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EDITORIAL. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Dr. Reiner Zilkenat
DAS THEMA: GLOBALISIERUNG, WIRTSCHAFTSKRISE, RECHTSEXTREMISMUS
Globalisierungskritik von rechts. Neofaschismus und die soziale Frage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Sevim Dagdelen, MdB
Rassismus meint mehr als Rechtsextremismus.
Die gesellschaftliche Normalität als Problem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Bernd Winter
Weltweite Finanzkrise und die extreme Rechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Roland Bach
Finanzkrise und Antifaschismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Heinz Engelstädter
Bankrott des Neoliberalismus – Aufgaben der LINKEN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Ralf Krämer
AKTUELLES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS
Konstruktion und Krise der Männlichkeit(en) in der »Neuen Rechten« –
Die Wochenzeitung »Junge Freiheit«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Yves Müller
Keine Nazis in Rosas Straße, gemeinsam gegen »Thor Steinar« –
Ein Überblick zu den Aktivitäten der Initiative »Mitte gegen Rechts« in Berlin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Roman Fröhlich
HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS:
Franz Mehring (1846–1919). Biographische Skizze anlässlich seines 90. Todestages. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Werner Ruch
Berlin – das Zentrum der deutschen Revolution 1918/1919?
Regionales und Biographisches zum 90. Jahrestag der Novemberrevolution.
Mit einem biographischen Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Ingo Materna
Historische Forschungen zur Revolution 1918/19 in Deutschland und ihre
Rezeption in der Zeit der Außerparlamentarischen Opposition in der BRD und Westberlin. . . . . . . . . . . . . . . . 14
Reiner Zilkenat
Der Arbeiterkinderklub »Nordost« in Berlin-Prenzlauer Berg1929 bis 1933. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Oliver Reschke
Willi Scheinhardt. Ein sozialdemokratischer Funktionär des Fabrikarbeiter-Verbandes
im antifaschistischen Widerstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Heide Kramer
Der Bund der Freunde der Sowjetunion und der antifaschistische Widerstand:
Neue Fakten aus den Akten des Bundesarchivs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Günter Wehner
Leistungen und Fehlleistungen marxistischer Faschismustheorien aus heutiger Sicht.
Einige Vorüberlegungen für eine neue materialistische allgemeine Theorie der Faschismen. . . . . . . . . . . . . . . 14
Mathias Wörsching,
Das antifaschistische Thema in der DDR-Literatur.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Dieter Schiller
1
BERICHTE UND INFORMATIONEN:
2.Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Rechtsextremismus/
Antifaschismus der LINKEN im Dezember 2008.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Roland Bach
Bundestagsfraktion DIE LINKE, Kleine Anfrage zu den rechtsextremen
Bestrebungen innerhalb der Partei »Die Republikaner«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
»Es brennt!« Eine Ausstellung zum antijüdischen Terror im November 1938. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Horst Helas
»Stille Helden« – Noch eine Gedenkstätte in Berlin? Ja, und das ist gut so. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Horst Helas
Bundestagsfraktion DIE LINKE, Kleine Anfrage zu den Kontakten zwischen
Bundeswehr und Anzeigenkunden der im rechtsextremen
Spektrum angesiedelten »Deutschen Militärzeitschrift« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
ZUR DISKUSSION:
Die Linken und ihre Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Professor Dr. Helmut Meier
Anmerkungen zu einer strittigen Frage – Zu Horst Helas’ Artikel
zum Antisemitismus im »Rundbrief« 4/2008. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Detlef Joseph
LESERBRIEFE:
Die Pogrome begannen am 7. November 1938. Zur Dokumentation
von Horst Helas und Reiner Zilkenat im »Rundbrief« 4/2008.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Ulrich Schneider
Kritisches und Zustimmendes zu mehreren Beiträgen im Heft 4/2008 des »Rundbriefs«.. . . . . . . . . . . . . . . . 14
Manfred Augustyniak
Bemerkungen zum Heft 4/2008 des »Rundbriefs«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Gerhard Rohr
LITERATURBERICHT:
Die Aggressionen Hitlerdeutschlands gegen die Tschechoslowakei 1938/39. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Reiner Zilkenat,
REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN:
Der »Generalplan Ost« und die »Kollaboration« bildungsbürgerlicher Eliten mit dem Naziregime.. . . . . . . . . . . . 14
Werner Röhr
»Sie waren die Boys« – Die Geschichte von 732 jungen Holocaust-Überlebenden.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Horst Helas
Karl Heinz Jahnke – Arbeiterbewegung und Antifaschismus: Bilanz eines Forscherlebens. . . . . . . . . . . . . . . . 14
Günter Wehner
Reflexionen zum Rechtsextremismus in Ostdeutschland? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Norbert Madloch,
Die NPD in den Parlamenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Yves Müller
Die NPD in Mecklenburg-Vorpommern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Roland Bach
2
EDITORIAL
3
DAS THEMA-GLOBALISIERUNG,
WIRTSCHAFTSKRISE, RECHTSEXTREMISMUS
Globalisierungskritik von rechts.
Neofaschismus und die soziale Frage
Nach wie vor stellt der Rassismus, stellt
die Hetze gegen Migrantinnen und Migranten, den Kern des Neofaschismus
in Deutschland dar. Vor allem Menschen mit Migrationshintergrund sind
es, die zu Opfern neofaschistischer Gewalt in Deutschland werden. Täglich finden solche Gewalttaten in Deutschland
statt. Nach der Statistik, die die LINKE
monatlich von der Bundesregierung abfragt, sind es drei rechtsextreme Gewalttaten, die Tag für Tag in diesem Land zu
verzeichnen sind. 1.047 rechtsextremistische Gewalttaten gab es 2006 (die in
der letzten Woche vom Innenministerium
veröffentlichten Zahlen für 2007 liegen
auf fast dem gleichen Niveau, sind aber
noch nicht aufgeschlüsselt) und fast die
Hälfte dieser Gewalt richtete sich gegen
Menschen mit Migrationshintergrund,
die andere Hälfte gegen Linke, Obdachlose, Juden und andere Opfergruppen.
Rassismus und Hetze gegen
MigrantInnen
Rassistische Übergriffe und Propaganda
gehören also zum Alltag dieser Republik.
Die Meldungen zu diesem alltäglichen
und gewalttätigen Rassismus der extremen Rechten finden sich zumeist nur
noch in Kurzmeldungen der regionalen
Presse. Während einzelne Ereignisse,
wie etwa die rassistische Hetzjagd im
sächsischen Müggeln – acht Inder wurden nach einem Dorffest durch den Ort
gehetzt wurden – große Empörung hervorrufen, bleibt diese alltägliche rassistische Gewalt fast ohne öffentliche Reaktion. Seit 1990 hat es in Deutschland
mehr als 130 Todesopfer neofaschistischer Gewalt gegeben, eine unvorstellbare Zahl.
Der Verein Opferperspektive in Brandenburg verleiht eine Ausstellung mit
dem Titel »Opfer rechter Gewalt« in der
es gerade darum geht, diesen Opfern
Name und Gesicht zu geben).
Dennoch herrscht eine Gleichgültigkeit
und Ignoranz gegenüber diesen Opfern
des Neofaschismus vor, die für die betroffenen Menschen eine zweite Demütigung ist. Häufig werden die Täter, wenn
sie denn überhaupt angeklagt werden,
zu skandalös geringen Strafen verurteilt.
Rassistische Gewalt von rechts hat die
4
klare Funktion, Menschen mit Migrationshintergrund zu zeigen: Ihr gehört
nicht hierher, ihr seid uns nicht willkommen, verschwindet! Die Nazis fühlen
sich hier oft als diejenigen, die den Willen einer so genannten schweigenden
Mehrheit in reale Handlungen umsetzen. Und hier liegt, wie ich glaube, der
Kern des Problems: Rassismus ist eben
nicht auf die extreme Rechte begrenzt,
Rassismus ist eine verbreitete Einstellung in der Mitte der Gesellschaft. Die
Nazis stehen – mindestens mit ihrer rassistischen Ideologie – nicht am Rande
der Gesellschaft, sondern sie drücken
Stimmungen aus, die wir auch bei einer
(relativen) Mehrheit finden.
Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen haben in den letzten Jahren
gezeigt, dass die klassischen Themen
der extremen Rechten – Rassismus,
Ausländerfeindlichkeit, Autoritarismus
und Nationalismus – bis weit in die Mitte der Gesellschaft auf Zustimmung stoßen.
Die unter dem Titel »Deutsche Zustände« von einer Forschergruppe um Wilhelm Heitmeyer seit fünf Jahren regelmäßig vorgelegten Ergebnisse1 zeigen
eine konstant hohe Zustimmung zu verschiedenen Formen von Ausgrenzung,
wobei die fremdenfeindlichen Einstellungen die höchsten Zustimmungswerte
verzeichnen. Knapp 60 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass
zu viele Ausländer in Deutschland leben und 35 Prozent sind der Ansicht,
bei knapper werdenden Arbeitsplätzen
sollten die Ausländer in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden.2 Auch
Obdachlose und Muslime sind aggressiven Formen der Ablehnung von 30 bis
40 Prozent der Befragten ausgesetzt,
gleichzeitig fordern mehr als 40 Prozent
der Befragten mehr Rechte für diejenigen, die in Deutschland etabliert sind.3
Für Heitmeyer ist unter anderem besonders die Tatsache beunruhigend, dass
die hier festgestellten Ausgrenzungsideologien nicht auf den Rand der Gesellschaft beschränkt, sondern auch in
der gesellschaftlichen Mitte anzutreffen
sind. Damit werden diese Einstellungen
normalitätsbildend und können immer
weniger problematisiert werden. Von
dieser Form der Normalisierung von Ausgrenzung und Rassismus kann auch die
extreme Rechte mit ihren Politikangeboten profitieren. Für Heitmeyer und andere Sozialwissenschaftler ist der Zusammenhang dieser Einstellungsentwicklung
mit zunehmenden sozialen Desintegrationsprozessen offensichtlich.
Die mit der Verschärfung der sozialen
Lage einhergehenden Unsicherheitserfahrungen führen zu verstärkter Orientierungslosigkeit und zur Suche nach
Sicherheiten, die sich in Werten wie Nation, Heimat aber auch »Rasse« und ethnischer Zugehörigkeit finden lassen.
Die Untersuchungen von Heitmeyers
Bielfelder Forschergruppe zeigen hier einen deutlichen Zusammenhang mit dem
Thema Fremdenfeindlichkeit.
Im neuesten Band seiner Studie »Deutsche Zustände« zeigen die AutorInnen,
dass vermehrt auch soziale Schwache
von Ausgrenzungen und Abwertungen
betroffen sind. Heitmeyer spricht in diesem Zusammenhang von einer »Ökonomisierung des Sozialen«, d. h. immer
mehr werden Nützlichkeitskriterien zum
Maßstab der Bewertung von Menschen.
Arbeitslose, Hartz IV- und SozialhilfeEmpfänger werden verstärkt abgewertet, sie gelten als unnütz, die Gemeinschaft belastend und als selbst schuldig
an ihrer Situation. Die neoliberale Ideologie zeigt hier ihre Früchte und führt zu einer autoritären Abgrenzung von den sozial Schwachen, bei denen es sich eben
nicht nur um MigrantInnen handelt.
Die von Heitmeyer und seinen MitarbeiterInnen vorgelegten Ergebnisse finden ihre Bestätigung in der weithin beachteten empirischen Studie von Oliver
Decker und Elmar Brähler mit dem Titel »Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme
Einstellungen und ihre Einflussfaktoren
in Deutschland«.4 Die von ihnen zutage geförderten Ergebnisse verdeutlichen die starke Verbreitung von rassistischen, ausländerfeindlichen und
autoritären Einstellungen in größeren
Teilen der Bevölkerung.
So stimmen 37 Prozent der Befragten
(43,8 Prozent in Ostdeutschland) der
Aussage zu »Die Ausländer kommen nur
hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen«; 15 Prozent sind der Ansicht,
das Land sollte »einen Führer haben,
der Deutschland zum Wohle aller mit
starker Hand regiert« und 26 Prozent
stimmen der Aussage zu: »Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke
Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.«
Ich will mit diesen Zahlen darauf hinweisen, dass das Problem über das wir
reden leider weitaus größer ist, als die
die NPD oder auch die gesamte rechtsextreme Szene. Es handelt sich um ein
Problem in der Mitte der Gesellschaft
und es wird auch von hier aus verschärft. Ich erinnere nur an den letzten
Landtagswahlkampf von Roland Koch
in Hessen 2008, der geradezu ein Paradebeispiel rassistischer Hetze aus der
bürgerlichen Mitte war. Koch ging es darum, mit dem Thema »Ausländer« an vorhandene Emotionen und Abwehrreflexe
anzuknüpfen und sie zu verstärken. Bedenklich ist, dass Koch die Wahlen als
Ministerpräsident zwar nicht gewann,
aber immerhin die meisten Stimmen in
Hessen auf sich vereinen konnte.
Die Diskussion zum Thema »Ausländer«
ist seit vielen Jahren in Deutschland verbunden mit »Bedrohung«, »Kriminalität«,
»kulturelle Überfremdung«, »Ausnutzung des Sozialstaates«. Diese einseitige, negative Thematisierung ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Nazis.
Von Seiten der Politik wird dieser Diskurs immer wieder verschärft und für
Wahlkampfzwecke und Stimmungsmache genutzt.
Eine wichtige Funktion solcher Debatten
ist offensichtlich: Es sollen Verantwortliche und Sündenböcke für reale soziale Probleme präsentiert werden und
es soll ein »Angebot« an die Mehrheitsbevölkerung gemacht werden. Wenn
die soziale Einbindung über die fortlaufenden sozialen Härten nicht mehr funktioniert, dann bietet man den Menschen
Zugehörigkeit über ihre Abstammung,
die Nation, die »Rasse« an.
Weil man Deutscher/Deutsche ist, hat
man Anspruch auf Teilhabe. Wer dieses
Kriterium nicht erfüllt, hat auch keine
Rechte in diesem Land. Das ist zugespitzt die Logik, die hinter dieser Debatte steht. Klarer und zugespitzter finden
wir die Logik des Rassismus und der
Ausgrenzung bei den Nazis.
Besetzung der sozialen Frage
durch Rechte: Ein neues Phänomen?
Seit einigen Jahren sehen wir, dass die
Nazis verstärkt versuchen, mit traditionell linken Themen Einfluss zu gewinnen.
Die soziale Frage, als zentrales Element
linker Politik, wird auch von den Nazis
immer mehr besetzt. »Antikapitalismus«
als Propagandafeld der extremen Rechten in der Bundesrepublik erscheint vielen als Neuerung des Neofaschismus.
Verblüfft stellen manche Beobachter
der rechten Szene fest, dass in der Propaganda und in den Aktionen der Nazis die soziale Frage, die Kritik an Globalisierung und »One World« zu einem
immer wichtigeren Thema wird. Es wäre jedoch falsch, diese thematische Bezugnahme auf die soziale Frage und die
Folgen lediglich als »Modeerscheinung«
zu betrachten.
Denn die Besetzung dieser Frage durch
die extreme Rechte ist so alt wie der
Faschismus selbst. Nur für die Propaganda der NPD ist die offene Thematisierung dieser sozialen Frage und die
teilweise vehemente Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem und der
Globalisierung, wie sie sich in den letzten Jahren beobachten lässt, tatsächlich eine neue Ausrichtung. Die NPD
reagiert damit auf die zunehmenden sozialen Verwerfungen, die durch den ungebremsten Kapitalismus hervorgerufen
werden und antwortet darauf mit einer
Kapitalismuskritik, wie wir sie aus der
Geschichte des Faschismus in Deutschland und Europa kennen.
Es handelt sich dabei um eine völkisch
grundierte Kritik, die für einen Teil der
faschistischen Bewegung kennzeichnend ist. Dass die extreme Rechte und
die NPD mit einer solchen Form des
»Antikapitalismus« in einem ersten Anlauf Wähler durchaus erfolgreich ansprechen können, belegen die Landtagswahlergebnisse der NPD in Sachsen
und Mecklenburg-Vorpommern, sowie
die eben angeführten zahlreichen Untersuchungen zu rechtsextremen Einstellungsmustern in größeren Teilen der
Bevölkerung.
Zu den Inhalten der sozialen Frage von
rechts:
Wenn NPD und Kameradschaften gegen
Sozialabbau, gegen die steigende Macht
der internationalen Konzerne, gegen einen Raubtierkapitalismus protestieren,
dann treffen sie damit die Gefühlslage
von relevanten Teilen der Bevölkerung,
gerade auch in vielen abgehängten Regionen Ostdeutschlands. Die von der
extremen Rechten im Zusammenhang
mit der sozialen Frage angeprangerten
Zustände sind real und die Kritik daran
ist berechtigt. Jürgen Gansel, Abgeordneter der NPD im Sächsischen Landtag
und einer der wichtigsten Vordenker der
Partei, schreibt hierzu im Juli 2006 unter der Überschrift »Mitteldeutschland
als Testfeld der Globalisierer«:
Viele dortige Regionen drohen zu einem
sozialen Niemandsland zu werden, in
dem äußere und innere Not, d. h. materielles und immaterielles Elend, eine tragische Einheit bilden. Es seien
Landstriche entstanden, in denen wegen chronischer Massenarbeitslosigkeit
selbst die Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen dem sozialen Siechtum verfielen.
Es gebe ganze Familien, die in die Armut hineinwachsen, ohne jede Aussicht
auf ein Leben in sozialer Sicherheit, in
menschlicher Würde und in Zukunftsgewissheit. Der Verlust des Lebenswillens könne die Endkonsequenz dieses
Höllentrips durch die neokapitalistische
Wolfsgesellschaft sein, die den Menschen im Zeitalter globaler, volkswirtschaftlich entkoppelter Finanzströme
selbst als ausbeutbare Profitquelle immer seltener braucht. Soweit Gansel.
Entscheidend für den Kern des »Antikapitalismus« von rechts ist also die Frage,
worin die extreme Rechte die Gründe für
die soziale Misere erkennt und wie ihre
Lösungsvorschläge aussehen. Hier sind
die Antworten recht eindeutig und altbekannt. »Antikapitalismus« und Kritik
an den sozialen Zuständen erfolgen bei
den Nazis immer aus einer völkischen,
einer rassistischen Perspektive. Nicht
der Kapitalismus als universales Ausbeutungsverhältnis wird kritisiert. Nicht
die universelle Profitlogik, die die sozialen Bedürfnisse der Menschen hinter
die Fragen nach Gewinn, Rendite und
Wachstum zurückdrängt, wird in Frage gestellt. Kritisiert wird vor allem ein
Kapitalismus, der sich von seinen nationalen Wurzeln entfernt hat, der ein
globaler Kapitalismus ist und dessen
negative Seiten auch die abhängig beschäftigten Deutschen treffen. Die dem
kapitalistischen System immanente Konkurrenzlogik trifft sich dagegen genau
mit dem Menschenbild der Nazis, für die
es einen ständigen Kampf ums Dasein
gibt, für die die Einteilung in Höher- und
Minderwertige die Norm ist, die das alleinige Überleben des Stärkeren propagieren. Verändert werden soll der Kapitalismus nur da, wo er auch auf die
vermeintlich höherwertigen arischen
Deutschen negative Auswirkungen hat.
So gilt den Nazis das Konkurrenzverhältnis dort als schlecht, wo es über
die Konkurrenz mit billigen Arbeitskräften aus dem Osten auf deutsche Arbeiter und Arbeiterinnen zurückschlägt.
Wenn dagegen das deutsche Kapital,
geschützt vor ausländischer Konkurrenz, andere Länder durchdringt und
den Menschen dort die Bedingungen
diktiert, dann haben die Nazis nichts dagegen einzuwenden. Die von den Nazis,
ganz in der Tradition des Faschismus
propagierte »raumorientierte Volkswirt5
schaft«, ist das Modell für einen solchen
nationalen Kapitalismus.
Auch in ihrer Globalisierungskritik adaptieren die heutigen Nazis in aller Offenheit ihr historisches Vorbild. Sie beziehen
sich dabei auf die im NSDAP-Programm
von 1920 gebrauchte Unterscheidung
in »raffendes« und »schaffendes Kapital« sowie auf die dort propagierte Forderung nach einer »Brechung der Zinsknechtschaft«.5 Das nationale Kapital,
die deutschen Kapitalisten, gelten in
dieser Logik als »schaffende« Kapitalisten, während internationale Kapitalverbünde, Großbanken und Hedgefonds
als »raffendes Kapital« definiert werden,
die wiederum mit einer geographischen
Herkunft (»Ostküsten-Kapital«) charakterisiert werden. In einem aktuellen
Schulungsmaterial der NPD für Wahlkämpfe heißt es dazu wörtlich:
»Der Kapitalismus ist aufgrund seines
nomadischen Händlergeistes, seiner vagabundieren, grenzenlosen Profit- und
Spekulationssucht, seiner Verachtung
von Volk und Heimat sowie seiner Missachtung des Volkswohls ein vaterlandsloser Geselle und damit das antinationale Prinzip schlechthin.«
In beiden Stichworten findet man bereits die Verbindungslinien zu einem
Grundelement faschistischer Ideologie,
den rassistischen Antisemitismus.
Der »nomadische Händlergeist«, der »vagabundiert«, gilt in der faschistischen Ideologie als Synonym für Judentum. Auch
der Begriff »Ostküste« – gemeint sind USBanken in New York und anderen Metropolen des Ostens der USA – gilt als Code
nicht nur für amerikanisches bzw. internationales Kapital, sondern für die angeblich jüdische Kontrolle über die globalen
Finanzmärkte. Statt über Profitlogik und
Kapitalinteressen zu sprechen, wird das
Handeln von Investmentfonds als »von jüdischen Dunkelmännern bestimmt« charakterisiert, die ein Interesse am »Aussaugen« nationaler Ökonomien haben.
Vor diesem Hintergrund ist auch die politische Antwort der extremen Rechten
auf die Globalisierung in sich schlüssig. Sie fordern keine gerechte Weltwirtschaft, sondern propagieren: »National
statt global!« Und da der »nomadisierende Kapitalismus« angeblich ein Interesse an der ungehemmten Zuwanderung von billigen Arbeitskräften in unser
Land hat, verbindet sich Kapitalismusund Globalisierungskritik ganz ungebrochen mit der rassistischen Propaganda
von NPD und anderen Rechten.
Das rassistische Gegeneinander von
Deutschen und Nichtdeutschen ist der
Kern bei der Thematisierung der sozialen Frage.
6
Jürgen Gansel macht das in zahlreichen
Beiträgen immer wieder deutlich:
Die Nationalisierung der sozialen Frage und die Vision eines solidarischen
Volksstaates, in dem die soziale Teilhaberschaft eines jeden Deutschen garantiert sei, werde dem Nationalismus
soviel Zulauf bescheren, so dass »die
morschen Knochen der Volks- und Vaterlandsabwickler« noch gehörig zittern würden. Die Ethnisierung des Sozialen (wir Deutschen oder die Fremden)
ist eine Aktualisierung und sozialpolitische Durchformung von Carl Schmitts
Freund-Feind-Unterscheidung als Essenz des Politischen- und eben auch
als Essenz des Sozialstaatsprinzips.
In diesem Sinne seien die Gegensatzpaare: Sozialstaat oder Einwanderungsstaat, solidarische Wir-Gemeinschaft
oder materialistische Ich-Gesellschaft,
staatszentrierter Nationalverband oder
marktzentrierte Weltzivilisation. Es dürfte nach Ansicht Gansels klar sein, wofür
sich die meisten Deutschen als Abwehrreaktion gegen die Wohlstands-, Wertund Gemeinschaftserosion in naher Zukunft entscheiden werden.6
Warum kann die extreme Rechte mit
der sozialen Frage Erfolge erzielen?
Die soziale Frage ist keine Erfindung
der NPD – sie ist ein täglich drängendes
Problem für Millionen Menschen hier
und heute.
Vereinfacht gesagt kann die extreme
Rechte mit diesem Thema deshalb Einfluss gewinnen, weil eine größer werdende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern der etablierten Politik und dem
politisches System keine Lösung dieser
Frage mehr zutraut. Die NPD findet ihre
Anhänger sowohl bei den realen Verlierern der sozialökonomischen Entwicklung, aber auch bei solchen, die Sorge
haben, demnächst zu diesen Verlierern
gehören zu können. Dieses Phänomen
konnte in den 80 er Jahren auch in der
alten BRD beobachtet werden, als die
Partei »Die Republikaner« und die Deutsche Volks-Union (DVU) mit vergleichbaren Parolen auf soziale Ängste und
politische Verunsicherungen reagierten.
Die extreme Rechte kann aber auch deshalb mit der sozialen Frage und mit ihrer
Variante des »Antikapitalismus« erfolgreich sein, weil ihr diese Frage von größeren Teilen der Linken überlassen wurde. Insbesondere die Sozialdemokratie
hat die soziale Frage als zentrales Element ihrer Politik aufgegeben und sich
der neoliberalen
»Modernisierung« zugewandt. Dies ist
im übrigen kein rein deutsches Phänomen, sondern in zahlreichen euro-
päischen Ländern seit dem Ende der
neunziger Jahre zu beobachten. Überall
hat dies auch zu einem Aufschwung von
Parteien der extremen Rechten geführt.
In seinem Artikel unter der Überschrift
»Der Abschied der Linken von der sozialen Frage« schreibt Jürgen Gansel hierzu:
»Die sozialen Interessen der Deutschen
kommen in der Gedankenwelt von SPD
und Grünen, WASG und PDS nicht mehr
vor. Die soziale Frage, an der sich die Linke historisch abarbeitete und die für sie
einmal identitätsstiftend war, wird heute
zugunsten eines inhaltsleeren Machtopportunismus und eines manischen Minderheitenkultes fallengelassen.
Damit räumt die Linke das Themenfeld,
auf dem die politischen Schlachten der
Zukunft geschlagen werden.«
Wie müsste die Linke mit dem »Antikapitalismus« von rechts umgehen?
Muss man der extremen Rechten die soziale Frage von links streitig machen?
Es ist heute unstrittig, dass der Kapitalismuskritik von rechts eine antifaschistische Antwort entgegengesetzt werden muss. In verschiedenen Analysen
von Gewerkschaften und antifaschistischen Strukturen wird diese Frage
behandelt, wobei die Antworten naturgemäß unterschiedlich sind. Zu Recht
wird deutlich gemacht, dass der AntiKapitalismus von rechts keine wirkliche
Systemopposition ist, da diese Kritik
die kapitalistische Wirtschaftsordnung
nicht aufheben will, sondern nur unter
nationalistischen Vorzeichen zu gestalten plant. Daher wird in manchen Veröffentlichungen der Anti-Kapitalismus als
reine Propaganda bezeichnet.
Daraus würde sich als antifaschistische
Strategie ableiten, die Widersprüche in
der Propaganda zu entlarven und den
potenziellen Anhängern und Wählern
deutlich zu machen, dass ihre antikapitalistischen Wünsche und Sehnsüchte von der extremen Rechten prinzipiell
nicht umgesetzt werden können.
In einigen – verkürzten – Argumentationen heißt es daher: Eine gute Sozialpolitik sei die beste antifaschistische
Strategie. Bundes- und Landesregierungen haben daher schon einige Male
verkündet, ihre Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit seien ein Beitrag
gegen die extreme Rechte. Das »Ergebnis« sieht man in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern.
Offenkundig reicht es nicht, kurzfristige
Beschäftigungsformen zu organisieren,
um die – tatsächliche oder empfundene – prekäre gesellschaftliche Lage
aufzuheben. Zudem ist bekannt, dass
sich viele Anhänger der extremen Rechten in Ausbildung oder in gesicherten
Beschäftigungsverhältnissen befinden.
Offenkundig bedarf es anderer Antworten im Rahmen antifaschistischer Strategien in der sozialen Frage.
Wenn die rassistische Durchdringung
der Kapitalismuskritik und der sozialen
Frage der ideologische Kern der extremen Rechten ist, dann muss eine linke
Antwort darauf das rassistische Prinzip durchbrechen. Internationale Investmentfonds als »Heuschrecken« zu
bezeichnen, die wie eine Plage über Betriebe in unserem Land herfallen, sie
aussaugen und »verbrannte Erde« hinterlassen, mag zwar in populistischer
Verkürzung hilfreich sein, die Globalisierungskritik darauf zu reduzieren, liefert jedoch Stichworte für rassistische
Denkschemata. Auch wenn linke Kritik
damit zu »kopflastig« erscheint, ohne
Erkenntnis der Profitlogik des Kapitalsystems wird hieraus keine tatsächliche
Systemalternative.
Und ein zweites Element antifaschistischer Kapitalismuskritik grenzt extrem rechtes Denken aus: Es muss in
sozialen Auseinandersetzungen immer
wieder deutlich gemacht werden, dass
es um Arbeit, soziale Sicherheit, Gesundheit und Versorgung aller hier lebenden Menschen geht, nicht nur derjenigen, die durch einen deutschen Pass
privilegiert sind.
Eben hatte ich gesagt, dass allein der
Verweis auf eine gute linke Sozialpolitik
als antifaschistische Strategie zu kurz
greift. Aber natürlich ist die Thematisierung der sozialen Frage durch die Linke ein zentraler Punkt. Die aktuellen
Erfolge der LINKEN sind sicherlich ein
Grund für die aktuellen Misserfolge der
extremen Rechten. Wichtig für die Linke ist es aber, die soziale Frage in einer Form zu thematisieren, die sich von
den Nazis jederzeit klar und deutlich
unterscheidet. Dass es hier manchmal
Probleme gibt, haben die Montagsdemonstrationen gegen »Hartz IV« deutlich gemacht, wo nicht nur im Osten
Nazis versucht (und manchmal auch
geschafft) haben, die Proteste für sich
zu vereinnahmen. In der Vergangenheit
waren oftmals Kampagnen, Demonstrationen und Kundgebungen. die von
der Linken und Gewerkschaften ausgingen, deswegen von Neonazis so leicht
zu besetzten, weil nicht genau genug
darauf geachtet wurde, dass völkische
und rassistische Interpretationen von
vornherein unmöglich sind. Es ist ein
Unterschied ob gefordert wird »Soziale
Rechte für alle« oder nur »Verteidigt den
Sozialstaat«/«Weg mit Hartz IV«.
Die Verbindung eines universellen humanistischen Menschenbildes mit sozialer Teilhabe an den gesellschaftlichen
Reichtümern für »Alle«, unabhängig von
ihrer Hautfarbe und geographischen
Herkunft, macht die Soziale Frage nicht
anschlussunfähig für die, die nur Verbündete für ihren Rassismus suchen.
Wenn die Kampagne dann auch noch
einen internationalistischen Ansatz hat,
im Sinne von: »Die Grenzen verlaufen
zwischen oben und unten, und nicht zwischen den Völkern«, gruseln sich Neonazis und die Gefahr einer »feindlichen
Übernahme« der betreffenden Veranstaltung ist gering.
Aber neben dieser Thematisierung der
sozialen Frage als Möglichkeit, den Nazis das Wasser abzugraben, gibt es eine ganze Reihe von Feldern, auf denen
auch DIE LINKE konkret gegen rechts
vorgeht. Ich will exemplarisch nur drei
Bereiche nennen, die man vielleicht mit
»Analyse, Prävention, Repression« überschreiben könnte.
Analyse: Um die Alltagsgefahr des Neofaschismus überhaupt deutlich zu machen, ist es wichtig zu wissen, was auf
Seiten der Nazis passiert. DIE LINKE
fragt regelmäßig nach rechten Strafund Gewalttaten, nach Konzerten und
Musikveranstaltungen der Nazis die, wie
viele sicher wissen, eine Art Einstiegsdroge für viele Jugendliche in die Szene
sind und wir fragen nach rechten Aufmärschen und Demonstrationen – kurz,
wir versuchen, öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema zu schaffen.
Prävention: DIE LINKE hat sich nachdrücklich für den Erhalt und den Ausbau
der vom Bund finanzierten Projekte gegen Rechtextremismus eingesetzt. Diese Projekte standen vor etwas mehr als
einem Jahr auf der Kippe, weil die CDU/
CSU sie nicht länger fördern wollte. Nur
dem Druck von Opposition, Medien und
der engagierten Öffentlichkeit ist es gelungen, die Projekte zu erhalten und ihre Finanzierung zu sichern. An der konkreten Ausgestaltung haben wir nach
wie vor Kritik, dennoch ist ihr Erhalt ein
wichtiger Erfolg.
Ein Thema, zu dem ich selbst intensiv
arbeite: Die Bundesrepublik hat einen
Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus vorgelegt, der meines Erachtens
am eigentlichen Problem vorbei geht.
Rassismus und Ausgrenzung von MigrantInnen werden hier nur als ein Problem des rechten Randes beschrieben
und nur hier sieht die Bundesregierung
die Notwendigkeit, aktiv zu werden. Den
strukturellen Rassismus in der Mitte der
Gesellschaft, auf staatlicher Ebene, in
den Behörden, nimmt dieser Plan noch
nicht einmal in den Blick. Zusammen
mit zahlreichen Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) kämpfen wir für eine grundlegende Überarbeitung dieses
Plans.
Repression: Hier steht von neuem die
Frage des NPD-Verbots auf der Tagesordnung. Diese Debatte ist leider nur eine Scheindebatte, weil weder SPD noch
CDU bereit sind, die vom Verfassungsgericht genannten Voraussetzungen für
ein solches Verbot umzusetzen: Die Abschaltung aller V-Leute in der NPD. DIE
LINKE hatte und hat jetzt erneut einen
Antrag zur Abschaltung der V-Leute in
den Bundestag eingebracht. Beim ersten Versuch haben alle anderen Parteien diesen Antrag abgelehnt, womit es
für mich fraglich ist, ob man hier wirklich ein Verbot erreichen will.
Aber natürlich ist der Bundestag nicht
die zentrale Ebene der Auseinandersetzung mit der extremen Rechten. Die alltägliche Auseinandersetzung findet in
den Städten und Gemeinden, in den Vereinen und Verbänden, in Schulen, Betrieben und anderen Institutionen statt.
Aus meiner Sicht ist es dabei von besonderer Wichtigkeit, dass die Thematisierung des gesellschaftlichen Alltagsrassismus nicht aus dem Blick gerät.
Residenzpflicht, Abschiebungen, Diskriminierung von MigrantInnen am Arbeitsplatz, in Behörden und bei der Polizei,
um nur diese Beispiele zu nennen, sind
für mich ein unabdingbarer Bestandteil des Kampfes gegen Rechts. Denn
schließlich ist es dieser Alltagsrassismus, auf den die Nazis ihr Weltbild und
ihre Ideologie aufbauen.
Sevim Dagdelen MdB
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Vgl. die Rezensionen der von dieser Forschungsgruppe herausgegebenen Bände im »Rundbrief«:
H.1–2/2005, S. 76 f. (Roland Bach); H. 1–2/2007,
S. 89 ff. (Rolf Richter) u. H. 1–2/2008, S. 88 f.;
(Rolf Richter).
Interessanterweise hieß es im Punkt 7 des am
24. Februar 1920 verabschiedeten Parteiprogramms der NSDAP: »Wir fordern, dass sich der
Staat verpflichtet, in erster Linie für die Erwerbsund Lebensmöglichkeit der Staatsbürger zu sorgen. Wenn es nicht möglich ist, die Gesamtbevölkerung des Staates zu ernähren, so sind die
Angehörigen fremder Nationen (Nicht-Staatsbürger) aus dem Reiche auszuweisen.« Gottfried Feder, Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundlagen, 41.–50. Aufl., München
1931, S. 20.
Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände 2007,
Frankfurt a. M. 2008, S. 23 ff.
Vgl. die Rezension im »Rundbrief«, H. 1–2/2007,
S. 89 (Rolf Richter).
Vgl. Gottfried Feder, Das Programm der NSDAP
und seine weltanschaulichen Grundlagen, S. 20 f.,
24 ff., 29 ff., 45 ff.
Vgl. Jürgen Gansel MdL, Der Abschied der Linken von der sozialen Frage, in: Deutsche Stimme,
Nr. 12, Dezember 2006.
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Rassismus meint mehr als Rechtsextremismus:
Die gesellschaftliche Normalität als Problem.
Der Bielfelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat einmal sehr treffend das zentraler Ergebnis der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Rechtsextremismus
zusammengefasst. Er sagte: »Rechtsextreme sind keine Sonderfälle in einer intakten Gesellschaft«. Daraus abgeleitet
lautet meine Grundthese, dass Rechtsextremismus kein Jugendphänomen und
kein Randgruppenphänomen ist, sondern in der Mitte der Gesellschaft entsteht.
So möchte ich die Aufmerksamkeit in
meinen Ausführungen auf diese ganz
normale Mitte lenken. Das zu beackernde Feld ist bekanntlich groß. Ich
werde mich auf Rassismus in Bezug
zur Migration beschäftigen, ein konstituierender politischer Bereich von Rassismus. Ich werde versuchen zu klären,
was Rassismus überhaupt bedeutet, fragen, warum und wie er sich hartnäckig
reproduziert und dabei das Wechselverhältnis von Rassismus und Rechtsextremismus ansprechen. Abschließend
versuche ich politische Basisausgangspunkte zur Bekämpfung von Rassismus
und damit langfristig auch von Rechtsextremismus aufzuzeigen.
»Ich werd’ eh Hartz IV«
Der Autor dieser Zeilen stammt aus
Freiburg, einer liberalen Stadt im äußersten Südwesten der Republik mit einer
Arbeitslosigkeit von nicht mehr als circa fünf Prozent. Es gibt vergleichsweise kaum Probleme mit rechtsradikalen
Schlägern auf den Straßen aber sehr
wohl und nachhaltig mit Rassismus.
Seit zweieinhalb Jahren führe ich regelmäßig antirassistische Projekttage
an Schulen durch, und zwar zumeist
an Berufsschulen und dort mit Berufsvorbereitungsklassen. In diesen biografischen Warteschleifen werden jene
jungen Leute untergebracht, die keinen
Schulabschluss geschafft oder keinen
Praktikums- oder Ausbildungsplatz bekommen. Es ist nun so, dass eigentlich
immer gut zwei Drittel der betreffenden
Schüler und Schülerinnen migrantischer
Herkunft sind. Fragt man diese nun erstens, ob Sie Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierungen kennen, bejahen einheitlich alle diese Frage und
erzählen viele Bespiele aus ihrem Alltag:
So erzählen sie, dass sie in bestimmte
Clubs als »AusländerInnen« nicht hinein
gelassen werden. Sie erzählen über Beschimpfungen auf der Straße, über Ungleichbehandlung bei der Polizei nach
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dem Erwischtwerden beim Diebstahl
oder über das Ausgeschlossensein bei
der Vergabe von Praktikumsplätzen.
Wenn man sie zweitens fragt, was sie
denn gerne machen möchten und was
sie denken, was sie wirklich werden, bekommt man klar und resigniert zur Antwort »Ich werde eh‘ Hartz IV«.
Diese Klassen sind für mich die verschämten Abstellkammern unserer Gesellschaft, für vor allem ausgezählte migrantische Jugendliche, die kaum eine
Chance auf einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz haben, da diese – ebenso wie
die Praktika – über lokale Netzwerke der
Alteingessenen vergeben werden. Diese Klassen sagen meiner Meinung nach
wesentliches über unsere Gesellschaft
und deren Rassismus aus.
Was meint Rassismus?
Die Bundesrepublik hinkt nicht nur integrationspolitisch anderen westlichen
Einwanderungsländern weit hinter
her, sondern auch in der Debatte über
Rassismus. Diese Diskussion wird in
Deutschland fast ausschließlich in Expertenkreisen geführt und erreicht nur
selten das Gesichtsfeld der Öffentlichkeit oder gar der Politik. So wird in
Deutschland der Begriff »Rassismus«
sehr selten verwendet und verfügt in
der öffentlichen Debatte über wenig
analytische Tiefenschärfe und impliziert
lediglich moralische Eindeutigkeit. Ganz
im Gegensatz zu anderen Ländern wie
beispielsweise in Großbritannien und in
den USA, in denen Rassismus ein recht
klar umrissenes Phänomen beschreibt,
dass gesellschaftliche Auseinandersetzungen darüber erst fundiert und somit
in der Breite ermöglicht.
Rassismus wird in Deutschland häufig
hinter Begriffe wie »Ausländerfeindlichkeit« und »Fremdenfeindlichkeit« versteckt. Diese Wörter geben zwar vor,
dasselbe Phänomen zu beschreiben, gelangen aber durch ihre Suggestion oder
Schwerpunktsetzung zu vollkommen
unterschiedlichen Analysen.
Nehmen wir als Beispiel eine schwarze
Frau. Sie würde in Deutschland auf der
Straße von vielen Menschen der deutschen Mehrheitsgesellschaft als Ausländerin wahrgenommen. Nehmen wir an,
dass sie nun aber in Hamburg geboren
und aufgewachsen ist und schon immer
einen deutschen Pass besitzt. Obwohl
sie Deutsche ist, würde sie – im Vergleich zu einem niederländischen hellhäutigen Mann – auf der Straße mit ho-
her Wahrscheinlichkeit als Ausländerin
stigmatisiert werden. Der hellhäutige
Niederländer, solange er nicht redet,
allerdings nicht. Es geht also nicht um
Ausländerfeindlichkeit, denn wem sieht
man an, ob er oder sie deutsch ist oder
nicht? Darüber hinaus wird die Tatsache verschleiert, dass auch Inländer zu
Fremden gemacht werden können, so
wie deutsche Juden, Punks, Homosexuelle und andere.
Wenn diese Afrodeutsche angefeindet
werden würde, spricht man allgemein
auch von Fremdenfeindlichkeit, obwohl
sie ja keine Fremde ist. Sie wird aber
sehr wohl durch Diskurse der Mitte der
Gesellschaft, durch ein von der Wirklichkeit vollkommen überholtes Bild,
wer deutsch ist und wer nicht, zu einer
Fremden gemacht. »Fremdenfeindlichkeit« beschreibt eher individuelle Verhaltensweisen und Einstellungen. Die
strukturelle Dimension von Rassismus
tritt in den Hintergrund und wird nicht
benannt und erkannt. Rassismus hingegen verweist über individuelle Einstellungen hinaus & betont die gesellschaftliche Dimension. Dabei verknüpft
Rassismus gesellschaftliche Vorurteile
immer mit Diskriminierungen z. b. auf
dem Arbeitsmarkt oder im Bildungssystem. Die dafür verantwortlichen Ausgrenzungsmechanismen können individuell, strukturell und institutionell sein.
Sie können intendiert – also bewusst
forciert, oder auch unbewusst und ungewollt sein. Unsere heutige Situation – vor allem in Westdeutschland und
Berlin – ist geprägt von Einwanderung
und historisch sich wandelnden rassistischen Diskriminierungen. Der Sozialwissenschaftler Georg Lutz hat das
daraus resultierende Ergebnis einmal
sehr treffend formuliert, indem er konstatierte: Wir leben in einer »multikulturellen Gesellschaft der besonderen
Art«.1
Besonderheiten der multikulturellen
Gesellschaft in der BRD
Diese Besonderheit möchte ich vor
allem für die alte BRD beschreiben. In
der DDR gab es eine andere, in Bezug
auf Stigmatisierungsprozesse gegenüber MigrantInnen ebenfalls sehr schlimme Geschichte, die es sich lohnt an anderer Stelle gesondert anzuschauen.
