boys« fanden darüber hinaus auch die Kraft, vor allem Jüngeren bei persönlichen Begegnungen von sich zu erzählen. Deren Aufmerksamkeit war ihnen eine große Genugtuung. Die »Boys« sind in der Geschichte des Holocaust und der Geschichte ihrer 100 Überlebenden etwas Besonderes. Das sehen sie selbst so. Der langjährige Vorsitzende der »’45 Aid Society« Ben Helfgott fand bei seinen Gefährten 1976 für folgende Worte lebhafte Zustimmung: »Wir haben bewiesen, dass das Elend und die Verzweiflung, die Brutalität und die Ungerechtigkeit, die wir zu erdulden hatten, nicht imstande waren, unseren Willen zu brechen. Wir haben uns nicht vom Hass verzehren lassen, sodass er am Ende uns selbst und andere zerstört hätte. Stattdessen haben wir uns daran gemacht, ein neues Leben aufzubauen.« (S. 493) Bleibt die Empfehlung: das Buch kaufen, lesen und andere zu ermuntern, Gleiches zu tun. empfehlen. Dr. Horst Helas Reflexionen zum Rechtsextremismus in Ostdeutschland? Johanna Engelbrecht, Rechtsextremismus bei ostdeutschen Jugendlichen vor und nach der Wende, Peter Lang – Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2008 (Res humanae. Arbeiten für die Pädagogik, hrsg. v. Hans-Joachim Plewig, Helmut Richter u. Horst Scarbath), 188 Seiten, 39 Euro. Das 2008 erschienene Buch von Johanna Engelbrecht »Rechtsextremismus bei ostdeutschen Jugendlichen vor und nach der Wende« ist vor allem für Pädagogen bestimmt. Es gliedert sich in elf Kapitel, von Begriffsdefinitionen bis hin zu der Frage, was man gegen Einfluss und Verbreitung des gegenwärtigen Rechtsextremismus unternehmen könnte. Dabei dienen die recht oberflächlich geratenen Kapitel zur Geschichte der DDR und der FDJ nur bedingt zur Klärung der im Buch aufgeworfenen Probleme. Entstanden ist die Publikation aus einer Abschlussarbeit an der Leuphana-Universität in Lüneburg, ihr Niveau überschreitet nicht das Niveau eines mittelmäßigen Seminarreferates. Inhaltlich werden bis auf einige Passagen zu den Erklärungsansätzen des heutigen Rechtsextremismus kaum neue Erkenntnisse geboten und seit langem bekannte fragwürdige Behauptungen wiederholt. Zumeist kommentiert die Autorin nur aus der umfangreich genutzten Sekundärliteratur bereits seit längerem bekannte Fakten und Analysen. Außer einigen Leipziger Publikationen werden Forschungen zum Rechtsextremismus aus den neuen Bundesländern kaum genutzt und auch nicht im umfangreichen Literaturverzeichnis aufgeführt. Theoretisch stützt sich Johanna Engelbrecht auf die Veröffentlichungen von Wilhelm Heitmeyer und im Schlussteil auf die Arbeiten von Franz Josef Krafeld. Der Schlüsselbegriff der Verfasserin für ihre Analyse des Rechtsextremismus in der DDR ist das dogmatisch-simple Axiom vom Autoritarismus. Wie bei vielen anderen Autoren von links bis rechtskonservativ werden alle gesellschaftlichen Prozesse in der DDR recht unterschiedslos damit in Verbindung gebracht. Da gibt es pauschalisierend die »autoritäre Persönlichkeit«, die »autoritäre Familie«, die »autoritäre Erziehung« usw. Dabei sind die diesen Begriffen zugrunde gelegten Fakten empirisch kaum belegbar. Autoritarismus kann Rechtsextremismus begünstigen, muss es aber nicht. Dort, wo 1990/91 Untersuchungen in Ostdeutschland zu dieser Thematik vorgenommen wurden, unterschieden sich die Ergebnisse kaum von solchen in West- deutschland. Viele seriöse Wissenschaftler, wie zum Beispiel Detlef Oesterreich, Walter Friedrich und Oskar Niedermeyer, lehnen deshalb die Kategorie »Autoritarismus« als verbindlichen Indikator für die gegenwärtige Rechtsextremismusforschung