In den 50 er und 60 er Jahren – der Zeit
des Fordismus – kamen die meisten MigrantInnen aufgrund der wachsenden
Arbeitskräftenachfrage in die rasant
wachsenden Industriezentren des Westens, so auch nach Westdeutschland.
Gefragt waren überwiegend junge Männer. Ob diese eine Ausbildung hatten
oder nicht, spielte keine so große Rolle,
da die wenigen Handgriffe am Fließband
in der Fabrik, die Arbeit in der Schwerindustrie oder bei der Müllabfuhr schnell
zu lernen waren. Auf den Schultern dieser Menschen war es überhaupt für
viele Eingesessene erst möglich, bessere Jobs zu bekommen. Der Sozialwissenschaftler Friedrich Heckmann
spricht von ca. 2,3 Millionen Westdeutschen, die zwischen 1960 und 1970
von Arbeiter- in Angestelltenpositionen
aufgestiegen sind. Dieser Prozess der
ethnischen Unterschichtung könnte in
Bezug auf Frauen auch folgendermaßen illustriert werden: Aus einer deutschen Putzfrau ist eine türkische geworden. Diese durch Familiennachzug
und Kinder zahlenmäßig stark gewordene Einwanderungsgruppe baute sich
ein Leben in Deutschland auf und blieb,
statt – wie von der Politik zunächst forciert – wieder zurück in ihre Herkunftsländer zu kehren. Daraus resultierte eine gesamteuropäische Situation der
»inneren Ausschließung«: Die europäischen Gesellschaften stigmatisieren
die EinwanderInnen rassistisch, obwohl
sie in den gleichen Städten leben. So ist
in allen westlichen Industrienationen eine multikulturelle Underclass entstanden, innerhalb deren die nationalen
zusammen mit den ausländischen Arbeitern in Konkurrenz um Arbeitsplätze stehen. Dieses Strukturphänomen
schürt die Spannungen, bei der soziale
Unterschiede in zunehmendem Maße
ethnisiert werden. Eingebettet ist diese
Entwicklung in den Prozess steigender
Arbeitslosigkeit seit Mitte der siebziger
Jahre, in dessen Verlauf immer mehr
Menschen in Konkurrenz um Arbeit und
Anerkennung stehen.
Seit den achtziger Jahren gewann zudem
der Neoliberalismus an gesellschaftlicher Relevanz. Diese Idee des Marktradikalismus ist ja weit mehr als eine Wirtschaftstheorie. Dieses quasi religiöse
Heilsversprechen wurde zur Handlungsmaxime einer Politik, die soziale Sicherungssysteme erst in Frage stellte, dann
sukzessive abbaute und nicht zuletzt
die Absicherungen gegen Lebensrisiken
(zum Beispiel Krankheit, Invalidität, Altersarmut) zunehmend privatisierte. Die
Bewertung und damit auch die Wertigkeit eines Menschen reduzierte sich bei
dieser Entwicklung vermehrt auf seinen ökonomischen Nutzen oder eben
auf seinen volkswirtschaftlichen Schaden. In diesem Fahrwasser entbrannte
eine Diskussion über den unterstellten
Missbrauch von Sozialleitungen, die dezidiert gegen sozial Schwache gerichtet
war. Soziale Empathie, Mitleid und daraus erwachsene Zustimmung für die
Unterstützung von Kranken, Langzeitarbeitslosen, Alten usw. wurden unpopulär – nicht zuletzt war dies den massiven
publizistischen Kampagnen geschuldet,
die das neoliberale Gedankengut systematisch in der Mehrzahl der Medien verbreiteten .
Durch den Zusammenbruch der Staaten
des »realen Sozialismus« hatte die neoliberale Interpretation und der damit
verbundene Umbau der Gesellschaften
quasi historisch gesiegt. So wurden die
neunziger Jahre zum Jahrzehnt der Ideologisierung von Konkurrenz. Kooperation als Gesellschaftsidee war weitgehend
disqualifiziert. Nicht nur die Individuen
wurden gegeneinander gesetzt, sondern
auch Nationen. So hieß es, der Standort Deutschland müsse gegen den Rest
de Welt verteidigt werden. Dafür müsse
man den Gürtel enger schnallen. Dieser
nunmehr nationale Wettbewerbsstaat
etablierte einen Standortnationalismus,
der nicht losgelöst vom ethnischen Nationalismus betrachtet werden kann.
Auch die »rot-grüne Regierung« diskutierte beispielsweise Einwanderung
fast ausschließlich unter der utlilitaristischen Doktrin, wer unter welchen Bedingungen einwandern dürfe. Rot-Grün
hat die Einwanderungspolitik insofern
modernisiert, indem sie halbwegs dem
westlichen Niveau angepasst wurde, allerdings ohne dabei auch nur annähernd
eine aktive Gleichstellungspolitik anzugehen. Die bei dieser gesellschaftlichen
Abwärtsbewegung aufsteigende sozialdarwinistische Konkurrenzideologie erhöht nun ebenso die Marktchancen für
rechtsradikale und autoritäre Gesellschaftsentwürfe. Dabei ist – wie der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge betont – zu beachten, dass die
Verschärfung des Konkurrenzprinzips
nicht unbedingt zu mehr fremdenfeindlichen Einstellungen führen müsste. Politische Traditionen entscheiden darüber, wie eine Krise interpretiert wird und
auf welche Muster zurückgegriffen wird.
In Deutschland ist diese politische Tradition von Autoritarismus und einem ungemein ethnischen Verständnis von Nation verbunden, sodass Rassismus hier
verstärkt zu Tage tritt.
Aus dieser skizzierten Entwicklung resultierte dann die »multikulturelle Gesellschaft der besonderen Art«. Besonders
deshalb, weil Ausgrenzungsmechanismen Barrieren tief in unsere Gesellschaft verankert haben, die rassistisch
organisiert sind. Die Rassimusexpertin
Birgit Rommelspacher spricht dabei von
einer Dominanzkultur der Bevölkerungsmehrheit, die vier unterschiedliche Segregationlinien aufrecht erhält: So die
politische Segregation, das meint allen voran die gesetzliche Ungleichbehandlung durch das Ausländergesetz,
den schweren Zugang zur deutschen
Staatsbürgerschaft, das Inländerprimat
bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, die
Residenzpflicht von Flüchtlingen, die
Nicht-Legalisierung von den 500.000
bis 1 Millionen Illegalen in Deutschland
sowie die endlosen Sonderfälle in den
Ausländergesetzen.
Die ökonomische Segregation zeigt sich
durch die doppelt so hohe Arbeitslosigkeit und das damit einhergehende
deutlich höhere Armutsrisiko für MigrantInnen gegenüber der deutschen
Mehrheitsbevölkerung. Die Gesellschaft
gibt zwar ein Gleichheitspostulat vor,
nämlich das der Leistungsgerechtigkeit.
Dies ist allerdings Unsinn. Die persönliche Leistung steht fast in gar keinem
Bezug zum tatsächlich Erreichten. Erfolg und Misserfolg wird vielmehr sozial
vererbt, sprich die soziale Herkunft bestimmt im Wesentlichen die Startbedingungen im Wettbewerb um Arbeit und
Anerkennung in der Gesellschaft. Damit verbunden ist der Bildungsbereich.
Der schulische Erfolg ist laut PISA- und
OSZE-Studien besonders in Deutschland extrem stark von der sozialen Herkunft abhängig und forciert somit ethnische Ungleichheiten.
Zur sozialen Segregation zählt der Umgang der Bevölkerung miteinander. So
verwundert es nicht, dass der Anteil
fremdenfeindlichen Einstellungen dort
besonders hoch ist, wo der Anteil der MigrantInnen sehr gering ist, so vor allem
ländlichen Raum. Man bleibt lieber unter sich. Wie wirkungsmächtig dies sein
kann, sieht man an vor allem jungen Kindern, die sich ihrer ethnischen Herkunft
schon bewusst sind. Sie wissen, das
sie keine Ausländer sind. Umgekehrt
wissen auch MigrantInnenkinder meist
sehr früh, dass sie eine kollektive Signatur tragen und zwar die des Fremden.
So gaben 80 Prozent der arabischen Jugendlichen 2004 bei einer repräsentativen Umfrage an: »Egal was Du tust, nie
wirst Du ganz dazu gehören«. Aber auch
der Anteil der binationalen Ehen ist ein
Indikator zur Messung der sozialen Segregation. Dieser Anteil ist in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern
mit 12 Prozent erstaunlich hoch.
Die letzte Segregationslinie ist die kulturelle: Hier geht es um die Organisierung
von Prestige: Wer hat das sagen, wem
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wird überhaupt zugehört, wer wird ernst
genommen, wer wird ignoriert, wer wird
nie gefragt? Dieses Anerkennungsmanagement ist besonders hartnäckig und
effektiv. Eine der wichtigsten Kategorien
ist hierbei die ethnische Grenzziehung.
Der Gegensatz vom außen und Innen,
von Eigenem und Fremden wird hierbei
ethnisch definiert. So wird verhandelt,
wer dazugehört und wer nicht. So ist der
zentrale Dreh und Angelpunkt bei rassistischen Diskursen fast immer die so
genannte Ausländerfrage: Gesellschaftliche Konflikte um Anerkennung, um Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen,
um Kriminalität und Drogen werden dabei durch eine ethnische Brille gesehen.
So heißt es dann, »die Deutschen« stünden in Konkurrenz zu »den Ausländern«,
die uns »unsere« Jobs wegnähmen. Von
dieser Ethnisierung des Sozialen ist
es nicht weit zur rassistischen Formel
»Ausländer raus«, die im Alltag in den
verschiedensten Ausformulierungen bis
weit in die Mitte der Gesellschaft zu finden ist. Das Wort Ausländer meint in
diesem Sinne alles was als Fremd angefeindet wird, auch unabhängig davon
wie die Staatsangehörigkeit wirklich ist.
Wie stark diese Abgrenzung gehen kann,
zeigte sich im letzten Jahrzehnt, bei der
Verschärfung der Asyldebatte und Asylpolitik. Die massiven Diskriminierungen
von Flüchtlingen und deren sozialräumliche Segregation vor allem durch deren Unterbringung waren begleitet von
einer beispiellosen Hetzkampagne der
Massenmedien gegen AsylbewerberInnen – hier auch von der linksliberalen
Presse und der Politik. Diese Politik inszenierte ein nationalistisches Untergangszenario unter den Parolen »Das
Boot ist voll«, »Die Grenzen der Belastung sind erreicht« usw., und stilisierte
die Flüchtlingspolitik zur Überlebensfrage der Deutschen hoch. Im Rauch der
Brandsätze wurde diese Politik bewusst
fortgeführt bis faktisch der Artikel 16
des Grundgesetzes abgeschafft wurde.
Der Name Rostock-Lichtenhagen wurde
in diesem Zusammenhang zu einem erschreckenden und warnenden Synonym
für Rassismus in Deutschland, dem ein
mörderischer Mix aus politischem Kalkül, weit verbreiteten rassistischen Einstellungen in der Bevölkerung, hetzerischer Medienberichterstattung sowie
struktureller Diskriminierung von Minderheiten zugrunde liegt. Wenn Rassismus gewalttätig eskaliert, dann trifft es
alle potentiellen Opfer von Rassismus.
So traf es nach Rostock beispielsweise auch schnell MigrantInnen die schon
lange in Deutschland lebten, wie zum
Beispiel in Mölln.
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Die mediale und politische Aufmerksamkeit bei Rechtsextremismus und
Rassismus ist dabei defensiv. Sie hechelt den rechtsextremen Gruppen und
rechten Gewalttaten hinterher, da diese
zumeist nur dann zum Thema werden,
wenn eine besonders schlimme Grausamkeit passiert ist.
Ich teile hier die Einschätzung von Christoph Butterwegge, dass diese Art der
Aufmerksamkeit den Blick allein auf die
sichtbare Phänomene reduziert. So werden analytische Erkenntnisse in Bezug
auf das Ursache-Wirkungs-Verhältnis
rechtsextremer Agitation verhindert.
Rechtsextremismus ist die Spitze
des Rassismus
Die zu Tage tretende rechtsextreme Gewalt ist nämlich nur die Spitze dieses
skizzierten recht gewöhnlichen Rassismus. Schlagwörter wie »Asylanten«,
»Sozialschmarotzer« und »Überfremdung« finden sich in vielen Köpfen,
in den Medien und in Politikerreden
weit über die als rechtsextrem Klassifizierten hinaus. Bei einer repräsentativen Umfrage im Jahr 2007 stimmten
55 Prozent der befragten dem Satz »Es
leben zu viele Ausländer in Deutschland« »eher« oder »voll und ganz« zu.
Die Aussage »Wenn Arbeitsplätze knapp
werden, sollte man die in Deutschland
lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken«, stimmten wurde
im selben Jahr von knapp 30 Prozent
der Befragten »eher« oder »voll und
ganz« geteilt.
Die potenziellen Opfer von Rassisten
sind darüber hinaus nicht ziellos ausgesucht. Sie stehen fast alle am unteren
Ende der gesellschaftlichen Hierarchie.
Sie sind faktisch die am meisten Ausgegrenzten: Obdachlose, Behinderte,
MigrantInnen, denen man ihr MirgantInnendasein ansieht, Flüchtlinge und
Punks. Rechtsextreme Agitation bezieht
sich immer auf den normalen Rassismus der Mitte der Gesellschaft, deren
inhaltliche Übergänge oft recht fließend
sind. Aus dieser Mitte rekrutiert sich
auch der rechtsextreme Nachwuchs.
Rechtsextreme stehen folglich nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern sind
integraler Bestandteil von ihr. Rechtsextremismus kann man als die politisierte
Form des Rassismus interpretieren. So
kann es zwar Rassismus ohne Rechtsextremismus geben, aber keinen Rechtsextremismus ohne Rassismus. Der Ausländerdiskurs in Deutschland ist für
mich eine gesellschaftsverträgliche Codierung von Rassismus.
Überbewertung von Ideologie
Die Bedeutung der rassistischen Ideologie wird meines Erachtens oft über-
trieben. Darin steckt die sehr nachvollziehbare Hoffnung, Menschen würden
vor allem nach einem geschlossenen,
schlüssigen Weltbild handeln. Das
meint: aus einem Gedanken folge eine
Tat. Nach dieser Lesart muss man den
rassistischen Gedanken nur erkennen,
isolieren und schließlich widerlegen,
damit man die Gesellschaft gegen rassistische Barbarei immunisiere. Dem
ist nun leider nicht so. Rassismus ist
unglaublich hartnäckig und gegen Aufklärung in gewisser Weise immun. Ich
denke, exakt hier sind auch Grenzen der
klassischen Aufklärung gezogen, ohne
diese gering schätzen zu wollen. Rassismus leitet sich – wie der Sozialwissenschaftler Detlev Claussen argumentiert – eben nicht vorrangig aus einer
Ideologie her, sondern aus einem politischen Bedürfnis, ein praktiziertes Programm von Diskriminierung, Unterdrückung und manchmal auch Gewalt als
Normalität durchzusetzen. Dies tut er
in quasi religiöser Weise. Rassismus beginnt bei der Interpretation von Unterschieden und basiert auf einer tief verankerten Dominanzkultur. Es ist dabei
bedeutungslos, ob die rassistischen Begründungen dabei aus der Biologie oder
der Geisteswissenschaft kommen: Ein
Rassist fragt nie nach argumentativer
Stichhaltigkeit, sondern er fragt nach
einer Autorität, die für diesen Unterschied zwischen ihm und dem Anderen
bürgt. Die Autorität ist quasi immer die
eigene »peer-group«, häufig das lokale
Umfeld, es kann zudem die Politik oder
die Massenmedien sein. Es ist aber immer die gesellschaftliche Sozialstruktur,
die durch eine strukturelle Ungleichbehandlung die Unterschiede proklamiert.
So ist Rassismus eine gesellschaftliche
Praxis, von der eine rassistisch ausformulierte Theorie nur einen sehr kleinen
Teil darstellt.
Rassismus als gesellschaftliche Praxis
in Deutschland
Rassismus ist eine gesellschaftliche
Praxis, die in Wort und Tat Menschen
wegen ihrer Herkunft oder Hautfarbe diskriminiert. Er begründet sich in
Deutschland auf vier Ebenen, die sich
gegenseitig bedingen und ineinanderegreifen:
Erstens sind die Menschen der Mehrheitsgesellschaft mit latenten oder
dezidierten fremdenfeindlichen Einstellungen Basis und Träger der gesellschaftlichen rassistischen Praxis. Seit
Anfang der neunziger Jahre steigen sowohl die Anzahl rassistischer Einstellungen und Übergriffe. Parallel dazu
sinkt das demokratische Potential in der
Gesellschaft.
Die zweite Ebene sind die staatlichen
Strukturen der Diskriminierung. Diese
stigmatisiert MigrantInnen als minderwertig durch spezielle Ausländergesetze
und ganz besonders durch die Flüchtlingspolitik. Dadurch wird die Rechtsgleichstellung mit Deutschen verweigert.
Die ethnische Schichtung auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialgefüge ist als
dritte Ebene zu nennen: Sie normalisiert ebenfalls die Vorstellung der eigenen Überlegenheit und zementiert die
vermeintliche Minderwertigkeit von MigrantInnen. Auch diese Entwicklung verschlechtert sich relativ parallel zum Anstieg von rassistischen Einstellungen in
der deutschen Bevölkerung. Zum Teil
wird ethnische Stigmatisierung auch
staatlich institutionalisiert, wie zum
Beispiel durch das dreigliedrige Schulsystem und dem Inländerprimat des
deutschen Arbeitsmarktes. Selbst das
Bundesfamilienministerium sprach zumindest im Jahr 2000 von einem sich
selbst stabilisierendem System der Ungleichheit zwischen Einwanderer und
Einheimischen.
Der vierte wesentliche Aspekt ist die
als Besonderheit zu bezeichnende politische Kultur in Deutschland: Aufgrund einen ethnischen Nationalismus
tut sich speziell Deutschland schwer,
mit kulturellen Differenzen umzugehen. MigrantInnen werden gerade in
dieser Tradition nicht als gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder anerkannt,
sondern ständig misstrauisch beäugt.
Dieser Sichtweise fehlt es an demokratischer Gelassenheit und macht MigrantInnen entweder zu Fremden, die im
konservativen Assimilierungsdiskurs angefeindet werden oder, wie im Bereich
des Multikulturalismus, zu Fremden, die
man paternalistisch tolerieren oder betreuen solle.
So greifen also für den heutigen Rassismus gegenüber MigrantInnen Normalitätsvorstellungen, Stigmatisierungsprozesse, die politische Kultur, das
ökonomische System und das politischrechtliche System ineinander, um Ausgrenzungsprozesse zu legitimieren und
durchzusetzen. Dieser Prozess stützt
sich auf die Gesellschaftsmitglieder der
Mehrheit und deren Dominanz, wie Birgit Rommelspacher dies pointiert zusammenfasst. Die geschilderte strukturelle Dimension von Rassismus macht
MigrantInnen erst zu Minderheiten und
zu Diskriminierungsobjekten, sodass
die beschriebene gesellschaftliche Ungleichbehandlung und soziale Hierarchie entlang von zugeschriebenen ethnischen Grenzen wiederum im Wechsel
Rassismus hervorbringt, legitimiert und
schürt. Diese normale, weil viele Jahrzehnte andauernde Wechselbeziehung,
ist die Folie, auf der sich seit Beginn der
neunziger Jahre rassistische Gewalt ausgebreitet und stabilisiert hat. Der gesellschaftliche Rahmen war darüber hinaus
von steigender Arbeitslosigkeit und
einem chauvinistischen Dominanzschub
seit der Vereinigung gesetzt.
Ich stimme der Auffassung vom Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge
zu, der folgende soziale Formel aufgestellt hat: Je mehr sich durch die Politik des »nationalen Wettbewerbstaates«
die soziale Ungleichheit verschärft und
damit den Resonanzboden für Marginalisierungs- und Ethnisierungsprozesse
vergrößern wird, desto stärker verbinden sich Kulturrassismus und Standortnationalismus. Wie verbreitet und
wirkungsmächtig dies eine Entwicklungstendenz und Option in allen Industrienationen West- und Mitteleuropas
ist, zeigen die großen Wahlerfolge der
so genannten rechtspopulistischen Parteien, allen voran in Frankreich, Italien,
Österreich und der Schweiz.
Was ist zu tun in der Auseinandersetzung mit dem Rassismus?
Daraus ergibt sich für mich folgende
Handlungsmaxime: Um Rassismus
grundlegend zu bekämpfen, muss
ganz wesentlich die ethnische Schichtung und Segregation der bundesdeutschen Sozialstruktur durchbrochen
werden. Erst dann könnten sich Normalitätsvorstellungen der Deutschen
entwickeln, deren Bezugskoordinaten sich nicht mehr so leicht an ethnischen Ungleichheitsgefällen orientieren könnten. Deutschland ist noch
weit davon entfernt eine aktive Gleichstellungspolitik in der Bildung und auf
dem Arbeitsmarkt überhaupt zu diskutieren.
Die vor allem von den Mobilen Beratungsteams propagierte Parole: »Mehr
Demokratie hilft gegen Rassismus und
Rechtsextremismus!« bringt es für mich
sehr gut auf den Punkt: Gleiche Rechte für alle hier lebende Menschen sind
somit die wichtigste Ausgangsbasis einer antirassistischen Politik. Wer macht
wen unter welchen Umständen zu Fremden? Dies zu untersuchen und kritisch
zu hinterfragen, wäre meiner Meinung
nach Aufgabe einer kritischen Wissenschaft und einer kritischen Politik. Die
verschiedene Themenkomplexe wie Migration, Globalisierung, soziale Gerechtigkeit, multiethnische Gesellschaft
müssten wieder vermehrt repolitisiert
und vor allem mit der demokratischen
statt der nationalen Option verknüpft
werden. Die Betonung eines Oben-Unten-Gegensatz gegenüber eines InnenAußen-Gegensatzes macht soziale Konflikte überhaupt wieder erkennbar und
lösbar.
Im Kern geht es um die Frage, wie das
Zusammenleben der Menschen in der
Gesellschaft organisiert werden soll:
Wollen wir in einer Gesellschaft leben,
die von Mehrheit und Dominanz geprägt
ist? Oder streben wir eine an, die an
Pluralität und Gleichheit der Menschen
ausgerichtet ist?
Bernd Winter
1
Richard Gebhardt hat in der anschließenden
Diskussion zu Recht darauf hingewiesen, dass hier
eigentlich nicht von einer »multikulturellen Gesellschaft« geredet werden sollte, sondern vielmehr
von einer »multiethnischen«: Kulturelle Milieus
gibt es ja auch zwischen Frommen und NichtFrommen, Katholiken, Protestanten und Atheisten,
Punks und Kegelclubs, Kaffeekränzchen und Dark
Rooms. Hier geht es ja in der Tat um die Benennung der ethnische Schichtung.
Weiterführende Literaturhinweise:
Rassismus
- Christoph Butterwegge, Christoph,
Rechtsextremismus, Rassismus und
Gewalt. Darmstadt 1996.
- Etienne Balibar, Gibt es einen ‚neuen Rassismus, in: Das Argument, Heft
175,.1989, S. 369–380
- Detlev Claussen, Was heißt Rassismus?«, in: derselbe, Was heißt Rassismus? Darmstadt 1994, S. 1–24
- Forschungsinstitut der FriedrichEbert-Stiftung, Abt. Arbeits- und Sozialforschung, Hrsg. Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte. Eine Tagung der
Friedrich-Ebert-Stiftung am 11. Oktober 1995 in Erfurt, Bonn 1996.
- Kein Nghi Ha, Ethnizität und Migration.
Münster 1999.
- Wilhelm Heitmeyer, Hrsg. Deutsche
Zustände – Folge 1 bis 7, Frankfurt am
Main 2002 ff.
- Birgit Rommelspacher, Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht.
Berlin 1995.
- Dieselbe, Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle
Gesellschaft. Frankfurt am Main, New
York 2002.
- Bernd Winter, Gefährlich fremd.
Deutschland und seine Einwanderung.
Freiburg 2004.
Diskriminierung im Bildungswesen
- Mechthild Gomolla u. Frank-Olaf/Radtke, Institutionelle Diskriminierung –
Die Herstellung ethnischer Differenz in
der Schule. Opladen 2002.
11
- Werner Schiffauer u. a., Staat – Schule – Ethnizität. Politische Sozialisation
von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern. Münster 2002.
Rechtsextremismus
- Renate Bitzan, Hrsg., Rechte Frauen.
Berlin 1997
- Thomas Grumke u. Thomas Wagner,
Hrsg., Handbuch Rechtsextremismus.
Opladen 2002.
- Burkhard Schröder, Nazis sind pop.
Berlin 2002.
- Der Tagesspiegel (Berlin), Todesopfer rechter Gewalt seit der Vereinigung – eine Bilanz. Sonderdruck, Berlin 2001.
Mediendiskurse
- Christoph Butterwegge u. Alexander/
Häusler, Alexander, Themen der Rechten – Themen der Mitte. Rechtsex-
12
treme Einflüsse auf Debatten zu Migration, Integration und multikulturellem
Zusammenleben, Köln 2001.
- Christoph Butterwegge u. Gudrun
Hentgens, Hrsg., Massenmedien, Migration und Integration, Wiesbaden
2006.
- DISS, SchlagZeilen – Rostock: Rassismus in den Medien. Duisburg 2001.
- Siegfried Jäger, BrandSätze. Rassismus im Alltag, Duisburg 1993.
Ausländerpolitik
- Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland – Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter,
Flüchtlinge, München 2001.
- Christoph Butterwegge u. Christoph/
Hentgens, Hrsg., Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung – Migrations-,
Integrations- und Minderheitenpolitik.
Opladen 2000.
Illegalität
- Jörg Alt, Leben in der Schattenwelt.
Problemkomplex »illegale« Migration,
Karlsruhe 2003.
Pädagogik/Bildung/Strukturarbeit
- DGB-Bildungswerk Thüringen, Hrsg.,
(2005) Baustein zur nicht-rassistischen
Bildungsarbeit, Erfurt 2005.
- Ulrike Hormel u. Albert Scherr, Bildung
für die Einwanderungsgesellschaft,
Wiesbaden 2005.
- Lynen von Berg u. a., Interventionsfeld
Gemeinwesen. Evaluation zivilgesellschaftlicher Strategien gegen Rechtsextremismus. Weinheim 2005.
- Zentrum Demokratische Kultur, Hrsg.,
Gegen Rechtsextremismus hilft mehr
Demokratie. Community CoachingKommunalanalyse und Demokratieentwicklung im Gemeinwesen, Berlin
2003.
Weltweite Finanzkrise und die extreme Rechte
Kein Zweifel: die internationale Finanzkrise hat inzwischen alle Länder erfasst,
in Nord und Süd, in West und Ost. Immer neue Hiobsbotschaften jagen um
den Erdball, zeigen die Tiefe der Erschütterungen, die sich vor Jahresfrist noch
kaum jemand vorzustellen vermochte.
Spekulationsblasen riesigen Ausmaßes
sind geplatzt, die Vernichtung Hunderter Millionen Vermögenswerte und Gewinne hat nicht nur einzelne Aktienbesitzer, Banken und Immobilienhändler
erfasst, sondern ganze Volkswirtschaften in den Strudel gerissen. Island,
Ungarn, Lettland und die Ukraine befanden sich kurz vor dem Staatsbankrott
und mussten durch groß angelegte Stützungsaktionen des Internationalen Währungsfonds vor der Zahlungsunfähigkeit
bewahrt werden.
Kein Zweifel mehr: immer stärker
schlägt die Finanzkrise auf die Produktionssphäre, auf die Rohstoffmärkte und
Handelsströme durch, riesige Absatzhalden gibt es inzwischen zum Beispiel
bei Kraftfahrzeugen. Millionen Werktätige sind zur Kurzarbeit gezwungen, werden in die Arbeitslosigkeit gedrängt, in
den USA hat die Erwerbslosigkeit den
höchsten Stand seit über vierzig Jahren
erreicht. Die Auswirkungen für Familien,
Sozialhilfeempfänger sind dramatisch.
Kein Zweifel auch, dass es die Entwicklungsländer, die Ärmsten der Armen,
wieder am härtesten trifft.
Nichts kann mehr darüber hinwegtäuschen, dass all das nicht nur die Schuld
einzelner Personen oder Firmenvorstände ist, dass die Verantwortung für das
entstandene Chaos nicht nur bei einzelnen Banken, sondern auch bei Regierungen, Wirtschaftsverbänden und anderen politisch Zuständigen liegt, deren
wirtschaftliche und gesellschaftliche
Prognosen, deren Beruhigungspillen
und verzweifelte Rettungsversuche sich
als gigantische Fehleinschätzungen beziehungsweise untaugliche Konzepte erwiesen haben. Die in hektischer Eile in
den USA und Europa geschnürten »Rettungspakete« in einem Gesamtumfang
von mehreren Billionen Dollar müssen
ihre Wirksamkeit erst noch beweisen.
In welcher Weise reagiert nun die extreme Rechte auf diese tiefen Erschütterungen?
Ist das die Stunde der schon immer
grundsätzlich gegen »das System« hetzenden Neonazis? Ist es ihre Chance,
endlich die immer wieder erhoffte und
immer wieder verlorene Aufmerksamkeit bei den Massen zu erlangen, sich
mit wirtschafts- und sozialpolitischen
Kompetenzen »auf der politischen Bühne zurückmelden« zu können, wie es
schon 1996 ein Autor in der NPD-Zeitung »Deutsche Stimme« erträumte? Ist
es die Möglichkeit, eine im Lande »bisher richtungslose antikapitalistische
Sehnsucht«, wie sie vor Jahresfrist Jürgen Gansel diagnostizierte, in »nationale
Protestbahnen zu lenken«, »konsequent
gegen Zuwanderung, EU-Fremdbestimmung und Globalisierung zu richten, wie
es ihm vorschwebte? Wir wollen das im
Folgenden etwas genauer untersuchen.
Allgemein kann man feststellen, dass
die Parteien und meinungsbildenden Organe der extremen Rechten in Deutschland (wie auch in anderen Ländern) von
Tempo und Ausmaß der entstandenen
Krisen in ähnlicher Weise wie andere gesellschaftliche Akteure überrascht wurden und sich auch jetzt mit Antworten
auf die gewaltigen Veränderungen und
ihren Folgen schwer tun. Aber selbstverständlich halten sie an ihrer prinzipiellen
Ablehnung von »Globalisierung« fest,
versuchen sie die neue Lage zur Rechtfertigung ihrer Anti-Globalisierungs-Propaganda, ihrer nationalistischen Tiraden
und ihrer ausländerfeindlichen Hetze zu
nutzen. Dass dies mit vehementem Antiamerikanismus und nicht zuletzt Antisemitismus einhergeht, verwundert
nicht. Im übrigen sind es die bekannten
Redner und Schreiber besonders aus
der NPD, die sich äußern, neue theoretische Glanzlichter sind auch bei dieser
Thematik nicht zu erkennen.
Soweit es sich um die Beschreibung der
Tatsachen handelt, haben es Rechtsextreme aller Couleur nicht schwer. Sie
brauchen nicht zu frisieren. Die Zusammenbrüche der Banken in den USA im
Gefolge der Immobilienkrise, die Folgen
des Skandals um die Lehman Brothers
Bank weltweit, die Krisen der Hypo Real Estate und mehrerer Landesbanken
in Deutschland, der faktische Staatsbankrott in Island – alles Wahrheiten,
die schlimmer sind, als es die Rechtsextremen hätten voraussagen können.
Sie brauchen nur abzuschreiben, was
andere veröffentlichen. Als Ausnahme
darf sich der stellvertretende NPD-Vorsitzende Sascha Roßmüller anrechnen
lassen, dass er noch vor vielen bürgerlichen Journalisten und Wissenschaftlern die bestürzenden Entwicklungen
offenlegte. Bereits im April 2008 überschrieb er seinen Artikel in der »Deutschen Stimme« über die Auswirkungen
der amerikanischen Hypothekenkrise
auf Deutschland und hiesige Landesbanken mit »Weltweite Finanzkrise« und
klagte die hochbezahlten Manager und
die etablierte Politik gemeinsam an, die
Rahmenbedingungen für die Finanzmarktkrise geschaffen zu haben.
Im Herbst 2008 fanden sich abgeleitet
von den offiziellen Verlautbarungen und
Warnungen auch bei anderen rechtsextremen Politikern und Autoren dann
zahlreiche weitere Beschreibungen und
Anklagen, so von Jürgen Gansel, Per
Lennart Aae, Holger Apfel und anderen
Funktionären der NPD aus dem sächsischen Landtag. Mehr und mehr traten
dabei Hinweise hinsichtlich der sozialpolitischen Auswirkungen auf die Bevölkerung in den Vordergrund. Es fehlten aber auch nicht die antisemitischen
Töne, die Verweise auf die Ursachen in
der Raffgier der »amerikanischen Ostküste«, dem bei den Neonazis gebräuchlichen Synonym für die international
agierende jüdische Hochfinanz. Dass
dabei immer auch der Rückgriff auf das
direkte faschistische Vokabular mit der
Unterscheidung von »schaffendem«
(arischen) und »raffendem« (jüdischen)
Kapital erfolgte, überrascht nicht.
Jüngst beschäftigten sich NPD-Vertreter auch mit den sogenannten »Konjunkturpaketen« der Bundesregierung,
die man als unzureichend und teilweise zusammengeschustert charakterisierte (auch dabei konnte man natürlich
auf ähnliche Beschreibungen der Opposition im Bundestag zurückgreifen).
Das vielfach kritisierte Versagen der
Bundespolitik beim Gegensteuern gegen die wirtschaftlichen Einbrüche wurde am Beispiel der Gesundheitsreform
von der sozialpolitischen Sprecherin
der NPD, Antje Niekisch, als »politische
Schaumschlägerei im Wahlkampf« und
als Bestätigung der Aussagen der NPD
gewertet. Auch Sascha Roßmüller meldete sich wieder zu Wort. Unter der
Überschrift »Das dicke Ende kommt erst
noch« analysierte er in der »Deutschen
Stimme« (Nr. 1/2009) umfangreich die
Entwicklung von der Finanzkrise über
die Wirtschaftskrise zur Politikkrise, die
verschärften Bedingungen für die Kreditvergabe, die »Zeitbombe Kreditkartenblase«, die Auftragsrückgänge in der
deutschen Exportwirtschaft und falsche
Strategien der Bundesregierung in der
Bankenwelt.
In altgewohnter Manier bleibt man
Rechtsaußen aber nicht einfach bei der
Beschreibung der Tatsachen stehen, sondern versucht diese zu überspitzen und
13
mit den entsprechenden Vokabeln zu
Horrormeldungen umzugestalten. Beispiele dafür finden sich zuhauf. Holger
Apfel glaubte mit seiner Rede im sächsischen Landtag im Oktober 2008 zum
»Finanzmarktstabilisierungsgesetz« der
Bundesregierung mit dem Umfang von
einer halben Billion Euro ins Schwarze zu treffen, in dem er dieses zum »Finanzmarktermächtigungsgesetz« erhob
und den Vorgang als »finanzpolitischen
Reichstagsbrand« auflodern ließ. Aber er
zeigte damit doch wieder nur, in welchen
der Nazizeit verhafteten Bahnen sich
sein Denken vollzieht (Vgl. dazu die vom
Pressesprecher der NPD-Fraktion am
16.10. 2008 herausgegebene Mitteilung).
Im November 2008, noch zu Zeiten des
jetzt abgedankten DVU-Vorsitzenden
Frey, titelte seine »Nationalzeitung«:
»Weltwirtschaftskrise: Deutschlands
Untergang?« und beklagte das »Unheil
der systematischen Verarmung des
deutschen Volkes«. Der NPD-Stadtverordnete in Cottbus, Ronny Zasowk, wies
im Internet die Schuld den »Finanzhaien«, »gierigen Bankmanagern« und »abgebrühten Wertpapier-Zockern«, dem
»globalistischen Teufelssystem«, den
»Spielkasinos der internationalen Hochfinanz«, besonders der »US-Heuschrecke Lone Star« zu und folgerte, dass
»Kapitalismus in seiner Endkonsequenz
Völkermord bedeutet«. Jürgen Gansel
wollte sich nicht zurückhalten und attackierte die »Blutsauger der Nation«.
Kersten Radzimanowski, früherer CDUFunktionär und jetzt begeisterter Kommentator bei der NPD, verlautbarte angesichts möglicher Kaufzurückhaltung
der Bürger beim Weihnachtseinkauf:
»Wir spüren den Untergang«.
Welche Schlussfolgerungen aus den
Lagebeschreibungen ziehen nun die extremen Rechten, welche Auswege bieten sie an bzw. welche Forderungen erheben sie?
Erstens: Es ist nicht überraschend, dass
die Politiker aus den Reihen von NPD,
DVU oder Republikanern, da generell
staatsfixiert, einen ganzen Katalog formulieren, was der Staat, was Bundesregierung und Landesregierungen tun
müssten, um der Probleme Herr zu werden. Auffällig aber ist, auf welch’ unterschiedliche Art und Weise und wie konzeptionslos sie das tun. Während sie wie
Holger Apfel in seinen Landtagsreden
immer wieder tönen: »Das System hat
keine Fehler, das System ist der Fehler!«
überbieten sie sich mit Vorschlägen,
was in diesem System verbessert oder
verändert werden sollte und liegen dabei oft auf einer Linie mit den Vertretern
eben dieses Systems.
14
Mit einem Paukenschlag versuchte sich
Jürgen Gansel als Vorreiter der Kapitalismuskritik in Szene zu setzen. Auf der
Internetseite des NPD-Parteivorstandes
verlangte er am 20. 11. 2008, »die eiserne Faust des Staates statt der unsichtbaren Hand des Marktes« in Anwendung zu bringen. Man sah förmlich
die zarte Schlaghand der Bundeskanzlerin auf die mächtigen Konferenztische
der Spitzen von Banken, Konzernen
und Handelsriesen niedersausen, wo
sie doch sonst eher die smarten Töne
bevorzugte und in Hinterzimmern einträchtig mit den Ackermann, Hundt, Piech, Wedeking und von Pierer ihre Talkrunden drehte.
Zweitens: Das schnell herbeigeholte
Zauberwort in der neuen Situation war
für die NPD: »Banken verstaatlichen!«
Damit aber sprang sie nur auf ein Pferd
auf, das zuvor andere längst gesattelt
hatten. Auf diesen Rettungsanker in
höchster Not war man in den USA, Frankreich und weiteren Ländern schon zuvor gekommen, aber auch in Deutschland hatte die Debatte längst begonnen.
Ganz zu schweigen davon, dass die Linken hier die Überführung des Bankenund Kreditgewerbes in die öffentliche
Hand mit weitgehender demokratischer
Kontrolle schon längst im Programm
hatten. NPD-Vorsitzender Udo Voigt
brauchte sich auch keine große Mühe
machen, eine Liste von Forderungen
aufzureihen, die Treiben und Skrupellosigkeit von Bankern und Fondsmanagern begrenzen sollten. Forderungen
nach Haftung der Bankmanager im Falle
der Insolvenz auch mit privatem Vermögen, nach Begrenzung der Managergehälter, Forderungen, die »Zockerinstitute« in die Insolvenz zu schicken und
wertlose Papiere in einem ordentlichen
Bankrottverfahren abzuschreiben, konnte er auch schon bei der SPD ablesen.
Mit einer »breit angelegten Kampagne«
wollte die NPD dann über die Hintergründe und »Alternativen« aufklären. Angesichts ihrer eigenen Schwäche und Krise
reichte es aber gerade für ein Themenflugblatt unter der Überschrift »Banken
verstaatlichen!« und zu einem »Aktionstag« mit Infoständen und einigen Reden
in mehreren Städten am 10. November
2008. Das dürftige Flugblatt, das ein
paar NPD-bekannte Phrasen, wiederholte Schmähungen der Linkspartei und eine Werbung für die NPD enthielt, brachte als »Alternative« lediglich die Parole
»Wir wollen unser Geld Zurück«, um die
Bürger aufzustacheln. Darunter wurde
aber lediglich die alte NPD- Losung verstanden, den Euro abzuschaffen und die
D-Mark wieder einzuführen.
Der »Neuigkeitswert« der NPD-Parole
zur Bankenverstaatlichung war endgültig verflogen, als die Bundesregierung
nun selber, wenn auch in kleinen Schritten, begann, Anteile von Banken zu
übernehmen (jüngst schließlich bei der
Hypo Real Estate mehr als 50 Prozent)
und sich selbst als Retter darzustellen.
Insgesamt blieb so die NPD weit von ihrem Ziel entfernt, aus der Finanzkrise
Kapital für die Erhöhung ihres gesellschaftlichen Einflusses zu schlagen und
die kapitalismuskritischen Stimmungen
in der Bevölkerung zu nutzen. Ein Beweis dafür war die hessische Landtagswahl am 18. Januar 2009, wo die NPD
auf dem gleichen Anteil von 0,9 Prozent
der Stimmen hängenblieb wie ein Jahr
zuvor.
Drittens: Als weiteres Thema lag für die
»nationalen Erretter« das Thema Steuern auf der Propagandastraße. Die unglaublichen Fälle von Steuerkriminalität
aus Kreisen der bundesdeutschen »Elite« (etwa eintausend Prominente wie
der Postchef Zumwinkel hatten durch
Transaktionen nach Liechtenstein den
deutschen Fiskus um etwa 3,4 Milliarden Euro geprellt) wurden im Frühjahr
2008 aufgedeckt und natürlich sofort
von den rechtsextremen Parteien aufgegriffen und angeprangert. Sascha
Roßmüller fand, dass angesichts der
neuen zugespitzten Situation die NPD
sich nun »als Anwalt« des Steuerzahlers
profilieren müsse. Denn die Tatsachen,
dass die Millionen einfacher Steuerzahler jetzt all die verzockten Milliarden von
den Landesbanken bis zur Autoindustrie
bezahlen sollen, indem der Staat sie als
so genannte Rettungspakete den Verantwortlichen hinterherwirft, liegen auf
dem Tisch. Und eine Reihe Fragen, die
in diesem Zusammenhang in der Öffentlichkeit gestellt werden, formulieren
auch die NPD-Publizisten richtig, so zum
Beispiel, wieso nur der Steuerzahler in
die Pflicht genommen werden soll und
nicht die Privatbanken, oder weshalb
die Frage nach der Haftung der Verantwortlichen mit ihrem umfangreichen
Privatvermögen weitgehend ausgespart
bleibt.
Da man auch in NPD-Kreisen weiß, dass
mit solchen Forderungen zur Zeit nicht
durchzukommen ist, schloss man sich
im November den die Massen der Bevölkerung eher interessierenden Forderungen aus Wirtschaftskreisen nach
einer Senkung der Mehrwertsteuer an,
die unter anderem der Chef des Handelskonzerns Metro, Cordes, in der gegenwärtigen Situation als »wirksamen
Schritt« bezeichnete, weil damit die Binnennachfrage und indirekt das Investi-
tionsklima angekurbelt werde. Mit der
Forderung nach Steuersenkungen befanden sich nun aber die Rechtsextremen plötzlich auf gleicher Straße mit
der »Steuersenkungspartei« FDP und
mit der CSU. Diese hatte mit dem Thema monatelang ihre Schwesterpartei
CDU genervt, bis schließlich Frau Merkel auch in dieser Frage umfiel, wobei
sie sich dennoch weiter sträubt, vor
allem von der Mehrwertsteuer etwas
abzurücken.
Damit noch etwas Profil erkennbar bleiben sollte, stieg der wirtschaftspolitische Berater der sächsischen NPDLandtagsfraktion Per Lennart Aae in die
Debatte und rief »Steuersenkung jetzt,
aber selektiv!« (Internetseite der NPD,
28. 11. 2008). Unter selektiver Auswahl
bei der Steuersenkung versteht Aae
den Kampf gegen die massenhafte Einfuhr von Importwaren, die deutsche Produkte aus den Regalen der Supermärkte
verdrängen, eine deutliche Senkung der
Mehrwertsteuer, um damit heimische
Hersteller und Dienstleister zu begünstigen. Die Kritik der EU-Wettbewerbshüter wegen des Verstoßes gegen da
EU-Wettbewerbsrecht will Aae in Kauf
nehmen. Dieses werde angesichts der
Krise ohnehin bald auf der Müllhalde
der Geschichte landen. Ergänzend erwägt er, die generelle Mehrwertsteuersenkung durch eine zusätzliche Senkung für Produkte und Dienstleistungen,
die in einer Region in Deutschland hergestellt beziehungsweise von einheimischen Unternehmen angeboten und in
derselben Region angeboten werden,
noch zu erweitern. Hinter den Befürwortern einer umfangreichen Steuerentlastung der Bürger sind inzwischen auch
die Spitzen der anderen rechtsextremen
Partei, der DVU, zu finden, die vor allem
das Zögern der Kanzlerin in dieser Frage
kritisieren, wie zum Beispiel der Abgeordnete Wetzel aus Potsdam. Sie stellen
sich an die Seite von Prof. Hans-Werner
Sinn, dem Präsidenten des Münchener
Ifo-Instituts, der den Solidaritätszuschlag abgeschafft haben will und fordern, die Effekte der Progression des
Einkommensteuertarifs zu neutralisieren.
Und hinsichtlich des »Konjunkturpakets II« der Bundesregierung schließt
sich die NPD natürlich der Kritik an,
dass auch mit diesem Programm keine wirkliche Entlastung für den Mittelstand und die Bürger erfolgt. Vor allem
die mit dem Paket verbundene Zumutung für den Steuerzahler, nun auch die
marode Commerzbank mit Milliarden zu
sanieren, fordert die Empörung heraus.
Die Erklärung, eine »wirkliche Steuer-
reform« beziehungsweise die Absenkung der Mehrwertsteuer zurück auf 16
Prozent wären sinnvoller gewesen, die
derzeitige Unternehmensbesteuerung
vor allem zugunsten des Mittelstandes
hätte nachgebessert werden müssen
(Wirtschaftsredaktion der »Deutschen
Stimme« in der Januar-Ausgabe 2009),
erscheint jedenfalls wiederum nicht als
originelles NPD-Produkt und verfehlt
auch dieses Mal die beabsichtigte Wirkung.
Spagat zwischen der Forderung nach
Systemveränderung und dem Mühen
um einen verstärkten sozialen Touch
Die wiederholte Feststellung, so könne
es nicht bleiben und so könne es nicht
weitergehen, wie sie seit Ausbruch der
weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise überall bei der NPD zu finden ist,
zwingt natürlich die Partei, ihr Vokabular zu durchforsten und nach der zugkräftigen Parole für den Ausweg zu suchen. Dabei zeigt sich, dass es gar nicht
so leicht ist, ausgehend von der Formel
»Systemwechsel« als Phrase jetzt konkreteren Inhalt hineinzubringen und dabei noch den Anschein einer Partei für
die kleinen Leute zu wahren. Die Suche gerät unversehens in die erbitterte Schlammschlacht, die gegenwärtig um Kurs und Führungspersonen in
der NPD ausgetragen wird. Roßmüller
sucht weiter nach der »nationalen Alternative«, nach einem NPD-Finanzkonzept, das die Finanzmärkte regulieren
könnte, Aae belässt es beim Wunsch
nach einem »Paradigmenwechsel« und
der Brandenburger NPD-Landesparteitag folgte den Floskeln vom Cottbuser
Zasowk, hat von ihm die Parole »Dritter
Weg – raumorientierte Volkswirtschaft
jetzt!« in eine Resolution geschrieben.
Grundsätzlich ist bekannt, dass Udo
Voigt und andere unter dem »dritten
Weg« einen zwischen Kapitalismus und
»internationalen Sozialismus« verstehen – dass ihnen also ein »nationaler
Sozialismus« vorschwebt. Freilich ist
die Naziforderung nicht nur strafbewehrt, sondern gegenwärtig auch nicht
massenwirksam an den Mann/die Frau
zu bringen, deshalb braucht man also diverse Umschreibungen. Die NPD
Brandenburg mochte auch aus diesem
Grund nicht zu deutlich werden, beschränkte sich auf die Erweiterung der
Forderungen nach Verstaatlichung der
Banken, indem sie zusätzlich die Versicherungsgesellschaften verstaatlichen
will. Außerdem verlangte sie eine nationale Prüfungskommission, die sich
mit dem Aufbau einer mittelfristigen
(!) Volkswirtschaft zu befassen habe,
über eine Neuorientierung der Zinspoli-
tik bzw. deren Abschaffung und »Ersatz
durch menschenfreundlichere Finanzinstrumente« nachdenken solle. Den
Widerspruch zwischen »mittelfristig«
und »jetzt« nahm sie dabei nicht sonderlich ernst.
Jürgen Gansel beobachtet richtig, dass
die politische Klasse in der Bundesrepublik erkannt hat: »Es muss sich (politisch) etwas ändern, damit (wirtschaftlich) alles beim Alten bleibt. Weil die
Deutschen wegen einer Wirtschaftskrise nie wieder die Systemfrage stellen sollen, überschlägt sich die etablierte Politik mit Vorschlägen zu einer
Re-Regulierung des Kapitalmarktes
und zur besseren Kontrolle von Bankvorständen« (Deutsche Stimme, Dezember 2008). Daraus möchte er den
Spielraum gewinnen, die Forderung der
NPD nach Unterordnung des Finanzkapitals unter die Wirtschaftsautorität des
Staates wieder in die Debatte zu bringen
und zwar damit, dass über unterschiedlichste Eigentumsformen zwischen Privat- und Gemeinwirtschaft im Rahmen
einer »gemischten Wirtschaftsordnung«
nachgedacht wird, der Begriff des Volksvermögens eingeworfen und eine neue
»Bankenphilosophie« angestrebt wird.
Man sieht, zu scharf möchte auch er
nicht gleich den »Haien« und »Bossen«
ans Leder. Aber dieses Zögern eben verträgt sich nicht mit dem radikalen Krawallflügel in der Neonaziszene, der lieber mit superrevolutionären Parolen auf
die Straßen zieht, »Nationaler Sozialismus jetzt!« schreit und Bürgerschreck
mit schwarzen Kapuzen treibt. Oder solche »autonome Nationalisten«, die auf
ihren Websites wie »Media pro Patria«
fordern: »Steh endlich auf gegen dieses
System, das das Elend unseres Volkes
verwaltet!« Davon grenzt sich Gansel ab
und warnt davor, die Chancen zu verspielen, die sich jetzt auftun, die bisher richtungslose antikapitalistische
Sehnsucht breiter Massen in »nationale
Protestbahnen« zu lenken. Diese Vereinnahmung gelinge nur, » wenn die nationale Solidar- und Gerechtigkeitsbewegung vernünftig im Ton und zivil im
Auftreten ist und jedes sektiererhafte
oder pubertäre Bürgerschreck-Gehabe
unterlässt. ‚Autonome Nationalisten‘
mit ihrem antifaschistischen Krawall –
Habitus schwächen dabei nur die Position des nationalen Antikapitalismus, weil
dessen normaldeutsche Adressaten
massiv verschreckt werden.« (Internetseite der NPD, 3. 1. 2008)
Die Bemühungen der Rechtsextremen,
ihre Kapitalismus- und Globalisierungskritik mit mehr sozialem Touch zu versehen, sind nicht neu. Sie erlebten
15
mit den Anti-Hartz-Kampagnen einen
deutlichen Aufschwung und zeitweise
konnten sie auch auf diesen Zug aufspringen. Bestimmte Erfolge bei den
Kommunalwahlen waren aber nur teilweise dem Image als soziale Protestparteien zuzurechnen. Ähnlich ist es
in der Gegenwart. Natürlich setzt die
NPD weiter auf »Hartz IV muss weg!«,
aber es gelingt ihr nicht, im allgemeinen Strom der Anklagen gegen die Finanzmarktkrisen ihr soziales Profil zu
schärfen. So bleibt es beim deklamatorischen »Stoppt die Finanzhaie –
Schützt die Sparer!« Welche minimalen
Forderungen für die kleinen Leute daraus erwachsen, haben wir weiter oben
am Beispiel der Losungen zur Verstaatlichung der Banken gezeigt. Seither ist
nicht viel dazu gekommen, sieht man
von Forderungen nach Preiskontrollen, Krediten der öffentlichen Hand für
die Versorgung der Haushalte und Hilfe für einkommensschwache Personen
ab, die inzwischen auch zum Vokabular in der Regierung und der Fraktionen
im Bundestag gehören. Dass auch der
neue DVU-Vorsitzende Faust die Losung der Abschaffung von Hartz IV im
Munde führt, macht ihn ebenfalls nicht
interessanter. Kommt doch dahinter
auch nur die Leerformel, man müsse
ein neues Konzept zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit verlangen.
So bleibt die NPD bei ihrer ebenso stereotypen wie falschen Formel »Sozial geht
nur national!« Gerade das trifft nicht zu,
wie Dutzende Beispiele jeden Tag bestätigen, ob es sich um den Zusammenbruch in der Automobilindustrie oder
beim Chiphersteller Quimonda, um die
Entlassungen bei BASF oder in der Hafenwirtschaft handelt. In unserer Welt
können soziale Problemlagen von Größenordnungen nur auf allen Ebenen, lokal, regional, national und international
angegangen werden. Die NPD kommt
nicht aus der Gefangenschaft ihres Nationalismus und Rassismus heraus. Ihr
einziges »soziales« Rezept bleibt wieder
die Forderung nach »Ausländerstop«
und »Ausländerrückführung«. Aus einer
fremdenfeindlichen Politik der Abschiebung und ethnischen Segregation soll
die Rettung kommen.
16
Perspektiven und Alternativen
Gerät die extreme Rechte so immer wieder an den Rand des Geschehens und
nicht wie erhofft ins Zentrum der Aufmerksamkeit, erfasst sie in ihrer Enttäuschung und in ihrem eigenen krisengeschüttelten Dasein dann schließlich
aufs Neue die Lust an der Provokation.
Denn die Auseinandersetzung um Finanz- und Wirtschaftskrise bedeutet
nicht, dass sie auf die Themen verzichten würde, mit denen sie es dann doch
in die Spalten der Presse und in die Fernsehbilder schafft. Und entgegen Gansels
Wünschen sind es eben doch die Krawallnazis, die mobil machen und Aufmerksamkeit erheischen. Sie bedienen
den dumpfen Volkszorn mit ihren Rufen
nach der Todesstrafe bei jedem Verbrechen von Kinderschändern, sie schreiten
zum »Heldengedenken«, provozieren bei
Veranstaltungen zu Ehren der Opfer faschistischer Judenvernichtung. Nazi Axel
Reitz, ehemals selbsternannter NaziGauführer von Köln, holte schon mal die
Zuchtrute als Weihnachtsmann heraus,
um am Heiligabend gegen die Verbote
seiner Hetzveranstaltungen zu protestieren. Und dass JLO, JN, NPD und die anderen Gruppierungen der extremen Rechten aus dem In- und Ausland alljährlich
wieder zum »Trauermarsch« anlässlich
des Tages der Bombardierung Dresdens
1945 rufen, hat schon rituellen Charakter. Oft genug zeigt sich dabei auch, dass
die »Freien« und »Autonomen«, die sogenannten »Aktionsbüros« der Neonaziszene, die zu »biederen« NPD-Leute abhängen, selber die Führung an sich reißen.
Noch hofft die extreme Rechte auf die
»ganz große« Krise und noch tiefere gesellschaftliche Erschütterungen. Während Sascha Roßmüller das ganz dicke
Ende herankommen sieht, rechnet Per
Lennart Aae in der Januar-Ausgabe der
»Deutschen Stimme« schon mal vor,
wann nach dieser Krise die nächste kapitalistische Krise fällig wird, da diese
Krisen jetzt in immer kürzeren Zeitabständen ausbrechen. Nach seiner Rechnung werde das jeweils etwa sieben Jahre dauern, weshalb er plant, jetzt erst
einmal als Wahlkämpfer für die NPD in
die krisengeschüttelte Region Oberlausitz zu gehen.
Offen bleibt, ob das ganz »dicke Ende« erst einmal für die NPD als Partei
kommt, die jetzt in ihrer eigenen Finanzkrise nicht nur mit dem Sammeln von
Geldern für die zahlreichen Wahlkämpfe dieses Jahres sondern auch zur Begleichung von Strafen beschäftigt ist,
die ihr die finanziellen »Vergehen« ihres
ehemaligen Schatzmeisters Kemna eingebracht haben. Dieser »Experte«, der
wohl bedeutende Summen aus NPDKassen »umgeleitet« hat, kann zumindest vorläufig die weltweiten Krisen von
seinem Gefängnisfenster aus studieren.
Die Linke wird allerdings in der
schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit achtzig Jahren nicht »auf dem
Berg sitzend den Kampf der Tiger im
Tal« – sprich den Streit der verschiedenen Flügel der extremen Rechten –
teilnahmslos betrachten können. Die
Linke steht nicht nur wegen der bevorstehenden Wahlen vor gewaltigen Herausforderungen. Sie sieht nicht nur die
Zahlen und die Unbeholfenheit von Regierungen. Sie erkennt auch die großen Gefahren für die Demokratie. Bereits
jetzt geht sie über die Zustandsbeschreibung und die Analyse von Ursachen hinaus. Sie zeichnet gleich am
Jahresanfang 2009 Grundlinien für einen »wirtschaftspolitischen Neuanfang« vor. Zu diesen gehören Aussagen
zur Stärkung der Binnenwirtschaft, die
mit dem Vorschlag eines Zukunftsinvestitionsprogramms weit über die Vorstellungen der Regierung hinausreichen, die Forderungen nach höheren
Einkommen, mehr Arbeitslosengeld
und höheren Renten. Zu den Forderungen gehören auch eine Millionärssteuer und unabdingbar die Übernahme
der Banken in öffentliche Kontrolle und
die Organisierung des Bankgeschäfts
als Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge. Und all das, so beschreibt es der
Bundesausschuss der Partei »Die Linke« in seinem Beschluss vom 11. Januar
2009, erfordert eben mehr Demokratie,
auch mehr Wirtschaftsdemokratie, Ausweitung von Elementen direkter Beteiligung der Bevölkerung und demokratische Kontrolle.
Dr. sc. Roland Bach
Finanzkrise und Antifaschismus
Seit einigen Monaten hält die Finanzund Wirtschaftskrise die Welt in Atem.
Konferenzen der politisch und ökonomisch Herrschenden sollen die Krise
einer Lösung zuführen, oder aber einer
solchen Lösung nahe kommen. Jeder
Vernünftige hofft, dass dies gelingt,
denn unübersehbar entstehen mit
der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise qualitativ neue Gefahren
für die Menschheit, zugleich aber auch
verantwortungsvolle Aufgaben für alle Antifaschisten: Es muss verhindert
werden, dass – es wäre dies nicht das
erste Mal in der Geschichte – Auswege
aus der Krise in Richtung Krieg und
Faschisierung beschritten werden.
Finanziell-strukturelle Maßnahmen allein genügen nicht, um das zu bewirken. Entscheidend sind veränderte
Inhalte des Handelns von Menschen
und Gemeinschaften in der Welt. Unterschiedliche Wertsetzungen erweisen erst dann ihren wahren humanen
Wert.
Aus diesem Grunde sind komplexe
Strategien vonnöten, die Politik, Wirtschaft und Banken gemeinsam verfolgen. Im Ergebnis der Finanzkrise
scheint diese schwierige Aufgabe in
den Staaten und Regionen differenziert und ein Stück weit lösbar. Dazu
können die Europäische Union und
Deutschland dank ihres wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Potentials maßgeblich beitragen. Was
folgt daraus für die Überlegungen von
Antifaschisten?
Aristoteles hielt es für vernünftig,
»künstliche« Finanzwirtschaft wieder durch »natürliches« Wirtschaften
zu ersetzen, aber wahrscheinlich, so
schrieb er, sei es schon zu spät. Heute
zwingt die globale Krise des Finanzsystems, dies neu zu bedenken und langfristige Entscheidungen und Strategien
zu finden, die möglichst jeder Person
Sicherheit gewähren und ihr Leben
menschenwürdig wandeln.
Dabei erfüllen Märkte, auch der Finanzmarkt, eine lebenswichtige Funktion. Sie zirkulieren das gesellschaftliche Gesamtprodukt und ermöglichen
dessen erweiterte Reproduktion. Löst
sich finanzieller Gewinn jedoch davon,
wird dieser normale Zyklus in Ländern
und Regionen der Welt empfindlich
gestört. Denn die erweiterte ökonomische und soziale Reproduktion ist
das Fundament jeder Kulturentwicklung. Ihre Konflikte erscheinen dann
als »Kampf der Kulturen«.
Die gegenwärtige Finanzkrise in der
Welt war folglich vorherzusehen. Die
Freiheit hemmungsloser Hochfinanz
begann die demokratische Ordnung zu
untergraben. Sicherheit und Existenz
offener Gesellschaften wurden leichtfertig aufs Spiel gesetzt, unverantwortlichen politischen Folgen zum Trotz.
Deswegen bedürfen Unternehmen der
Realwirtschaft dringend Kredite. Es
geht dabei weniger um das Schicksal
kapitalistischer Unternehmen als um
die millionenfachen Schicksale der
dort Arbeitenden. Staatliche Maßnahmen sollen diesen Geldfluss fördern.
Aber das Verhältnis von Realproduktion, Banken und Staat muss in der
Welt generell neu geordnet werden.
Veränderte Rechtsbestimmungen und
Finanzstrukturen gewährleisten das
noch nicht, jedenfalls nicht auf Dauer;
auch keine Realproduktion, die lediglich gewinnorientiert bleibt.
Nötig ist ein inhaltlicher Wandel aller
Strukturen der Geldwirtschaft, die auf
eine menschenwürdige ökonomische
und soziale Reproduktion konzentriert
werden müssten. Banken erfüllen dann
ihren Zweck, wenn sie Investitionen für
die arbeitsteilige Produktion von Gebrauchsgütern fördern und nicht mehr
offene und strukturelle Gewalt über
Menschen finanzieren. Erst auf diesem
Weg werden Krisen des Weltfinanzsystems lösbar und neofaschistischen
Gefahren begegnet.
Denn das vielstimmige Rufen nach
dem Staat ist janusköpfig. Starke Banken treiben Zentralisierung voran, vereinnahmen Unternehmen und wollen
dafür staatliche Mittel, ohne sich größerem demokratischen Einfluss auszusetzen. So geschehen zum Beispiel in
Großbritannien, wo staatliche Beteiligungen an maroden Kreditinstituten in
Form von stimmrechtslosen Vorzugsaktien organisiert wurden. Dabei handelt es sich um Aktien, die dem Eigentümer zwar bevorzugte Rechte bei der
Verteilung des Gewinns, der Dividende,
gewähren, aber keinen Einfluss auf den
Hauptversammlungen der Aktionäre
ermöglichen. Auf solche Weise ist keine durchgreifende Initiative der Weltfinanz zu erkennen, ihre eigene Krise
auch mit eigenen Mitteln zu beheben.
Ferner besteht in der Bevölkerung berechtigter Vorbehalt gegen zu starke
Eingriffe des Staates in persönliche
Belange. Die Menschenschicksale des
20. Jahrhunderts zwingen dazu. Für
eine sichere Zukunft müssen sie neu
durchdacht werden, dann offenbart
sich die Janusköpfigkeit jedes staatsmonopolistischen Dirigismus. den die
Hochfinanz seit eh und je anstrebt. Sie
erlangte erstmals um 1900 volle wirtschaftliche Souveränität, aber nun benötigte sie politische und geistig-kulturelle Macht. Geeignete Personen
und Institutionen fanden sich. Die soziale Evolution erreichte weltweit ihre
staatsmonopolistische Dimension.
Im Ergebnis gelangen sprunghafte wissenschaftlich-technische Fortschritte.
Unternehmerische Rekordgewinne
wurden erreicht. Dafür stehen Weltkriege, der rassistische Nationalsozialismus und der Kalte Krieg gegen die
andere Form von Staatsmonopolismus, den stalinistischen Kommunismus. Es besteht eine historische Eigendynamik von Staatsmonopolismen.
Sie verdeutlicht, wie sehr ihnen sowohl
Verbrechen, als auch eine gewisse Tendenz zu Sozialismus innewohnen.
Damit ist die Gefahr staatsmonopolistischer »Experimente« generell gekennzeichnet. Ohne demokratische
Selbstkontrolle gebiert jedes Gesellschaftssystem früher oder später Unmenschliches, schon durch Betrug
und Administration über Menschenschicksale hinweg. Finanz-staatliche
Monopolisierung bewirkt deshalb eine Selbstgefährdung jeder offenen
Gesellschaft. Weiterblickende soziale
Kräfte, auch konservative oder religiöse, erstreben daher seit Jahrzehnten
ein immer wieder neu ausgewogenes
Verhältnis von Freiheit, Gerechtigkeit
und Solidarität in der Welt.
So ist die aktuelle Krise des Weltfinanzsystems janusköpfig. Sie birgt Existenzgefährliches für Menschen und
Gemeinschaften, aber zugleich eine unvergleichliche historische Chance: Sie
öffnet Wege zu einer kulturellen, friedlichen Gestaltung der globalen Wirklichkeit des Menschen, ohne schrankenlose Herrschaft der Hochfinanz.
Darin besteht der in der Welt heute realisierbare Schritt zu einer humanen
Balance von Politik, Wirtschaft und
Finanzsystem. Er bedarf der strategisch lenkenden Hand demokratischer
Staaten und Gemeinschaften. Es liegt
daher im Interesse eines jeden Antifaschismus im 21. Jahrhundert, nicht nur
früheren Formen finanzoligarchischer
Vorherrschaft zu widerstehen, sondern
auch neue zu vereiteln, die internationale staatsmonopolistische Kooperation anstreben.
17
Konkret bedeutet das:
1. Handeln gegen alle faschistoiden Bestrebungen vor Ort, in Gemeinschaften
und Staaten, besonders wenn sie persönliche Sicherheit gefährden.
2. Einlenken aller sozialen Kräfte und
Staaten auf die humanen Ziele der
UNO.
3. Gemeinsamer Kurs auf ökonomischökologische und soziale
18
Reproduktion der Nationen und Nationalitäten.
4. Entsprechende Investitionen der nationalen und transnationalen
Finanzinstitutionen.
5. Gemeinschaftliche soziale Effektivität
von Wissenschaften und Technologien.
5. Selbstbewusste Identität humaner
Bildung und Kultur in allen Gruppen der
Bevölkerung.
Dies sind Brennpunkte globaler
menschlicher Existenz. In ihnen werden sich die antifaschistischen Initiativen des 21. Jahrhunderts entwickeln
und den Weg zu einer Ethik des freiwilligen Handelns für den Anderen bahnen.
Professor Dr. Heinz Engelstädter
Ralf Krämer, Mitglied des BundessprecherInnenrates des Sozialistischen Linken und
der Programmkommission der Partei DIE LINKE, Dezember 2008.Diskussionsthesen:
Bankrott des Neoliberalismus – Aufgaben
der LINKEN
1. Krise des Kapitalismus
In der aktuellen Krise verbinden sich
eine Konjunkturkrise und eine Krise
der internationalen Finanzmärkte zur
schwersten kapitalistischen Weltwirtschaftskrise seit den Jahren ab 1929.
Hintergrund ist der gewaltige Überschuss an Anlage suchendem Kapital,
der zur Entwicklung gigantischer Spekulationsblasen führt, die irgendwann
platzen müssen. Gleichzeitig spitzt sich
die weltweite Klimakrise zu. Hunger und
Armut nehmen zu. Das kapitalistische
Wachstumsmodell insgesamt ist der
Krise. Immer mehr Menschen sind skeptisch und stellen sich die Frage nach Alternativen zu dem zerstörerischen System des Kapitalismus, das sie in den
letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt
haben.
Dennoch: Die Grundlagen der kapitalistischen Welt sind stabil und keine
Entwicklungen erkennbar, sie zu überwinden: das Privateigentum an Produktionsmitteln, die ökonomischen
Freiheiten des Kapitals in seinen verschiedenen Formen, der bürgerlichdemokratische Staat, die internationalen
Institutionen des kapitalistischen Weltmarktes sowie die Europäische Union.
Es verschieben sich Kräfteverhältnisse
und es vollzieht sich ein Übergang zu einer neue Phase der Entwicklung der kapitalistischen Welt.
2. Neoliberalismus in der Krise:
Herrschaft ohne Hegemonie
Der ideologische und politische Bankrott des Neoliberalismus ist offenkundig. Doch der Neoliberalismus hat sich
tief in den staatlichen Strukturen eingeschrieben und die kapitalorientierten
Kräfte sitzen weiterhin fest im Sattel
und an den Schalthebeln der Politik.
Der Staat als »ideeller Gesamtkapitalist« wird für die Notrettung des Finanzsystems eingesetzt.
Die Bundesregierung unternimmt weder
auf der internationalen noch auf der nationalen Ebene ernsthafte Versuche einer demokratischen Neuordnung der Finanzmärkte.
Auch das vorgelegte so genannten
»Maßnahmenpaket Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstärkung« ist
völlig unzureichend dimensioniert und
soll überwiegend mit Steuer- und Kreditvergünstigungen Unternehmen fördern
soll. Es ist nur zum kleinen Teil ein wirkliches Konjunkturprogramm, das drängende Defizite beseitigt, die Binnennachfrage und öffentliche Investitionen
ausweitet und Arbeitsplätze schafft.
Stattdessen wird mit der Politik der
Staatsintervention die neoliberale Umverteilungspolitik von unten nach oben
fortgesetzt.
Dennoch: Die Bewusstseinslage weiter
Teile der Bevölkerung und das Klima in
den öffentlichen Diskussionen, die ideologischen und insoweit auch die politischen Kräfteverhältnisse sind heute wesentlich günstiger als Anfang des
Jahrzehnts. Auch die neue Partei DIE
LINKE hat die Bedingungen wesentlich
verbessert. Es wird vorherrschend über
Konjunkturprogramme, eine neue Weltfinanzordnung und einen internationalen »Green New Deal« diskutiert statt
über Lohnkostensenkung und Sozialabbau. Jedenfalls bis zur Bundestagswahl
2009.
3. Perspektiven der Krise – autoritäre
Krisenbewältigung
oder sozialer und ökologischer
zweiter »New Deal«?
Wie es weitergeht, ist offen. Mit Schärfe und Dauer der ökonomischen Krise werden Arbeitslosigkeit und soziale
Krise sich zuspitzen. Die Auseinandersetzungen werden sich verschärfen,
ein Rückfall in autoritäre Krisenbewältigung zu Lasten der breiten Schichten
der Bevölkerung ist möglich, aber keineswegs ausgemacht. Entscheidend ist
der Druck aus den Gewerkschaften und
sozialen Bewegungen sowie den öffentlichen Diskursen und von der LINKEN.
Die Möglichkeiten, demokratische
und soziale und ökologische Alternativen wirksam einzubringen und
Schritte in diese Richtung durchzusetzen, sind durch die gegenwärtige Krise gewachsen. Es geht zunächst um
die ideologische und materielle Auseinandersetzung für um eine neue, sozial kontrollierte Regulation des Kapitalismus der kommenden Zeit. Die
ökonomischen Spielräume und sogar
Notwendigkeiten für einen anderen
Entwicklungspfad sind gegeben, auch
aus Sicht von Teilen des Kapitals. Die in
den letzten 25 Jahren wieder deutlich
erhöhten Profitraten ermöglichen eine
neue Phase lohngetriebener Akkumulation, bei der sinkende Rate durch steigende Masse des Profits kompensiert
wird. In den USA wird der bisherige
Pfad durch private Verschuldung getriebenen Wachstums so nicht dauerhaft fortgeführt werden können. Wenn
die USA aber künftig nicht mehr wie
bisher die weltweiten Waren- und Kapitalüberschüsse absorbieren können,
müssen die gigantischen Überschüsse
Deutschlands, Japans und Chinas reduziert werden. Dies geht nur mit einer stärker binnenwirtschaftlich orientierten Entwicklung, und dies erfordert
eine stärkere Entwicklung der Masseneinkommen und der öffentlichen Nachfrage als in den vergangenen Dekaden.
Auch die Notwendigkeit einer Umgestaltung der Energiebasis erkennen
angesichts tendenziell steigender Energiepreise, problematischer Abhängigkeiten von ölexportierenden Ländern und des Klimawandels auch Teile
der herrschenden Klassen in den kapitalistischen Zentren.
Die Chiffre, auf die sich breite Kräfte für eine Umorientierung der Politik und einen neuen Entwicklungspfad
beziehen, ist die eines zweiten, sozial-ökologischen oder grünen »New Deal«. Also eine neue Phase verstärkter
staatlicher Investitionen, Regulierung
und Mobilisierung von Ressourcen zur
Überwindung der Wirtschaftskrise und
Umsetzung öffentlicher Entwicklungsprojekte – konkret einer ökologischen
Modernisierung der Infrastruktur und
Produktionstechnologien und der Begrenzung und Minderung sozialer Spaltungen und Katastrophen.
Bei einer solchen Entwicklung wären
stärker als in der neoliberal geprägten
Phase der letzten Jahrzehnte auch Interessen der Lohnabhängigen und ihre Organisationen in die Politik einbezogen.
Aber der Kompromiss bliebe asymmetrisch, das Kapital bliebe dominant.
Eine solche Perspektive wäre eine neue
Entwicklungsphase des Kapitalismus,
gezeichnet durch die entsprechenden
Widersprüche und Kämpfe, Krisen und
Probleme.
19
Die SozialistInnen und DIE LINKE hätten
ein kritisches Verhältnis zu dieser neuen
Entwicklungsphase, hätten unter neuen
Bedingungen die Kämpfe für soziale Interessen und die sozialistische Überwindung dieser Gesellschaft zu führen.
Es ist eine Frage der Kräfteverhältnisse, wie die Reaktion auf die Krise
letztlich aussieht. Und zwar nicht nur in
Deutschland, sondern weltweit. Es wird
dafür eine entscheidende Rolle spielen,
welchen Kurs die neuen Obama-Administration in den USA einschlagen wird.
In Europa geht die Durchsetzung einer
anderen Politik nur auf dem Wege der
Durchsetzung einer anderen politischen
Orientierung in Deutschland und möglichst vielen anderen Nationalstaaten
in Europa. Und das erfordert, die Verantwortung und Veränderungsmöglichkeiten der nationalen Politik in den Mittelpunkt zu stellen.
So lässt sich am wirksamsten Druck
entwickeln, auch für eine andere Politik
im internationalen Rahmen.
4. DIE LINKE: Reformismus und Antikapitalismus – realistisch und radikal
Linke, sozialistische Strategie und Politik,
jedenfalls wenn sie zugleich realistisch
und radikal sein sollen, geht nicht darum,
was man sich gerne wünschen würde,
sondern wie in einer internationalen, gesellschaftlichen und politischen Situation
möglichst viel an Veränderung im Sinne
linker, sozialistischer Ziele durchgesetzt
und zugleich die Bedingungen für weitergehende Veränderungen verbessert werden können. Die sozialistische Linke und
die Partei DIE LINKE haben dabei besondere Aufgaben. Immer weiter zu drängen, aber sich dabei nicht von den realen
Kämpfen zu entfernen, sondern die eigenen Kräfte darin positiv wirksam zu machen, auch wenn das, um was es dabei
geht, hinter dem, was letztlich nötig wäre,
weit zurück bleibt.
Marx und Engels haben im Kommunistischen Manifest die Aufgabe beschrieben: »Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische
Bewegung modeln wollen. … [Sie] unterscheiden sich … dadurch, dass sie in
den verschiedenen Entwicklungsstufen,
welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das
Interesse der Gesamtbewegung vertreten. [Sie] sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende
Teil der Arbeiterparteien aller Länder.«
»Sie kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung
zugleich die Zukunft der Bewegung.«
20
Eine Haltung, die sich orientierte auf eine Zuspitzung der Krise des Kapitalismus und einen daraus resultierenden
unmittelbaren Übergang zum Sozialismus, wäre illusionär, würde diese Aufgabe verfehlen und die LINKE isolieren.
Genauso falsch wäre eine Haltung, die
auf die weiter treibende Kritik und die
kämpferische Vertretung der Interessen
der ArbeiterInnenklasse verzichtete und
sich nur noch als Teil eines breiten vermeintlichen rot-rot-grünen Reformlagers verstünde.
DIE LINKE ist die Partei einer neuen
Entwicklungsstufe der Arbeiterbewegung, in der die Spaltung nicht verläuft
zwischen Reformismus und Antikapitalismus. Sondern zwischen eigenständiger kämpferischer Vertretung der Interessen der Mehrheit der Bevölkerung
und sozialistischer Ziele oder der Einund Unterordnung dieser Interessen
und Kämpfe unter ein illusorisches klassenübergreifendes Allgemeininteresse,
dessen Inhalt letztlich im Kern dominiert wird durch die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und Interessen des Kapitals.
DIE LINKE muss zugleich reformistisch
und antikapitalistisch sein. Reformistisch nicht im Sinne einer Beschränkung der Forderungen und Perspektiven
auf den Rahmen des kapitalistischen Systems und der Vermeidung des Kampfes
gegen die Herrschaft des Kapitals. Diese Art von Reformismus hat in der Unterordnung der sozialdemokratischen
Parteien unter den Neoliberalismus ein
unrühmliches Ende gefunden. Sondern
im Sinne eines entschiedenen Kampfes
für soziale Reformen und gegen Herrschaftspositionen des Kapitals hier und
jetzt und der Verbindung und Ausrichtung dieses Kampfes auf die Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau
einer demokratischsozialistischen Gesellschaft.
DIE LINKE muss Menschen zusammenfassen, die sich als links-reformistisch
und die sich als revolutionär-sozialistisch verstehen. Sie muss zugleich Opposition gegen die Herrschaft und Politik des Kapitals sein und die Fähigkeit
haben, als linker Flügel eines zu entwickelnden gesellschaftlich-politischen
Blocks für einen sozial-ökologischen
Umbau zu wirken. Also die Kräfte der
Linken wirksam zu machen und mit einzubringen für die Überwindung des Neoliberalismus und die Durchsetzung
und Linksverschiebung eines »New Deal«. Es geht darum, die Bedingungen zu
schaffen für einen echten Politikwechsel, das ist etwas ganz anderes als jetzt
auf Rot-Rot-Grün zu setzen. Es geht da-
rum, real-politisch die Macht und Bewegungsmöglichkeiten des Kapitals einzuschränken – und zugleich die Mängel
und Begrenztheiten einer solchen Politik zu kritisieren, für eine sozialistische
Perspektive zu argumentieren und Kräfte und Druck für weitergehende Veränderungen zu mobilisieren.
Die strategischen Aufgaben der Linken
bestehen darin, in den konkreten Kämpfen zugleich den Kampf um die politischkulturelle Hegemonie zu führen und zur
Bildung sozialer und politischer Bündnisse in diesem Sinne beizutragen.
5. Klassenformierung, soziale und
politische Bündnisse bilden
Bei der Betrachtung der Bedingungen
und Möglichkeiten radikaler Reformpolitik geht es zentral um die Frage der Formierung der sozialen und politischen
Kräfte gegen den Neoliberalismus und
für Alternativen. Im Kern ist das die Frage der Klassenformierung und der Einschreibung politischer Orientierungen
in diesen ständigen Prozess. Da geht es
etwa um massenwirksame ideologische
Auseinandersetzung und um Fragen der
gewerkschaftlichen und politischen
und anderen zivilgesellschaftlichen Organisation und die realen Kämpfe und
politischen Prozesse und ihre Wirkung
auf die Beteiligten und die gesellschaftlichen Gruppen und Milieus. Das ist ein
zentraler Punkt, weil er den Kern der politischen Handlungsmöglichkeiten der
LINKEN betrifft. Auch politische Bildung
und Theorieaneignung und -produktion
ist dabei bedeutsam. Auch die Frage,
was Projekte und Forderungen sind, die
sinnvollerweise mit sozialistischer Perspektive jetzt betrieben werden sollten,
erschließt sich dann erst wirklich. Weil
ein entscheidendes Kriterium ist dabei
immer, wie sich das auswirkt auf die
Entwicklung von Hegemonie und Kräfteverhältnissen inkl. Organisationen
und ihre Stärke und Kampfkraft.
Dabei muss DIE LINKE eine aktive Rolle spielen und sich als möglichst starke
Partei breiter, tendenziell klassenbewusster Teile der Lohnabhängigen und
der gesellschaftlichen Linken entwickeln. Dabei sind insbesondere bestimmte Widersprüche in Richtung von
Bündnisbildung zu bearbeiten und programmatisch wie in der Praxis zu berücksichtigen:
- die sozialen und habituellen und einstellungsmäßigen Widersprüche zwischen verschiedenen Teilen der
Arbeiterklasse (im weiten Sinne), insbesondere zwischen der Masse der abhängig Beschäftigten und den prekär
Beschäftigten und den Erwerbslosen,
sowie gegenüber prekären oder von
Prekarität bedrohten Selbstständige
und Kleinunternehmern, insbesondere im Osten;
- die Widersprüche zwischen der »sozialen« Linken, deren gesellschaftliche
Hauptstruktur die Gewerkschaften
sind, und der sogenannten »kulturellen« Linken. Oder allgemeiner formuliert den Teilen der Linken, bei deren politischer Orientierung nicht die
sozialen Fragen und Interessen der
Lohnabhängigen (ausdrücklich einschließlich der sozialen Interessen der
großen Mehrheit der Frauen) im Mittelpunkt stehen, sondern andere politische Anliegen und kulturelle Einstellungen.
6. Profil und Positionen der LINKEN
Dabei sind ausschlaggebend für die
Stärke der Linken (und speziell der
LINKEN) und die realen kräftemäßigen
Möglichkeiten radikaler Reformen und
sozialistischer Umgestaltungen das soziale Profil und die Stärke der »sozialen
Linken«. Also dass die soziale Frage klar
und auch populär von links besetzt und
dominiert wird und damit kein Raum für
Rechte gelassen wird. Die Linke muss
mithelfen mit kollektiven Kämpfen einen
Pol der Hoffnung und der Solidarität gegen Verzweiflung, Rassismus und rechte Ideologien zu schaffen. Das Bewusstsein der Menschen ist widersprüchlich
und es ist gut und notwendig, wenn dabei auch viele Menschen auf DIE LINKE
orientiert werden und sie wählen, die dies trotz und nicht wegen unserer linken
Positionen in anderen Feldern tun.
Die weitergehende Aufgabe besteht hier
dann darin, darauf aufbauend auch darüber hinausgehende linke Orientierungen zu vermitteln und verankern.
Das linke soziale Profil muss daher immer im Mittelpunkt der gesellschaftpolitischen Position und der Wahlkämpfe
der LINKEN stehen. Gesellschaftliche
Emanzipation und sozialistische Perspektive gibt es nur mit und nie ohne
die Unterstützung der Massen der Lohnabhängigen und ihrer sozialen Organisa-
tionen, und die gibt es nur auf der Basis
der Vertretung ihrer sozialen Interessen durch die Linke. Dazu gehört neben
sozialpolitischen Alternativen verstärkt
auch eine klare wirtschafts- und finanzpolitische Alternativposition.
Dazu müssen selbstverständlich klare
Positionen in anderen wichtigen Politikbereichen kommen.
Aktuell muss DIE LINKE klare Forderungen für eine soziale Antikrisenpolitik formulieren und dafür mobilisieren: Ein massives Konjunktur- und
Zukunftsinvestitionsprogramm, Millionärssteuer, Mindestlohn und Kampf
gegen Lohndumping, Rücknahme von
Hartz IV, von Rente mit 67 und Rentenkürzungen, demokratische Neuordnung
der Finanzmärkte und der Weltwirtschafts- und Währungsordnung, öffentliche Kontrolle und Entmachtung der
Banken und Konzerne, öffentliche Hilfen nur für Eigentumsanteile und mit sozialen und Beschäftigungsbedingungen,
Stärkung des Sozialstaats und des öffentlichen Sektors statt Privatisierung.
Dafür ist eine andere EU notwendig.
Gleichzeitig sollte DIE LINKE ihre Kritik des Kapitalismus betonen und ihre
Vorstellung einer demokratisch- sozialistischen Gesellschaft konkretisieren
und Wege in die Diskussion bringen,
wie eine solche Gesellschaft erreicht
werden kann.
7. Politisches Handeln und
Aktionsorientierung im SuperWahlkampfjahr 2009
Die LINKE muss sich entwickelnde Abwehrkämpfe gegen die Auswirkungen
der Krise das Abwälzen der Folgen auf
die Bevölkerung unterstützen. Die regierenden Parteien, insbesondere die SPD,
haben kein Interesse an Abwehrkämpfen während der Wahlkämpfe.
Es ist zu befürchten, dass die SPD versuchen wird, gewerkschaftliche Mobili6
sierungen vor den Wahlen zu verhindern
oder klein zu halten. Umso wichtiger ist
es und bietet Chancen, dass DIE LINKE
hier mit klaren Positionen und Forderungen aktiv ist.
1. DIE LINKE sollte sich dafür einsetzen,
dass gemeinsam mit anderen dezentrale Aktivitäten und Aktionstage für
eine soziale Politik gegen die Krise
und für einen grundlegenden Politikwechsel durchgeführt werden. Dazu
gehört eine Aufklärungs-, Schulungsund Argumentationskampagne der
LINKEN zur kapitalistischen Krise und
unseren Alternativen, dazu ist geeignetes Material zu erstellen. Die Sozialistische Linke wird ihren Beitrag dazu
leisten. Insbesondere werden wir die
Sommerakademie der Sozialistischen
Linken 2009 zu einem »Krisengipfel«
machen.