ab. Das Otto-Stammer-Institut der Freien Universität Berlin hat deshalb diesen Begriff aus seinem Kriterienkatalog zur Untersuchung des Rechtsextremismus herausgenommen. In den einleitenden Teilen des Buches (S. 36 ff.) kolportiert die Verfasserin viele der gängigen, simpel gestrickten Legenden zur Geschichte der DDR und zeichnet sich selbst durch eine diesbezüglich bemerkenswerte Unkenntnis aus. So ist für sie die SED schon seit 1946 eine kommunistische Partei, verkörpern die antifaschistischen Boden- und Industriereformen von 1945/46 in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone durchweg eine »Entmachtung des Besitzbürgertums«, verlegt sie die Gründungsdaten der 1945/46 entstandenen Massenorganisationen FDGB und Kulturbund in das Jahr 1948 und der erste Ministerpräsident heißt bei ihr nicht Otto Grotewohl, sondern Walter Ulbricht. Unstimmig – um nicht zu sagen: unsinnig – ist gleichfalls ihre Behauptung, dass erst in den siebziger Jahren Erich Honecker auf Druck der Bevölkerung wirtschaftliche Beziehungen zu den westlichen Industriestaaten knüpfte. Der interessanteste Teil der vorliegenden Publikation sind die Kapitel zu den verschiedenen Theorien über die Ursachen des Rechtsextremismus in der DDR und den neuen Bundesländern. Eine zentrale Position nehmen dabei – wie schon erwähnt – die Aussagen des Bielefelder Soziologen und Jugendforschers Wilhelm Heitmeyer über Individualisierungstendenzen und die so genannten Modernisierungsverlierer ein. In diesem Kontext wird manches Zutreffende gesagt, aber auch manches Fragwürdige, was von Johanna Engelbrechten kaum kritisch reflektiert wird. Das Zweifelhafte trifft auch auf die Zustimmung der Verfasserin zu der abenteuerlichen »Töpchen-Theorie« des Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer zu (vgl. S. 132). Die vermeintlich wissenschaft- lichen »Erkenntnis« dieses Professors, der die Ursachen des DDR-Rechtsextremismus in der Reinlichkeitserziehung in den ostdeutschen Kindergärten verortet, stieß von Rügen bis zum Thüringer Wald auf heftigen Widerspruch und – weitgehend unabhängig von den weltanschaulich-politischen Affinitäten der sich Äußernden – auf eine einhellige Ablehnung. Als einen wesentlichen Mangel bei der Suche nach den Ursachen für den Rechtsextremismus sieht der Rezensent in der Unterbelichtung, zum Teil sogar in der Ablehnung einer Analyse solcher wesentlichen sozialökonomischen Faktoren wie der Massenarbeitslosigkeit, wachsender Armut, der um sich greifenden Zukunftsängste sowie in der weitgehenden Negation von politischen und sozialen Alltagserfahrungen in den neuen Bundesländern. Für sehr fragwürdig halte ich in diesem Zusammenhang auch die vom Herausgeber Hans-Joachim Plewig im Vorwort umrissene Position, dass nicht etwa »Armut, Arbeitslosigkeit und Desintegration die wesentlichen Ursachen für Rechtsextremismus seien. Das ist empirisch falsch und politisch gefährlich.« (S. 8) Die Antworten der Autorin auf die Frage, was zur Zurückdrängung und Überwindung des Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern getan werden könne, kreisen im Wesentlichen um die Theorie und Praxis der akzeptierenden Jugendarbeit des Bremer Wissenschaftlers Franz Josef Krafeld. Nach der »Wende« von 1989/90 führte deren Anwendung zu solchen überaus problematischen, ja unannehmbaren Erscheinungen, dass bekannte neonazistische Gewalttäter als staatsfinanzierte Betreuer bzw. Sozialarbeiter in neonazistischen Gruppen eingesetzt wurden. Bilanzierend kann man heute sagen, dass das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit in Ostdeutschland weitgehend gescheitert ist und deshalb nur noch von wenigen Politikern und Sozialbehörden bejaht wird. Abschließend sei vermerkt, dass der Preis des Buches im Vergleich zu ähnlichen, meistens umfangreicheren Publikationen, und vor allem angesichts dessen, was inhaltlich geboten wird, mit 39 Euro bei weitem zu hoch bemessen ist. Dr. sc. Norbert Madloch 101 Die NPD in den Parlamenten NiP-Redaktionskollektiv, HeinrichBöll-Stiftung, weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Hrsg., Die NPD im sächsischen Landtag. Analysen und Hintergründe 2008, Druckhaus Dresden, Dresden 2008, 96 Seiten. Projekt »Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus in kommunalen Gremien Berlins – Dokumentation und Analyse«, Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK), Hrsg., Berliner Erfahrungen. Zwei Jahre demokratische Auseinandersetzungen mit Rechtsextremen in kommunalen Gremien, Berlin 2008, 61 Seiten. Am 7. Juni werden die Sitze im Landtag des Freistaates Sachsen neu verteilt und auch die NPD stellt sich erneut zur Wahl. Nachdem sie 2004 mit zwölf Abgeordneten in das sächsische Parlament einzog, scheint ihr der Wiedereinzug sicher. Pünktlich zum so genannten »Superwahljahr« 2009 legt das Redaktionskollektiv »Nazis in den Parlamenten« (NiP) Sachsen in Kooperation mit der Heinrich-BöllStiftung eine Publikation vor, die die Aktivitäten der NPD in Sachsen analysiert. In acht Beiträgen geben die Autor/innen einen Einblick in das Wirken der NPD inner- und außerhalb des Landtages und den Umgang der demokratischen Parteien sowie der Medien mit den rechtsextremen Abgeordneten. Gleichzeitig bietet der Sammelband einen Ausblick auf die kommende Wahlperiode. Beispielsweise kommt Chris Fisher zu der Erkenntnis, dass die NPD-Fraktion – wider Erwarten – trotz personeller Einbußen keineswegs in der Versenkung verschwunden ist. So stellten die NPDAbgeordneten bis Sommer 2008 allein 2.165 Kleine Anfragen, wie Michael Nattke in einer vergleichenden Analyse der NPD-Fraktionen in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern feststellt. Nattke zeigt zugleich aber auch Schwächen auf: So scheint es, entgegen den Erwartungen, keinen kontinuierlichen Austausch zwischen beiden Fraktionen zu geben. Dies zeigt sich bei Anträgen 102 der NPD, die sich in ihrer Stoßrichtung zwar durchaus ähneln, in Argumentation und Formulierung jedoch erhebliche Unterschiede aufweisen. Dabei wird allerdings unterschlagen, dass einige, meist besonders skandalträchtige, Anträge trotz allem den Weg durch Landesparlamente und kommunale Gremien finden. Als Beispiel sei nur der geschichtsrevisionistische Antrag für »Rote Stolpersteine gegen das Vergessen« genannt, der in einigen Berliner Bezirksverordnetenversammlungen für Aufregung sorgte, nachdem er bereits im Schweriner Schloss gestellt wurde. Kritisch beäugt wird der Umgang der demokratischen Parteien mit der NPD. Besonders CDU und FDP falle die Abgrenzung gegenüber den Rechtsextremen nicht immer leicht. »Auf kommunaler Ebene wird immer wieder von freundschaftlichen Kontakten einzelner Abgeordneter zu in den entsprechenden Parlamenten vertretenen Neonazis berichtet […]« (S. 69). Mit einer weiteren Publikation, die sich mit den parlamentarischen Aktivitäten rechtsextremer Parteien befasst, stellt sich das Projekt »Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus in kommunalen Gremien Berlins – Dokumentation und Analyse« vor. Die Broschüre analysiert Auftreten und Strategien der Rechtsextremen in den Bezirksverordnetenversammlungen