2. Weitere gemeinsame Aktivitäten bis
hin zu einer bundesweiten Demonstration, möglichst in Abstimmung
mit Aktivitäten in anderen europäischen Ländern oder europäisch gemeinsame Aktionen, sind mit außerparlamentarischen Kräften zu
diskutieren und dann umzusetzen.
DIE LINKE sollte sich dafür einsetzen, dass dazu eine breit angelegte
bundesweite Aktionskonferenz mit
VertreterInnen von Gewerkschaften
und anderen sozialen Bewegungen
und Organisationen sowie kritischen
Wissenschaftlern durchgeführt wird
bzw. sich an entsprechenden Bestrebungen und Konferenzen aktiv beteiligen.
3. Das bereits bestehende Bündnis gegen den Nato-Gipfel im April 2009 ist
inhaltlich und in der Mobilisierung zu
unterstützen.
4. Ebenso sind die Bildungsstreiks der
Schülerinnen und Schüler und Studierenden im Mai/Juni zu unterstützen. Notwendig sind Bemühungen
um die Bildung breiter Bündnisse und
gemeinsam getragener Aktionen mit
Gewerkschaften, Sozialverbänden,
aktiven Schülerinnen und Schülern
sowie Studierenden und andere Kräften der sozialen Bewegungen.
5. Fortführung und Einbringen dieser
Aktivitäten in die Wahlkämpfe, deren
wichtigstes Resultat die Stärkung der
LINKEN sein muss.
21
AKTUELLES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND
ANTIFASCHISMUS
Konstruktion und Krise der Männlichkeit(en)
in der »Neuen Rechten« – Die Wochenzeitung
»Junge Freiheit«
Obwohl derzeit keine rechtsextreme
Partei Wahlerfolge auf Bundesebene
erringen kann oder gar mehrheitsfähig
wäre, ist Rechtsextremismus ein gesellschaftlich ernst zu nehmendes Problem.
Insbesondere die so genannte »Neue
Rechte« ist keineswegs so isoliert, wie
es oft erscheint. So sammeln sich hier
neben Rechtsextremen auch Rechtskonservative und Nationalliberale aus
den großen, etablierten Parteien. Die
»Neue Rechte« fällt weniger durch rassistisch oder antisemitisch motivierte
Straftaten auf, sondern findet sich in
intellektuellen Organisationen wie dem
»Institut für Staatspolitik‘«(IfS), in Burschenschaften zusammen oder gruppiert sich um ihre zahlreichen Publikationen.
Die Wochenzeitung »Junge Freiheit« ist
ohne Zweifel eine der bedeutendsten
Publikationen der »Neuen Rechten« in
Deutschland. Ihre Gefahr für ein auf
Menschenrechte und Gleichheit orientiertes Zusammenleben von Menschen
in einer pluralistischen Gesellschaft erwächst aus dem Versuch, Einfluss in der
»Mitte der Gesellschaft« zu erlangen. So
verfolgt die »Junge Freiheit« das Ziel, die
»kulturelle Hegemonie« – gemäß der
Konzeption des italienischen Marxisten
Antonio Gramsci – und innerhalb gesellschaftlicher Diskurse die Deutungshoheit zu erobern. »Erst durch die Eroberung des kulturellen Überbaus, der die
Mentalität und Wertewelt eines Volkes
bestimmt, wird die Basis für den Angriff
auf die eigentlich politische Sphäre geschaffen.«1, so Winfrid Knörzer in der
»Jungen Freiheit«.
Während die Rechtsextremismusforschung etliche Studien hervorbringt,
die sowohl einzelne Organisationen als
auch grundsätzliche Einstellungsmuster untersucht, gerät das Geschlecht in
diesem Zusammenhang meist aus dem
Blick. Erst seit den neunziger Jahren beleuchten feministisch orientierte Rechtsextremismusforscherinnen wie Birgit
Rommelspacher oder Michaela Köttig
Rolle und Einstellungen von Frauen im
organisierten Rechtsextremismus. Hingegen gilt die Existenz von Männern in
22
der extremen Rechten als selbstverständlich und wird daher selten diskutiert. Eine der wenigen Untersuchungen,
die sich mit Männlichkeit im Kontext von
Rechtsextremismus befassen, ist die
Arbeit von Oliver Geden zu »Männlichkeitskonstruktionen in der Freiheitlichen
Partei Österreichs«.2 So sind Männlichkeitskonstruktionen ein wichtiger und
doch oft vergessener konstitutiver Ideologiestrang. Männlichkeit(en) werden
im Rechtsextremismus – und nicht nur
dort – stets interdependent mit anderen
Kategorien wie Klasse und Ethnizität verknüpft. Dementsprechend möchte ich
im Folgenden die verschiedenen Stränge der Männlichkeitskonstruktion sowie
die Inszenierung von Männlichkeit(en)
in der »Neuen Rechten« zunächst allgemein und im folgenden am Beispiel der
‚Jungen Freiheit‘ analysieren. Es stellt
sich die Frage: Wie wird Männlichkeit
diskursiviert?
Trotzdem kann nicht von einer »rechtsextremen Männlichkeit« gesprochen
werden. Sowohl Konstruktion als auch
»Krise der Männlichkeit« sind gesellschaftlich relevant. Sie konstituieren
das soziale Leben und vergeschlechtlichen es. Die Thematisierung von
Männlichkeit durch die »Neue Rechte«
in der »Jungen Freiheit« ist daher nicht
als isoliert, sondern im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen
sich immer neue Männlichkeiten ausformen und männliche Dominanz zunehmend delegitimiert wird, zu betrachten.
Die Wochenzeitung »Junge Freiheit«
als Organ der »Neuen Rechten«
Die Geschichte der »Jungen Freiheit«
Als im Juni 1986 die erste Ausgabe der
»Jungen Freiheit« mit einer Auflage von
400 Exemplaren als Publikation der Jugendorganisation der »Freiheitlichen
Volkspartei« erscheint, weiß noch niemand, welche Bedeutung die Zeitung
für die »Neue Rechte« in der Bundesrepublik Deutschland erlangen soll. Seit
1990 im gesamten Bundesgebiet im
Zeitschriftenhandel erhältlich, erreicht
sie eine Auflage von bis zu 35.000 Exemplaren im Jahr 1991.
Die im Sommer 1990 gegründete »Junge Freiheit Verlag GmbH« wird 1994 in
eine Kommanditgesellschaft umgewandelt, an der Chefredakteur Dieter Stein
bald 71 Prozent der Anteile hält. Neben der »Junge Freiheit Verlag GmbH
& Co.« schart sich in dem bereits 1988
gegründeten und 1991 umbenannten
gemeinnützigen »Verein zur Förderung
der Toleranz auf dem Gebiet des Völkerverständigungsgedankens bei allen
Deutschen Unitas Germanica e.V.« ein
Kreis von Unterstützer/innen. Der Verein macht 1991 unter anderem mit einer
Kampagne »Freiheit für Königsberg‘« auf
sich aufmerksam.
Nach einem geschichtsrevisionistischen
Artikel von Armin Mohler entbrennt ein
Richtungsstreit in der ‚Jungen Freiheit‘,
in dessen Folge der heutige NPD-Politiker und ehemalige Gymnasiallehrer Andreas Molau sowie Götz Meidinger, bis
dahin Geschäftsführer des Fördervereins, aus der Redaktion geworfen werden.
Während die ‚Junge Freiheit‘ ihren Redaktionssitz 1995 in das wiedervereinigte Berlin verlegt, erscheint »in Österreich (…) eine eigene Ausgabe der JF unter
Leitung des FPÖ-Politikers und Publizisten Andreas Mölzer«3.
Im Jahr 1996 sucht die »Junge Freiheit«
erstmalig die juristische Auseinandersetzung mit der Verfassungsschutzbehörde des Bundeslandes NordrheinWestfalen. Die Verfassungsschutzämter
von Nordrhein-Westfalen und BadenWürttemberg erwähnen zu dieser Zeit
die Wochenzeitung in ihren jährlichen
Verfassungsschutzberichten und attestieren ihr eine Nähe zum Rechtsextremismus. Nachdem die »Junge Freiheit«
vor Gericht zunächst scheitert, gibt das
Bundesverfassungsgericht der Klage im
Mai 2005 statt. Seitdem darf die Zeitung
nicht mehr in den Verfassungsschutzberichten genannt werden. Trotzdem fühlt
sie sich stetig diskriminiert: So wendet
sie sich 2001 mit einem »Appell für die
Pressefreiheit« gegen die Kündigung ihrer Konten bei der Postbank und opponiert 2006 gegen ihren Ausschluss von
der Leipziger Buchmesse. Heute hat die
wöchentlich erscheinende »Junge Freiheit« nach eigenen Angaben eine Auflage von 18.500 Exemplaren. Nach realistischen Einschätzungen liegt die
Auflage aber sehr viel niedriger, nämlich
bei 10.000 bis 12.000.4
Die Ideologie der »Jungen Freiheit«
Als eines der bedeutendsten Blätter der
intellektuellen »Neuen Rechten« bewegt
sich die »Junge Freiheit« in »Grauzonen
zwischen klar verfassungsfeindlichem
Rechtsextremismus und im Sinne der
freiheitlichen demokratischen Rechtsordnung (FDGO) grenzwertigem Rechtsradikalismus«5 . So wird der Zeitung
die Aufgabe der Vermittlerin zwischen
einem demokratischen Konservativismus und einem anti-demokratischen
Rechtsextremismus zuteil. Bei dieser
Gegenüberstellung ist jedoch anzumerken, dass die Grenzen zwischen einem
sich demokratisch gebenden Konservativismus und dem Rechtsextremismus
durchaus fließend sind.6
Die »Junge Freiheit« sieht sich in der Tradition der so genannten Konservativen
Revolution, die sich in den zwanziger
Jahren des letzten Jahrhunderts aus der
strikten Ablehnung der Weimarer Republik manifestierte. Aufgrund der Delegitimierung des Nationalsozialismus nach
1945 wurde ein Rekurs auf die weniger
NS-belastet scheinende »Konservative
Revolution« nötig.
So arbeitet die »Junge Freiheit« an der
»Wiederbelebung der konservativ-revolutionären Ideen (…), denen (…) nicht
das Stigma des Nationalsozialismus anhaftete«7. Nichtsdestotrotz gelten die
Vertreter/innen der »Konservativen Revolution« heute als »ideologische Wegbereiter des Nationalsozialismus«8. Hier
wird deutlich, dass die Bezeichnung
»Neue Rechte« zu kurz greift: »Einerseits distanziert sich auch die JF von
der Alten Rechten, sofern diese einer
Rehabilitation des Hitlerfaschismus huldigt, andererseits begibt die sich jung
und modern gebende Wochenzeitung
für Politik und Kultur, mit ihrem Rekurs
auf die so genannte ›Konservative Revolution‹, eine heterogene ideologische
Strömung der Weimarer Republik von
rechtsintellektuellen, präfaschistischen
Zirkeln und Denkern, in eine 200 Jahre
alte völkisch-nationalistische Tradition.
In diesem Sinne ist die JF eher ein Projekt einer ›jungen Alten Rechten‹«.9
Die Vertreter/innen der »Konservativen
Revolution« unterteilen sich in zwei Flügel: Dabei beruft sich der in der »Jungen
Freiheit« hegemoniale jungkonservative
Flügel unter anderem auf die Theoretiker Arthur Moeller van den Bruck und
Edgar Julius Jung. Jung forderte eine hierarchische Gesellschaft mit einem Führer statt demokratischer Wahlen. Liberalismus und Menschenrechte lehnte er
ab, da diese angeblich »zum Kampfe aller gegen alle, zum Zerfall des Ganzen«10
führen würden. Als weniger anschlussfähig ins bürgerliche Lager gilt die nationalrevolutionäre Strömung der »Konservativen Revolution«. Begründet unter
anderem durch das Grundsatzpapier
der »Aktion Neue Rechte« (ANR), von
Henning Eichberg 1972 verfasst, verbindet der nationalrevolutionäre Flügel
antiegalitäre mit sozialistisch-revolutionären Ideen. Heute beruft sich die »Nationaldemokratische Partei Deutschlands« (NPD) auf diese Strömung. Durch
das Aufgreifen der »Sozialen Frage« sowie originär von links besetzter Themen
verfolgt besonders dieser nationalrevolutionäre Flügel eine »Querfront‘-Strategie«11 und versucht somit eine intellektuelle »nationale Linke« zu etablieren.
So konnte die »Junge Freiheit« mehrfach
Personen als Interviewpartner/innen
oder Autor/innen für sich gewinnen, die
sich eigentlich als links verstehen oder
aus der Linken kommen. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist der Politiker der Grünen und ehemalige Anführer der Studentenrevolte in Paris 1968,
Daniel Cohn-Bendit.
Die »Neue Rechte« fordert die Abkehr
von Postmaterialismus, Liberalismus,
Parlamentarismus und demokratischem
Pluralismus. Stattdessen wird eine völkisch homogene Nation mit einem
starken Staat propagiert. So habe jedes Volk Anspruch auf ein eigenes Territorium. Gleichzeitig sei Expansion, also die Eroberung fremder Gebiete durch
Kriege, völlig natürlich. Eine Naturalisierung des Volkes findet auch durch die
Einführung des Begriffes »Volkskörper«
statt. In der »Jungen Freiheit« vertreten
einzelne Autor/innen ebenso einen BioRegionalismus, mit dem völkische Ideologeme in ökologische Diskurse aus der
Alternativ-Bewegung und esoterischen
Kreisen eingebettet werden sollen.
Eines der wichtigsten rechtsextremen
Ideologieelemente, das in der »Jungen
Freiheit« Publizität findet, ist der Rassismus. Die Autor/innen der ‚Jungen
Freiheit‘ bevorzugen das völkische Abstammungsrecht »ius sanguinis« (lat.:
Recht des Blutes) und lehnen die Idee
der »multikulturellen Gesellschaft« als
widernatürlich ab. Einen offen biologistisch argumentierenden Rassismus
wird man in der »Jungen Freiheit« dennoch nur selten finden. So tarnt er sich
gelegentlich als Wohlstandschauvinismus, der Glauben macht, es drohe eine
»Einwanderungsflut« aus den Ländern
der so genannten »Dritten Welt«, die den
eigenen Reichtum gefährde. Statt eines
biologisierenden Rassismus favorisiert
die »Junge Freiheit« eine kulturalisierende Variante, die sich nicht mehr auf angebliche »Rassen« beruft, sondern die
Kultur als das Ethnien trennende Element benennt.
Einer der bedeutendsten Theoretiker
dieses Ethnopluralismus ist der französische Rechtsextremist Alain de Benoist, der selbst regelmäßiger Autor der
»Jungen Freiheit« ist. De Benoist geht
zwar durchaus davon aus, dass es »Rassen« gebe, spricht ihnen aber das hierachisierende Element ab. Vielmehr beruft
er sich auf die »natürliche Differenz der
Identitäten«12. Anders als viele Vertreter/innen der »Neuen Rechten« erkennt
de Benoist die Realität »multikultureller
Gesellschaften« an, fordert jedoch die
strikte Trennung der Kulturen und Identitäten und strebt somit ein segregierendes Apartheidsmodell an. Ein anderer »Junge Freiheit‘«-Autor erklärt: »Weit
entfernt davon, tolerant zu sein, ist die
Forderung einer multikulturellen Gesellschaft vielmehr eine Herabwürdigung
des Menschen als Ideenträger, denn die
Kultur ist kein Gemischtwarenladen.«13
Ein ungebrochen positiver Bezug auf die
deutsche Geschichte ist aufgrund der
Verbrechen des Nationalsozialismus unmöglich und so gilt: »Wer, wie die JF, von
einem starken (totalen) Staat, der neuen Volksgemeinschaft, einer expansiven
Außenpolitik, einer schlagkräftigen Armee und einer glorreichen Vergangenheit
träumt, wer gleichzeitig Liberalismus, Pazifismus und multikulturelle Gesellschaft
verdammt, der wird zwangsläufig von
der jüngeren deutschen Geschichte eingeholt.«14 So ist der ‚Neuen Rechten‘
ein Geschichtsrevisionismus immanent,
der in der Relativierung und Negierung
der nationalsozialistischen Verbrechen
bis hin zur Holocaust-Leugnung mündet. Die Kriegsschuld des NS-Regimes
wird in Frage gestellt. Folglich wird die
Niederlage des NS-Regimes auch nicht
als Befreiung, sondern als »Untergang«
gesehen. Logischer Schluss dieses .Geschichtsbildes und des völkischen Nationalismus ist die revanchistische Forderung nach Rückgabe der ehemaligen
deutschen Gebiete. Gerade hier bieten sich Anknüpfungspunkte zwischen
rechtsextremem und konservativem Lager und so äußern sich auch Vertreter/
innen der beiden christdemokratischen
Parteien zu der Thematik in der »Jungen
Freiheit«.
Mit der Rückforderung ehemals deutscher Territorien geht ein Bild von einem
23
Deutschland als Zentrum Mitteleuropas
einher, mit dem man sich vom Westen
abgrenzen will. Man strebt eine eigenständige Außenpolitik unabhängig von
NATO und »Europäischer Union‘« an
und wünscht sich letztlich eine völlige
Neuordnung Europas. Es solle ein »pangermanisches Reich« entstehen, das
sich über ganz Mitteleuropa erstreckt.
So erfüllen die revanchistischen Bestrebungen in der Hauptsache den Zweck,
die Staaten, über deren Gebiete man Ansprüche erhebt, beispielsweise Tschechien und Polen, zu destabilisieren.
Jahrelang wurde die »Neue Rechte« und
damit auch ihr wichtigstes Mitteilungsorgan »Junge Freiheit« von Politik, Medien und der demokratisch orientierten
Zivilgesellschaft ignoriert beziehungsweise unterschätzt. Der »Jungen Freiheit« wurden intellektuelle Fähigkeiten
abgesprochen. Man zweifelte ihre Anschlussfähigkeit an die »Mitte der Gesellschaft« an. Dabei gelingt es dem
Blatt trotz oft eindeutig rechtsextremer
Inhalte beispielsweise »durch Interviews
mit Prominenten Reputierlichkeiten herzustellen und damit auch von Christdemokraten akzeptiert zu werden«15. So
konnte die neurechte Wochenzeitung
mehrfach Personen für Interviews gewinnen, die eine Nähe zu Rechtsextremismus oder der »Neuen Rechten« weit
von sich weisen würden. Während also
andere Publikationen wie »Nation & Europa« oder »Criticón« vornehmlich innerhalb der »Neuen Rechten« wirken und
ihr ein theoretisches Fundament bieten,
versucht die »Junge Freiheit« Breitenwirkung weit über den Kreis dieser »Neuen
Rechten« hinaus zu erlangen und auch
das christlich-konservative sowie nationalliberale Umfeld zu erreichen.
und in den 60er Jahren des vorangegangenen Jahrhunderts geboren. Einige
Redakteur/innen sind beziehungsweise waren Mitglieder in rechtsextremen
Parteien wie zum Beispiel der derzeit
in der Bedeutungslosigkeit versinkenden Partei »Die Republikaner« (REP).
Andere lassen sich im rechten Flügel
der »Christlich-Demokratischen Union
Deutschlands« (CDU) verorten. Ein nicht
geringer Teil der männlichen Redakteure
war früher in einer Studentenverbindung aktiv. Besonderes Augenmerk gilt
hier den oft rechtsextremen Burschenschaften des Dachverbandes »Deutsche
Burschenschaft« (DB). Einige Redaktionsmitglieder wiederum fühlen sich
den Vertriebenenverbänden verbunden
oder sind dem nationalrevolutionären
Spektrum zuzuordnen. Michael Paulwitz, seit einigen Jahren regelmäßiger
Autor der «Jungen Freiheit«, gehörte in
der Vergangenheit dem rechtsextremen
»Witikobund« an und war Mitglied in der
Burschenschaft »Danubia« in München.
Es ist davon auszugehen, dass die Leser/innenschaft als ebenso heterogen
eingeschätzt werden kann. Nach Felix
Krebs liegt das Durchschnittsalter der
Leser/innenschaft der »Jungen Freiheit«
bei 33 Jahren.
»Der durchschnittliche JF-Leser ist jung,
männlich, verheiratet und studiert.«18
Essentieller Bestandteil der Strukturen
der »Jungen Freiheit« sind die JF-Leserkreise, die in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Diskussionsabende
mit bekannten Rechtsextremen abhalten. Aufgrund der teilweise allzu offensichtlichen Nähe dieser Leserkreise
zum Rechtsextremismus musste sich
die »Junge Freiheit« vor kurzem von diesen distanzieren.
Protagonist/innen und
Leser/innen der »Jungen Freiheit«
In der rechtsextremen Publizistik schart
sich ein Autor/innenstamm, der verhältnismäßig wenig fluktuiert. Trotz einer
ansehnlichen Anzahl von Zeitschriften
finden sich immer die selben Namen
wieder. »Ultrarechte Publizisten nutzen
die ›Zentralorgane‹ gern, um ihre eigene Bekanntnheit und damit auch ihren
Einfluss zu erhöhen.«16 Nicht so in der
»Jungen Freiheit«: Zum Einen versucht
die Zeitung, »ein eigenes Redaktionsteam aus noch unbekannten, in der Regel sehr jungen Mitarbeitern aufzubauen«17 Zum Anderen wird eine allzu große
Nähe zu »vorbelasteten« Autor/innen
vermieden.
In der »Jungen Freiheit« finden sich
kaum weibliche Redakteure. Die meisten der Redakteur/innen sind jung
Männlichkeit(en) in der Forschung
Hegemoniale Männlichkeit
Nach Raewyn Connell, einer transsexuellen australischen Soziologin, die zuvor Robert W. Connell hieß, existieren in
menschlichen Gesellschaften verschiedene Formen von Männlichkeit. Es gäbe keine »männliche Uniformität«19, wie
Michael Meuser im Rückgriff auf Connell feststellt. Vielmehr kann von »einer Hierarchie von Autoritäten innerhalb der dominanten Genusgruppe«20
ausgegangen werden. Erneut Meuser: »Die homosoziale Männergemeinschaft agiert gleichsam als Konstruktion der hierarchisch strukturierten
Geschlechterdifferenz und produziert
im gleichen Zuge Hierarchien der Männer untereinander.«21 Einer so genannten hegemonialen Männlichkeit werden
untergeordnete – also homosexuelle –,
24
marginalisierte – beispielsweise migrantische oder »schwarze« – sowie komplizenhafte Männlichkeiten gegenübergestellt. So konstituiert sich hegemoniale
Männlichkeit nicht nur in Relation zu
Frauen, sondern gleichermaßen im Verhältnis zu anderen Formen von Männlichkeit: »Hegemonic Masculinity is always constructed in relation to various
subordinated masculinities as well as in
relation to women.«.22
Dabei wird das Konzept der hegemonialen Männlichkeit nicht als individuelle
Eigenschaft, sondern als Resultat sozialen Handelns, des »Doing Masculinity«, verstanden. Die hegemoniale Männlichkeit dient der Aufrechterhaltung der
gegebenen Geschlechterordnung sowie
der Reproduktion der Machtrelationen.
»Hegemoniale Praxis wird durch die soziale Praxis der gesellschaftlichen Elite
bzw. gesellschaftlicher Eliten definiert,
also durch die Praxis einer zahlenmäßigen Minderheit der Bevölkerung(…).«23
Hierbei wird der Hegemonie-Begriff des
italienischen Marxisten Antonio Gramsci angewandt: Demnach sei Hegemonie
die Fähigkeit, eigene Interessen als gesellschaftliche Allgemeininteressen zu
definieren und umzusetzen. Ohne politische und kulturelle Macht sowie ökonomische Teilhabe, erlangt man auch keine
Hegemonie: »Hegemoniale Männlichkeit
ist an gesellschaftliche Macht und Herrschaft gebunden.«24 Zwar kann die hegemoniale Männlichkeit nur von wenigen verkörpert werden; trotzdem hat sie
normativen Charakter und findet so etliche Unterstützer. Die komplizenhafte
Männlichkeit strebt so nach einer Teilhabe an der hegemonialen Männlichkeit.
Auch »die ernsten Spiele des Wettbewerbs«25, die Männer untereinander austragen, dienen keineswegs der Trennung
der Männer, sondern vielmehr der Vergemeinschaftung: »Wettbewerb und Solidarität gehören untrennbar zusammen.«26
Die Kategorien Ethnizität und Männlichkeit sind vielfältig verschränkt, zum Beispiel im Verhältnis zwischen marginalisierter und hegemonialer Männlichkeit.
Obwohl marginalisierte Männlichkeiten
in ihrem Habitus nach Hegemonie streben, werden sie den »Standards der Perfomanz hegemonialer Männlichkeit«27
der so genannten Mehrheitsgesellschaft
nicht gerecht. Das »generative Prinzip«
ist beiden jedoch gleich.28 So kann
ein Mann gleichzeitig innerhalb der eigenen Statusgruppe – zum Beispiel
die türkischsprachige »Community« in
Deutschland – die hegemoniale Männlichkeit verkörpern, während außerhalb
dieser Gruppe eine subordinierte Position einnimmt.
Connell geht davon aus, dass hegemoniale Männlichkeit nicht statisch, sondern
veränderbar sei, da sie sich durch soziales Handeln manifestiert. Von einer
»Pluralisierung hegemonialer Männlichkeiten«29 in modernen Gesellschaften
spricht gar Meuser. Trotzdem gebe es
keine beliebige Anzahl solcher hegemonialen Männlichkeiten und nicht jede soziale Gruppe bildet eine entsprechende
Männlichkeit aus.
Mithilfe des Konzepts der hegemonialen
Männlichkeit von Connell kann gezeigt
werden, dass die »Neue Rechte« einer
hegemonialen Männlichkeit zugerechnet werden muss beziehungsweise nach
einer solchen strebt.
»Krise der Männlichkeit«
Die »Neue Rechte« bemängelt, Männlichkeit sei in der postmodernen Demokratie von Dekadenz und Überfluss bedroht. Egoismus und Drang zu
Selbstverwirklichung würden zu Geschichtsvergessenheit führen und jegliches nationale Zusammengehörigkeitsgefühl zerstören: »Selbstverwirklichung
als Chiffre für Konsum, Spaß und Geschichtsvergessenheit wird darin zum
antinationalen Prinzip.«30 Soldatische
Tugenden wie Selbstbeherrschung, Disziplin, Kontrolle und Härte seien durch
Pflichtvergessenheit und Nachgiebigkeit
bedroht. Es scheint, als befände sich
Männlichkeit in der »Neuen Rechten« in
einer permanenten Krise.
Die plakative Umschreibung »Krise der
Männlichkeit« trifft Connell zufolge gar
nicht zu, schließlich ist Männlichkeit
kein System, sondern eine Konfiguration, die durch soziale Praxis hergestellt
wird. Männlichkeit wird jedoch stetig
erschüttert und transformiert. Statt von
einer »Krise der Männlichkeit« kann von
einer Krise der modernen Geschlechterordnung geredet werden. »Eine solche
Krisentendenz wird immer auch Auswirkungen auf die Männlichkeiten haben.«31
Die Geschlechterordnung konstituiert
sich auf verschiedenen strukturellen
Ebenen, die untersucht werden müssen, will man die Krisenanfälligkeit näher beleuchten: Auf der Ebene der
Machtbeziehungen entstehen »Konflikte
um Legitmationsstrategien«32 zwischen
Männern, infolge des Zusammenbruchs
der »Legitimation der patriarchalischen
Macht«33. Auch die Produktionsbeziehungen sind bis heute patriarchalisch
organisiert. Connell spricht an anderer Stelle auch von der »Logik des vergeschlechtlichten Akkumulationsprozesses im industriellen Kapitalismus«34.
Als »Alternaive innerhalb des heterose-
xuellen Systems«35 etabliert sich zunehmend Homosexualität auf der Ebene der
emotionalen Bindungsstrukturen:
»Die enorme Zunahme tatsächlicher
Macht von Männern in den Industrienationen brachte(…)auch eine zunehmende
Krisenanfälligkeit der Geschlechterordnung mit sich.«36 Die Krisenanfälligkeit
des Geschlechterarrangements findet
inzwischen bei mehr und mehr Männern in den westlichen Industrienationen Aufmerksamkeit, so Connell. Viele
Männer hätten »das offensichtlich weit
verbreitete Gefühl unkontrollierter Veränderungen und Erschütterungen des
Geschlechterverhältnisses«37 Eine stabile legitimierte Männlichkeit wird nicht
oder nur implizit benannt. Sobald sich
die Geschlechterordnung aber in der
Krise befindet, findet eine Thematisierung von Männlichkeit(en) statt. Bisher
allerdings bildeten Männer keine Interessengemeinschaft, um bestimmte
Ziele durchzusetzen, so Connell, der
gleichzeitig konstatiert: »Aber soweit diese Männer ein gemeinsames Interesse
teilen, als Folge der ungerechten Verteilung der Ressourcen in der Welt, aber
auch innerhalb der wohlhabenden Nationen, werden sie sich utopischen Veränderungen widersetzen und den Status Quo verteidigen.«38
Dass sich die Geschlechterordnung wandelt, hat man auch in der neurechten
»Jungen Freiheit‘« festgestellt: »Die Rolle des Mannes in der westlichen Welt
verändert sich rapide, und Eingeweihte
Fragen sich: Hat das weibliche Zeitalter
nicht schon längst begonnen?«39 Hier
beklagt man die zunehmende Unterdrückung von Männern durch Frauen und
führt Beispiele an, in denen Männer Opfer häuslicher Gewalt werden. Trotzdem
gäbe es in der Bundesrepublik keine Einrichtungen, in denen solche Männer Hilfe suchen könnten. Als positives Gegenbeispiel wird die von der zwischen 2000
und 2002 regierenden »Freiheitlichen
Partei Österreichs« (FPÖ) eingeführte
und im »Ministerium für soziale Sicherheit« angesiedelte »Männerpolitische
Grundsatzabteilung« angeführt.40. Auch
in Bildung und Arbeitsleben seien Jungen und Männer zunehmend benachteiligt, so die »Junge Freiheit«: Mädchen
und Frauen hätten oft die besseren Abschlüsse und Frauen würden in »männliche« Berufe drängen, während Männer
in ursprünglich »weibliche« Sparten verdrängt würden. Nicht zuletzt könnten
Männer die in sie gestellten und angeblich überzogenen Erwartungen nicht
mehr erfüllen: Der Mann solle ein umsorgender Vater sein, der gleichzeitig
viel verdiene. So schlussfolgert man in
der neurechten Wochenzeitung, dass
der Mann ein »Auslaufmodell der Evolution«41 sei.
Die ‚Neue Rechte‘ und die
Konstruktion von Männlichkeit(en)
Der Mann als Soldat und »Held«
In der Darstellung des Mannes als soldatischer Held tritt die dichotome Einteilung der Geschlechter und die geschlechtsspezifische Zuschreibung
bestimmter Charaktereigenschaften
besonders zu Tage. »Dem Mann kommt
die kriegerisch und wehrhaft definierte
Staatsmoral zu, der Frau die schützende und sorgende Familienmoral«42,
schreibt Gabriele Kämper in ihrer kritischen Analyse des neurechten Sammelbands »Die selbstbewusste Nation«.
Während das Weibliche nach »innen«,
ins Private, gerichtet ist, kehrt sich das
Männliche nach »außen«. Da sich diese
Symbolik auch in den Geschlechtsorganen widerspiegele, scheint die Einteilung natürlich. Während dem Mann das
Soldatische zuerkannt wird, gilt der Pazifismus als weiblich.
Die Inszenierung von Männlichkeit als
soldatisch und heldenhaft ist der Ideologie des Rechtsextremismus im Algemeinen sowie der »Neuen Rechten« im Besonderen immanent und zeigt sich unter
anderem in der Realität von Burschenschaften und ähnlichen Männerbünden:
Das Soldatische steht im Vordergrund
und wird neben unzähligen Ritualen, Initiationsriten und Duellierungen durch
die Unifomierung dargestellt. Trotzdem
kann von einer von anderen Männlichkeiten abgetrennten und devianten
rechtsextremen Männlichkeit keine Rede sein. Seit Jahrhunderten sind Armeen
Bestandteil von Männlichkeiten. Erst die
»Maschine Truppe«43 verleiht »dem einzelnen Soldaten einen neuen Körperzusammenhang«44, mit dem Ganzheit,
Geschlossenheit, Stärke und Exaktheit
symbolisiert werden kann. In den USA
oder Australien ist das Tragen von Waffen ein von der Verfassung verbrieftes
Recht. Die Beschneidung dieses Rechts
stellt einen Angriff auf die hegemoniale
Männlichkeit dar. Die Figur des männlichen Helden ist aus Literatur und Film
kaum wegzudenken: »Die Figur des Helden nimmt in der westlichen Bilderwelt
der Männlichkeit eine zentrale Stellung
ein.«45
So lassen sich am soldatischen Mann
»die ernsten Spiele des Wettbewerbs«46
aufzeigen, in denen der männliche Habitus geformt wird.
Der Mann und die Nation
Die Verteidigung des Vaterlandes ge25
hört untrennbar zu Männlichkeit(en) im
Rechtsextremismus. So ist die Stärke
von Männlichkeit(en) im Rechtsextremismus stets abhängig von der Stärke
und Souveränität der Nation.
Ähnlich wie das Volk im so genannten
»Volkskörper« biologisiert wird, findet
auch mit der Nation eine Naturalisierung
und Vergeschlechtlichung statt. Begriffe
wie Potenz und Kraft werden demzufolge regelmäßig in rechtsextremen Texten
in Zusammenhang mit der Nation genannt. Die vermeintliche Bedrohung der
Nation durch andere Nationen, durch
Globalisierungseffekte, durch Einwanderung et cetera wird von rechtsextremen Männern als unmittelbare Gefährdung der »eigenen Männlichkeit sowie
deren Dominanz wahrgenommen. Nur
wenn er sich auf seine eigene »Rasse«,
seine kulturellen Werte und Traditionen
zurück besinne, sei der Mann und damit
die Nation zu retten. Der Mann wird in
einem »Kampf der Kulturen« – hier wird
wiederum mit dem Begriff »Kampf«‚
Rückgriff auf militärische Metaphorik
genommen – zum Schlüssel bei der Bewahrung des »Abendlandes« vor dem
Untergang. Tragende Säule sind hierbei insbesondere junge Männer, die als
»Söhne« des Vaterlandes, die Zukunft
gestalten sollen: »Dass die jungen Männer die Zukunfts-Macher einer Nation
sind, schlicht die Anzahl der Söhne etwas über die Dynamik eines Volkes aussagt, ist eine im kinderarmen Deutschland verdrängte Wahrheit.«47 Letztlich
bedarf es – wie bereits beschrieben –
des männlichen Helden. Während die
Söhne aktiv sind und Zukunft »machen«,
spielen die Töchter keinerlei Rolle. Sie
gelten als passiv und könnten trotz ihrer Funktion als Gebärerinnen weiterer
Söhne die Zukunft nicht beeinflussen.
Derartige, auf die Nation fixierte, Männlichkeiten speisen sich neben ihrem Nationalismus und Rassismus aus einem
Antisemitismus, der das Judentum als
heimatlos ansieht und es somit efeminisiert.
Der Mann und die Triebe
Der völkische Mann widersteht der
Triebhaftigkeit, wodurch er sich grundlegend von den »Anderen«, also Frauen,
Homosexuellen, »Ausländern«, »Schwarzen«, jüdischen Menschen und Kindern,
unterscheide. Gerade der imaginierte
»schwarze Mann« wird der Vergewaltigung an der »weißen Frau« bezichtigt.
So bekommt die Thematisierung sexualisierter Gewalt im Rechtsextremismus
stets eine ethnisierende Komponente.
Dabei will »weiße« Männlichkeit beziehungsweise Männlichkeit im Rechtsex26
tremismus nur von der Täterperspektive ablenken und sich entschulden,
denn: »Das Kokettieren mit dem Bösen
als menschliches Potenzial gehört zu
den grundlegenden Komponenten von
Männlichkeitsentwürfen der Neuen intellektuellen Rechten, die darin eine anthropologische Fundierung männlicher
Aggressivität sehen.«48
Das oder der »Andere« gilt als hypermaskulin, also stark, und gleichzeitig als
triebhaft, also schwach. Dieser Ambivalenz könne nur mit Hilfe eigener Potenz
begegnet werden.
Der Mann und die Elite
Hegemoniale Männlichkeit ist zwar normativ, insofern viele Männer nach ihr
streben. Gleichzeitig jedoch ist sie für
die meisten Männer unerreichbar und
wird immer einer elitären Minderheit
vorbehalten bleiben. Auch neurechte
Männer wollen sich von der Masse, die
als ihr Gegenpol konstitutiver Bestandteil der Elite ist, abgrenzen. Die Masse
sei undifferenziert und wankelmütig,
dumpf, dumm und tot. Stetig ändere
sie ihre Ansichten. Darauf könne keine Herrschaft fußen, schlussfolgert die
»Neue Rechte« und lehnt die verhasste
»Massendemokratie« ab. Im Wissen um
die Wankelmütigkeit der Masse, hebt
sich die neurechte Elite von eben jener
ab und erlangt automatisch die Legitimität über die Herrschaft: »Legitimiert
wird sie (gemeint: die Elite-Y.M.) durch
das schmeichelhafte Bild männlicher
Führung, die von der Masse nicht nur
gebraucht, sondern auch gefordert, geradezu ersehnt wird.«49 Die Masse sei
hilflos ohne Führung und schwanke passiv umher: Sie ist weiblich konnotiert,
was die Elite fast automatisch männlich
»macht«. »Der Selbststilisierung als Elite
im Zeichen individualisierter Männlichkeit korrespondiert das Konstrukt einer
Masse, die als weiblicher Gegenpol zur
Elite fungiert und kontinuierlich abgewertet wird.«50 Frauen könnten demzufolge nie Teil der Elite sein.
Um die Nation zu retten bedarf es (wieder) einer Elite – aber nicht irgendeiner:
»Es braucht also neue Eliten, die bereit
sind zum rücksichtslosen Machen, die
weder bürgerliche Harmonie noch linke Empfindlichkeit berücksichtigen und
die auch keinen Wert darauf legen, dass
es glimpflich abgeht. Unverhohlen wird
hier ein martialischer Menschentyp verlangt, der…von männlicher Selbstbildlichkeit strotzt.«51
Solch rücksichtsloser, heldenhafter
Männlichkeit wird auch in der »Jungen
Freiheit« gehuldigt. Hier trauert man
den osteuropäischen Politikern, die
nach dem Fall des »Eisernen Vorhangs«
wirkten, nach. Diese seien »Helden der
ersten Stunde«52 gewesen, »die so gar
nicht in das übliche westliche Klischee
vom ›Berufspolitiker‹ passen wollten«53
Den Politikern, die verehrt werden, weil
sie sagen, was sie denken, Tabus brechen und, wie der ehemalige kroatische
Staatschef Franjo Tuđmdan nationalistisch eingestellt sind54, nicht anpassungsfähig sind, dafür aber heroisch,
und geschmäht werden, wird der westliche »Typ von Politikern«55 gegenübergestellt. Bei diesem wiederum handele
es sich um »stromlinienförmige, zumeist
jüngere Herren (und Damen), die sehr
schnell die politisch korrekten Vokabeln gelernt haben und die verstehen,
dass man sich den großmächtigen Apparaturen anpassen (und unterwerfen)
muss.«56 Dieser Politiker-Typus ist unmännlich, wäre die logische Schlussfolgerung, zumal sich darunter auch
Frauen befänden.
Die in der »Neuen Rechten« favorisierte
Elite muss sich keineswegs auf ihre soziale Herkunft berufen. Es wird vielmehr
eine Bildungs- und Leistungselite propagiert, die aber ebenso eindeutig männlich besetzt ist. Denn dem Gedanken
des Emporkömmlings geht ein Hauch
von Abenteuer und Draufgängertum voraus, dem nur der bereits beschriebene
heldenhafte Mann entsprechen kann.
Männerbünde
»Homosexualität meint zunächst die
räumliche Separierung exklusiv-männlicher Sphären«57, so Meuser. Neben
der räumlichen wird eine symbolische
Dimension benannt, die die »Ausbildung
moralischer Orientierung, politischer
Einstellungen sowie von Wertsystemen
primär im wechselseitigen Austausch
der Geschlechtsgenossen untereinander«58 gewährleistet. Nach »außen«‚
wird das Trennende gegenüber den
Frauen akzentuiert, während nach »innen« das verbindende Element im Vordergrund steht. Beispiele für derartige
homosoziale Männergemeinschaften
sind das Militär, der katholische Klerus sowie Fußballmannschaften. Ihre
Bedeutung ist eminent: »Homosexuelle Männergemeinschaften haben einen
entscheidenden Anteil daran, dass sich
trotz der Transformation der Geschlechterordnung und der wachsenden Kritik an männlichen Hegemonieansprüchen bislang keine generelle Krise des
Mannes entwickelt hat.«59
Auch in der »Neuen Rechten« finden sich homosoziale Männergemeinschaften beziehungsweise Männerbünde: Neben den Burschenschaften, in
denen der Ausschluss von Frauen institutionalisiert ist, ließen sich unzählige
weitere rechtsextreme Organisationen
aufzählen, in denen der Frauenanteil
marginal ist. Hier werden Frauen nicht
durch ein Reglement, sondern durch
symbolische Handlungen und Kodizes
ausgeschlossen. Beispielsweise sind lediglich zwanzig Prozent der Mitglieder
in rechtsextremen Parteien Frauen.60
Gerade Führungspositionen werden in
rechtsextremen Organisationen zumeist
von Männern besetzt.
Kampf gegen »Political Correctness«
Seit den 90er Jahren verwendet die extreme und konservative Rechte den Begriff »Political Correctness«, mit dem
angebliche Denkverbote und Tabus beschrieben werden. Der Kampf gegen
»Political Correctness« ist immanenter
Teil der hegemonialen Männlichkeit in
der »Neuen Rechten« und richtet sich damit stets auch gegen die Bestrebungen
der Frauenbewegung(en). Hier müssten
Tabus gebrochen werden, suggeriert die
»Neue Rechte«: Dieses Sagen-Dürfen
betrifft zu weiten Teilen die männliche
Rede über Frauen.«61 Die »Neue Rechte«
möchte die Definitionsmacht behalten
und sich nicht von denen, über die man
diese Definitionsmacht ausübt, gemaßregelt werden: Sie (die Polemik gegen
»Political Correctness«-Y.M.) motiviert
jedoch männliche Subjekt- und Freiheitsvorstellungen sowie den erklärten
Unwillen, Beschränkungen sprachlicher
oder humoresker Manifestationen von
Macht durch deren potenzielle Objekte
hinzunehmen.«62
Die »Junge Freiheit«
im Geschlechter-Diskurs
Kritische Diskursanalyse
Mit der Diskursanalyse werden nicht
einzelne Texte untersucht. Vielmehr sollen Diskurse als »Flüsse von Wissensvorräten durch die Zeit«63 rekonstruiert
werden. Nach Siegfried Jäger geben Diskursw nicht einfach die Wirklichkeit wieder, sondern konstruieren sie wesentlich mit. rekonstruiert werden. Nach
Siegfried Jäger geben Diskurse nicht
einfach die Wirklichkeit wieder, sondern
konstruieren sie wesentlich mit.
Einzelne Texte – in diesem Fall die Artikel der »Jungen Freiheit« – gelten als
Diskursfragmente, während mehrere Texte zu einem Thema – hier Männlichkeit – als Diskursstrang bezeichnet
werden. Wirken mehrere Diskusstränge aufeinander ein, liegt eine Diskursverschränkung vor. »Als diskursive Ereignisse werden solche Begebenheiten
bezeichnet, die Richtung und Quali-
tät des Diskursstrangs, (…), durch eine
breite mediale Rezeption erheblich beeinflussen.«64 Die Diskussion um Eva
Hermanns relativierende Äußerungen
unter anderem zur Rolle der Frau im Nationalsozialismus kann als ein solches
diskursives Ereignis bezeichnet werden.
Von welchem sozialen Ort aus gesprochen wird, erklärt die Diskursebene. Im
Falle der ‚Jungen Freiheit‘ können die
Medien als Diskursebene benannt werden. Durch die Einbettung der Zeitung in
die ‚Neue Rechte‘ sind hier ebenso Politik und Wissenschaft zu nennen. Durch
die Diskursposition kann der inhaltliche
Standpunkt des Akteurs verifiziert werden.
Zeitungsanalyse: Vorüberlegungen
und Herangehensweise
Unter www.jf-archiv.de findet sich das
ab dem Jahrgang 1997 gespeiste Online-Archiv der »Jungen Freiheit«. Über
die Suchmaschine wurden verschiedene Begriffe eingegeben, mit denen sich Artikel, die für die Männlichkeitsdiskurse in der »Jungen Freiheit«
relevant erscheinen, finden ließen.
Diese Begriffe sind »Feminismus«, »Gender Mainstreaming«, »Geschlecht«,
»schwul«(»Homosexualität« war nicht ergiebig), »Sexualität« und »Männer«. Der
Begriff »Männlichkeit« hingegen erwies
sich als wenig ergiebig, da Männlichkeit in der Regel nur implizit verhandelt
wird. Einige der gefundenen Texte wurden ausgewählt und im folgenden analysiert. Die Auswahl ganz bestimmter
Begriffe und Texte birgt die Gefahr der
Vorstrukturierung der Ergebnisse. Allerdings erlaubt der gegebene Rahmen
dieser Arbeit keine repräsentative Untersuchung des Männlichkeitsdiskurses
in der »Jungen Freiheit«. Es werden allerdings Anhaltspunkte für eine tief greifende Analyse geboten.
Mithilfe der Analyse einiger Artikel soll
gezeigt werden, dass die »Junge Freiheit« sowohl das Konstrukt der hegemonialen Männlichkeit anstrebt als
auch ein damit verknüpftes rechtsextremes beziehungsweise neurechtes
Weltbild verfolgt. Dabei stehen kollektive Akteure und nicht einzelne Autor/
innen der »Jungen Freiheit« im Interesse
der Untersuchung, da »Männlichkeit (…)
als sozial verfasst und nicht etwa als individuell ausgeprägt verstanden wird.«65
Die »Junge Freiheit«
gegen den Feminismus
Der Feminismus, oder was die »Neue
Rechte« darunter versteht, wird rundweg abgelehnt. Er rufe zum »Krieg zwischen den Geschlechtern«66 auf und ver-
gifte als »Geschlechterklassenkampf«67
»die Beziehungen zwischen Mann und
Frau«68 »die Beziehungen zwischen
Mann und Frau«69. Er wird als totalitäre
Ideologie dargestellt, die den demokratischen Staat gefährde, und gleichzeitig
als »weiblich« verharmlost. Zudem wird
er stets mit linken Ansichten in Verbindung gebracht. So wolle der Feminismus – ähnlich wie der Marxismus – den
»neuen Menschen« erschaffen. Angeblich würde der Feminismus Männer und
Heterosexualität grundsätzlich in Frage
stellen. Zum Beweis werden lesbische
oder radikale Feministinnen wie Simone
de Beauvoir angeführt.
Profeministische Männer gelten der
»Jungen Freiheit« als Speerspitze des
Feminismus, weil ihnen als Männer
mehr zugetraut wird. Zugleich aber würdigt man sie aufgrund ihrer profeministischen Einstellung in ihrem MannSein herab. »Wie einstmals bürgerliche
Intellektuelle maßgeblich und führend
in der ›Arbeiterbewegung‹ wirkten, so
sind auch heute Männer oftmals die radikalsten FeministInnen.(…)so ist heute die besonders radikale Parteinahme
für ›die Frauen‹ ein Mittel, um das Manko auszugleichen, mit dem falschen Geschlecht zur Welt gekommen zu sein«70,
so Rainer Zitelmann in »Die Selbstbewusste Nation«.
Doch auch hier wird deutlich, dass die
Angst vor dem Feminismus keine Exklusivität neurechter Männlichkeit ist.
Nach Connell »erleben westliche Mittelschichtsmänner den Feminismus als
eine Anklage«71 und fühlen sich »zu Unrecht vom Feminismus angeklagt«72.
Die »Junge Freiheit«
gegen die »Sexuelle Revolution«
Die »Junge Freiheit« sieht seit der »Sexuellen Revolution« einen Bruch der Gesellschaft im Umgang mit Sexualität.
Verantwortlich für diese »Sexuelle Revolution« seien die »68er«, worunter die
»Junge Freiheit« sämtliche soziale Bewegungen der 60er und 70er Jahre subsumiert. Dieser Personenzusammenhang
»psychisch und moralisch gescheiterter
Existenzen«73 sei verantwortlich dafür,
dass Mädchen und Jungen immer früher
Geschlechtsverkehr hätten. Sex würde mehr und mehr zur »Triebbefriedigung und gleichsam Leistungssport«74.
Auch würden Sex und Gewalt heutzutage mehr und mehr verquickt. Laut ‚«Junger Freiheit« gäbe es eine »Spirale der
Gewaltverherrlichung«75. So seien die
»68er« letztlich auch für die steigende
Zahl der Vergewaltigungen verantwortlich zu machen. Indirekt treffe sie auch
die Verantwortung für die gestiegene
27
Zahl der Fälle von Kindesmissbrauch:
»Die 68er trifft an der Verharmlosung
des Kindesmissbrauchs im übrigen ein
gerütteltes Maß an Mitschuld.«76
Nicht zuletzt sei der Mann durch Viagra
nicht mehr natürlich, sondern künstlich.
Letztlich ist er »entmännlicht«: »Der
Mann gerät dabei zur Kunstfigur: chemisch präpariert und artifiziell aufgepumpt vollzieht er im Schlafzimmer seinen Dienst.«77
Vor allem aber bedrohe die »Sexuelle Revolution« die bürgerliche Familie. Dabei
seien Ehe und Familie als »Chiffren einer
beglückenden patriarchalen Ordnung«78
nicht verhandelbar. Sie sind quasi natürlich vorbestimmt, wie man in der »Jungen Freiheit« zu wissen glaubt: »Diese
Institutionen sind weniger Gegenstand
politischer Optionen als vielmehr bildliche Garanten für zeitlose, durch Tradition, Natur oder Religion sanktionierte
Gesellschaftszustände.«79 So wird die
Bedrohung durch Feminismus, »68er«
und »Sexuelle Revolution« durchaus
als real und allumfassend gesehen, wie
Kämper feststellt: »Eine Abschaffung
dieser Ordnung bedeutet für ihn die Infragestellung gemeinschaftlicher, familialer und nationaler Ordnung überhaupt.«80 Schnell wird deutlich, dass
es keineswegs nur um die Familie geht.
Vielmehr fühlt sich der neurechte beziehungsweise der rechtsextreme Mann
als Bollwerk gegen die Auflösungstendenzen traditioneller Strukturen in postmodernen Gesellschaften. Schließlich
sind traditionelle Geschlechtervorstellungen eng mit paternalistischen Herrschaftsmodellen verknüpft. Versagt die
Familie als kleinstes Glied der (Volks-)
Gemeinschaft beziehungsweise wird sie
in Frage gestellt, ist die Nation unmittelbar in Gefahr. »Mithilfe der Bedrohungsformel Zersetzung (Hervorhebung im
Original-Y.M.) wird diese Gemeinschaft
militärisch und völkisch aufgeladen und
das entsprechende antimoderne, antiindividualistische und anti-emanzipatorische Potenzial mobilisiert.«81 Als absolutes Horrorszenario einer zerfallenden
Gesellschaft gelten der »Neuen Rechten« die USA: Hier handele es sich um
eine multikulturelle und multiethnische
Gesellschaft, die in der Kriminalität versinke. Und die neurechte Männlichkeit
braucht diesen Gegenpol: »Die beständige Beschwörung heiler Ehen und Familien, die in einer hohen Zeit des noch
unerschütterten Patriarchalismus angesiedelt sind, kontrastiert mit dem apokalyptischen Bild der Moderne.«82
Seit der »Sexuellen Revolution« würden
immer weniger Kinder geboren, weil Sex
und Fortpflanzung nunmehr separiert
28
seien. Die »Junge Freiheit‘« sucht hiermit
Anschluss an den Diskurs um den vermeintlichen demographischen Wandel
in der BRD: »Was wird in zwanzig, dreißig Jahren sein, wenn die zahlreichen
›Singles‹ ins Rentenalter kommen?«83
Dabei wird versucht, den Diskurs zu
ethnisieren, indem das »Aussterben«
der Familie in den westlichen Industrienationen prognostiziert wird, während
sich die Menschen in der so genannten
‚Dritten Welt‘ praktisch ungehemmt vermehren würden: »Dagegen steigen die
Bevölkerungszahlen in den armen Regionen Asiens und Afrikas mit atemberaubender Geschwindigkeit.«84 Es soll klar
werden, dass einfach die »Falschen« die
Kinder kriegen.
Auch gelten Schwangerschaftsabbrüche in der extremen Rechten als verwerflicher und amoralischer Massenmord. Hegemoniale Männlichkeit kann
nicht zulassen, dass Frauen selbst über
ihren Körper und das Gebären von Kindern entscheiden. Realpolitische Diskussionen über Abtreibungen erübrigen
sich damit. Ebenso bedroht der Staat
als Wohlfahrtsstaat die Vorherrschaft
des Mannes über die Familie. Staatliche Eingriffe in Ehe und Familie werden
als Angriff auf Autorität und Gewaltmonopol des Mannes interpretiert: »Die
öffentliche Diskussion innerfamiliärer
Gewaltverhältnisse ist aus dieser Perspektive ein Angriff auf eine Privatheit,
die dem Mann einen vor staatlichen Eingriffen geschützten familiären Raum garantiert.«85
Die »Junge Freiheit«
gegen Gender Mainstreaming
Wenn sich Autor/innen in der »Jungen
Freiheit« mit dem Thema Geschlecht
auseinander setzen, befasst sich ein
Großteil der Artikel mit Gender Mainstreaming und Gleichstellungspolitik.
Da das Konzept Gender Mainstreaming als Institutionalisierung des Feminismus angesehen wird, sind auch
die Kritikpunkte ähnlich gelagert: Angeblich würden Frauen bevorzugt und
Gender Mainstreaming diene der Abschaffung des Mannes. So sei Gender
Mainstreaming nur ein anderes Wort für
Frauenförderung. Letztlich sei Gender
Mainstreaming gar noch bedrohlicher
als der verhasste Feminismus, wie der
neurechte Wirtschaftswissenschaftler
Felix Stern in »Die Selbstbewußte Nation« moniert: »Sicher, der Feminismus
ist längst nicht mehr so spektakulär wie
in den 70er und 80er Jahren.(…)Aber
genau das macht die zum ›Salonfeminismus‹ gewandelte ›Frauenbefreiung‹
viel unberechenbarer als beispielswei-
se eine ›Autonomen-Demo‹, bei der die
Fronten klar sind. Denn in dieser Etablierung und Normalisierung des meist
gar nicht mehr als Sexismus empfundenen Geschlechter-Rassismus und in
der Verfügbarkeit, hieraus politisches,
berufliches und wirtschaftliches Kapital
zu schlagen, liegt ja die eigentliche Gefahr dieser Bewegung.«86
Durch die Institutionalisierung des Feminismus und den »Vormarsch« von
Frauen in originär »männliche« Sphären fühlt sich die männliche Herrschaft
in ihrer Legitimität angegriffen. Dieser
Angriff muss zurückgeschlagen werden:
»Die Verletzung der männlichen Sphäre
staatlicher Gewalt verlangt nach Genugtuung so wie die Schwächung des von
einem Virus befallenen Körpers nach
Heilung verlangt.«87
Die Autor/innen der »Jungen Freiheit«
haben sich dem Kampf gegen Gender
Mainstreaming verschrieben: Hämisch
registrieren sie, dass der Begriff kaum
inhaltlich gefüllt werden kann und wenig in der Praxis erprobt sei. Die meisten Menschen könnten mit dem Begriff nichts anfangen. Trotzdem sei
durch das Konzept Gender Mainstreaming ein bürokratischer Apparat mit
einer unüberschaubaren Zahl von Projekten entstanden, der etliche Millionen Euro Steuergelder verschlinge.
»Gender Mainstreaming ist ein milliardenschweres Programm … mit dem vermessenen Ziel, einen ›neuen Menschen‹
zu schaffen.«88 Wie absurd das Konzept
angeblich ist, will man mit Hilfe unwirklich erscheinender Beispiele wie der
Einführung des »Ampelfrauchens« aufzeigen. Auch das Studienfach Gender
Studies sei lediglich ein Trend, dem keine Zukunft beschieden ist. »An den Universitäten und Fachhochschulen sind
die ›Gender Studies‹ groß in Mode, sogar in den Rang eines Magisterstudiengangs haben sie es geschafft.«89 Die
Verwendung des Binnen-I in der Schriftsprache wird gleichfalls abgelehnt. Angeblich würden die Menschen dadurch
unnötig verwirrt. Zudem konstruiere
man so die Geschlechterdifferenz erst
recht. Dieses Argument scheint vorgeschoben, wird doch in der »Neuen Rechten« die Geschlechterdifferenz als natürlich gegeben betrachtet.
Dass das biologische Geschlecht – ähnlich wie das soziale Geschlecht – konstruiert sein könnte, wird in der »Jungen
Freiheit« verneint. Und hier wähnt man
die Wissenschaft auf seiner Seite: »Dass
sie (die »Gender«-Theorie – Y.M.) in Widerspruch zu allen gängigen anthropologischen und naturwissenschaftlichen
Erkenntnissen steht, von der Hirn- und
Verhaltensforschung bis zur Biologie und Evolutionstheorie, stört eingefleischte Ideologen nicht wirklich.«90
Dekonstruktivistische Ansätze, so heißt
es, würden biologische »Erkenntnisse«
ignorieren.
Die meisten einschlägigen Artikel in
der »Jungen Freiheit« Artikel zunächst
sachlich: So werden Gleichstellung und
Emanzipation befürwortet, um später
um so besser die Kritik zu platzieren.
Es ginge nun zu weit, suggeriert man in
der »Jungen Freiheit«: Während sich die
Frauen inzwischen eine lautstarke und
einflussreiche Lobby aufgebaut hätten,
seien Männer angeblich stimmlos. Der
Gedanke, Männer hätten Privilegien,
wird in der »Jungen Freiheit‘« abgelehnt.
Um der Opposition gegen Gender Mainstreaming Ausdruck zu verleihen, verwenden die Autor/innen der »Jungen
Freiheit« Begrifflichkeiten, die ganz bewusst Assoziationen mit dem Nationalsozialismus hervorrufen sollen. Man
stilisiert sich als Opfer: Kritisiere man
zum Beispiel offen Gender Mainstreaming, riskiere man die, zugegebenermaßen nicht physische, »Vernichtung«91,
so JF-Autor und Publizist Michael Paulwitz. Bei Gender Mainstreaming handele es sich um eine »gigantische(n)
ideologische(n) Umerziehung«92 Der
Begriff »Umerziehung« ist im Zusammenhang mit den Ent-Nazifizierungen
nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur
in der extremen Rechten negativ besetzt. Nicht selten wird Gender Mainstreaming als »totalitäre Ideologie, die
nach dem Kaderprinzip durch eine auserwählte Truppe Linientreuer von oben
nach unten durchgesetzt werden soll«93,
diffamiert. Wiederum ist der Formel »totalitär« im deutschen Kontext eine ganz
eigene Wirkung beschieden. Bezeichnet
als »Genderismus«94 wird Gender Mainstreaming dann schnell zur Ideologie
und der Vergleich von Ursula von der
Leyen mit Mao Zedong und Wladimir I.
Lenin fällt nicht mehr schwer.95 Gleichstellungsbeauftragte werden als »linientreue Kader«96 tituliert und angeblich
habe man es mit einer »Kulturrevolution«97 zu tun. Hier werden mittels Wortwahl Antifeminismus und Antikommunismus verknüpft.
Besonders in die Kritik geraten sind
die CDU und ihre Familienministerin
von der Leyen, die die Politik des Gender Mainstreaming unterstütze. Die
CDU verfolge linksradikale Ziele, wettert man in der »Jungen Freiheit«. Die
neurechte Wochenzeitung verfolgt mit
diesen Angriffen ein einfaches Ziel: Sie
will die CDU beziehungsweise Teile ihrer Mitgliedschaft nach rechts rücken.
Diese müssen sich gegen die Angriffe
wehren, um sich gegen diese zu immunisieren. Gleichzeitig will man die CDU
spalten: So würde Kritik innerhalb der
Partei unterbunden, mutmaßt man in
der »Jungen Freiheit«. Wer sich trotzdem äußere, würde »von feministischen
Lobbygruppen unter Beschuss genommen«98 und »muss Sanktionen befürchten«99.
Letztlich kann sich die «Junge Freiheit«
sogar kapitalismuskritisch gerieren: »Die
fatale Dynamik dieses Konzapts steckt
dabei in der Interessenkoalition mit
dem vorherrschenden platten Ökonomismus. Die schon von Alice Schwarzer
geforderte und von ›Gender Mainstreaming‹ in letzter Konsequenz anvisierte völlige Abschaffung der Hausfrau
und Mutter als akzeptierter Lebensform
trifft sich mit dem technokratischen Interesse an der totalen Mobilmachung
aller ›menschlichen Ressourcen‹ zur abhängigen Vollzeit-Erwerbstätigkeit.«100
So wähnt sich die hegemoniale Männlichkeit der »Neuen Rechten« als Opfer
eines Komplotts, mit dem Männer aus
dem öffentlichen und privaten Leben
verdrängt werden sollen.
Die »Junge Freiheit‘«
gegen Homosexualität
Sucht man im Online-Archiv der »Jungen
Freiheit« nach der Thematisierung von
Homosexualität, wird man in der Regel
enttäuscht. Einzig über die Suche nach
dem Begriff »schwul« finden sich einige
Artikel.
Obwohl (männliche) Homosexualität als
randständig und anormal gesehen wird,
sei sie laut »Junge Freiheit« heute gesellschaftlicher Maßstab.101 Die heterosexuelle Familie würde als Norm negiert.
In der Zeitung wird offen ausgesprochen, dass der »normale« Hetero-Mann
von den »tuntigen« Schwulen abgestoßen ist. So berichtet »Junge Freiheit«Autor Frank Liebermann über eine Sendung mit vier homosexuellen Männern
auf einem Privatsender folgendes: »Die
Anfänge der Sendung sind strapaziös.
In den ersten paar Minuten präsentieren sich die vier Hauptpersonen dermaßen tuntig, dass es große Überwindung verlangt, nicht abzuschalten.«102
Den vier Homosexuellen wird vorgeworfen, »einen Kauderwelsch aus Deutsch
und Englisch«103 zu sprechen. Aufgrund
ihrer Homosexualität sind sie keine
»richtigen« Männer; durch ihr »Kauderwelsch« sind sie keine »richtigen« Deutschen. Schwul-Sein schade also der
deutschen (Volks-)Gemeinschaft und
dem gesunden Volkskörper, so der Tenor.
Liebermann meint, dass Schwul-Sein
im Trend liege und sich gut vermarkten
lasse. Ebenso darf der obligatorische
homophob angehauchte Verweis auf
die Homosexualität des Berliner Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit
nicht fehlen: »Inzwischen sind wir ja allerhand gewohnt. Nach schwulen Rappern, Schwulen gegen Rechts, schwulen Ärzten und schwulen für Stoiber
schockt uns nicht einmal mehr die Regenbogenfahne vor dem Berliner Rathaus.«104 In einem anderen Artikel wird
gewarnt, Homosexuelle würden Jugendlichen ihre Sexualität aufdrängen, »da
viele Homosexuelle ihre Lebensweise
als ›die Normalere‹ betrachten«105. Homosexuellen wird vorgeworfen, sie würden sich lediglich »um die Rekrutierung
von Nachwuchs bemühen«106.
In ihrer Homophobie steht die »Junge
Freiheit« keineswegs alleine da. Bereits
in den 80er Jahren sorgte die Homosexualität des Neonazikaders Michael
Kühnen für viel Verwirrung und homophobe Ausbrüche im bundesdeutschen
Rechtsextremismus. Mit seiner Schrift
»Nationalsozialismus und Homosexualität« brach Kühnen ein Tabu, indem er
Homosexualität verteidigte.107
Fazit
Das Beispiel »Junge Freiheit« zeigt, dass
Männlichkeit in der »Neuen Rechten«
durchaus diskursiviert wird. Dabei findet meist nur eine implizite Thematisierung über die Diffamierung von Feminismus, anderen Sozialen Bewegungen,
Homosexuellen und nicht zuletzt allem
»Fremden«, also Migrant/innen sowie
Jüdinnen und Juden, statt. Männlichkeit
in der »Neuen Rechten« befindet sich in
einem ständigen »Kampf« für die Nation, die heterosexuelle Familie und sich
selbst. Eine gewisse Krisentendenz ist
somit keineswegs ein Anzeichen für Zerfallsprozesse oder eine tatsächliche Bedrohung dieser Männlichkeit, sondern
vielmehr konstitutives Element. Allerdings werden Transformations- und Modernisierungsprozesse im Geschlechterverhältnis bewusst aufgegriffen, um
eigene Positionen entsprechend im Diskurs zu platzieren. Und die »Neue Rechte« ist mit ihrem Bild der hegemonialen
Männlichkeit durchaus gesellschaftlich
anschlussfähig. Aus Sicht einer transdisziplinären geschlechterreflektierenden Rechtsextremismusforschung
bietet der Versuch der Resouveränisierung von Männlichkeit durch die »Neue
Rechte« ein enormes Gefährdungspotential.
Yves Müller
29
Winfried Knörzer, Eine kulturelle Hegemonie von
recht, in: Junge Freiheit, 19. 8. 1994, S. 1; zit. nach:
Michael Puttkamer, »Jedes Abo eine Konservative
Revolution«. Strategie und Leitlinien der »Jungen
Freiheit, in: Wolfgang Gessenharter u. Thomas Pfeiffer, Hrsg., Die Neue Rechte – eine Gefahr für Demokratie?, Wiesbaden 2004, S. 213.
2 Vgl. Oliver Geden, Männlichkeitskonstruktionen in
der Freiheitlichen Partei Österreichs. Eine qualitativ-empirische Untersuchung, Opladen 2004.
3 Helmut Kellershohn, Kurzchronologie der »Jungen
Freiheit« 1986 bis 2006, in: Stephan Braun u. Ute
Vogt, Hrsg., Die Wochenzeitung »Junge Freiheit«.
Kritische Analsysen, Autoren und Kunden, Wiesbaden 2007, S. 48.
4 Vgl. Stephan Braun, Alexander Geisler u. Martin
Gerster, Die »Junge Freiheit« der »Neuen Rechten«. Bundes- und landespolitische Perspektiven
zur »Jungen Freiheit« und den Medien der »Neuen
Rechten«, in: Stephan Braun u. Utte Vogt, Hrsg.,
Die Wochenzeitung »Junge Freiheit«, S. 18.
5 Ebenda, S. 19.
6 Vgl. Felix Krebs, Mit der konservativen Revolution
die kulturelle Hegemonie erobern. Das Zeitungsprojekt »Junge Freiheit«, in: Jean Cremet, Felix
Krebs u. Andreas Speit, Jenseits des Nationalismus. Ideologische Grenzgänger der »Neuen Rechten« – ein Zwischenbericht, Hamburg u. Münster
1999, S. 54.
7 Stephan Braun u. a., »Die »Junge Freiheit« der
»Neuen Rechten«, S. 25.
8 Felix Krebs, Mit der konservativen Revolution die
kulturelle Hegemonie erobern, S. 72.
9 Ebenda, S. 53 f.
10 Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen. Nachdruck der 2. Aufl. von 1930, Struckrum
1991. Zit. nach: Michael Putkammer, »Jedes Abo
eine konservative Revolution«, S. 215.
11 Hiermit ist die Bestrebung einer gemeinsamen Politik zwischen linkem und rechtem Spektrum auf
der Basis vermeintlicher oder tatsächlicher gemeinsamer Ideologiefragmente gemeint.
12 Peter Krebs, Mit der konservativen Revolution die
kulturelle Hegemonie erobern, S. 79.
13 Walter Hoeres, Die Herstellung der Heimatlosigkeit, in: Junge Freiheit, Nr. 43/1996, zit. nach: Jean Cremet u. a., Jenseits des Nationalismus.
14 Ebenda.
15 Hans Sarkowcz, Publizistik in der Grau- und Braunzone, in: Wolfgang Benz, Hrsg., Rechtsextremismus in Deutschland. Voraussetzungen, Zusammenhänge, Wirkungen, Frankfurt a.M. 1994, S. 69.
16 Ebenda, S. 72.
17 Ebenda, S. 77
18 Peter Krebs, Mit der konservativen Revolution die
kulturelle Hegemonie erobern, S. 59.
19 Michael Mauser, Wettbewerb und Solidarität. Zur
Konstruktion von Männlichkeit in Männergemeinschaften, in: Silvia von Arx u. a., Hrsg., Koordinaten der Männlichkeit. Orientierungsversuche, Tübingen 2003, S. 83.
20 Derselbe, Hegemoniale Männlichkeit – Überlegungen zur Leitkategorie der Men’s Studies, in:
Brigitte Aulenbacher u. a., Hrsg., FrauenMänner
Geschlechterforschung. State of the Art, Münster
2006, S. 162.
21 Ebenda, S. 168.
22 Robert W. Connell, Gender and Power. Society,
the Person and Sexual Politics, Cambirdge 1987,
S. 183, zit. nach: Michael Meuser, Wettbewerb und
Solidarität, S. 183.
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66
Ebenda, S. 169, Hervorhebung im Original.
Ebenda, Hervorhebung im Original.
Paul Bourdieu, Die männliche Herrschaft, in: Irene
Dölling u. Beate Krais, Hrsg., Ein alltägliches Spiel.
Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis,
Frankfurt a. M. 1997, S. 203.
Michael Meuser, Hegemoniale Männlichkeit,
S. 163.
Ebenda, S. 166.
Vgl. ebenda, S. 164 ff.
Ebenda, S. 169.
Gabriele Kämper, Die männliche Nation. Politische
Rhetorik der neuen intellektuellen Rechten, Köln
2005, S. 205.
Robert W. Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden
2006, S. 105.
Ebenda. S. 106.
Ebenda.
Ebenda, S. 211.
Ebenda, S. 107.
Ebenda, S. 222.
Ebenda.
Ebenda, S. 223.
Curd-Torsten Weick, Das verunsicherte »starke Geschlecht«. Auslaufmodell der Evoluiton? Männer
können einpacken, in: Junge Freiheit, 14. 1. 2005.
Vgl. ebenda.
Ebenda.
Gabriele Kämper. Die männliche Nation, S. 154.
Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. II: Männerkörper – zur Psychoanalyse des weißen Terrors,
Frankfurt a.M. u. Basel 2005, S. 155.
Ebenda.
Robert W. Connell, Der gemachte Macht, S. 235.
Paul Bourdieu, Die männliche Herrschaft, S. 203.
Götz Kubitschek, Es wird ernst. Kampf der Kulturen: Deutschland muss seine Zukunft als
selbstbewusste Nation wollen, in: Junge Freiheit,
24. 2. 2006.
Gabriele Kämper, Die männliche Nation, S. 159.
Ebenda, S. 180.
Ebenda, S. 179.
Ebenda, S. 188.
Carl Gustav Ströhm, Sag mir, wo die Männer sind.,
in: Junge Freiheit, 23. 1. 2004.
Ebenda.
Dabei war Franio Tudman (1922–1999) nicht nur
ein glühender Nationalist. Er äußerte sich auch zutiefst antisemitisch und verharmloste die Verbrechen der faschistischen Ustascha während des
Zweiten Weltkrieges.
Ebenda.
Ebenda.
Michael Meuser, Wettbewerb und Solidarität,
S. 84.
Ebenda.
Ebenda, S. 88.
Vgl. Birgit Rommelspacher, Geschlechterverhältnis im Rechtsextremismus, in: Wilfried Schubarth
u. Richard Stöss, Hrsg., Rechtsextremismus in der
Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bonn
2000, S. 207.
Gabriele Kämper, Die männliche Nation, S. 166.
Ebenda, S. 170.
Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Duisburg 1999, S. 158.
Ebenda, S. 55. Hervorhebung im Original-Y.M.
Ebenda, S. 62.
Felix Stern, Feminismus und Apartheid. Über den
Krieg der Geschlechter, in: Heimo Schwilk u. Ulrich
Schacht, Hrsg., Die Selbstbewusste Nation. »Anschwellender Bocksgesang« und weitere Beiträge
zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. u. Berlin 1994, S. 291. Zit. nach: Gabriele Kämper, Die
männliche Nation, S. 136.
67 Johannes Rogalla von Bieberstein, Erbe des Klassenkampfes, in: Junge Freiheit, 20. 6. 2008.
68 Ebenda.
69 Ebenda.
70 Rainer Zitelmann, Position und Begriff. Über eine
neue demokratische Rechte, in: Heimo Schwilk u.
Ulrich Schacht, Hrsg., Die Selbstbewusste Nation,
S. 178. Zit. nach: Gabriele Kämper, Die männliche
Nation, S. 138.
71 Robert W. Connell, Der gemachte Mann, S. 231.
72 Ebenda.
73 Götz Eberbach, Die sexuelle Revolution und ihre
Folgen, in: Junge Freiheit, 8. 5. 1998,
74 Ebenda.
75 Mathias von Gersdorff, Das Tabu der Sexuellen
Freizügigkeit, in: Junge Freiheit, 24. 7. 1998.
76 Ebenda.
77 Oliver Geldszus, Gesellschaft: Liebe und Sexualität
in den Zeiten der späten Kohl-Ära, in: Junge Freiheit, 5. 6. 1998.
78 Gabriele Kämper, S. 122.
79 Ebenda, S. 121 f.
80 Ebenda, S. 124.
81 Ebenda, S. 128.
82 Ebenda, S. 131.
83 Götz Eberbach, Die sexuelle Revolution und ihre
Folgen.
84 Oliver Geldszus, Gesellschaft: Liebe und Sexualität
in den Zeiten der späten Kohl-Ära.
85 Gabriele Kämper, Die männliche Nation, S. 133.
86 Zit. nach: ebenda, S. 148.
87 Ebenda.
88 »Geschlecht ist pure Einbildung«. Interview von
Moritz Schwarz mit Arne Hoffmann, in: Junge Freiheit, 12. 1. 2007.
89 Christian Rudolf, Kampf den Knackpunkten, in:
Junge Freiheit, 15. 12. 2006.
90 Michael Paulwitz, Im Labor der Menschenzüchter,
in: Junge Freiheit, 12. 1. 2007.
91 Ebenda.
92 Geschlecht ist pure Einbildung.
93 Michael Paulwitz, Im Labor der Menschenzüchter.
94 Ebenda.
95 Ebenda.
96 Geschlecht ist pure Einbildung.
97 Johannes Rogalla von Bieberstein, Erbe des Klassenkampfes.
98 Geschlecht ist pure Erfindung.
99 Ebenda.
100 Michael Paulwitz, Im Labor der Menschenzüchter.
101 Vgl. ebenda.
102 Frank Liebermann, RTL 2 und »Schwul macht
cool«: Alle Klischees werden bedient. Die neue
Langeweile, in: Junge Freiheit, 2. 1. 2004.
103 Ebenda.
104 Ebenda.
105 Alexander Schmidt, In erster Linie zählt der Spaß.
Bildung: In Nordrhein-Westfalen sollen Jugendliche ihre »typische männliche oder weibliche
Verhaltensweise überdenken«, in: Junge Freiheit,
12. 1. 2001.
106 Ebenda.
107 Vgl. Markus Bernhardt, Keine gemeinsame Linie.
Neonazis und Homosexualität, in: LOTTA. Antifaschistische zeitung aus nrw, Winter 2007/2008,
Ausgabe 29, S. 12 ff.
Keine Nazis in Rosas Straße, gemeinsam gegen
»Thor Steinar« – Ein kurzer Überblick zu den
Aktivitäten der Initiative »Mitte gegen Rechts«
in Berlin
Die Rosa-Luxemburg-Straße liegt im
Zentrum Berlins. Der Namen der Straße und auch die BewohnerInnenklientel unterliegen einem steten Wandel.
Über Jahrhunderte hinweg endete an
dieser Straße die Berliner Pracht.1 Es
ließen sich vor allem jene hier nieder,
die in der Stadt keinen Platz fanden. Es
entstand eine große jüdische Gemeinde. Aus Scheunen, die an der Straße
standen, wurden mit der Zeit ärmliche
Wohnhäuser. Als die Stadt längst über
das so genannte Scheunenviertel hinaus gewachsen war, begann Anfang
des 20. Jahrhunderts die Umgestaltung
des Viertels und eine erste Verdrängung
der Bevölkerung setzte ein. Die BewohnerInnen des Scheunenviertels zogen
zumeist in die anliegenden Straßen.
Noch 1925 wohnten fast 18 Prozent der
in Berlin lebenden JüdInnen in unserem
Kiez. Ihre Zahl stieg weiter an, als sich
ihre soziale Lage durch die antisemitische Politik der NSDAP in den 1930er
Jahren verschärfte und JüdInnen aus
anderen Stadtteilen verdrängte. Ihre Lebensverhältnisse erreichten im »Dritten
Reich« ein unerträgliches Ausmaß. Israel Loewenstein, der bis zu seiner Deportation im Scheunenviertel wohnte und
heute im Kibuz Yad Hannah in Israel
lebt, berichtet zum Beispiel:
»Dann kamen die Gesetze, dass man alles abgeben musste: Radio, Grammophon, Schallplatten, Schmuck. Meine
Mutter hatte einen goldenen Ehering –
musste man abgeben; eine Perlenkette – musste man abgeben. Aber das ist
so eine Sache, die langsam kam. So gewöhnt man sich daran. (…)Irgendwann
ist man nicht mehr aus dem Haus rausgekommen, es war alles für Juden verboten.«
Am 18. Oktober 1941 begann die Deportation der jüdischen Bevölkerung
Berlins. Rund zwanzig Monate später
galt Berlin offiziell als »judenrein«. Das
Scheunenviertel und ein Teil seiner BewohnerInnen waren ausgelöscht.
In der DDR lag die Straße in einem Sanierungsgebiet. Dennoch wurden die
Häuser bis zur Wende dem Verfall preisgegeben. Nahe am Alexanderplatz und
Hackeschen Markt gelegen, entdecken
seit den 1990er immer mehr Neu-BerlinerInnen die Attraktivität der Straße.
In den letzten zwanzig Jahren wandelte sich die Bevölkerung so ein weiteres
mal. Die Mieten steigen und junge Menschen aus dem In- und Ausland siedeln
sich an. Exquisite Gastronomie, Galerien und DesignerInnen-Shops bestimmen heute das Bild der Straße. Am
1. Februar 2008 eröffnete in der RosaLuxemburg-Straße 18 ein weiteres Modegeschäft: »TØNSBERG« ist über dem
Eingang zu lesen. Es werden vor allem
Kleider der Marke »Thor Steinar« angeboten.
»Thor Steinar« ist ein Label, das vor
allem von Rechtsextremen getragen
wird.2 Seit sechs Jahren vertreibt Uwe
Meusel und die von ihm gegründete
Protex GmbH die Textilien an bundesweit rund 170 HändlerInnen. Zweideutige Motive ermöglichen den TrägerInnen ihre neofaschistische Gesinnung
offen darzustellen, ohne in Konflikt mit
dem Gesetz und dessen HüterInnen zu
geraten. In Magdeburg, Dresden, Leipzig und Berlin hat Uwe Meusel eigene
Läden eröffnet. Drei Jahre befand sich
die Berliner Filiale in einem Einkaufzentrum unweit des heutigen Standorts.
Als die Vermieterin erkannte, wes (Un-)
Geistes Kind ihre Mieter waren, wurde
dem braunen Klamottenladen gekündigt. Ein neues Domizil fand sich schnell.
Bereits bei der Eröffnung des Ladens
regte sich erster Widerstand. Vor dem
Laden wurde eine Kundgebung abgehalten. Einige LadenbesitzerInnen äußerten
offen ihren Protest über den neuen
Nachbarn. Sie dekorierten ihre Schaufenster mit Informationen über »Thor
Steinar« und mit antifaschistischen
Plakaten. Ein Anwohner klebte in der
Straße Zettel gegen Nazis. Regelmäßig
schaute die Antifa vorbei und gestaltete die Außenfassade des Geschäfts mit
Farbbeuteln und Pflastersteinen neu.
MieterInnen aus einem Nachbarhaus
schrieben einen Beschwerdebrief an ihre Hausverwaltung und machten sich
daran, den Eigentümer des Hauses ausfindig zu machen, der an das rechte Mode-Label vermietet hat.
Viele der heutigen AktivistInnen waren schockiert darüber, ausgerechnet
in ihrem Wohn- und Arbeitsumfeld ein
Bekleidungsgeschäft zu finden, dessen
Kundenstamm vorwiegend aus Neona-
zis besteht. Schnell wurde deutlich, das
dem Versuch rechte Meinungen und Gesinnungen in der Mitte der Gesellschaft
zu etablieren, etwas entgegen gesetzt
werden muss. Das »TØNSBERG« ausgerechnet im ehemaligen Scheunenviertel seine die NS-Zeit verherrlichenden
Kleider anbietet, einem Stadtteil dessen
Bevölkerung besonders stark unter dem
menschenverachtenden Regime gelitten hatte, ist unerträglich. Kurz nach der
Eröffnung begann sich die Stimmung in
der Straße zu ändern. Die Bedrohung
durch Rechtsextreme war plötzlich klar
spürbar. AnwohnerInnen, die ihren Protest offen geäußert hatten, erhielten Besuch von dubiosen Gestalten oder bekamen Drohbriefe. Jeden Tag mehrere
Male an einem Ladenlokal vorbei zugehen, dass für eine prinzipiell abzulehnende, menschenverachtende Ideologie steht, ist auf die Dauer anstrengend.
Zudem führten die militanten Aktionen
gegen den Laden zu täglicher Polizeipräsenz in der Straße.
Kaum verwunderlich, dass sich die
gleichgesinnten AnrainerInnen zu einer
Initiative zusammenschlossen. Sie trägt
mittlerweile den Namen »MITTE GEGEN
RECHTS«. Gewerbetreibende, FreiberuflerInnen, Angestellte und StudentInnen
haben sich in ihr zusammengefunden.
Die Beweggründe für unser Engagement
sind vielschichtig. Für alle ist klar, dass
im Kiez kein Platz für Nazis ist, weder für
Alte noch für Junge. Weltoffenheit und
Toleranz prägen die Rosa-LuxemburgStraße. Dieses internationale Flair ist
für Berlin nicht überall selbstverständlich. Wir wollen klarstellen, dass es sich
hier um etwas Besonderes, Schützensund Erhaltenswertes handelt und dafür ein Bewusstsein schaffen. Wir wollen verdeutlichen, wohin Intoleranz und
Menschenverachtung führen. Die Erinnerung an den Holocaust trägt dazu bei,
eine tolerante und für alle offene Gesellschaft einzufordern und alles dafür
zu tun, dass eine solche nicht nur in der
Rosa-Luxemburg-Straße auf Dauer Bestand hat.
Es gilt jenen entgegenzutreten, die genau das verhindern wollen, und das
schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte glorifizieren. Uwe Meusel und
die Protex GmbH gehen aber noch wei31
ter. Sie instrumentalisieren das »Dritte
Reich«, um kommerziell erfolgreich zu
sein. Das Label »Thor Steinar« nutzt diese Kommerzialisierung als »banale und
teuflische Strategie« um »Geschichtsklitterung und Revisionimsus« Tür und
Tor zu öffnen, wie eine Aktivistin treffend feststellte. Der »TØNSBERG«-Shop
fungiert hierbei als Rattenfänger, indem
er einen niederschwelligen Einstieg in
die rechte Szene anbietet und deren
politische Inhalte verharmlost. Denn
in einem Kiez, der weit über die Grenzen Deutschlands hinaus als liberal gilt,
rechnet eigentlich niemand damit, auf
ein Geschäft zu treffen, das menschenverachtendes Gedankengut in trendige
Klamotten verpackt. So ging manch ahnungslose Laufkundschaft »TØNSBERG«
ins Netz, dies war bereits Mitte Februar klar. Es war also höchste Zeit, selbst
aktiv zu werden, sich zu informieren, eine eigene Meinung zu bilden und diese
Kund zu tun.
»MITTE GEGEN RECHTS« wurde gegründet, um die Schließung des
»TØNSBERG«-Ladens zu ereichen. Dabei profitierten wir von Anfang an von
einer breiten Medienresonanz im In–
und Ausland. Wir konnten seit Beginn
des Protests auf ein breites Netzwerk
von UnterstützerInnen zurückgreifen.
Die Projektleiterin des nicht-kommerziellen Kunstraumes »:emyt« wurde von
ihren Förderern (einer Hausverwaltung
und einem Kunstverein) gebeten, einen
Teil ihrer Arbeitszeit und die Räumlichkeiten der Galerie für die Initiative zur
Verfügung zu stellen. In fachlichen und
inhaltlichen Fragen steht der Initiative
die »Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus« (MBR) zur Seite. Ihre Mitarbeiterinnen empfahlen uns Kontakt zum
Integrationsbeauftragten des Landes
Berlin aufzunehmen, um finanzielle Unterstützung zu bitten. Zeitgleich rief die
Amedeo-Antonio-Stiftung zu Spenden
auf und richtete dafür ein Konto ein.
Innerhalb kürzester Zeit kamen rund
12.000 Euro zusammen. Die finanzielle
Basis des Protests war somit gesichert.
Auch von bezirkspolitischer Seite wird
der Protest gegen »TØNSBERG« unterstützt. Der Bürgermeister von Mitte, Dr.