Berlins. Seit 2006 sind dort Verordnete von NPD, DVU und »Republikanern« (REP) vertreten. So ziehen die Autor/innen zunächst eine Zwischenbilanz und stellen einerseits eine gewisse Stabilisierung der Präsenz der NPD fest. Andererseits hindern mangelnde kommunale Verankerung und der »Berliner Konsens« der demokratischen Parteien die NPD an einer Verstetigung ihrer Präsenz. Anträge der Rechtsextremen werden konsequent abgelehnt und in der Regel entgegnet nur ein/e Vertreter/in der demokratischen Parteien den rechtsextremen Initiativen. Trotz dieser Erfolge und der anhaltenden Stigmatisierung der Rechtsextremen in Berlin raten die Autor/innen, »die bisher ge- machten positiven und negativen Erfahrungen genauer in den Blick zu nehmen« und an einer »Weiterentwicklung demokratischer Handlungsweisen« (S. 37) zu wirken. Folglich wartet die Broschüre mit einem umfangreichen und nützlichen Anhang auf, in dem Praxisbeispiele aus der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus auf kommunaler Ebene sowie beispielhafte Anträge und Debatten dokumentiert sind. Trotz innerparteilicher Querelen ist die NPD auf dem Vormarsch: So verfügt sie bundesweit über dutzende Mandate und Kommunalparlamenten. Sie nutzt diese Möglichkeit, um ihr menschenverachtendes Gemeinschaftsmodell zu propagieren. An sachpolitischer Arbeit in den Kommunen jedoch zeigt sie kein Interesse. Trotzdem erfordert die Abgrenzung der demokratischen Parteien eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus. Die beiden vorliegenden Broschüren können Vertreter/innen aus Kommunal- und Landespolitik sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren Anregungen und Hilfestellungen hierzu geben. Yves Müller Hinweis Die Broschüre »Die NPD im sächsischen Landtag. Analysen und Hintergründe 2008« kann gegen Erstattung der Versandkosten über das Bildungswerk weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung bezogen werden. Bestellungen bitte an [email protected]. Außerdem steht sie unter www.weiterdenken. de zum Download bereit. Die Broschüre »Berliner Erfahrungen. Zwei Jahre demokratische Auseinandersetzungen mit Rechtsextremen in kommunalen Gremien« kann über den Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK) bestellt werden. Bestellungen bitte an doku-und-analyse@vdk-berlin. de. Sie kann auch unter www.mbr-berlin.de/Verein/Rechtsextremismus_in_ den_BVVen heruntergeladen werden. Die NPD in Mecklenburg-Vorpommern. Reihe DEMOKRATIEPOLITIK(Politikwissenschaftliche Arbeitspapiere aus dem Arbeitsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte) Herausgeber: Prof. Dr. Hubertus Buchstein, Universität Greifswald. Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte / Institut für Politikwissenschaft. In fortlaufender Folge (Hefte 2–4) sind bisher drei Broschüren in dieser Reihe erschienen, die sich explizit mit Problemen des Rechtsextremismus auseinandersetzen. Prof. Dr. Buchstein zeichnet als Herausgeber verantwortlich. Sie sind auch ins Internet eingestellt. Das Heft 2 von Benjamin Fischer: Ueckermünde – ein Refugium des Rechtsextremismus? (2006, 42 S.) untersucht, ob Ueckermünde, eine relativ kleine Stadt am Nordostende der Republik, in der ersten Hälfte des Jahrzehnts ein Refugium des Rechtsextremismus geworden ist. Es umfasst ein kurzes Lagebild der Kommune, die Aktivitäten der NPD im Ort, das Auftreten der Kameradschaften und vor allem von sogenannten Kulturkreisen wie dem HBP (Heimatbund Pommern). Zum späteren Einzug der NPD in den Schweriner Landtag auf Grund der Ansammlung entsprechenden