Christian Handke (SPD), ist Schirmherr
der Initiative. Gemeinsam mit VertreterInnen der MBR und Sprechern von
»MITTE GEGEN RECHTS« veranstaltete der Bezirk 19 Tage nach Eröffnung
der »Thor Steinar«- Filiale einen Runden
Tisch zu dem alle AnwohnerInnen eingeladen wurden. Bei dieser Versammlung
meldete sich erstmals ein Vertreter der
Hauseigentümer der Rosa-LuxemburgStraße 18 zu Wort und stellte fest, dass
32
dem zwielichtigen Bekleidungsgeschäft
bereits gekündigt worden sei. Drei Tage später einigte sich die Bezirksverordnetenversammlung Mitte auf einen
Beschluss, der diese Kündigung begrüßte und zu weiteren friedlichen Protesten aufrief. Kurz darauf versammelten sich nach einem Aufruf mehrerer
Berliner Antifa-Gruppen Hunderte, um
ihrem Unmut gegen Herrn Uwe Meusel,
seiner Marke »Thor Steinar« und seine
KundInnen im Rahmen einer Demonstration lautstark Luft zu machen. Innerhalb eines Monats war es gelungen, eine breite Öffentlichkeit auf das Problem
»TØNSBERG« in der Rosa-LuxemburgStraße hinzuweisen. Auch die Norwegische Botschaft strengte eine Klage gegen Uwe Meusel und die Protex GmbH
an, da auf der Kleidung der Marke »Thor
Steinar« oft die norwegische Flagge zu
finden war.
Nach dem sich der erste Trubel gelegt
hatte, ging es einerseits darum, eine
angemessene Form des dauerhaften
Protestes zu finden und anderseits das
Thema weiter in der Öffentlichkeit zu
halten. Ein Ideenfindungsprozess wurde
eingeleitet, der aufgrund unterschiedlicher beruflicher Ausrichtungen der Initiativmitglieder sehr kreativ und produktiv war. Erst entstand erstens ein Blog
im Internet, der über die Initiative und
den Stand des Protestes informiert. Hier
können kostengünstig und mit wenig
Aufwand Informationen dezentral angeboten werden. Neben Informationsmaterialen zu »Thor Steinar«, der Protex
GmbH und Uwe Meusel wird regelmäßig
über den Protest gegen das Label in anderen Städten berichtet. Zudem findet
sich ein Spendenaufruf und eine Kontaktadresse auf der Seite.
Zweitens wurde ein Logo entworfen.
Der Designer ist selbst bei »MITTE GEGEN RECHTS« aktiv. Das Logo wurde
ebenfalls von AktivistInnen die im Textilbereich tätig sind, auf Taschen gedruckt,
die in mehreren Shops im Kiez zum Kauf
ausliegen. Die daraus erzielten Einnahmen stehen der Initiative zur Verfügung.
KundInnen sehen die Taschen und fragen oft, worum es sich bei »MITTE GEGEN RECHTS« genau handle. Nicht nur
dann kommt der dreisprachige Infoflyer zum Einsatz der kurz über »Thor Steinar«, die neue Rechte und unserer Initiative informiert. Die Vorderseite, die
das Logo ziert, kann als kleines Protestplakat verwendet werden. Einige Läden
haben den Flyer als Zeichen des Widerstands und der Solidarität in ihr Schaufenster gehängt. Auf den Flyern befinden sich ebenfalls die Kontaktadresse
der Initiative und ein Spendenaufruf.
Das Logo prangte auch übergroß auf
einem weiteren Bestandteil des Protestkonzepts: den Protest-Containern. Am
Beginn, in der Mitte und am Ende der
Straße wurden drittens diese Transportcontainer aufgestellt.
Diese »Eyecatcher« griffen massiv in
den öffentlichen Raum ein und machen
so auf unser Problem aufmerksam.
Durch eine Verkleidung mit Holzplatten entstanden an den Containern Flächen, die für Informationstexte im Stile
einer Wandzeitung genutzt werden. Auf
einem Container wurde über die Geschichte der Rosa-Luxemburg-Straße
berichtet und ein weiterer informierte
über der »Rechten neue Kleider« sowie
die rechtsextreme Szene. Alle Texte waren in deutscher und englischer Sprache abgefasst. Ein dritter Container
stand direkt vor dem »TØNSBERG«-Laden auf der dortigen Parkfläche. JedeR
war eingeladen, dort Protestplakate anzubringen. Bis Ende November 2008 erwiesen sich die drei schwarzen Quader
als äußerst wetter- und beschädigungsresistente Protestform. Sie stellten ein
effektives Medium zur Aufklärung dar.
Täglich blieben viele BesucherInnen der
Straße vor den Containern stehen und
informierten sich. Wenn die Plakate auf
ihnen ausgetauscht werden, kommen
wir oft mit Interessierten ins Gespräch.
Regelmäßig fanden Führungen zu den
Containern statt, die von Mitgliedern
der Initiative geleitet wurden. Wenn die
Plakate auf den Informationsträgern
ausgetauscht wurden, kamen wir oft mit
Interessierten ins Gespräch.
Am 31. Mai 2008 wurden die Container im Rahmen eines Straßenfestes eingeweiht. Wiederum stieß die Initiative
auf ein breites Medienecho und nutzte
die Chance, sich in der Öffentlichkeit zu
präsentieren. Der bereits erwähnte Israel Löwenstein, dessen Zeitzeugenaussagen auf einem der Protestcontainer zu
finden sind, äußerte sich anschließend
sehr positiv zu unserer Aktion und begrüßte das Engagement der Initiative.
An einem Wochenende im August 2008,
und zur »Linken Kinonacht« am 19. September 2008, wurden zwei der bisher
verschlossenen Container kurzzeitig
Geöffnet, um die Kurzfilmreihe »Filme
gegen Rechts« durchzuführen. Zu sehen
waren verschiedene Dokumentationen,
Kurzfilme, Animationen, Reportagen
und Clips, die sich mit der Geschichte
des Kiezes sowie mit dem Rassismus,
Antisemitismus und rechtsextremismus
beschäftigten. Ende November 2008 lief die Genehmigung für die Container
aus. Zudem war die Holzverschalung
der Container witterungsbedingt be-
schädigt. Wir bauten sie ab. Die Holzflächen wurden einem Jugendzentrum in
Berlin-Karlshorst zur Verfügung gestellt,
um sie beim Protest gegen eine Neonazidemonstration einzusetzen. Das Konzept »Protestcontainer« findet eventuell
in Zossen erste NachahmerInnen. Dort
wehrt sich die Initiative »Jüdisches Leben in Zossen« gegen das Internet-Café Medienkombin@t zum Link«, das vom
Holocaustleugner Rainer Link betrieben
wird.
Dass Uwe Meusel wegen eines Containers vor seinem Laden nicht aufgibt,
war allen AktivistInnen klar. So erhielt
die »:emyt«-Galerie einige Male ungebetenen Besuch. Zuletzt kam Herr Meusel
höchst persönlich. Er bedankte sich für
die gute Werbung die »MITTE GEGEN
RECHTS« für ihn mache, beleidigte die
Anwesenden und riet der Pressesprecherin der Initiative, auf ihre Gesundheit zu achten. Die Betroffenen haben
Herrn Meusel angezeigt. Diese Kurzschlusshandlung zeigt, dass dem Geschäftsführer das Wasser mittlerweile
bis zum Halse steht. Die Laufkundschaft
hat deutlich abgenommen. Ein erster Erfolg für uns.
Rund eine Woche vor dem eben geschilderten Vorfall konnte ein weiteres
Zeichen gesetzt werden, um zu verdeutlichen dass für die Verherrlichung
des »Dritten Reiches« in unserer Gesellschaft kein Platz ist. Verschiedene
Privatpersonen und Organisationen
hatten Geld gesammelt, um Stolpersteine zu setzen. Jenny Glück, Jacob Joelsohn, Minna Joelsohn, Adolf Rosentreter, Klara Rosentreter, Hans Rosentreter
und Jutta Ruth Rosentreter wohnten bis
zu ihrer Deportation in den Wohnungen
über dem »TØNSBERG«-Geschäft in
der Rosa-Luxemburg-Straße 18. Mit
den Stolpersteinen wird an ihr Schicksal erinnert und ihrer gedacht. Um einen kleinen Einblick über die verbrecherische NS-Politik zu geben, wollten
wir im leerstehenden Ladengeschäft neben dem »Thor Steinar«-Store eine Ausstellung präsentieren, die sich intensiver mit dem Schicksal der Ermordeten
auseinandersetzt. Der Hauseigentümer stellte uns die Location trotz mehrfacher Bitten nicht zur Verfügung, da er
»unpolitisch« sei. Hat er deshalb an Uwe
Meusel vermietet? Kurzentschlossene
schufen temporär aufstellbare Schautafeln, die nun vor dem Haus stehen.
Zur Segnung der Stolpersteine kamen
über 80 Personen. Einen Tag nach Uwe
Meusels provokantem Auftreten gegenüber einigen Initiativmitgliedern wurde
deutlich, dass sich weit mehr BerlinerInnen an »TØNSBERG« stoßen, als nur
die AnrainerInnen. Neben dem Bezirksbürgermeister Dr. Handke, der eine kurze Rede hielt, waren VerterInnen verschiedener Parteien und Institutionen,
wie der Amadeu-Antonio-Stiftung, der
Jüdischen Gemeinde Berlins und des
Zentralrats der Juden in Deutschland
anwesend. Das musikalische Rahmenprogramm wurde von dem bekannten
Klezmersänger Mark Aizikovitsch gestaltet. Verschiedene SpenderInnen der
Stolpersteine stellten anschließend kurz
die Biographien der sieben ermordeten
AnwohnerInnen vor. Die hierfür notwendigen Recherchen wurden von »STOLPERSTEINE« durchgeführt und uns zur
Verfügung gestellt. Das singen von je
einem Psalm und des Kaddisch, dem jüdischen Totengebet, durch den Kantor
der jüdischen Gemeinde Simon Zkorenblut, beschloss die Gedenkfeier.
Einen weiteren Höhepunkt fand der
Protest am 19. September 2008. Zusammen mit dem Bezirksverband von
»Die Linke« in Berlin-Mitte veranstaltete »MITTE GEGEN RECHTS« die »Linke
Kinonacht« unter dem Motto »Schöner
leben ohne Nazis« im »Babylon«, direkt am Rosa-Luxemburg-Platz gelegen.
Mehrere hundert, meist junge Menschen kamen, um sich das antifaschistische Programm aus Musik, Film und
Kabarett anzusehen. Unsere Initiative
war mit einem Infostand vertreten und
hielt einen kurzen Redebeitrag.
Etwa zehn Tage später begann eine
neue Runde des Widerstandes gegen
Uwe Meusel, »TÖNSBERG« und seine
Mediatex GmbH: Am Landgericht Berlin wurde die Räumungsklage des Eigentümers der Rosa-Luxemburg-Straße 18,
der Impala GmbH, verhandelt. Nachdem
ein vom Richter angestrebter Vergleich
scheiterte, beschloss das Gericht, bis
Mitte Oktober 2008 den Rechtsstreit zu
entscheiden. Am 14. Oktober 2008 hat
das Berliner Landgericht der Räumungsklage des Vermieters des »TONSBERG«Ladens in der Rosa-Luxemburg-Straße
stattgegeben. Nach Ansicht der Richter hätte der Betreiber dem Vermieter
vor der Eröffnung darüber informieren
müssen, welche Ware in dem Geschäft
angeboten werde. Wie zu erwarten war,
hat die Mediatex GmbH, die mittlerweile offiziell nach Dubai verkauft wurde,
zum 29. November 2008 Berufung gegen dieses Urteil eingelegt. Im Frühjahr
2009 soll der Fall dann vor dem Kammergericht Berlin erneut verhandelt werden. Die Chancen für eine Räumung des
Ladenlokals stehen gut, doch kann es zu
weiteren Verzögerungen kommen. Die
Mediatex GmbH wird in einem ähnlich
gelagerten Fall in Magdeburg voraussichtlich bis zur letzten Instanz gehen:
Dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe.
Trotz all der verschiedenen Protestformen und zahlreicher Bemühungen von
vielen Seiten besteht der »TØNSBERG«Store weiter. Er ist sogar bekannter
denn je. Allerdings nicht als ganz normales Bekleidungsgeschäft, sondern
als mit rechtem Gedankengut symphatisierender »Nazi-Laden«. Es ist uns in
den letzten Monaten gelungen, die Verknüpfung »Thor Steinar« – »TØNSBERG«Rechtsextremismus deutlich zu machen.
JedeR Interessierte kann sich beteiligen.
Zum Beispiel bei den monatlichen Treffen oder als UnterstützerIn der verschiedenen Protestformen. Viele unterstützen
»MITTE GEGEN RECHTS« im Rahmen ihrer Möglichkeiten; sie stellen kostenlos
ihre Kopierer zur Verfügung, erledigen
und finanzieren großformatige Drucke
oder helfen mit Werkzeug aus. Seit Februar 2008 ist rund um die Rosa-Luxemburg-Straße ein gut funktionierendes
Netzwerk entstanden, das Uwe Meusel, der Protex GmbH und »TØNSBERG«
so lange auf die Nerven gehen wird, bis
er mit samt seinem braunen Laden verschwindet.
Roman Fröhlich
1
2
Vgl. zur Geschichte des Kiezes um die Rosa-Luxemburg-Straße: Eike Geisel, Im Scheunenviertel. Bilder, Texte und Dokumente, Berlin 1981; Horst
Helas u. Dieter Weigert, Scheunenviertel Berlin.
Stadtteilführer, Berlin 1993 u. ö.; Reiner Zilkenat,
»Ostjuden« als Objekte gewalttätiger Aktionen
im Berlin der Weimarer Republik. Der Pogrom im
Scheunenviertel am 5. und 6. November 1923, in:
Mario Kessler, Hrsg., Antisemitismus und Arbeiterbewegung. Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert,
Bonn 1993, S. 29 ff.; Verein Stiftung Scheunenviertel, Hrsg., Das Scheunenviertel. Spuren eines verlorenen Berlins, Berlin 1994 u. ö.; Horst Helas, Juden in Berlin-Mitte. Biografien-Orte-Begegnungen,
2. Aufl., Berlin 2001 (mit weiter führenden Quellenund Literaturangaben).
Vgl. Peter Conrady, Neonazistische Alltagsmode –
die Bekleidungsmarke Thor Steinar, in: Rundbrief,
Heft 3/2008, S. 43 f.
33
HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS
UND ANTIFASCHISMUS
Vor 90 Jahren starb Franz Mehring
Geboren am 27. Februar 1846 in Schlawe, dem heutigen Slawno in Polen,
verstarb Franz Mehring am 28. Januar
1919 in einem Krankenhaus im Berliner
Grunewald. Bislang wird vom 29. Januar
als dem Datum seines Todes ausgegangen. Der Mehring- Forscher Waldemar
Schupp schrieb bereits am 27. Februar
1996 im »Neuen Deutschland«, Mehring
sei in der Nacht vom 28. zum 29. Januar 1919 verstorben. Aus einer mir in der
ständigen Ausstellung über Leben und
Wirken Franz Mehrings von einem Besucher übergegebenen Urkunde des Standesamtes Steglitz vom 29. Januar 1919
wird der 28. Januar 1919 als Todestag
ausgewiesen.
Seine Kindheit und frühe Jugendzeit
verlebte Mehring im preußischen Hinterpommern, in der Kreisstadt Sclawno
zwischen Köslin, (Koszalin) und Stolp
(Slupsk), wenige Kilometer von der Ostsee entfernt. Diese hinterpommersche
Kleinstadt zählte damals circa 5.000
Einwohner. Einige kleinere Industriebetriebe und das landwirtschaftliche
Umfeld mit Gutsbesitzern, Großbauern
mit dem dazu gehörenden Heer von Tagelöhnern sowie eine Vielzahl kleiner
Landwirte gaben dem Landkreis ihr Gepräge.
Der Vater, Wilhelm Mehring, ein ehemaliger preußischer Offizier, war nach
seiner Militärzeit Steuereinnehmer
des Kreissteueramtes seines Heimatortes. Aus Untersuchungen Waldemar
Schupps ergibt sich eine weitere Korrektur der biographischen Angaben zur
Mutter Mehrings. Sie ist nicht wie angenommen, eine geborene Henriette von
Zitsewitz, sondern eine geborene Schulz
aus dem hinterpommerschen Lauenburg. Bislang wurde auf eine adlige
Herkunft geschlossen. Streng im Preußengeist und evangelisch-lutherischen
Glaubens, wollten die Eltern, dass ihr
Sohn in die Fußstapfen der Vorfahren als
Prediger treten sollte. Im Leben kommt
es aber häufig anders als vorher gedacht. Niemand konnte damals ahnen,
dass Franz Erdmann Mehring schließlich in seinem zweiten Leben nach 1890
in die sozialdemokratische Partei eintreten, und nach dem Tod von Friedrich
Engels zu deren bedeutendsten Historiker, Journalisten und Literaturkritiker
wird und als unbeugsamer sozialdemo34
kratischer Linker zum Mitbegründer der
Kommunistischen Partei Deutschlands
werden sollte.
Mehring verbrachte seine Schulzeit in
Schlawe und den nahe gelegenen Kreisstädten Greifenberg und Stolp. Zum Erlangen der Hochschulreife schickten
Mehrings Eltern ihren Sohn zunächst
auf das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium
in die benachbarte Kreisstadt Greifenberg (Gryhice). Mit dem Abitur und dem
häufig erwähnten Schulaufsatz »Preußens Verdienste für Deutschland« in der
Tasche, führte Mehrings Weg 1866 zum
Studium in das Königreich Sachsen. an
die altehrwürdige, 1409 gegründete Alma Mater zu Leipzig. Er besuchte Vorlesungen bei dem klassischen Philologen
Georg Curtius. Ebenso gehören griechischen Grammatik und die vergleichende Grammatik altitalischer Sprachen zu seinen Hauptfächern. Auf sein
zuweilen wohl auch lustiges Studentenleben blieben das Wirken demokratischer Persönlichkeiten, die den revolutionären Geist der Menschenrechte
der 1848er Revolution vertraten und
das Bürgertum zur Besinnung auf diese Werte aufriefen, wie zum Beispiel
Johann Jacoby (1805–1875) und Guido Weiß (1822–1899) sowie die aufwärts strebenden sozialistischen Kräfte
(Eisenacher) um August Bebel (1840–
1913) und Wilhelm Liebknecht, nicht ohne Einfluss. In Leipzig begann Mehrings
kritische Beschäftigung mit dem Preußentum, hier entzündete sich auch sein
journalistisches Interesse.1
Mehrings langer Weg vom
bürgerlichen Demokraten zum
demokratischen Sozialisten
Von Leipzig kommend, trug sich Mehring
als Zweiundzwanzigjähriger in Berlin, am 28. November 1868, unter der
Nummer 757 in die Matrikel der Kaiser
Wilhelm-Universität ein und besuchte
Vorlesungen in drei Seminaren. Erst 11
Jahre später promovierte Mehring, wiederum an der Leipziger Universität, extern zum Doktor der Philosophie.2 Noch
als Student wurde Mehring 1869 in die
Redaktion der Tageszeitung »Die Zukunft« und später die der »Waage«, von
den radikalen Demokraten Johann Jacoby und Guido Weiß herausgegeben, aufgenommen.
In seiner »Rechtfertigungsschrift; ein
nachträgliches Wort zum Dresdner Parteitag«3 von 1903, geht Mehring auf seinen Lebensabschnitt zwischen 1868
und 1876 ein und schreibt, er sei mit
Bebel »durch seinen alten Lehrer Guido Weiß bekannt geworden … wie das
Bebel in Dresden geschildert hat. An
Guido Weiß, der meines Erachtens zu
den feinsten Stilisten in der Literatur
des 19. Jahrhunderts gehört, war ich
von den ästhetisch-literarischen Seite gekommen; als Mitredakteur bin ich
an seiner ›Zukunft‹ von 1869 bis 1971
und als Mitarbeiter seiner ›Waage‹ von
1873–1876 tätig gewesen; in der Zwischenzeit war ich mit Leopold Jacobi,
nicht zu verwechseln mit Johann Jacobi, Mitarbeiter des Oldenburgischen
Reichs- und Landtagsberichts.«
Bebel erwähnt in seien »Lebenserinnerungen« gemütliche Treffen, an denen
auch Mehring am Ende der sechziger
Jahre des 19. Jahrhunderts teilnahm.
»Es war in Berlin eine ziemlich starke
Gruppe meist gut gestellter Bürger, die
in Johann Jacobi ihr Idol sahen und mit
uns sympathisierten. Sie gruppierten
sich um Dr. Guido Weiß, den Redakteur
der von ihm vorzüglich geleiteten »Zukunft«, eines großen demokratischen
Tageblattes, das die vermögenden Jakobyten – wie wir die speziellen Anhänger Jacobys kurz nannten – im Jahr
1867 gegründet hatten … Zugehörige
dieser Gruppe waren William Spindler, der Sohn des Gründers des großen
Färbereigeschäfts W. Spindler, van der
Leeden, Dr. G. Friedländer, Morten Levy,
Dr. Meierstein, Boas, Dr. Stephan, später Chefredakteur der »Vossischen Zeitung« und andere. Auch der damals sehr
junge Mehring den ich damals durch Robert Schweichel hatte kennengelernt,
gehörte zu diesem Kreis. Blieben Liebknecht und ich über Sonntag in Berlin,
so trafen wir in der Regel mit mehreren
der Genannten, unter denen sich auch
öfter Paul Singer befand, in einer Weinstube zusammen.« 4
Mehring gegen die Annexion
Elsass-Lothringens
1870/71 fand der von Bismarck provozierte Deutsch-Französische Krieg statt.
Zeitweilig eingenommene national liberale Positionen, beeinflusst von den mi-
litärischen Siegen Preußens, man denke
an die Schlacht bei Sedan, dürfen im
Rückblick nicht unberücksichtigt lassen,
dass der junge Mehring im Oktober 1870
zu den 100 Aufrechten gehörte, die den
von August Bebel, Wilhelm Liebknecht
und Guido Weiß formulierten Aufruf gegen die Annexion von Elsass-Lothringen
durch Preußen unterzeichneten. Es war
die Tageszeitung »Die Zukunft«, die diesen Protest veröffentlichte.
Die von Mehring angeregte Auseinandersetzung mit dem an der Berliner Universität lehrenden Historiker Heinrich
von Treitschke (1834–1896) und seinen Verleumdungen des Sozialismus,
wurde von Guido Weiß aufgegriffen. Daraufhin veröffentlichte Mehring im Sommer 1875 in der »Waage« mehrere Artikel gegen Treitschke, den Apologeten
des preußischen Militarismus und der
Hohenzollernmonarchie. Sie erschienen kurze Zeit später als Broschüre.5
Nach den auf dem Dresdner Parteitag
1903 gegen Mehring erhobenen Vorwurf er habe sich vor zwanzig Jahren in
den Artikeln als Sozialdemokrat ausgegeben, sie aber später gnadenlos angegriffen schrieb dieser: »Ich habe sie
neulich (die Broschüre, W.R.), seit ein
paar Jahrzehnten wieder durchgesehen
und finde, dass sie der wissenschaftlichen Gedankenwelt des Sozialismus
noch vollkommen fern steht. Sie trumpft
eben nur, gleichviel mit welchem Maße
von Witz, die ordinären Philistervorurteile gegen die moderne Arbeiterbewegung auf, zu deren Echo sich Treitschke
gemacht hatte.«
Seine damalige, sehr gefühlsmäßige
Befürwortung der Sozialdemokratie
darf nicht übersehen lassen, sie belegt, dass Mehring noch im bürgerlichradikalen Lager stand. Ihm bedeutete
der Lassallsche Nachlass mehr als Forschungsergebnisse von Karl Marx und
Friedrich Engels. So war sein Verhältnis zur modernen Arbeiterbewegung
sehr pragmatisch von seinem ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden bestimmt. Später wurden auch antisemitische Äußerungen des Widerparts von
Franz Mehring, Heinrich von Treitschke,
bekannt: Er diffamierte Juden als »das
fremde Element« im deutschen Volk
und schrieb unter anderem: »Die Juden
sind unser Unglück«; Anlass genug für
die Nazis, ihn in die Galerie der »großen
Deutschen« aufzunehmen.7
Enthüllungsjournalismus gegen
Korruption und Geldgier mit
unübersehbaren Folgen
1876 geschah etwas, das Mehrings Hinwendung zur jungen deutschen Sozi-
aldemokratie jäh unterbrach und ihn
zeitweilig zu ihrem enttäuschten und
verbitterten Gegner machte. Mehring
veröffentlichte, gestützt auf ihm vorliegende Beweisstücke, am 21. Mai 1976 in
der »Staatsbürger-Zeitung« seine Anklage gegen Leopold Sonnemann, Herausgeber und Chefredakteur der bekannten
»Frankfurter Zeitung« und Reichstagsabgeordneter. Mehring schrieb:
»Somit erheben wir Anklage gegen den
Reichstagsabgeordneten zu Frankfurt
a.M., Herrn Leopold Sonnemann, dass
er während der Schwindelperiode (auch
Gründerzeit genannt, W. Ruch) seine öffentliche Vertrauensstellung als Besitzer
und Leiter der ›Frankfurter Zeitung‹ benutzt hat zu heimlichen Gewinnsten aus
Gründungen, über welche sein Publikum
in seinem Blatte ein unbestochenes und
unparteiisches Urteil zu erwarten berechtigt war.«8
In der Sozialdemokratie löste diese
Anklage ein Für und Wider aus. Bebel
und Liebknecht zeigten sich besonders
schockiert. Sie sahen in Mehrings Vorgehen einen unverzeihlichen politischen
Fehler. Für sie war Herr Sonnemann
zwar nicht »unbefleckt«, aber dessen
Offerten und Neigungen zur Sozialdemokratie ließen sie über manches hinwegsehen. So sah man es auch 1876
auf dem Gothaer Vereinigungsparteitag. Zeit seines Lebens ließ er nichts
auf sich sitzen. Seinen steter Einsatz
für den Schwächeren sah er angegriffen; enttäuscht und verbittert bezichtigte Mehring jetzt führende Sozialdemokraten des Wortbruchs. Sie würden
»Wasser predigen und selbst heimlich
Wein trinken.« Von einem »einrenken«
war von beiden Seiten keine Seite Rede.
Im Januar 1877 erschien von Mehring,
kurz vor den Reichstagswahlen, seine
gegen die Sozialdemokratie gerichtete
Schrift: »Zur Geschichte der deutschen
Sozialdemokratie; ein historischer Versuch.« Ein gefundenes Fressen für die
knservative Presse. Dem folgte dann
noch das Buch: »Die deutsche Sozialdemokratie, ihre Geschichte und ihre Lehre; eine historisch-kritische Darstellung«. Mit Letzterem promovierte
Mehring schließlich am 9. August 1882
an der Leipziger Universität.
Zu dieser Zeit beginnt Mehring sich mit
dem »Sozialistengesetzes« und seiner
Anwendung auseinanderzusetzen. Er
durchschaute Bismarcks »Sozialgesetzgebung« als Politik »mit Zuckerbrot und
Peitsche«. Man hört von Mehring wieder
anerkennende Worte für den mutigen
Kampf der Sozialdemokraten, gemischt
mit Bemerkungen über die SPD, die das
Verhältnis zu ihr weiterhin belasteten.
Die erlittenen Wunden waren noch nicht
verheilt. Das bescherte Mehring nicht
gerade angenehme Entgegnungen von
Karl Marx und Friedrich Engels. Engels
schrieb am 24. Juli 1885 an Bebel:
»Die Artikel der »Berliner Volkszeitung«
sind sicher von Mehring, wenigstens
weiß ich keinen anderen in Berlin, der
so gut schreiben kann. Der Kerl hat viel
Talent und einen offenen Kopf, ist aber
ein berechnender Lump und von Natur
ein Verräter …«
Wie so oft führen Klassenkämpfe zu
besseren Einsichten. Während Mehring
immer energischer das »Sozialistengesetz« bekämpfte und seine Aufhebung
forderte, beschäftigte er sich intensiv
mit dem wissenschaftlichen Werk von
Marx und Engels. Mehring selbst gibt
zwanzig Jahre später das Jahr 1883 als
Zeitpunkt seines »Gesinnungswandels«
an. In der zweiten Hälfte der 80 er Jahre gewinnt er in der Sozialdemokratie wieder Achtung. Es kommt zu Gesprächen zwischen Mehring, Bebel und
Liebknecht und anderen. 1888 erscheinen von Mehring erste Artikel in der seit
1882 unter der Regie von Karl Kautsky
monatlich erscheinenden theoretischen
Zeitung der Sozialdemokratie »Die Neue
Zeit«. Umgekehrt übernahmen Sozialdemokratische Blätter Artikel aus der
»Volkszeitung«, deren Chefredakteur
Mehring von 1885 bis 1890 war.
Franz Mehring wird Mitglied der SPD
1891 kommt es zum endgültigen Bruch
mit dem bürgerlichen Lager. Franz
Mehring wird jetzt, immerhin schon 45
Jahre alt, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Fortan stellt er ihr sein
umfangreiches Wissen und das in zwei
Jahrzehnten erworbene journalistische
Können zur Verfügung. Mehring wird
in die Redaktion der von Karl Kautsky
geleiteten Zeitschrift »Die Neue Zeit«10
geholt und bekommt die Verantwortung für das Feuilleton übertragen, wird
bald ihr Leitartikler und Mitherausgeber.
Ab 1892 erscheint sein Name erstmalig auf dem Titelblatt neben August Bebel, Eduard Bernstein, Friedrich Engels,
Paul Lafargue, Wilhelm Liebknecht, Max
Schippel, F.R. Sorge u. a. als ständiger
Mitarbeiter. Seine verdienstvolle Tätigkeit für die deutsche Sozialdemokratie
als marxistischer Historiker, Literaturkritiker, Publizist und führender Kopf der
Linken hatte begonnen.
Eine bibliographische
Zwischenbemerkung
Aus der kaum zu überblickenden Zahl
von Publikationen, Artikeln, Broschüren und Büchern. erfuhr zunächst »Die
35
Lessing-Legende, eine Rettung, nebst
einem Anhang über den historischen
Materialismus« große Beachtung. Als
Buch erschien sie 1893 erstmalig im
Verlag J.H.W. Dietz, in der Internationalen Bibliothek, Band 17. Vom gleichen
Verlag wurde sie neunmal herausgegeben, zuletzt 1926.11 1897/98 gab der
Dietz Verlag die von Heinrich Dietz in
Auftrag gegebene mehrbändige Ausgabe »Geschichte der Sozialdemokratie
Deutschlands«.
In einem zum 125 Jahrestag des Dietz
Verlages von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebenen Buch liest man
im Beitrag von Rüdiger Zimmermann:
»Mehring war als Autor nicht immer
unumstritten. Er genoss keine großen Sympathien.« Wer wollte wohl ausschließen, dass es zwischen zwei so
starken Persönlichkeiten, zumal sie sich
als Autoren und Verleger gegenüber traten, keine Reibereien gegeben haben
sollte. Fast alle Buchtitel von Mehring
erschienen noch zu Lebzeiten beider,
im J.H.W. Dietz-Verlag, außer die 1918
verlegte Karl-Marx-Biographie. Was
den Menschen Franz Mehring anging,
schrieb Clara Zetkin in ihrem Nachruf am 21. Februar 1919 in der Frauenbeilage der Leipziger Volkszeitung«:
»Der Mensch Franz Mehring ist oft und
scharf bekrittelt worden. Erklärlich ge-
36
nug, doch zu Unrecht. Gewiss: dieser
allzeit gerüstete, rauflustige Degen war
sowenig wie Marx. ›ein langweiliger Musterknabe‹ Er war stark in seniem Groll,
wie in seiner Überzeugung, in seinem
ritterlicher Mitgefühl für Verkannte und
Geächtete, in seiner Freundschaft«. Die
Größe dieser beiden Männer bestand
wohl darin, dass beide immer wieder
zusammen fanden. Zum 70. Geburtstag
am 2. Oktober 1913, unmittelbar nach
dem Tode August Bebels, übermittelte
Mehring Heinrich Dietz herzliche Grüße und Glückwünsche. Tags zuvor waren sie in der »Leipziger Volkszeitung«
zu lesen:« Sein Tagwerk steht in der
Geschichte des proletarischen Emanzipationskampfes so groß da, wie das
Tagwerk irgendeines von denen, die
jahrzehntelang Schulter an Schulter
mit ihm gearbeitet und gekämpft haben; ja, wenn er allzeit seinen Mann gestanden hat, wo immer die Parteipflicht
heischend, an ihn herantrat, als Agitator, als Organisator, als Gewerkschafter, als Parlamentarier, so hat er doch
einen großen und wichtigen Teil unseres
Schlachtfeldes aus ureigenster Kraft
verwaltet, lange Zeit allein und dann immer noch als Vorbild der jüngeren Kräfte, die ihm nacheiferten und die ihm nur
nacheifern konnten, weil sie ihr Bestes
von ihm gelernt hatten. Heinrich Dietz
ist der Schöpfer der wissenschaftlichen
Literatur, die die deutsche Arbeiterpartei zu ihren schönsten Ehren- und Ruhmestiteln zählen darf.«
Eduard Fuchs (Universum–Bücherei Berlin) gab von Mehring eine sieben bändige Auswahl »Gesammelter Schriften
und Aufsätze« in den Jahren von 1929
bis 1933 heraus. Eine Werkauswahl in
drei Bänden, herausgegeben von Fritz J.
Raddatz, wurde von Luchterhand Darmstadt von 1974/1975 verlegt. Schließlich wurden die bisherigen Ausgaben
gekrönt von der ersten umfassenden
Ausgabe »Gesammelte Schriften« in
der DDR; herausgegeben wurde sie von
Thomas Höhle, Hans Koch und Josef
Schleifstein, Band 1–15, Dietz Verlag
Berlin, 1960 bis 1984. Einzelne Bände
erschienen außerdem in mehreren Auflagen.
Im Ausland erschienen Bücher von
Mehring zum Teil in hohen Auflagen,
in chinesischer, deutscher, englischer,
französischer, japanischer, polnischer,
rumänischer, serbischer, slowenischer,
slowakischer, spanischer, tschechischer
und ungarischer Sprache. Jüngst erhielt
ich Kenntnis von einer indischen Ausgabe gesammelter Schriften in englischer
Sprache. Herausgegeben 1998 erschien
in Indiens Hauptstadt Delhi erneut eine
Sammelausgabe.
Mehring im letzten Jahrzehnt des
19. Jahrhunderts.
Der Weltkapitalismus vollzieht an unterschiedlichen Fronten und mit unterschiedlichem Tempo den Übergang in
sein imperialistisches Stadium. 1898
beschließt der Reichstag das erste Programm zur Hochrüstung der Flotte. Sie
sei notwendig, so der Kaiser, um in die
Lage zu kommen den noch nicht erreichten Platz in der Welt zu erreichen.
Der Rüstungskonzern versicherte dem
Kaiser seine Überzeugung, dass seine
Exellence sich dafür einsetzen werde für
Deutschlands einen »Platz an der Sonne« zu sichern. 1898 vereinbarte der
Kaiser Wilhelm II .mit dem türkischen
Sultan den Bau der Bagdadbahn. Bereits 1897 wurde Kiautschou am Gelben Meer annektiert. Deutschland nahm
Teil am Wettlauf der Großmächte gegen
China und beteiligt sich 1900 an der
Niederschlagung des Boxeraufstandes.
In dieser Zeit gelang es den deutschen
Sozialisten ihren Einfluss nachhaltig zu
erweitern und sich als Teil der internationalen Arbeiterbewegung zu definieren.
Mehrings Herz schlug für die Idee des
Internationalismus und das solidarische
Zusammenstehen. Zahlreiche Beiträge
Mehrings nach 1890 sind daher dem
1. Mai und der internationalen Revolutionsgeschichte gewidmet.
Von Mehrings Leistungen als Historiker und Literaturwissenschaftler im
neunten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts sollen auf Anhieb drei genannt
werden, erstens 1892/93 die Herausgabe der »Lessing-Legende«, zweitens
die Wahl zum Vorsitzenden des Berliner Freien Volksbühne Vereins und drittens 1887/88 die Fertigstellung jenes
Werkes, das zu seinen bedeutsamsten
gehört: »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie«.
Zur »Lessing-Legende«
Zunächst veröffentlicht »Die Neue Zeit«
von Januar bis Juni 1892 »Die LessingLegende.« Diese Artikelfolge erscheint
noch im gleichen Jahr. seiner Frau Eva
gewidmet, als Buch im Dietz Verlag. Das
war jenes Jahr, in dem am 22. September Friedrich Engels in den »Concordia
Festsälen« im Berliner Bezirk Friedrichshain von 4 000 Besuchern stürmisch
gefeiert wird. Neben den Mitgliedern
des Parteivorstandes waren, wie aus
Polizeiberichten hervorging, auch Bruno Schoenlank, Arthur Stadthagen und
Franz Mehring anwesend. Ein Jahr später schrieb Engels an Mehring über die
»Lessing-Legende«:
»Es ist bei weitem die beste Darstellung
der Genesis des preußischen Staates,
die existiert, ja, ich kann wohl sagen, die
einzig gute, in den meisten Dingen bis zu
den Einzelheiten richtig die Zusammenhänge entwickelnd. Man bedauert nur,
das sie nicht auch gleich die ganze Weiterentwicklung bis auf Bismarck haben
hinein nehmen können, und hofft unwillkürlich, dass Sie dies ein andermal tun
und das Gesamtbild im Zusammenhang
darstellen werden vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm bis zum alten Wilhelm.«
Damit wird auch die gelegentliche Frage beantwortet, ob sich das Buch gegen Lessing richte. Das Gegenteil ist
der Fall. Tatsächlich entlarvt es die Legende vom »aufgeklärten« Despotismus
des »Alten Fritz«. Mehring sah in Lessing einen bedeutenden Aufklärer, der
als Dichter und Literaturkritiker zum Begründer der bürgerlichen deutschen Nationalkultur wurde. Mehring ging es um
eine Analyse der Geschichte Preußens
und den Missbrauch Lessings für die reaktionäre Idealisierung des preußischen
Despotismus. Mehring hat nie einen
Zweifel daran gelassen, dass er Preußen als Teil der deutschen Geschichte
sah, aber er sah Preußen nie nur aus der
Sicht seiner Legenden und als Historiker ließ er sich nicht in die Grenzpfähle
Preußens zwängen.
Die »Lessing-Legende« und das
Hohenzollern-Schloss in Berlin
Ließt man die »Lessing-Legende«, stößt
man sehr schnell auf die in den letzten
Jahren geführte Debatten um das Berliner Hohenzollern-Schloss. So wenig
wie es beim Abriss des Palastes des
Volkes um Architekturauffassungen
mit oder ohne Asbest ging, so wenig
geht es beim Wiederaufbau des Stadtschlosses um die von den Protagonisten, teils blauäugig vertretene Auffassung, der Wideraufbau diene der
Pflege deutschen Architekturerbes.
Man sollte sich daran erinnern, dass es
der Alliierte Kontrollrat war der es für
nötig hielt per Gesetz 46 vom 25. Februar 1947 den Staat Preußen mit der
Begründung aufzulösen: »Der Staat
Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu
bestehen aufgehört. Geleitet vom Interesse der Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit der Völker
und erfüllt von dem Wunsche, die weitere Widerherstellung des politischen
Lebens in Deutschland auf demokratischer Grundlage zu sichern, erlässt
der Kontrollrat das folgende Gesetz:«
zur Auflösung des Staates Preußens. Eine geschichtsträchtige Debatte zur Rolle der Hohenzollernmonarchie in der
deutschen Geschichte fand nicht statt.
Das heutige konservative Preußenbild
gab ihr keine Chance. Andere Lösungsvorschläge als Abriss des Palastes verfielen der Ablehnung. Der Preußengeist
feiert neue Urständ. Einen Tag vor Sylvester, am 30. Dezember 2008 benutzt
Bernhard Schulz12, der Preußensachverständige und Kolumnist des »Tagesspiegel«, die vorgelegte Jahresbilanz der
»Stiftung Preußischer Kulturbesitz um
seine geschichtsphilosophischen Dogmen an den Leser zu bringen: »Der Bundespräsident hielt die Festrede (2007 d.
Verf.), aber man staunt auch im Nachhinein wie vorsichtig sich Horst Köhler
der kulturellen Bedeutung Preußens näherte, als müsste man heute noch rituell Abbitte leisten für den Militärstaat,
der Preußen zweifellos auch war. >Den
Sonderweg der gradlinig in die Nazidiktatur mit ihren unsäglichen Verbrechen
.führte<, muss man spätestens seit
dem – von Köhler erwähnten – Buch des
in England lehrenden Christopher Clark
ebenso wenig herbeizitieren wie lange
Zeit den etwas zu betont hervor gehobenen >Widerstand gegen Hitler«. Empfiehlt sich da nicht wieder, in Mehrings
»Lessing-Legende« zu schauen?
1910 schloss Mehring den Kreis seiner Untersuchungen zur deutsch-preußischen Geschichte mit dem Buch:
»Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters« bis zum Sturz Bismarcks. Diese Schrift, so Mehring in
seinem Vorwort sei entstanden aus den
Vorträgen die er seit vier Jahren an der
Parteischule der SPD gehalten habe.
Die erste Neuauflage dieses Werkes erfolgte 1946, unmittelbar nach dem Vereinigungsparteitag von SPD und KPD in
Berlin durch den Dietz Verlag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.
Begründet wurde diese Veröffentlichung
mit der Notwendigkeit die deutsche Geschichte zu bewältigen.
Vorsitzender des Vereins der Freien
Volksbühne
Mehring zog es zu dem 1890 im Böhmischen Brauhaus in Friedrichshain gegründeten Theaterverein Freie
Volksbühne Berlin. An der Gründungsversammlung hatten etwa 2000 Berliner teilgenommen von denen viele
ihren Beitritt zu einem monatlichen
Beitrag von 50 Pfennig erklärt hatten.
»Kunst dem Volke«14 war das im Gründungsaufruf verkündete Ziel dieser ersten selbstständigen Theaterorganisation der Arbeiterbewegung. In der,
sofort nach Gründung des Vereins einsetzenden Debatte über die Konzeption
des Spielplanes und über seine künst37
lerische Umsetzung konnte sich Bruno Wille, dem Initiator aus dem Friedrichshagener Kulturkreis, im Vorstand
nicht durchsetzen. Er wurde »gestürzt«.
Am 11. September 1892 wählte die Mitgliederversammlung Franz Mehring
zum neuen Vorsitzenden des Vereins. Sie sah in seiner Wahl die Möglichkeit, aus der konzeptionellen Krise
der jungen Theatergemeinschaft heraus zu kommen. Der Verein verfügte
über keine eigene Bühne. Das Gebäude der »Volksbühne« am heutigen RosaLuxemburg-Platz konnte erst 1914 fertig gestellt werden. Das Ostend-Theater
in der Großen Frankfurter Straße 132
Ecke Koppenstraße wurde gemietet.
Henrik Ibsens Drama »Stützen der Gesellschaft« gehörte zu den Erstaufführungen.. Unter dem Vorsitz von Mehring
gelangte 1893 das mehrfach verbotene
Schauspiel »Die Weber« von Gerhart
Hauptmann zur Aufführung.15 Mit regelmäßigen Beiträgen im Mitteilungsblatt
des Vereins trug Mehring auch zu seiner
geistigen Gestaltung bei. Im Dezember
1893 schrieb Mehring: (…) Die »Weber«
von Gerhart Hauptmann ist das einzige
Bühnenstück der Gegenwart, das auf
der Höhe des modernen Lebens steht
und für das Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine ähnliche Bedeutung in
der deutschen Literatur beanspruchen
kann wie Schillers Räuber Ausgangs
des achtzehnten Jahrhunderts. (…)16
Die »Geschichte der deutschen
Sozialdemokratie«
Heinrich Dietz, Verlagschef des gleichnamigen, der SPD nahe stehenden
Verlages, hatte Franz Mehring mit der
Abfassung der Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
»beauftragt«.17 Von 1893, dem Jahr des
Erscheinens seines ersten literatur-historischen Werkes die »Lessing-Legende«,
begann Mehring an der Parteigeschichte zu arbeiten. 1897/98 erschienen, war
sie die erste umfassende Darstellung der
Geschichte der deutzschen Sozialdemokratie und der Grundlagen des modernen wissenschaftlichen Kommunismus.
Die Kenntnis der eigenen Wurzeln, der
geistigen Ahnen von Marx und Engels,
der internationalen Geschichte der sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts,
insbesondere der der Sozialdemokratie,
halfen der Partei, sich selbst als die die
Geschichte bewegende und verändernde
Kraft zu erkennen. Mehring erwies sich
nach dem Tode von Friedrich Engels
als bedeutendster Historiker der sozialdemokratischen Partei. Die Schönfärber des Preußentums und Verehrer der
Bourgeoisie verschiedener Couleurs tra38
ten sofort gegen Mehring auf den Plan.
In Erwartung solcher Anwürfe schrieb
Mehring 1897: » Die alte Erfahrung, dass
jedes Buch sich selbst das Recht seines
Daseins erkämpfen muss, trifft dreimal
zu auf die Geschichte der Sozialdemokratie, die wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden sucht.«18 Heute lässt sich sagen: die drei Hauptwerke
Mehring die »Lessing-Legende« die »Geschichte der deutschern Sozialdemokratie« und die im Mai 1918 erschienene
Marx-Biographie haben ihr Daseinsrecht
bewahrt.
Franz Mehring und die
»Die Leipziger Volkszeitung«
Von Ostern 1902 bis 1907 währte die
»Ära Mehring« als Chefredakteur der am
1. Oktober 1894 gegründeten »Leipziger
Volkszeitung« (LVZ).Er wurde zum Pendler zwischen Leipzig und seinem Hauptwohnsitz Berlin. Mehring setzte seine
verantwortliche Tätigkeit in der Zeitschrift »Die Neue Zeit« und als Historiker und Literaturwissenschaftler fort. So
spannte sich der Bogen seiner journalistischen Tätigkeit von der »Zukunft« bis
zur »Roten Fahne«. Dazwischen liegen
»Die Neue Zeit«, »Die Leipziger Volkszeitung«, der »Vorwärts«, Spartakusbriefe
Bekanntheitsgrad wie dem Bremer und
Stuttgarter Sozialdemokrat und der von
Eugen Prager (1876–1942) redigierten
Thüringer Zeitung »Zukunft«. und Veröffentlichungen in sozialdemokratischen
Zeitungen mit einem reichsweiten
1902 erschienen von Mehring im Dietz
Verlag drei Bände aus dem literarischen
Nachlass von »Karl Marx und Friedrich
Engels und als vierter Band die Briefe
Ferdinand Lassalles. In Leipzig war der
Journalist Mehring kein Unbekannter.
Schon im April 1897 hatte er sich in der
LVZ mit Eduard Bernstein19 auseinandergesetzt: Mehring schrieb: »Wollte die
Sozialdemokratie ihren Klassenkampf
führen, ohne unausgesetzt ihr Endziel im Auge zu behalten, so würde sie
einem Schiffer gleichen, der sich ohne
Kompass und Steuer auf einem klippenreichen und stürmischen Meere zu recht
finden wollte. Wenn solch ein Schiffer
sagen wollte >das Ziel ist mir gar nichts,
die Bewegung alles< so könnte er verteufelt schlechte Erfahrungen machen.«
Mehring fügte hinzu, die Erfolge und
Fortschritte der Sozialdemokratie wurden erreicht, weil sie immer das Endziel
im Auge behielt: »Dabei mag sie im Einzelnen geirrt haben oder im einzelnen
wieder irren können, aber was sie bei
Strafe ihres Untergangs nie aus dem Auge verlieren darf, ist das sozialistische
Endziel selbst«
Auf dem Stuttgarter Parteitag, (3.–
8. 10. 1898), kommt es zu erregten Auseinandersetzungen über Fragen der
Taktik, zum Verhältnis von Tageskampf
und Endziel der Partei. Gegen Eduard
Bernstein, Wolfgang Heine, H. Peus,
K. Schmidt wenden sich August Bebel,
Karl Kautsky, Wilhelm Liebknecht, Rosa
Luxemburg, A. Parvus, B. Schoenlank, P.
Singer, A. Stadthagen und Clara Zetkin.
In der Presse hatte F. Mehring vor der
Gefahr einer Umwandlung der SPD in
eine kleinbürgerliche Reformpartei gewarnt. Er hielt aber auch noch, eine Verständigung mit Bernstein für vorstellbar.
Gestützt auf die, von seinem 1901 verstorbenen Vorgänger Bruno Schoenlank
geschaffenen Voraussetzungen, entwickelte Mehring die »Leipziger Volkszeitung« zu einem Zentrum des Kampfes
gegen das Vordringen opportunistischer
Strömungen in der SPD, wie dies Rosa
Luxemburg gelegentlich einschätzte, E.
Bernstein die theoretische Grundlagen
geliefert hatte.
Der Dresdner Parteitag: Höhepunkt
der Auseinandersetzungen mit dem
Revisionismus
Mehring wurde zur Zielscheibe der Revisionisten. Angesichts ihrer Erfolglosigkeit holten sie auf dem Dresdner Parteitag 1903 zu einem heimtückischen
Schlag aus um Mehring »los zu werden.«
Die Parteitagsdelegierten Heinrich
Braun, Bernhard und weitere versuchen
mit scheinheiliger Gebärde frühere Irrungen und Wirrungen, sich nicht vor Fälschungen scheuend hervor zu kramen um
Mehring zu diskreditieren und zu Fall zu
bringen. Mehring widersetzte sich diesen
Attacken. Von dieser Niedertracht tief erschüttert, pochte er auf dem Parteitag,
auf eine ehrenwerte Klärung durch die
Partei erwarte. Die Verleumdungen werde er schriftlich entkräften und bis zur
Klärung durch die zuständigen Parteiinstanzen seine Tätigkeit in »Die Neue Zeit«
und der »Leipziger Volkszeitung« einstellen. Mehring erfuhr noch auf dem Parteitag nachhaltige Unterstützung von A. Bebel, P. Singer und C. Zetkin. Bebels sah
aber auch im Entwicklungsweg Mehring
ein »psychologischen Rätsel«. Von den
Gegnern Mehrings dann allzu häufig kolportiert sah sich Clara Zetkin auch in ihrem Artikelnachruf zu äußern: »Der viel
angeführte Ausruf ist jedoch nicht für
Mehrings Charakter kennzeichnend,
wohl aber für Bebels mangelnde Fähigkeit Menschen richtig einzuschätzen, deren wesen nicht in einer gewissen nüchternen Alltäglichkeit an der Oberfläche
lag und von kräftig sich durchsetzenden
Gegensätzen bewegt wurde.«
Schließlich verurteilte die überwältigende Mehrheit der Delegierten, was
in Stuttgart noch nicht möglich schien,
den Revisionismus. In bürgerlichen Zeitungen labten sich an dem unwürdigen
Schauspiel auf dem Dresdner Parteitag
und sprachen von Selbstzerfleischung
Mit dem Schlag gegen Mehring wollten
die Revisionisten auch das großartige
Ergebnis der voran gegangenen Reichstagswahlen und entstandener Illusionen
zur Veränderung der Mehrheit i der Partei für ihren Rechtsdrall nutzen. Sie wurden gestoppt, die SPD ging erneut gestärkt aus dieser Auseinandersetzung
hervor, aber die Revisionisten blieben in
ihren Reihen, sie gaben nicht auf bis zur
Entwaffnung der Partei in ihrem Kampf
gegen Militarismus und Krieg.
Am 22. Oktober 1903 erschien dann
im Verlag der »Leipziger Volkszeitung«
Mehrings Schrift: »Meine Rechtfertigung« in der er alle Anwürfe entkräftete. Kautsky würdigte Mehring in der
»Neuen Zeit«: In der Leipziger Volkszeitung hat Mehring das Muster der theoretisch-konsequenten Leitung einer sozialistischen Tageszeitung geliefert. Die
Partei hat alles Interesse daran, dass
dieses Muster erhalten bleibe.«
Am 24. November teilte dann die »Leipziger Volkszeitung« mit:
Auf Grund der Rechtfertigungsschrift des Genossen Mehring hat die
Presskommission der Leipziger Volkszeitung in Verbindung mit dem Agitationskomitee und nach Rücksprache
mit den Vertretern der Parteigenossenschaft des 12.und 13. Reichstagswahlkreises einstimmig beschlossen, den
Genossen Mehring aufzufordern, seine
frühere Tätigkeit für die Leipziger Volkszeitung wieder aufzunehmen.«
Einen Tag später drückte der Parteivorstand in einer Erklärung den Wunsch
aus, Franz Mehring möge seine Tätigkeit
in »Die Neue Zeit« fortsetzen. Die Opportunisten gaben sicht nicht geschlagen behielten Mehring weiterhin im Visier. Schon zum Jenaer Parteitag, zwei
Jahr später, begründeten sozialdemokratische Redakteure aus Breslau, zwar
vergeblich, einen Ausschlussantrag gegen Mehring wegen »unparteigenössischer« Leitung der LVZ.
Mit Mehring profilierte sich die LVZ zur
bedeutenden revolutionären Massenzeitung zum Sprachrohr der deutschen
Linken mit deren internationalistischer
Haltung zu den drei russischen Revolutionen in den ersten beiden Jahrzehnten
des 20. Jahrhunderts.
Zur bürgerlich-demokratischen Revolution 1905/1906 in Russland befanden
sich Mehring und seine Redaktion weit-
gehend in solidarischer Übereinstimmung mit der Führung der SPD. In der
Mitgliedschaft wuchs die Befürwortung
des politischen Massenstreiks.
Franz Mehring und die
sozialdemokratische Bildungsarbeit
Am 7. November 1906 wählte der Parteivorstand und Kontrollkommission erstmalig den Zentralbildungsausschuss der
Sozialdemokratischen Partei. Ihm gehörten an August Bebel, Parteivorsitzender und H. Heimann, Vorsitzender des
Ausschusses, E. David, K. Korn, Franz
Mehring, H, Schulz (Geschäftsführer), G.
von Vollmar und Clara Zetkin. Der Zusammen-setzung nach zu urteilen, war
der Parteivorstand darauf bedacht, gegensätzliche Richtungen in diesem Gremium zu vereinen. Die Parteibasis blieb
außen vor. Nach den vom Mannheimer
Parteitag (23.–29. September 1906) beschlossenen Leitsätzen »Volkserziehung
und Sozialdemokratie«20, vorgelegt von
Heinrich Schulz und Clara Zetkin, soll
der zentrale Bildungsausschuss auch einen besoldeten Geschäftsführer haben
und von Berlin aus wirken. In den »Leitsätzen« wird zu seinen Aufgaben erklärt.
»Er stellt organisch aufgebaute Programme für Vorträge und Vortragskurse
und die dazu gehörigen Literaturnachweise zusammen, erteilt Ratschläge für
belehrende und künstlerische Veranstaltungen, vermittelt rednerische und
künstlerische Kräfte und sucht auf andere geeignete Weise seiner Aufgabe
gerecht zu werden. Der Ausschuss wird
alljährlich von dem Parteivorstand und
der Kontrollkommission gewählt.«
Eine Woche später wurde die Parteischule der SPD in der Lindenstraße 3,
Berlin Kreuzberg, nahe am Spittelmarkt,
feierlich eröffnet. Wie aus einer Veröffentlichung der Friedrich-Ebert-Stiftung:
Archiv der sozialen Demokratie vom
4. September 2008 hervorgeht, waren
Vertreter des Parteivorstandes, der sozialdemokratischen Wahlvereine GroßBerlins, der Redaktionen der Zeitschrift
»Neue Zeit« und des »Vorwärts« sowie
das Lehrerkollegium und die Teilnehmer
des ersten Kurses anwesend. August
Bebel, im Parteivorstand zuständig für
die Schule, hielt die Begrüßungsansprache. Von 64 Bewerbern für den fiel die
Auswahl auf 31 Kursusteilnehmer, darunter eine Frau.
Das Mitglied des Bildungsausschusses
und Historiker Franz Mehring wurde
in das Lehrerkollegium dieser bedeutenden Bildungsstätte der SPD berufen
und gehörte ihm bis zu seiner Erkrankung 1911 an. Im Fach »Deutsche Geschichte seit dem Mittelalter« gab er fast
400 Stunden Unterricht.21 Zu den Lehrern gehörten außer Mehring bekannte
Theoretiker wie Rosa Luxemburg, Rudolf
Hilferding und Hermann Duncker, Parlamentarier wie Arthur Stadthagen und
Bernhard Wurm, oder Juristen wie Hugo Heinemann und Kurt Rosenfeld. Diese hatten bereits international einen
Namen und bekannten sich zur revolutionären Taktik des Erfurter Programms.
Für Kurt Beck, zeitweiliger Parteivorsitzende der heutigen SPD, sagte bei einer
Ausstellungseröffnung, »die Dogmatiker hatten damals in der SPD die Oberhand«. Die Parteivorsitzenden der Sozialdemokratie hießen »damals« August
Bebel und Paul Singer.
Über den eigentliche Unterrichtsbetrieb ist wenig dokumentiert. Der Hermann Duncker-Forscher Heinz Deutschland veröffentlichte anlässlich des 100.
Jahrestages der sozialdemokratischen
Parteischule in Berlin, einen Brief des
Lehrgangsteilnehmers Alfred Keimling,
den dieser am 21. November 1906 an
Hermann Duncker gerichtet hatte.22
Da die Parteischüler privat bei sozialdemokratischen Gastgebern wohnten,
konnten sie auch während ihrer Schulzeit, hatten sie auch außerhalb der Lehrgangszeit Zugang zu den Kämpfen der
Sozialdemokratie. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Lehrer für einen
lebensnahen Unterricht sorgten. Noch
bewegte die russische Revolution die sozialdemokratischen Gemüter. Die Auseinandersetzungen um den politischen
Massenstreik waren nach der verhängnisvollen Entscheidung auf dem Mannheimer Parteitag 1906 nicht verstummt.
Die Kämpfe gegen das Klassenwahlrecht
und für die Gleichberechtigung der Frau
gewannen an Bedeutung. Während dessen forcierte der deutsche Imperialismus
und Militarismus seinen Kampf um den
»Platz an der Sonne« Von 1906 bis 1914
203 Schüler, davon 20 Frauen die Parteischule. Unter den Schülern befanden
sich u. a. Wilhelm Kaisen der nach 1945
die Regierungsgeschäfte in Bremen in
die Hand nahm, Gewerkschaftsfunktionäre wie Fritz Tarnow, Theoretiker des
Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, der einen führenden Platz beim
Neuaufbau der Gewerkschaften einnahm, Funktionäre wie der Thüringer Widerstandskämpfer Richard Dietrich, der
1946 die Zeitzer SPD in die Vereinigung
von KPD und SPD zur SED führte oder
Wilhelm Pieck, der Bremer Parteisekretär der SPD, der nach dem Besuch der
Schule bei Hermann Schulz, Leiter der
Parteischule, dessen hauptamtlicher Mitarbeiter wurde, lokale Bildungsausschüsse gründen half, dem Spartakusbund an
39
der Seite Mehrings, Karl Liebknechts
und Rosa Luxemburgs angehörte und
der 1946 gemeinsam mit Otto Grotewohl, Mitglied der sozialdemokratischen
Reichstagsfraktion zum Vorsitzenden der
SED gewählt und schließlich 1949 Präsident der DDR wurde.
Mehring beschäftigt sich weiter
mit der deutschen Klassik, der
ausländischen Literatur und der
bildenden Kunst
Mehring beendigte erst seine Chefredakteurtätigkeit an der »LVZ« erst nach
Aufnahme seiner Lehrtätigkeit. Zugleich publizierte er im »Vorwärts«, siehe deren Jubiläumsausgabe vom 31.
März 1909, und nahm weiterhin seine
Verpflichtungen an der sozialdemokratischen Wochenzeitung »Die Neue Zeit«
war. Mehring blieb Redakteur und Mitherausgeber. Über zwanzig Artikel erschienen aus seiner Feder von 1906 bis
1911. Mehring verlegte die Schrift von
Engels »Der deutsche Bauernkrieg« im
Vorwärts Verlag. Veröffentlichungen zur
deutschen Klassik gewinnen für ihn erneut an Bedeutung. Aus Platzgründen
lässt sich nur ein bescheidener Einblick
geben. 1909 erblickte »Schiller. Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter« das
Licht der Welt. Eine überarbeitete Auflage folgte 1913. Mehring verfasste zahlreiche Einführungen in die klassische
Theaterwelt: 1909 zu Schillers »Kabale und Liebe«, zu Lessings »Nathan den
Weisen« und zur »Minna von Barnhelm«
sowie zu Heinrich Kleists »Der zerbrochene Krug.« 1911 folgt von Mehring eine Heine-Biographie. Sie wird Teil einer
zehnbändigen Volksausgabe von HeineWerken im Vorwärts Verlag. Seine Aufsätze zur ausländischen Literatur erfassen zahlreiche Länder Europas von
Spanien bis Rußland und reichen von
Cervantes »Don Quichott« bis Gorkis
Nachtasyl und zur bildenden Kunst vom
500. Geburtstag Gutenbergs bis zu Gemälden Rembrandts.
Rosa Luxemburg würdigt in ihrem
Glückwunsch zu Mehrings 70. Geburtstag auch seine Leistungen zur Klassik:
»Durch Ihre Bücher, wie durch Ihre Artikel haben Sie das deutsche Proletariat nicht bloß mit der klassischen deutschen Philosophie, sondern auch mit der
klassischen deutschen Dichtung, nicht
nur mit Kant und Hegel, sondern mit
Lessing, Schiller und Goethe durch unzerreißbare Bande verknüpft. Sie lehrten
unsere Arbeiter mit jeder Zeile aus ihrer
wunderbaren Feder, dass der Sozialismus nicht nur eine Messer- und Gabelfrage, sondern eine Kulturbewegung, eine stolze große Weltanschauung sei« 23
40
Zum Mehring-Kautsky-Konflikt
Nicht formelle Streitigkeiten, sondern
politische Gründe, »Meinungsverschiedenheiten über die Parteitaktik«, waren
es in erster Linie, schrieb Mehring in seinem Brief an den Parteivorstand, die den
Mehring-Kautsky-Konflikt seit 1912 herauf beschworen. Mehring sah sich sehr
gekränkt durch Unterstellungen Kautskys, er habe sich in einem Artikel über
Lassalle gegen Marx gewandt und ihm
Kompetenzüberschreitung unterstellte
als er, wie gewohnt, zum Beispiel Artikel
von Rosa Luxemburg an die sozialdemokratische Presse über den sozialdemokratischen Pressedienst weiterleitete.
Mehring schrieb keine Leitartikel mehr
für »Die Neue Zeit« und schied nach
Auseinandersetzungen mit dem Parteivorstand als ihr Mitherausgeber aus.
Clara Zetkin und Rosa Luxemburg hatten ihm zuvor geraten, den Revisionisten
nicht freiwillig das Feld zu räumen. Allerdings setzte dann Mehring seine journalistische Arbeit in dieser Zeitschrift,
mit Zustimmung des Parteivorstandes,
im beschränkten Umfang fort Mehring
verstärkte die Herausgabe weniger bekannter Schriften von Friedrich Engels,
Wilhelm Wolff, Wilhelm Weitling bis Ferdinand Lassalle. In dieser Zeit beginnt Mehring mit den Arbeiten an seinem
letzten Hauptwerk, der 1918 zum Geburtstag von Marx erscheinen sollenden
Marx-Biographie. Um den Einfluss der
Linken zu erhöhen gaben Franz Mehring,
Rosa Luxemburg und Julian Marchlewski
ab 1913 wöchentlich eine eigene »Sozialdemokratische Korrespondenz« heraus.
Sie wurde zum ersten selbstständigen
Organ der deutschen Linken in der SPD.
Mit ihrer Hilfe versorgten sie die Redaktionen sozialdemokratischer Presseorgane mit eigenen Beiträgen, Informationen und Anregungen. Es war die Zeit
des verstärkten Kampfes gegen Militarismus und den ersten imperialistischen
Weltkrieg.
Mehrings Kampf nach Ausbruch des
ersten imperialistische Weltkrieges
Noch am 25. Juli 1914 ruft die SPD zu Aktionen auf. 14 Tage später, am 4. August
1914 stimmt die sozialdemokratische
Reichstagstagsfraktion unter Fraktionszwang gegen die Minderheit zu der Karl
Liebknecht gehörte, für die Kriegskredite
Sie bricht in Übereinstimmung mit der
Mehrheit des Parteivorstandes die Beschlüsse der II. Sozialistischen Internationale. Vergessen war der Aufruf des Parteivorstandes der SPD vom 25. Juli 1914
sofort in Massenversammlungen »den
unerschütterlichen Friedenswillen des
klassenbewußten Proletariats zum Aus-
druck zu bringen.« Nun galt der Ruf des
Kaisers Ruf an die »vaterlands-losen Gesellen«: »Ich kenne nur noch Deutsche«.
Am Abend der Abstimmung im Reichstag trafen sich namhafte Linke in der
Wohnung Rosa Luxemburgs. Unter ihnen befanden sich Hermann Duncker,
Rosa Luxemburg, Julian Marchlewski,
Franz Mehring, Ernst Meyer, Wilhelm Pieck. Der Älteste unter ihnen war Franz
Mehring. Er nahm trotz angeschlagener
Gesundheit sofort teil an der Fortsetzung ihres des Kampfes gegen die
»Burgfriedenspolitik« und für die Beendigung des imperialistischen Krieges.
Mit dem gleichen Ziel entstehen in verschiedenen Städten oppositionelle
Gruppen in der Sozialdemokratie. Am
2. Dezember 1914 setzt sich Liebknecht
über den Fraktionszwang hinweg und
stimmt als einziger Abgeordneter im
deutschen Reichstag gegen die zweite Kriegskreditvorlage. Aus der Vielzahl der Aktivitäten Mehrings können
in diesem Rahmen nur einige aufgeführt
werden. Auf der ersten Reichskonferenz der revolutionären Opposition am
5. März 1915 in der Wohnung Wilhelm
Piecks übernehmen Rosa Luxemburg
und Karl Liebknecht die Herausgabe
der Monatsschrift »Die Internationale« für Praxis und Theorie des Marxismus. Im Juli 1915 wird gegen P.Berten,
Rosa Luxemburg, Franz Mehring und
Clara Zetkin wegen ihrer Mitarbeit an
der Zeitschrift »Internationale » ein Verfahren eingeleitet. Mehring gehört zu
den Linken die zum 19. März 1916 die
erste Reichskonferenz der Spartakusgruppe nach Berlin einberufen und die
die Konstituierung der Spartakusgruppe im Wesentlichen abschließt. Die danach einsetzende Verhaftungswelle erfasst nicht nur Karl- Liebknecht und
Rosa Luxemburg sondern macht auch
vor dem 70jährigen, nicht mehr gesunden Franz Mehring nicht halt. Vom 3.
August bis zum 24. Dezember wird er
in »Schutzhaft« genommen und im Gefängnis Brandenburg eingesperrt. Heinz
Deutschland stieß bei seinen Recherchen im Bundesarchiv auf eine Postkarte Mehrings (BArch/SAPMO 11-12 N),
Poststempel 25. 12. 1916 an Käte Duncker, der Frau Hermann Dunckers: »Liebe Freundin! Hiermit melde ich mich
wieder zur Stelle. Freund M (vermutlich
Ernst Meyer), ist noch, wie mein kleiner
Finger sagt ›in Ketten‹, doch hoffe ich,
das er bis Ende dieser Woche wieder antreten wird. Ich wurde im Krankenwagen
herbefördert und bin sehr matt und müde, so dass mir der Arzt auf Strengste
verboten hat, Besuche zu machen. Sie
müssen deshalb einstweilen mit diesen
flüchtigen Zeilen vorlieb nehmen. Stets
Ihr F.M. Nachschrift Käte (für Hermann)
mit Bleistift:
M.I.H. Ich war gestern bei ihm, fand ihn
matt und abgemagert, aber im übrigen
ganz der ›Alte‹. Mir ist ein Stein vom
Herzen! Viele, viele Grüße D.K.24
Am 18. Januar 1917 schloss die Parteiführung der SPD mit 29 gegen 10 Stimmen die um die sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft mit Eduard Kautsky
und Georg Ledebour und den Linken um
Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht Clara
Zetkin und Franz Mehring gruppierte
Opposition aus der SPD aus. Zur ideologischen Spaltung der SPD trat jetzt auch
die vom Parteivorstand der SPD herbeigeführte organisatorische Spaltung.
Karl Liebknecht bat Mehring für ihn am
20. März 1917 in dessen neuen Wahlkreis 11 bestehend aus den Stadtteilen
Wedding und Gesundbrunnen in der »Ersatzwahl« für ihn, zum preußischen Landtag zu kandidieren. Der Rechtsanwalt Dr.
Karl Liebknecht hatte der offiziellen Begründung zufolge, sein Mandat verloren
»infolge Aberkennung der bürgerlichen
Ehrenrechte«25.Mehring konnte ein ähnlich gutes Wahlergebnis von Liebknecht
erreichen. Ausgerechnet während des
Krieges erhält Mehring sein erstes parlamentarisches Mandat. Er wird im preußischen Landtag anstelle von Liebknecht
das Wort ergreifen. Mehring stellt in jenen Tagen das Manuskript für die MarxBiographie fertig und setzt seine journalistische Tätigkeit fort. Mehring überträgt
seine Solidarität für die russischen Revolutionäre von 1905/06 auf die FebruarRevolutionäre von 1917 und dann auf
die sozialistische Oktoberrevolution. Am
23. April 1917 schreibt Mehring im Auftrage des Spartakusbundes an Vorsitzenden des Exekutivkomitees des Arbeiterund Soldatenrates, Genossen Tscheidse:
die Revolution in Russland gehöre zu den
größten Ereignissen der Weltgeschichte
und sei der Beweis für die großen Möglichkeiten des proletarischen Klassenkampfes in den Krieg führenden Ländern.26
Im Mai 1918 erleidet Franz Mehring einen Ohnmachtsanfall, stürzt und zieht
sich eine schwere Kopfverletzung zu. Er
berichtete Rosa Luxemburg von seinem
Unfall. Sehr bestürzt antwortet sie: Wie
mich ihr letzter Brief und namentlich der
Bericht von dem fatalen Unfall erschüttert hat. Kann ich ihnen gar nicht sagen.
Ich ertrage ja nunmehr meine ins vierte
Jahr währenden Sklawerei mit wahrer
Lammsgeduld, hier aber unter dem Eindruck solcher schmerzlicher Nachrichten, packte mich eine fieberhafte Ungeduld und ein brennendes Verlangen,
sofort hinaus zu dürfen, nach Berlin zu
eilen und mich durch Augenschein zu
überzeugen, wie es Ihnen geht, Ihnen
die Hand zu drücken und mit Ihnen ein
Stündchen zu plaudern.«27
Mehring musste seine Frau Eva bitten,
ihm den Antwortbrief vorzulesen. Die zur
Revolution drängenden Ereignise überschlagen sich und nun auch dieser Unfall
Mehring. Mit Unterstützung von Eduard
Fuchs gelang es noch im gleichen Monat Mai in einem Leipziger Verlag es
die Marx-Biographie herauszubringen.
Schon Spätestens 1913 hatte Mehring
mit der Arbeit begonnen. Rosa Luxemburg schrieb den Abschnitt zur Nationalökonomie. Dieses letzte Hauptwerk
Mehrings sollte zum Geburtstag von
Karl Marx am 5. Mai 1918 erscheinen.
Die Freigabe durch die Militärzensurr erfolgte erst nach langwierigen Auseinandersetzungen und kleineren Korrekturen.
Im Mai und Juni 1918, parallel zur ausführlichen Vorstellung seiner Marx-Biographie in der »Leipziger Volkszeitung«
auch seine vierteilige Folge: »Die Bolschewiki und wir« zu veröffentlichen
und am 3. Juni ein »Offenes Schreiben
an die Bolschewiki« zu richten: »Es mag
anmaßend erscheinen, wenn ich, als
ein einzelner ihrer deutschen Gesinnungsgenossen, den russischen Kameraden brüderliche Grüße und herzliche
Glückwünsche sende. Aber in Wahrheit
schreibe ich Ihnen doch nicht als einzelner, sondern als Ältester der Gruppe Internationale, der Spartakusleute,
derjenigen sozialdemokratischen Richtung in Deutschland, die seit vier Jahren unter schwierigsten Umständen,
auf demselben Boden, mit derselben
Taktik kämpft, wie sie von Euch angewandt wurde, ehe die glorreiche Revolution Eure Anstrengungen mit dem
Sieg gekrönt hat. Mit neidlosen Stolz
empfinden wir den Sieg der Bolschewiki als unseren Sieg, und wir würden
uns freudig zu Euch bekennen, wenn
unsere Reihen nicht arg gelichtet wären
und viele von uns – wahrlich nicht die
Schlechtesten – hinter den Mauern des
Gefängnisses schmachteten, wie die
Genossin Rosa Luxemburg, oder hinter
den Mauern des Zuchthauses, wie der
Genosse Karl Liebknecht.«
Wenige Tage später wurde Franz
Mehring zum ordentlichen Mitglied der
Akademie für Gesellschaftswissenschaften der RFSSR für seinen wissenschaftlichen Beitrag für den Kampf um
den Sozialismus berufen. Mehring hielt
in seinem Brief auch nicht hinter dem
Berg: Beim Eintritt in die Unabhängige
Sozialdemokratische Partei Deutschland (USPD) habe ihn und die Sparta-
kusgruppe die Hoffnung bewegt, die Unabhängigen auf Revolutionskurs bringen
zu können. Diese Hoffnung habe sich
aber nicht erfüllt. Diese Einschätzung
werde aber nicht von allen Spartakusanhängern geteilt.
Mehring wurde am 7. Oktober 1918 von
der Reichskonferenz der Spartakusgruppe in Abwesenheit in die Leitung
gewählt. Diese Konferenz sprach sich
für den Ausbau der Rätebewegung, für
den Sturz der kaiserlichen Monarchie
und für eine Republik aus. Sie rief zum
bewaffneten Aufstand auf.
Am 18. Oktober 1918 nahm Franz
Mehring auf einem Krankenstuhl an
einem Empfang der sowjetischen Botschaft anlässlich der Freilassung Karl
Liebknechts aus dem Zuchthaus teil.
Die November-Revolution weitete sich
nach den Matrosenaufständen in Windeseile aus. Spartakus konnte nicht
überall sein. Rosa Luxemburg sah nach
ihrer Befreiung ihre Hauptaufgabe in
der Herausgabe der Zeitung »Die rote Fahne.« Erst am 18. November kam
sie dazu, dem kranken Franz Mehring zu
schreiben: »Das erste war: endlich mit
einer Zeitung herauszukommen. Nun
brenne ich darauf ihr Urteil zu hören, ihren Rat zur Seite zu haben. Wir waren
hoch erfreut, als uns Freund X* mitteilte,
dass wir demnächst ›Die Fahne‹ mit ihrem Namen schmücken können.«29
Wie ersichtlich hütete sich Rosa Luxemburg eine Mitarbeit in der Nerven zermürbenden Redaktionsarbeit anzubieten. Sie machte es aber möglich, bis
zum 28. 12. 1918 in der »Roten Fahne«
eine von Mehring erneut bearbeitete vierteilige Serie über seine »Militärische Schutzhaft« zu veröffentlichen.
Mehring wurde zum Mitbegründer der
Kommunistischen Partei Deutschlands.
Vom Tod seiner engsten Mitstreiter
Karl Liebknecht und Rosa Lusemburg
erfuhr Mehring im Krankenhaus am
Heckeshorn im Grunewald, 14 Tage später, von Martha Rosenbaum. Sein Vertrauter und Nachlassverwalter Eduard
Fuchs erlebte mit ihm die letzten Stunden. Seine Frau lag durfte das Krankenbett wegen einer schweren Grippeerkrankung nicht verlassen. In seinem
Vorwort zur Neuauflage der Marx-Biographie zum 1. Mai 1920 beschrieb
Fuchs die Erregung Mehrings nach Erhalt der Nachricht vom Mord. Er lief im
Zimmer stundenlang auf und ab, machte
die Fenster auf um Luft zu bekommen
und wie er den grausamen Mord verurteilte. Mehring befand sich mit einer
schweren Lungenentzündung im Krankenhaus, war schon vorher körperlich
sehr geschwächt starb an ihr und dem
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Tod seiner Freunde. Franz Mehring ist
tot, aber sein Werk gehört zum unvergänglichen Nachlass der deutschen Arbeiterbewegung aus dem zu lernen, ist
auch heute nicht zu spät.
Werner Ruch
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Vgl.Thomas Höhles Buch: Franz Mehring – Sein
Weg zum Marxismus. Es sollte von Jedem zur Hand
genommen werden, der sich mit Mehrings Entwicklung vom bürgerlichen Demokraten zum demokratischen Sozialisten zu beschäftigen beabsichtigt.
Erschienen ist es in der Schriftenreihe des Instituts
für Deutsche Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Herausgegeben von Prof. Dr. Ernst Engelberg, Verlag, Rütten und Loening Berlin, 2. Auflage 1958 nach der erste Auflage von 1956.
Vgl. »Neues Deutschland«, 3. 3, 1971: Bernd Grabowski: Er arbeitet an der »Zukunft«.
1903 versuchte der Revisionist Heinrich Braun, Georg Bernhard u. a. durch Diffamierung Mehrings die
zu erwartete Verurteilung des Revisionismus durch
den Dresdner Parteitag zu unterlaufen.
August Bebel, Aus meinem Leben, zweiter Teil,
Verlag J.H.W. Dietz Nachf. Berlin, 1. Auflage 1946,
S. 200 f.
DerTitel der Broschüre lautete: »Herr von Treitschke der Sozialistentöter und die Endziele des Liberalismus. Eine sozialistische Replik«, Leipzig. Druck
und Verlag der Genossenschaftsdruckerei, 1875.
Auszug in Thomas Höhle: Franz Mehring Sein Weg
zum Marxismus.
Vgl. Berliner Zeitung, 27. 11. 08: Im Berliner Bezirk
Steglitz wird von Bezirkspolitikern erneut die Umbenennung der Treitschkestraße gefordert; zum
Gesamtzusammenhang: Reiner Zilkenat, Histo-
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risches zum Antisemitismus in Deutschland. Zur
Entstehung und Entwicklung des »modernen« Antisemitismus im Kaiserreich, in: Horst Helas u. a.,
Neues vom Antisemitismus: Zustände in Deutschland, Berlin 2008, S. 13 ff.
Vgl. Zitat aus Franz Mehring »Kapital und Presse«,
S. 73, zitiert bei Thomas Höhle, Franz Mehring Sein
Weg zum Marxismus, S. 109.
Die erste Nummer der Zeitschrift »Die Neue Zeit«
erscheint ab 1. Januar 1883, nach fünf Jahren »Sozialistengesetz«, unter der Redaktion von Karl Kautsky als »Revue des öffentlichen und geistlichen Lebens«. Unterstützt von Friedrich Engels trug sie zur
Verbreitung des Marxismus bei. 1890 wurde »Die
Neue Zeit« offizielles Theoretisches Organ der SPD
und erscheint wöchentlich mit 2.500 Abonnenten.
Auskunft über weitere Ausgaben dieses Verlages
von Franz Mehring in: »Empor zum Licht«, herausgegeben zu 125 Jahre Verlag J.H.W.Dietz Nachf., 2006.
Vgl. Der Tagesspiegel, 30. 12. 2008.
Vgl. Aufruf »Berliner Volksblatt« v. 23. März 1890.
Das Haus »Die Volksbühne«, erbaut nach 1913, befindet sich am Rosa-Luxemburg-Platz im Bezirk Mitte zu Berlin.
Mehr zur Aufführung »Die Weber« in Berlin und der
Haltung des Kaisers vgl. Rüdiger Bernhardt, Gerhart Hauptmanns Hiddensee, Edition Ellert & Richter, 3. Auflage 2004, S. 20 f.
Zitiert nach Franz Mehring: Gesammelte Schriften
Band 11, Berlin 1961, hrsg. v. Prof. Dr. Thomas
Höhle, Dr. Hans Koch, Prof. Dr. Josef Schleifstein,
S. 563. Weitere Beiträge Mehrings zu G. Hauptmann im gleichen Band.
Vgl. Rüdiger Zimmermann, »Empor zum Licht! Hrsg.
zu 125 Jahre Verlag J.H.W. Dietz Nachf., 2006,
S. 44.
Franz Mehring, Geschichte der Deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1960, Erster Teil, Anmerkungen,
S. 697.
Die erwähnten Artikel Bernsteins erschienen danach im Januar 1898 im Dietz Verlag unter dem Ti-
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tel: »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die
Aufgaben der Sozialdemokratie.« Zuletzt erschien
dieser Buchtitel 1984 im genannten Verlag, eingeleitet von Horst Heimann. Im Katalog einer Ausstellung der Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2006 über
die Entwicklung sozialdemokratische Programmatik und Politik findet sich auf S. 8 folgende Aussage: »Seit 1896 wendet sich Eduard Bernstein gegen zentrale Aussagen der marxistischen Theorie,
die zu ›revidieren‹ seien …« Vgl. 60 Jahre Leipziger
Volkszeitung 1894–1954, Verlag Leipziger Volkszeitung mit Vorbemerkung der Redaktion.
Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29.
September 1906, Berlin 1906, S. 134–137.
Vgl. Unterrichtsplan der sozialdemokratischen
Parteischule von 1906 bis 1914 in: Dieter Fricke,
Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869 bis 1917 in zwei Bänden., Band 1,
Berlin 1987.
Vgl. Heinz Deutschland in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung,
2006/Heft III, S. 21.
Vgl. B/Arch/ SAPMO NY4445. Der junge Hermann
Duncker hatte Mehrings Bekanntschaft im Sommer
1902 in der Redaktion der »Leipziger Volkszeitung«
gemacht . Duncker teilte Käte Duncker am 2.September 1902 mit, dass Mehring ihm in einem Gespräch über seine weitere Redaktionstätigkeit gesagt habe, »ich wäre ein seltener Mensch in der
Partei, wenn ich meinte noch lernen zu können.«
Vgl. Thomas Kühnem Handbuch der Wahlen von
preußischen Abgeordneten 1867–1918, Düsseldorf, 1994.
Vgl. Franz Mehring. Gesammelte Schriften, Berlin,
Bd. 15, S. 720.
Annelies Laschitza u. Günter Radczum, Rosa
Luxemburg, Gesammelte Briefe 1914–1918, Bd. 5,
S. 377, Hrsg.: Institut für Marxismus-Leninismus
beim ZK der SED, Berlin, sechste Auflage, 1984.
Berlin – das Zentrum der deutschen Revolution
1918/1919 ?
Regionales und Biographisches zum 90. Jahrestag der Novemberrevolution
Am Ende des 19. Jahrhunderts war Berlin, die Millionenstadt, längst mit ihrem
Umland zusammengewachsen, wurde
bekanntlich aber erst 1920 zu GroßBerlin zusammengefasst.1 Unbestritten
ist Berlin politisches Zentrum Preußens
und Deutschlands, größtes Industriezentrum, zugleich größte Handwerkerund Handelsstadt, Finanzzentrum und
Verkehrsmittelpunkt. Weltweit bekannt
sind seine Wissenschafts- und Kulturinstitutionen; auch sein Charakter als eine riesige Garnisonsstadt-Kasernopolis,
jede Menge Rüstungsfabriken, Bischofssitz und Medienmittelpunkt.
Vernachlässigt, bewusst vergessen oder
übersehen wird jedoch meistens, dass
Berlin das Zentrum der deutschen Arbeiterbewegung war.
Schon 1905 hatten sich die 6 Berliner
Reichstagswahlkreis-Vereine der SPD
mit den umgebenden Kreisen TeltowBeeskow-Storkow-Charlottenburg und
Niederbarnim zum »Verband der Wahlvereine Groß-Berlins und Umgegend«
zusammengeschlossen, einer über das
spätere Groß-Berlin weit in die brandenburgische Provinz greifende Organisation. Sie zählte 1914 über 120.000 Mitglieder, die bei den Reichstagswahlen
1912 sieben der acht Wahlkreise gewinnen konnte. 45 der Berliner Stadtverordneten waren 1913 Sozialdemokraten und von den zehn preußischen
SPD-Landtagsabgeordneten kamen
sieben aus Berlin. Von etwa 560.000
organisationsfähigen Berufstätigen
gehörten mehr als 300.000 den sozialistischen Gewerkschaften an.2 Gerade
diese sozialdemokratische Dominanz
in der Haltung der Berliner Einwohnerschaft verstärkte die ohnehin traditionelle Abneigung bedeutender deutscher Bevölkerungsschichten und
einiger Kleinstaaten gegen die preußische Hauptstadt. Die fortbestehende
staatliche Eigenständigkeit besonders
der süddeutschen Bundesstaaten, der
weiterhin auch verfassungsrechtlich gestützte Partikularismus, symbolisierte
sich in der Ablehnung Berlins – dieses
»Molochs«.
Das hier nur skizzierte Bild der Hauptstadt gewann mit Ausbruch und im Verlauf des Ersten Weltkrieges schärfere
Konturen. Tendenzen verstärkten sich zu
Dominanzen. Als neuer Typ entstand in
der Ansicht vieler einfacher Menschen
der »Raffke«, der Kriegstreiber und
Kriegsgewinnler, dem der Kriegsprofit
über alles ging und der ein Schlemmerdasein führte, das der verarmten hungernden Bevölkerung Klassengegensätze emotional erlebbar machte. Und wie
selbstverständlich konzentrierte sich
die ganze zunehmende Kriegsmüdigkeit, der Unmut, auf das Kriegszentrum.