Stimmenpotentials der extremen Rechten trug vor allem das demagogische Wirken einer Bürgerinitiative »Schöner und sicherer wohnen in Ueckermünde« mit ihrer ausländerfeindlichen Hetze bei. Es sind nur wenige aber politisch profilierte Kader der NPD, die mit klaren Strategien für eine Verankerung des Rechtsextremismus in der gesellschaftlichen Mitte der Stadt sorgten. An zahlreichen Beispielen wird demgegenüber deutlich gezeigt, wie schwache demokratische Strukturen und Versagen kommunaler Behörden eine Mitschuld an der Entstehung eines solchen »Refugiums« tragen und die Notwendigkeit aktiver und offensiver politischer Auseinandersetzung mit den rechtsextremen Gruppen begründet. Das Heft 3 von Benjamin Barkow: Die Berichterstattung über die NPD in der regionalen Presse Mecklenburg-Vorpommerns (2007, 51 S.) nimmt als Beispiele für die Untersuchung erstens die Anklamer Ausgabe des »Nordkurier« und zweitens die Stralsunder Ausgabe der »Ostseezeitung«. Im einzelnen erfährt man dabei etwas über die Anordnung dieser Berichterstattung in den Zeitungen, über den Umfang der Berichte zu den Ereignissen, Berichte über das Auftreten der NPD in der Stadtvertretung Anklam und im Kreistag OVP (Ostvorpommern) sowie in der Stralsunder Bürgerschaft. Dann erfolgt ein Vergleich der Berichterstattung in den beiden Zeitungen und eine Bewertung. Das Heft 4 von Laura Niemann: Die NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Ihre Parlamentsarbeit im ersten Jahr. (2008, 96 S.) ist das bisher umfangreichste Heft. Erfasst wird dabei das Geschehen im Schweriner Landtag von Ende 2006 bis Ende 2007. Vorangestellt ist eine Übersicht zum Auftreten rechtsextremer Parteien in Landtagen der Bundesrepublik in der Vergangenheit. Danach werden die Aussagen der NPD vor ihrem Einzug in den Landtag 2006 analysiert. Den Hauptteil bilden die Untersuchungen zu den von den NPD-Vertretern im Landtag gehaltenen Reden, die eingebrachten Entschließungs- und Gesetzesentwürfe sowie die Auseinandersetzungen der demokratischen Parteien im Landtag mit der NPD. Die faktenreiche und detaillierte Beschreibung von Laura Niemann ist zusätzlich durch Interviews gestützt. Für weiter reichende Schlussfolgerungen über Mecklenburg-Vorpommern hinaus ist hervorzuheben, dass die Autorin einerseits die Arbeit der NPD im Schweriner Landtag als vergleichsweise professionell und gut organisiert bewertet, dass zum anderen es aber auch den demokratischen Parteien vergleichsweise gut gelingt, die Provokationsstrategie der NPD ins Leere laufen zu lassen. 103 Karl-Heinz Jahnke – Arbeiterbewegung und Antifaschismus: Bilanz eines Forscherlebens Karl-Heinz Jahnke, Gegen das Vergessen! Biographische Notizen. Forschungen zum Widerstand gegen die NS-Diktatur in Deutschland, Verlag Ingo Koch, Rostock 2008, 203 Seiten. Diese Publikation des Rostocker Historikers Professor Karl-Heinz Jahnke ist sein persönlichstes Werk. Er hält umfassend Rückschau auf sein Wirken als engagierter Hochschullehrer und Forscher zur jüngsten deutschen Geschichte. Der Autor vermittelt den Lesern mehr als die Bilanz eines erfülltes Wissenschaftlerleben. Das Buch führt in die Vergangenheit und ist zugleich eine Reise in die Gegenwart und Zukunft. Zeitlebens hat Karl Heinz Jahnke in seinem wissenschaftlichen Wirken immer gegen »das Vergessen« geforscht und publiziert. Sehr treffend schreibt er, dass er, geprägt durch die Kriegsereignisse des Zweiten Weltkrieges, mithelfen wollte, eine neue Welt aufzubauen – frei von Völkermord, sozialer Ungleichheit und Verletzung der Menschenwürde. In diesem Sinne ist auch seine Rede als Vertreter der Studentenschaft anlässlich des Festaktes zur 500-Jahrfeier der Ernst-Moritz-Arndt-Universität am 16. Oktober 1956 zu bewerten, in der er voller Stolz auf die großzügigen Ausbildungsmöglichkeiten für die Jugend, insbesondere für die Arbeiter- und Bauernkinder in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik verwies. Knapp aber zugleich prägnant skizziert Karl Heinz Jahnke seine Schulzeit in Rostock, Grammow, Kavelstorf und in Bad Doberan. Bereits 1948 schloss sich der Autor der Kinderlandbewegung der FDJ und den Jungen Pionieren an. Freimütig schildert er, dass ihm die vier Schuljahre in Bad Doberan nicht leicht gefallen seien, da er kriegsbedingt erhebliche schulische Rückstände aufzuholen hatte. Sachlich beschließt der Autor diesen Lebensabschnitt mit der Feststellung, dass er einen politischen Reifeprozess durchlief und als Konsequenz dieser Erkenntnis in die SED eintrat. Einprägsam schildert der Autor die Etappen seines Studiums an der ErnstMoritz-Arndt-Universität. Er betont dabei die fundierte Ausbildung zum Lehrer für Geschichte an Erweiterten Oberschulen. Zugleich verweist er darauf, dass am Historischen Institut in Greifswald Mediävisten die Forschung und Lehre prägten und dass das Gebiet der Neuzeit sich erst im Aufbau befand. We104 nig geschah auf dem Gebiet der Neuesten und Zeitgeschichte. Zielgerichtet wandte sich Karl-Heinz Jahnke dieser Thematik zu, indem er seine Diplomarbeit dem Thema »Zur Geschichte der SPD in Stralsund« (1891–1914) widmete. Mit berechtigtem Stolz schreibt er, dass sein Staatexamen zu den Besten des Jahres 1957 gehörte und er die Möglichkeit erhielt, an der der Greifswalder Universität seine Studien und Forschungen fortzusetzen (vgl. S.22). Der Autor spart aber auch nicht die vielfältigen Schwierigkeiten in seinem damaligen Lebensweg aus. Der Leser erhält einen anschaulichen Einblick in die umfangreichen Aktivitäten als Forscher und als politisch engagierte Persönlichkeit in der FDJ-Hochschulleitung. Große Aufmerksamkeit widmet der Autor seinem Wirken als Historiker in Greifswald von 1957 bis 1968. Hier lotet er tiefgründig seine Erfolge, aber auch die ihm zugefügten Verleumdungen über sein Wirken in politisch bewegten Zeiten aus. Der Autor betont in seinem Rückblick auf die Greifswalder Jahre, dass er sich hier vor allem auf die Erforschung des europäischen Widerstandes der Studenten gegen den Faschismus konzentrierte. Der Leser erfährt, dass unter seiner Federführung 1957 die Idee zu dem Forschungsprojekt »Studenten Europas im Kampf gegen den Hitlerfaschismus« entwickelt wurde. Dazu fand er Partner in anderen Ländern. Im Oktober 1959 erschien zu dieser Thematik das Buch »Niemals vergessen! Aus dem antifaschistischen Widerstandskampf der Studenten Europas«. Im Oktober des gleichen Jahres konnte unter seiner Leitung die erste wissenschaftliche Konferenz zum Thema »Europäische Jungend im Widerstand« in Greifswald durchgeführt werden. Die Greifswalder Jahre des Historikers KarlHeinz Jahnke sind seit seiner 1960 erfolgten Promotion und der im Frühjahr 1966 verteidigten Habilitationsschrift vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er als Forscher und Hochschullehrer sein selbst gewähltes Forschungsthema, den antifaschistischen Widerstand, und dabei vor allem den Anteil der Jugend nie verlassen hat; auch dann nicht, wenn andere Herausforderungen von ihm zu bewältigen waren. Völlig zu Recht stellt der Autor über diese Jahre fest: »Eine bedeutende Wegstrecke in der beruflichen Entwicklung war zurückgelegt. Mit 31 Jahren hatte ich habilitiert. Durch meine Leistungen in Forschung und Lehre erfuhr ich Annerkennung über Greifswald hinaus.« (S. 46) Im Ergebnis der gegen ihn erhobenen, ungerechtfertigen Verleumdungen musste der Autor 1968 zur Wilhelm-PieckUniversität Universität nach Rostock wechseln. Begründet wurde dieser Wechsel unter anderem auch damit, dass nur noch in Rostock zur Jugendgeschichte geforscht und gelehrt werden sollte. Sein Wirken als Historiker in Rostock unterteilt der Autor in zwei Abschnitte. Im ersten skizziert er den neuen komplizierten Anfang am Historischen Institut der Rostocker Universität. Der gestandene Wissenschaftler mußte vertraute und bewährte Lehrveranstaltungen aufgeben und neue Kontakte zu den Studenten und Fachkollegen suchen. Es galt die Auszubildenden für sein Forschungsgebiet aufzuschließen und zu motivieren, nämlich für die Erforschung der deutschen Arbeiterbewegung und der Jugendgeschichte bis in die Gegenwart. Karl-Heinz Jahnke stand vor der Aufgabe, sich Grundlagen für eine systematische Forschungsarbeit zu schaffen. Der Autor schildert detailliert, wie er die zu bewältigenden Probleme meisterte. Wie viel Kraft und Zeit aufgewandt werden musste, um das von der politischen Führung geforderte Buch »Geschichte der Freien Deutschen Jungend« zu erarbeiten, kann man in diesem Kapitel nachlesen. Die Buchnutzer erfahren hier auch, wie groß die Freude aller Beteiligten war, als im Jahre 1982 das Werk endlich gedruckt vorliegen konnte. In der Zwischenzeit, nämlich am 1. September desselben Jahres, wurde KarlHeinz Jahnke auch zum ordentlichen Professor für Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung berufen. Lebendig und unterlegt mit aufschlussreichen Details beschreibt der Rostocker Historiker sein Wirken als Direktor der Sektion Geschichte in den Jahren von 1981 bis 1986. Die letzen zwei Jahre skizziert er als Jahre heftiger Auseinandersetzungen über den Niedergang der DDR und ihr schließliches Ende. Im Kapitel »Arbeit als Historiker in Rostock 1991–2008« (S. 85–126) vermittelt und belegt der Verfasser durch eine Vielzahl von Episoden als Forscher und Publizist sowie aus dem liebevoll nachgezeichneten Familienleben, dass er selbst unter härtesten Lebensbedingungen an seiner Lebensmaxime »Gegen das Vergessen« tätig zu sein festgehalten hat. Ein Vorzug des Buches ist, dass der Autor mit zahlreichen Bild- und Textdokumenten seine wissenschaftlichen Weggefährten benennt und in seinen Ausführungen betont, dass er vor allem durch die Vielfalt seiner Kontakte im Inund Ausland so erfolgreich tätig sein konnte und auf ein erfülltes Leben als Historiker verweisen kann. Typisch für ihn ist auch sein mahnender Hinweis auf offengebliebene Forschungs- und Publikationsvorhaben, die noch zu bewältigen sind Abgerundet wird die vorliegende Publikation durch das Kapitel »Dokumente«. Hier stellte er eine Fülle seiner veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten vor und berichtet schonungslos über die Ereignisse an der Sektion Geschich- te der Rostocker Universität zwischen September 1988 bis Oktober 1990. Im Nachwort spürt man die Freude und Erleichterung des Autors dieses so persönlich angelegte Buch geschaffen zu haben. Jeder, der an der Geschichte der Arbeiter(jugend)bewegung interessiert ist und sich mit dem Antifaschismus in Geschichte und Gegenwart beschäftigt, sollte diesen lesenswerten Band, dem auch sehr aufschlussreiche Fakten zur Geschichte der DDR zu entnehmen sind, in die Hand nehmen. Dr. Günter Wehner 105 106