In Berlin selbst kam es nach der ersten
allgemeinen Kriegsbegeisterung bald zu
Hungerunruhen und im Juni 1916 erstmalig auch zum politischen Streik von
55.000 Rüstungsarbeitern gegen die
Verhaftung und den Prozess Karl Liebknechts.3
Hatte bis dahin das nationalistische
»Deutschland, Deutschland über alles«
der jungen deutschen Soldaten, zum
Beispiel bei den Kämpfen um das belgische Langemark, das einsame Votum Karl Liebknechts am 2. Dezember
1914 im Reichstag gegen die Kriegskredite, sein »Der Hauptfeind steht im eigenen Land!« auch in der Arbeiterschaft
übertönt, so begann sich seit 1916 eine
Antikriegsbewegung zu entwickeln, deren Träger vor allem Arbeiter in der Rüstungsindustrie, deren Agitatoren linke
Sozialdemokraten, Gewerkschaftler und
bürgerliche Pazifisten (beispielsweise
der Bund Neues Vaterland) waren.
Die bereits vor dem Krieg in der Sozialdemokratie geführten Auseinandersetzungen um den Kurs der Partei, unter anderem in der Haltung zum Massenstreik
und zur Rüstungspolitik, gewannen mit
Kriegsausbruch neue Dimensionen und
erfuhren in der Kriegskreditfrage ihre
krasse Zuspitzung.
War einerseits die Zahl der beitragszahlenden Mitglieder (bei Berücksichtigung der »Eingezogenen«) von 1914
im Agitationsbezirk Groß-Berlin mit
121.689 Mitgliedern auf 76.355 (1916)
bzw. 6.475 (1917) zurückgegangen4, so
spaltete andererseits der Übergang der
SPD-Führung mit ihrer Zustimmung zu
den Kriegskrediten und dem »Burgfrieden« die Partei zunächst politisch-ideologisch und schließlich auch organisatorisch. Für Berlin war dieser Prozeß sehr
kompliziert und durch einzelne Schritte
charakterisiert, die hier nicht im Detail
dargelegt werden müssen.5 Die markantesten waren indes: die allmähliche
Formierung der Linken mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches und
anderen zur Spartakusgruppe, ihr Verbleiben in der zentristischen Gruppierung um Georg Ledebour, Hugo Hasse,
Ernst Däumig, der Führung der USPD
und deren Reichstagsfraktion, der fortschreitende Meinungsumschwung in
den Betrieben und die Herausbildung
der Bewegung oppositioneller Gewerkschaftsfunktionäre, die als Ob- und Vertrauensleute in den Rüstungsfabriken,
den Branchenkommissionen, schließlich auch in der mittleren Ortsverwaltung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (DMV) als wichtigster Berliner
Gewerkschaftsorganisation einflußreiche Positionen gewannen. Im Sommer 1917 zählte nach der Spaltung die
Stadtverordnetenfraktion der SPD 23,
die der USPD 22 Mitglieder. Am 1. Juli
1917 hatte die USPD in Berlin 25.000,
die SPD etwa 6.500 Mitglieder. Somit
hätte sich die MSPD (so ihr Name seit
ihrer Neugründung am 28. April 1917)
in Berlin Minderheits-SPD nennen müssen. Bis zum Ausbruch der Revolution
ging die Zahl der USPD-Mitglieder auf
etwa 18 bis 20.000 zurück, die SPD hatte zu diesem Zeitpunkt etwa die gleiche
Mitgliederzahl.
Die Linken wuchsen mit den sich entwickelnden Massenstreiks nach den
russischen Revolutionen im April 19176
und im Januar 19187. Mit den Arbeiterräten entstanden neue Formen zur Leitung der Massenbewegung neben den
herkömmlichen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen – jetzt konnte
Berlin deutlich als Vorort der Antikriegsbewegung, wohl auch als zentraler Ort
der heranwachsenden Revolution gelten. Es zeigten sich bereits die Stärken, aber auch die Schwächen der Bewegung, zum Teil Spontaneität und
Massenbeteiligung, Kampfbereitschaft
und Solidarität, zugleich relative Isolation gegenüber anderen Mittelpunkten
der Bewegung, Meinungsverschiedenheiten in der Führung und Zielsetzung,
deren prinzipiellen Unterschiede zunächst durch gemeinsame Streikforderungen und die Beteiligung rechtssozialdemokratischer Funktionäre zum
Beispiel. am Groß-Berliner Arbeiterrat
Ende Januar 1918 überdeckt wurden.
Der fortdauernde Belagerungszustand,
die Inhaftierung oder auch Einberufung
von Spartakus- und USPD-Funktionären
zum Militär, das faktische Fehlen ei43
ner oppositionellen Massenpresse (die
Überbewertung der »Spartakusbriefe«
oder des »Mitteilungsblattes« ist zu beachten!) – neben dem rechtssozialdemokratischen »Vorwärts«, der seine Auflage noch steigern konnte – schränkten
die Möglichkeiten einer klärenden politischen Auseinandersetzung über Fortgang und Ziele der Bewegung stark ein.
Am 7. November schrieb der Diplomat
und Schriftsteller Harry Graf Kessler in
sein Tagebuch: »Allmähliche Inbesitznahme, Ölfleck, durch die meuternden
Matrosen von der Küste aus. Sie isolieren Berlin, das bald nur noch eine Insel
sein wird. Umgekehrt wie in Frankreich
(1789–I.M.) revolutioniert die Provinz
die Hauptstadt, die See das Land«.8 Obgleich sich Ende Oktober 1918 der »Vollzugsausschuß des Arbeiter- und Soldatenrates« in Berlin aus Revolutionären
Obleuten, leitenden USPD-Funktionären
und Spartakusführeren bildete (die Anwesenheit des Pionier-Oberleutnants
Eduard Walz bis zu seiner Verhaftung
am 3. November rechtfertigte offenbar
auch die Bezeichnung »Soldatenrat«!),
es kam zunächst nicht zu einem geschlossenen und entschlossenen Aufruf
zum revolutionären Aufstand.
Man muss allerdings in Rechnung stellen, dass sich in der Hauptstadt nach
wie vor ein machtvoller Militär- und Polizeiapparat befand, der insbesondere nach der Verhaftung von Walz von
der »revolutionären Bedrohung Berlins«
überzeugt war. So begann die Revolution mit dem Aufstand der Matrosen, »an
der See«, in Wilhelmshaven und Kiel, wo
sich Arbeiter und Soldaten mit ihnen zusammenschlossen für die Beendigung
des Krieges und revolutionäre demokratische Veränderungen9. Ihnen folgten
zahlreiche Orte an den Küsten, in Nordund Westdeutschland, in Stuttgart, und
am 7. November wird in München die erste Monarchie gestürzt und die demokratische Republik ausgerufen. Einen
»demokratischen« Staat hatte die kaiserliche Koalitionsregierung unter Max
von Baden mit SPD-Beteiligung durch
Teilparlamentarisierung am 26./27. Oktober und durch Versprechen von Frieden und demokratischen Freiheiten am
4. November angekündigt. Doch diesen
Weg zum Frieden ohne Revolution, mit
Kaiser und ohne Republik, verhinderte
die revolutionäre Massenerhebung zwischen dem 3./4. und dem 9. November,
beginnend an der Küste; der entscheidende Schlag kam jedoch aus Berlin am
9. November mit Generalstreik und bewaffneten Demonstrationen. Die Übergabe des Reichskanzleramtes von Max
von Baden an Friedrich Ebert, die Pro44
klamation der freien deutschen Republik, womit ein bürgerlich-parlamentarischer Staat gemeint war, formulierte
Philipp Scheidemann vom Reichstagsgebäude aus. Karl Liebknecht verkündete von einem Balkon des Stadtschlosses
der Hohenzollern die freie sozialistische
Republik, die sich auf die Arbeiter- und
Soldatenräte stützen sollte. Die »Berliner Republik« war ausgerufen!
Man muss erwähnen, dass sich der revolutionären Erhebung kaum Widerstand entgegenstellte, millionenfach
wurden die dem Kaiser einst geschworenen Eide gebrochen, Entscheidungsschwäche, Plan- und Tatenlosigkeit
der Militärbefehlshaber waren wesentlich für den raschen, relativ unblutigen
Sieg der tatsächlichen wie der vermeintlichen Revolutionäre, die sich in Berlin
an die Hebel der Macht gesetzt hatten,
an denen sie bereits seit Anfang Oktober teilhatten. Am 9.und 10. November
wurden sie ihnen von den alten Machthabern übergeben und mit deren funktionierenden und agierenden Teilen verbündeten sich sofort, um die Macht real
ausüben zu können. Das Bündnis Eberts
mit dem General Wilhelm Groener von
der Obersten Heeresleitung (OHL) fand
seine provinziellen und örtlichen Parallelen: führende Militärs arrangierten
sich mit den Aufständischen, ihren revolutionär gebildeten Kampforganen, den
Räten. Ähnliches vollzog sich bekanntlich auf anderen Ebenen10, betreffend
die Unternehmerorganisationen mit den
reformistischen Gewerkschaftsführern.
Berlin wird (oder bleibt) Zentrum der Revolution, der Republik, und ihrer leitenden Organe: der Reichsregierung, jetzt
Rat der Volksbeauftragten nach der Einigung der SPD- und USPD- Führungen
und der Ablehnung der Beteiligung Karl
Liebknechts – ihre Bestätigung durch
die Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldaten-Räte am 10. November im Zirkus Busch, sie bilden ihrerseits
den Vollzugsrat, vorgeblich zentrales
Macht- und Kontrollorgan der sozialistischen Republik In beiden leitenden
Revolutionsorganen zeigt sich der Kompromisscharakter des Erreichten: das
Zusammenwirken der sozialdemokratischen Parteien, die demokratische Beteiligung der Arbeiter und Soldaten an
den Machtorganen, die Einigung auf
den Aufruf »An das werktätige Volk«,
der die sozialistische Republik verkündet; dem stimmen alle Versammelten
zu. Die Spartakusgruppe lehnt jedoch
die Beteiligung am Vollzugsrat der Räte,
die Zusammenarbeit mit »Regierungssozialisten« ab, eine sektiererische Position, die erst im Februar 1919 aufgegeben
wird, als die Räte ihren ursprünglichen,
nicht unbedeutenden Rang bereits weitgehend eingebüßt haben. In der 1966
in der DDR veröffentlichten »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«,
Band 3, wurde nach langen Diskussionen des Herausgeber- und Autorenkollektivs die Fehlentscheidung beschönigend als »nicht elastisch genug«
charakterisiert .11
Der Groß-Berliner Vollzugsrat erklärte
wie der Rat der Volksbeauftragten seine Zuständigkeit für das Reich, für Preußen und für Berlin, wenn zunächst auch
nur provisorisch, bis zu dem in Aussicht
genommenen gesamtdeutschen Rätekongreß12, der das »Provisorium« beenden und ein für das Reich dauerhaft
legitimiertes leitendes Räteorgan anstelle des Berliner Rates wählen sollte.
Zunächst waren in den zentralen Revolutionsgremien Berliner Funktionäre dominant.
Die örtliche Herkunft, die Verbindung
zur Basis, zur »Hausmacht«, war für die
Reputation beider Institutionen, für ihr
Ansehen bei der Bevölkerung im ganzen
Reich von nicht zu unterschätzender
Bedeutung. Man muss daran erinnern,
dass es nicht überall als ein Vorzug
galt, ein Berliner Funktionär zu sein..
Das Ansehen der Hauptstadt hatte,
wie erwähnt, während des Krieges als
Zentrum der politischen, militärischen
und wirtschaftlichen Diktatoren nicht
gerade gewonnen. Nun waren weder
die Volksbeauftragten der SPD, Friedrich Ebert, Otto Landsberg und Philipp
Scheidemann, wie auch die der USPD,
Emil Barth, Wilhelm Dittmann und Hugo Haase als Funktionäre in der Hauptstadt ansässig; Emil Barth indessen als
einziger mit dem Berliner Proletariat
durch seine Funktion im DMV verbunden. Er wirkte zudem im Rat der Volksbeauftragten und bis zum 20. November gleichzeitig im Vollzugsrat. Ähnlich
enge Beziehungen zur Berliner Arbeiterbewegung wie Barth hatten die leitenden Genossen des Vollzugsrates; bezeichnenderweise gab es lediglich im
technischen Apparat des Vollzugsrates
Frauen. Allerdings auch hier keine gebürtigen Berliner unter dem Führungskader : der Vorsitzende Richard Müller
(USPD) war aus Thüringen gebürtig13,
der soldatische Kovorsitzende, zunächst
Hauptmann von Beerfelde (bis zum 12.
November)14, dann (bis zum 8. 1. 1919)
Brutus Molkenbuhr15 ebenso wenig aus
Berlin wie die Arbeiterräte Ernst Däumig16 und Georg Ledebour17, wie Barth
aber mit der Berliner Arbeiterbewegung
eng verbunden, beide im Zentralvorstand der USPD, Ledebour seit 1900
Mitglied des Reichstags für Berlin VI,
dazu dann aber eine ganze Phalanx aus
den etwa 100 Revolutionären Obleuten: Paul Eckert, Paul Wegmann, Paul
Neuendorf von der USPD, sowie Ernst
Jülich, Oskar Rusch, Max Maynz, Franz
Büchel18. Somit war der Vollzugsrat hinsichtlich der personellen Zusammensetzung deutlich ein Berliner Organ.
Die Soldatenräte vertraten zwar Berliner Truppenteile, waren aber durchweg
keine »Berliner«, sondern spiegelten
schon eine breitere deutsche Landsmannschaft und andere soziale Schichten wider. Aus den zunächst gewählten
Soldaten sind neben den erwähnten
Vorsitzenden wohl Eduard Walz19, Hans
Paasche20 und Max Cohen-Reuß21 sowie der »Arbeiterrat« Hermann Müller zu erwähnen, zwei prominente Mitglieder des Parteivorstandes der SPD22.
Cohen-Reuß trug mit Julius Kaliski Überlegungen zur Rätebewegung bei, die
die Mehrheit des Parteivorstandes ablehnten. Einem Vorschlag der SPD-Fraktion (Reinhold Vietz, Schriftführer des
Soldaten-Rates) folgend, bildeten die
Berliner Soldatenräte am 20. November
einen gesonderten Vorstand mit Alfred
Gottschling als Vorsitzenden, der Anfang Dezember Mitglied des Vollzugsrates wurde.23 Es war sicher auch eine Folge der von Berlinern dominierten
Zusammensetzung des Vollzugsrates,
dass sich »sehr bald…in weiten Teilen
des Reiches eine starke Mißstimmung
gegen den Berliner Vollzugsrat geltend«
machte, wie Hermann Müller in seinen
»Erinnerungen« feststellte. Er zitiert den
Soldatenrat Gerhardt mit seiner Unzufriedenheit: »Der Vollzugsrat hat nicht
Fühlung mit den Süddeutschen aufgenommen, sondern die Vertreter der
süddeutschen Kameraden mußten erst
hierher kommen«.24
Dies traf zu diesem Zeitpunkt so nicht
mehr zu, denn bereits am 15. November
bedankte sich der Vollzugsrat bei der
»Republik der Bayrischen Arbeiter- und
Soldatenräte« für deren »brüderlichen
Gruß« und forderte sie auf, »gemeinsam
alle Kräfte einzusetzen, die Errungenschaften der Revolution zu sichern und
auszubauen«25. Am 23. November nahmen schon zwei Vertreter des Arbeiterund Soldaten-Rates Badens (Emil Baer
und Johannes Krayer) – sie hatten am
21. 11. Gespräche mit den Berliner Vorsitzenden geführt – sowie drei Delegierte von etwa 400.000 Soldaten der Ostfront an der Vollzugsratssitzung teil; sie
wurden in den Rat aufgenommen. Sehr
bedeutsam war die Teilnahme von Regierungsvertretern Preußens und Bayerns (mit Kurt Eisner) als bedeutendste
deutsche Bundesstaaten an der Sitzung
des Vollzugsrates am 25. November26
sowie die Anwesenheit Kieler Delegierter am 26. 11.27, später (am 30. 11.) Bremer und Münchener28. Als weitere Vertreter der Länder wurden Max König
und Lemke für Elsaß-Lothringen (!), Fritz
Heckert und Max Heldt für Sachsen sowie der Arbeiterrat Heinrich Schäfer für
die besetzten linksrheinischen Gebiete
Mitglieder des Vollzugsrates, wobei Heckert (Spartakusbund) und Heldt (SPD)
ihre Arbeit im Rat nicht aufnahmen29.
Schließlich beschloss der Vollzugsrat
nach der Soldatenratskonferenz am
1. 12. 18 in Bad Ems seine Erweiterung
um fünf Delegierte der Soldatenräte der
im Westen befindlichen Truppen; dann
traten noch drei Abgeordnete des Zentralrats der Marine (53er Ausschuß) hinzu, so dass der Vollzugsrat am Vorabend
des Rätekongresses 45 Mitglieder zählte, die mehrheitlich durch den Zutritt der
Soldatenräte der SPD folgten und der
deutlich über seine ursprüngliche Zentriertheit auf Berlin hinausgewachsen
war. Er entsprach damit der politischen
Zusammensetzung vieler deutscher
Räte. Trotz anfänglichem Paritätsprinzip
SPD-USPD, was eigentlich dem Räteprinzip widersprach, hatte die SPD bald
vielerorten die Mehrheit errungen, zumal längst nicht überall USPD- oder gar
Spartakusorganisationen existierten.30
Entscheidend für die politische Rolle
des Vollzugsrates wie auch des Rates
der Volksbeauftragten war jedoch seine Politik, seine Beschlüsse und sein
Vermögen, diese zu verbreiten und
zu realisieren. Erst daran läßt sich die
Stellung Berlins im Revolutionsprozeß
festmachen. Gerhard Engel hat in seinem Aufsatz über den Vollzugsrat als
zentrales Räteorgan31 darauf hingewiesen, daß der Vollzugsrat entsprechend
seinem Anspruch »hauptstadtübergreifende Probleme« behandelte, also Berlin als Zentrum der revolutionären Veränderungen zu respektieren war: so die
Verlautbarung über die exekutive Gewalt gerichtet auf Reich, Preußen und
Hauptstadt. Aber der Aufruf war lediglich an die Arbeiter und Soldaten GroßBerlins mitgeteilt; der Aufruf zur Bildung
der Roten Garde, die Wahlrichtlinien für
die Arbeiterräte, die Ressorts des Vollzugsrates – alles nur auf Berlin zugeschnitten. Andererseits schickte man
Kuriere ins Land, bestimmte mindestens
formal Bildung und Zusammensetzung
der Preußischen Regierung, die Überprüfung der preußischen Regional- und
Lokalbehörden. Schließlich gab es auch
Ansätze, direkt Reichskompetenz in Anspruch zu nehmen, zum Beispiel Berlin
als europäische Hauptstadt zu behaupten: so der Aufruf an die Völker Frankreichs, Italiens, Englands und Amerikas
als Zeichen der Berliner als Sprecher
deutschen Räte. Die Grundsätze revolutionärer Politik ausgearbeitet und damit
die Rolle Berlins deutlich gemacht hat
Ernst Däumig mit dem Entwurf seiner
Leitsätze mit dem Kernpunkt: »proletarische Demokratie« gegen die »bürgerlich-demokratische Republik« über die
Wahl einer Nationalversammlung; diese Leitsätze wurden am 16./17. November im Vollzugsrat diskutiert und mit
12 : 10 Stimmen abgelehnt. Schließlich
entsprach der Aufruf des Vollzugsrates
zur gesamtdeutschen Delegiertenkonferenz am 23. 11. seiner zentralen Rolle,
die Entscheidung aber war verschoben.
Dennoch: obgleich es keine umfassende
Orientierung oder gar Organisation der
Revolutionsbewegung, der Räte, gab,
waren die Unterschiede in den Forderungen in den verschiedenen Zentren
der Revolution bei ihrem Ausbruch in
den Hauptpunkten identisch oder ähnlich formuliert: schleunigste Herbeiführung des Friedens, Beseitigung des
monarchistischen Regimes, eine freie
demokratische Republik, Brot, demokratische Rechte und Freiheiten in einer
sozialistischen Gesellschaft. Allgemein
war auch die Illusion, mit dem 9./10
November sei bereits die sozialistische
Republik errungen und Träger der politischen Macht seien die Räte. Gefordert
wurde vielfach die Verbindung zur russischen Sowjetrepublik32. Man braucht
nicht zu wiederholen, dass die Auseinandersetzungen sehr bald um die Weiterentwicklung des revolutionären Prozesses entbrannten, eigentlich waren
sie nur kurzzeitig bei den Kompromissen um den 9./10 11. überdeckt. Einerseits die um den Rat der Volksbeauftragten, also die Führung der SPD und
Teilen der USPD formierten Kräfte, der
alte Staatsapparat, die OHL (Wilhelm
Groener/Paul von Hindenburg) und der
überwiegende Teil des Militärs, Gewerkschaftsführer und Unternehmerverbände in Industrie und Landwirtschaft (Carl
Legien – Hugo Stinnes), die Kirchen,
Schulen und Medien, die Justiz, Bürgerräte und die neu gebildeten bürgerlichen Parteien, verbunden und verbündet mit der Regierungsforderung nach
einer Nationalversammlung, die nach
allgemeinem, gleichen und geheimem
Wahlrecht, auch für Frauen, die künftige Gestaltung des Reiches als bürgerlich-demokratische Republik zu bestimmen hätte. Andererseits die auf
eine Weiterführung der Revolution bis
zur Errichtung einer sozialistischen Re45
publik, der Rätemacht, unterschiedlich
als eine »sozialistische« oder »proletarische« Demokratie bezeichnet, teilweise als Synonym auch als »Diktatur des
Proletariats« formuliert, orientierenden
Kräfte: die linke USPD, in Berlin also
USPD-Funktionäre des Vollzugsrates,
die Mehrheit der revolutionären Obleute
und die Spartakusführer, die sich zwar
am 11. November zum Bund, aber noch
nicht zur selbständigen Partei zusammenfanden, wie sich zeigte, in der Berliner Arbeiterschaft unterstützt, jedoch
nicht mehrheitlich.
Die Gegenrevolution konzentrierte
sich von Anfang an auf Berlin, bereitete die militärische Besetzung der Stadt
vor und organisierte die konterrevolutionäre Propaganda gegen die Räte,
bis zur Rufmordhetze gegen Karl Liebknecht bereits Ende November. In der
Provinz machte die bürgerliche Presse
zudem Stimmung gegen das »rote« Berlin: »Berlin ist von allen guten Geistern
verlassen…Liebknecht ist der Mann
von morgen, wenn ihn nicht andere
Mächte in Fesseln schlagen als das
Kollegium der sechs Männer… Berlin
wird das ganze Deutschland in den Abgrund reißen, wenn das Reich in seinen
Einzelstämmen nicht die Entschlußkraft findet, die einstige Reichshauptstadt abzuschütteln und sein Schicksal selbst zu bestimmen. Dort locken
die Sirenen des Bolschewismus.. In einer solchen Stunde heißt es: Rette sich
wer kann! Die Augen auf …und los von
Berlin«33.
Diese Losung kulminierte in den Bestrebungen nach einer »Republik GroßThüringen« nach dem Beispiel der Rheinisch-westfälischen Separatisten und
ähnlicher Machenschaften in Bayern
und Oberschlesien34. Obgleich Ebert
der Hessischen Regierung bereits am
21. 11. auf ihre Befürchtungen über »die
Entwicklung in Berlin« geantwortet hatte, dass »nicht nach der Diktatur einer
Stadt« gestrebt werde35 und dies auf
der Reichskonferenz der Ministerpräsidenten der deutschen Staaten am
25. 11. in Berlin neuerlich unterstrichen
hatte36, es wurden weiter die Anti-Berlin-Losungen als Teil der konterrevolutionären Propaganda verbreitet. Und die
Konferenz der süddeutschen Staaten
am 28./29. November erklärte: »Die
Verhältnisse in Berlin …bedrohen auch
die Einheit des Deutschen Reiches«37.
Wir können den Hass der Konterrevolution gegen das »rote« Berlin auch positiv
wenden: man erkennt in der Hauptstadt
das Zentrum der Revolution.
Am gleichen Tag, als der zitierte Artikel
in Eisenach erschien, am 6. Dezember,
46
kam es in Berlin zum ersten blutigen Zusammenstoß zwischen Anhängern der
Revolution und Militärs in der Chausseestraße. Es war noch nicht eine Regierungsaktion, sondern ein unprovozierter
militärischer Gewaltakt, ein Vorbote.
Am 10. Dezember begrüßten Ebert und
der Magistrat am Brandenburger Tor die
heimkehrenden, »im Felde unbesiegten«
Truppen. Über die Pläne, die die OHL
mit Zustimmung Eberts mit dem Militäreinmarsch der 10 Divisionen in Berlin
nach diesem Tag verfolgte, hat sich General Groener später deutlich geäußert:
»Das nächste Ziel« war, »in Berlin die Gewalt den Arbeiter- und Soldatenräten zu
entreißen« und »eine feste Regierung in
Berlin aufzustellen«38. Bevor es aber zur
Militäraktion, zum »Krieg gegen die Revolution« 39, kam, fand im Preußischen
Abgeordnetenhaus der von allen Seiten mit Spannung erwartete 1. Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte
vom 16.–20. 12. statt, ein klares Zeichen für die Akzeptanz der Hauptstadt
als Zentrum der Räte, die immer noch
zehntausende Demonstranten mobilisieren konnten. Der Rätekongreß öffnete jedoch mit seinem mehrheitlichen
Beschluß über die Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919 den Weg
nach Weimar. War der Rätekongreß ein
Beispiel für ein »sozialistisches« Parlament? Bekanntlich schloß sein Wahlreglement alle Bürger von der Wahl aus,
die Wahl sollte aus den »bestehenden
Arbeiter- und Soldaten- Räten« erfolgen;
so kamen selbst die Vorkämpfer für eine
Rätemacht, Luxemburg und Liebknecht,
nicht zu einem Mandat.
Der offene Angriff auf das revolutionäre Berlin begann mit den so genannten Weihnachtskämpfen, dem Bombardement der kaiserlichen Artillerie
auf Schloß und Marstall, Symbole des
Königs- und Kaiserreichs, die von der
Volksmarinedivision allerdings ohne jeden Beschuss besetzt worden waren.
Das Ergebnis war eher dürftig für die
Angreifer, führte schließlich zum Austritt
der rechten USPD-Vertreter aus der Regierung, die nun mit Noske, dem mit der
OHL und den Freikorps zum brutalen
Vorgehen entschlossenen »Bluthund«,
seine reine SPD-Zusammensetzung erhielt und die alleinige Verantwortung
übernahm.40
Die Gründung der KPD am Jahresende
im Preußischen Abgeordnetenhaus unterstrich erneut die zentrale Rolle Berlins bei der Herausbildung und schließlichen Formierung einer alternativen
Linkspartei. Sie war sicher ein wichtiges Ergebnis der Revolution, jedoch
nicht das wichtigste und historisch be-
deutsamste, wie wir in DDR-Publikationen immer wieder lesen konnten.41
Bekanntlich gab es Widersprüche zwischen der Minderheit um Rosa Luxemburg, die nach dem Rätekongreß (am
23. 12. in der »Roten Fahne«) auf einen
Kompromiss, nämlich die Beteiligung an
den Wahlen zur Nationalversammlung
und gleichzeitigem Festhalten am Rätesystem orientierte, und dagegen der unrealistisch, zum Teil anarchistisch votierenden Mehrheit, die weiter an der
Illusion von der unmittelbaren Errichtung der Rätemacht, der Diktatur des
Proletariats, festhielt.
Es ist hier nicht der Platz, die theoretischen und parteipolitischen Diskrepanzen der jungen Partei zu erörtern,
auch nicht beispielsweise die 1966 in
der »Chronik zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«42 getroffene
Feststellung zu erörtern, die Kämpfe
in der Revolution hätten bewiesen, daß
es in Deutschland unmöglich war, »in
einem Sprung zur Diktatur des Proletariats« zu gelangen. Konnte das überhaupt
das aktuelle Ziel sein ?
Eine Diskussion wäre nötig über »Rätemacht und Diktatur des Proletariats«,
die noch 1983 im »Wörterbuch der
Geschichte« als »die bis dahin umfassendste Demokratie« bezeichnet wird.43
Wichtig in unserem Zusammenhang ist
es festzuhalten, dass es nicht gelang,
mit dem fortgeschrittenen Teil der Berliner Arbeiterschaft, vertreten durch die
Revolutionären Obleute, zu einem wie
auch immer gearteten festen Zusammenschluss zu kommen und damit weiteren größeren Einfluss in Richtung einer Rätedemokratie zu gewinnen. Die
umstrittene Erklärung des »RevolutionsAusschusses« vom 6. Januar 1919 über
die Absetzung der Regierung Ebert war
dazu mindestens ungeeignet.
Andererseits muss man feststellen,
dass die nachfolgenden Kämpfe, fälschlich »Spartakusaufstand« genannt, die
Massen der Berliner Arbeiter, ihre Obleute, den Berliner USPD-Vorstand und
die KPD in der Abwehr des weißen Terrors zusammenführten, der in der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl
Liebknechts kulminierte.
Der erste offene brutale Schlag der
Konterrevolution richtete sich also gegen das Berliner Proletariat, und wir haben versucht an einigen Schnittpunkten
zu zeigen, warum dies der Fall war. Es
folgten bekanntlich sehr bald weitere
Militäraktionen gegen revolutionäre
Zentren, Räterepubliken zumal, wie sie
sich in Bremen (10. 1.–4. 2. 1919) und
dann in München (13. 4.–3. 5. 1919)
konstituiert hatten, gegen die Arbei-
ter Mitteldeutschlands und im Ruhrgebiet. Waren dies Beispiele für eine »sozialistische Demokratie«? Auch in Berlin
war man sich seiner Sache noch immer
nicht sicher. Schon während des Rätekongresses, am 17. Dezember 1918, hatte der »Vorwärts« vorausschauend geschrieben, dass man in einer Stadt wie
Berlin, wo man vor Demonstrationen
und Angriffen der Massen nicht sicher
sei, das »höchste Symbol der Demokratie«, die Nationalversammlung, nicht tagen lassen könne, man sollte in Kassel,
Erfurt oder in einem anderen Ort zusammenkommen.44
Ende Dezember 1918 äußerte sich Ebert
zu diesem Problem: » Die Sicherheit der
Nationalversammlung« in Berlin zu gewährleisten sei einerseits »sehr schwierig, selbst wenn man nicht vor einer
starken militärischen Sicherung zurückschrecken würde«, auch die wachsenden Anti-Berlin-Stimmungen und die Gefahr des Separatismus, die Beziehungen
zu den Bundesstaaten legten den Gedanken nahe, die Nationalversammlung
»näher nach dem Herzen Deutschlands«
zu verlegen. Am 14. Januar 1919 meinte er: »Man sollte den Erfolg gegenüber
den Unabhängigen und Spartakisten
nicht überschätzen. Eine absolute Sicherheit läßt sich in einer solchen Riesenstadt wie Berlin nicht schaffen.«45
Scheidemann zog ebenfalls in Betracht,
»dass man in Berlin jeden Tag Hunderttausende von Menschen auf die Beine
bringen kann, die sich wie Mauern um
die Gebäude legen. Dagegen schützen
alle militärischen Machtmittel gar nicht.
Man kann auf diese Menschenmassen
nicht einfach schießen«.46 (Das konnte man weiterhin, so auch in Berlin im
März 1919). Weimar als die »Stadt Goethes« sei »ein gutes Symbol für die junge deutsche Republik«47. Weimar sei
auch aus Gründen des »Einheitsgedankens« und der »Zusammengehörigkeit
des Reiches« auszuwählen; wenn man
den »Geist von Weimar« mit dem Aufbau eines »neuen Deutschen Reiches
verbindet«, so würde das in der ganzen
Welt »angenehm empfunden werden«,
meinte Ebert48.
Es traten noch weitere Überlegungen
hinzu: der USA-Präsident W. Wilson
würde zustimmen, man könne einen
»besseren Frieden« erhalten49, und
schließlich fasste die Regierung am
Tag nach den Wahlen zur Nationalversammlung den Beschluss, Weimar als
ihren Tagungsort zu bestimmen.50 »Die
Konstituante soll die revolutionären
Zustände beenden und dazu muss
sie absolut sichergestellt sein«, hatte
der Unterstaatssekretär und Chef der
Reichskanzlei, Curt Baake, bereits am
14. 1. gesagt: »In Berlin ist das aber
nicht möglich … Hat die Konstituante
erst einmal eine legale Gewalt geschaffen, so werden wir mit Berlin sehr viel
eher fertig werden, denn diese legale
Gewalt kann viel entschlossener, unbekümmerter und rücksichtsloser vorgehen als die gegenwärtige Regierung«.
Dann könne man auch bestimmen,
»dass Berlin das Zentrum von Deutschland bleibt«.51 Berlin also erst nach der
Liquidation der Revolution wieder das
Zentrum. Es war, wie wir gesehen haben, eines der Zentren der deutschen
Revolution, der Ursprung der Republik lag hier, aber Berlin wurde nicht
ihr Namensgeber, sondern die Nationalversammlung im Nationaltheater,
das bürgerliche Weimar, gab dem aus
der Revolution geborenen Staat für die
nächsten 14 Jahre seinen Namen.
Professor Dr. Ingo Materna
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Vgl. allgemein: Geschichte Berlins, hg. von Wolfgang Ribbe, Berlin 2002 (Forschungen der Historischen Kommission zu Berlin, 2 Bde.), hier Bd. 2.
Vgl. immer noch am ausführlichsten im Detail:
Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung, hg. von der Bezirksleitung der SED,
Kommission zur Erforschung der örtlichen Arbeiterbewegung. Bd. 1. Von den Anfängen bis 1917,
Berlin 1987.
Vgl. auch die Einleitung zu: Dokumente aus geheimen Archiven. Bd. 4, 1914–1918. Berichte des
Berliner Polizeipräsidenten zur Stimmung und Lage der Bevölkerung in Berlin, bearb. von Ingo Materna und Hans-Joachim Schreckenbach unter
Mitarbeit von Bärbel Holtz, Weimar 1987 (im Folgenden zit. als: Berichte 1914–1918).
Dieter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869 bis 1917, 2 Bde,
Leipzig 1987, Bd. 1, S. 377.
Vgl. die Literatur in: Groß-Berliner Arbeiter- und
Soldatenräte in der Revolution 1918/19, Dokumente der Vollversammlungen und des Vollzugsrates. Vom Ausbruch der Revolution bis zum
1. Reichsrätekongreß, hg. von Gerhard Engel, Bärbel Holtz und Ingo Materna, Berlin 1993, S. XVIII, Anm. 40 Im Folgenden (zit. als: Groß-Berliner
A.- und S.-Räte, 1.)
Am ausführlichsten: Heinrich Scheel, Der Aprilstreik 1917 in Berlin, in: Revolutionäre Ereignisse
und Probleme in Deutschland während der Periode der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution
1917/1918, hg. von Albert Schreiner, Berlin 1957,
S. 1–88.
Walter Bartel, Der Januarstreik 1918 in Berlin, in:
ebd., S. 141–184.
Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918–1937, Frankfurt a.M. 1961, S. 18; zit. nach Heinrich A. Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten
deutschen Demokratie, München 1993, S. 29.
Vgl. Ernst-Heinrich Schmidt, Heimatheer und Revolution 1918. Die militärischen Gewalten im Heimatgebiet zwischen Oktoberreform und Novemberrevolution, Stuttgart 1981, S. 204 ff.
Vgl. ebd., S. 433 ff.
Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung,
8 Bde., Bd. 3, Berlin 1966, S. 108.
Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S.XXVI, XXVIII, 34.
Jetzt erstmalig eine präzise Biographie von Ralf
Hoffrogge, Richard Müller. Der Mann hinter der
Novemberrevolution, Dietz Berlin, 2008; vgl. auch
ders., Räteaktivisten in der USPD: Richard Müller und die Revolutionären Obleute, in: JahrBuch
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für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Jan. 2008, H. 1, S. 36–45. Im übrigen
vgl. die biographischen Nachschlagewerke sowie
auch in : Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, passim.
Nachzutragen wäre für Ebert: Walter Mühlhausen,
Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der
Weimarer Republik, Bonn 2006; zu Hugo Haase:
Dieter Engelmann u. Horst Naumann, Hugo Haase, Lebensweg und politisches Vermächtnis eines
streitbaren Sozialisten, Berlin 1999.
Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S. 20, Anm. 12.
Ebd., S. 16, Anm. 7.
Ebd., S. 5 (mit Lit.).
Ebd., S. 8 (mit Lit.).
Zu allen Arbeiterräten s. Ebd., S. 22 ff. Zu Franz Büchel (S. 222, Anm. 19) ergänzend s. ANLAGE (1).
Zu E. Walz (Ebd., S. 16) s. ausführlich in den ANLAGEN (4).
Zu H. Paasche (Ebd. S. 23) ist nachzutragen:
Werner Lange, Hans Paasches Forschungsreise ins
innerste Deutschland. Eine Biographie. Mit einem
Geleitwort von Helga Paasche, Bremen 1995.
Ebd., S. 34, s. ANLAGEN (2).
Vgl. Hermann Müller, Die Novemberrevolution. Erinnerungen, Berlin 1928, S. 104 f.
Ausführlich über A. Gottschling in ANLAGEN (3).
Vgl. auch Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S. XXXIII.
Hermann Müller, a. a. O, S. 106. Wörtlich übereinstimmend mit Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1,
S. 414 (Sitzung des VR am 28. 11. 1918).
Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S. 66 f.
Ebd., S. 234 ff., 316 ff., 355.
Ebd., S. 357, 374.
Ebd., S. 469, S. 480 f.
Ebd., S. XXXVI.
Ebd., S. XXXVII.
Gerhard Engel, Der Vollzugsrat der Arbeiter- und
Soldatenräte Groß-Berlins als zentrales Räteorgan
(Über Zentralisation und Dezentralisation in der
deutschen Rätebewegung), in: 75 Jahre deutsche
Novemberrevolution. Schriftenreihe der Marx/Engels-Stiftung, Bd. 21, Köln 1994, S. 151–161.
Vgl. den Aufruf der Vollversammlung der Berliner
Räte am 10. 11. 1918, in : Groß-Berliner A.- und S.Räte, 1, S. 24 f. Es wäre eine spezielle Untersuchung zu dieser Problematik angebracht.
Erfurter Allgemeiner Anzeiger v. 6. 12. 1918, zit in:
Gerhard Schulze, Die Novemberrevolution 1918 in
Thüringen, Erfurt 1976, S, 136.
Vgl. die knappe Übersicht bei: Gerhard A. Ritter u. Susanne Miller, Die deutsche Revolution
1918/1919. Dokumente, Frankfurt a.M. 1983,
S. 416 ff.
Ebd., S. 399.
Ebd., S. 394 ff., ausführlich in: Rat der Volksbeauftragten 1918/1919, bearb v.. Susanne Miller unter
Mitwirkung von H. Potthoff. Eingel. v. E. Matthias,
2 T. Düsseldorf 1969, T. 1, S. 149 ff.
Ritter/Miller, a. a. O, S. 401.
Ebd., S. 136, 137.
Die Rote Fahne, 25. 12. 1918.
Vgl. Wolfram Wette, Gustav Noske. Eine politische
Biographie, Düsseldorf 1987.
Vgl. z. b. Lothar Berthold u. Helmut Neef, Militarismus und Opportunismus gegen die Novemberrevolution, 2. Aufl., Berlin 1978, S. 109: Die Gründung
der KPD »wurde zum wichtigsten Ereignis der Novemberrevolution«.
Chronik zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, T. II, Berlin 1966, S. 53.
Wörterbuch der Geschichte, 2. Aufl. Berlin 1983,
S. 237, 238. Es wird der »demokratische Charakter« der Diktatur des Proletariats ausdrücklich unterstrichen.
Vorwärts, 17. 12. 1918 (M.)
Die Regierung der Volksbeauftragten, T. 2, a. a. O,
S. 225., auch S. 206 f.
Ebd., S. 227.
Ebd., S. 228 f.
Ebd., S. 225.
So Staatssekretär Graf Rantzau, ebd., S. 228.
Ebd., S. 283.
Ebd., S. 230 f. – Im weiteren vgl. J. S. Drabkin, Die
Entstehung der Weimarer Republik, Berlin 1983,
S. 7 ff.
47
Anlagen:
(1) Ergänzung zu Franz Büchel (vgl.
Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte, a. a. O, 1, S. 222 Anm. 19): geb.
in Berlin 17. 4. 1890, als Metallarbeiter seit 1917 zum Kreis der sozialdemokratischen Betriebsobleute gehörig;
1919/20 aktiv gegen die USPD-Regierung in Gotha; Juni 1920 Kandidat für
die Reichstagswahlen; 1921–1923 sozialpolitischer Leiter der Deutschen
Werke in Kassel; 1924–1933 2. Bezirksleiter der SPD in Kassel-Bettenhausen;
nach 1933 politisch verfolgt, zeitweilig 1933/34 und 1944/45 inhaftiert.
1945 zunächst Vors. des SPD-Ortsvereins Erkner und Mitgl. des Bez.-Vorstandes der SPD Brandenburg, zeitweilig 2. Vors. des SPD-Prov.Verbandes
Brandenburg; Sept. 1945 Kritik an der
Politik in der SBZ (Vergewaltigungen
und Plünderungen, Oder-Neiße-Linie),
17. 10. 1945 Verhaftung durch das NKWD, bis 19. 1. 1950 Lagerhaft u. a. in
Sachsenhausen und Buchenwald; nach
Entlassung Vors. des »Bundes der Opfer
der Sowjet-KZ« (BOS) in der BRD; gest.
19. 9. 1970.
(Ergänzungen mitgeteilt durch Andreas
Herbst, Berlin).
(2) Ergänzung zu Max Cohen-Reuß (vgl.
Groß-Berliner A.- und S.-Räte, a. a. O, 1,
S. 34, Anm. 3. Briefe an den Berliner Senatsdirektor Hans Emil Hirschfeld 1960,
jetzt im Landesarchiv Berlin E. Rep.
200 – 15,3 aus Neuilly sur – Seine 43
Rue de la Ferme 24. 2. 1960, über 80jährig): bis 1933 Mitgl. des von Josephson
gegründeten Angestelltenvereins in Berlin; in der Emigration für die Force Ouvière journalistisch tätig; Kontakte zu
den bekannten Sozialdemokraten Paul
Hertz und Siegfried Aufhäuser.
(3) Neues zur Biographie von Alfred
Gottschling (bisher ohne Vornamen
und Daten in Groß-Berliner A.- und S.Räte, a. a. O., 1, S. XXXIII u. a.; sicher
auch mit dem S. 30 erwähnten Soldaten Gottstein identisch): Alfred Gottschling (16. 9. 1879 –19. 7. 1952) war
vom 21. 11. 1918 bis 7. 12. 1919 Vorsitzender der Berliner Soldatenräte, genauer:
ihres ständigen Büros, das Verbindung
zwischen dem »Großen Soldatenrat« und
dem Vollzugsrat der Groß-Berliner A.und S.-Räte halten sollte (ebd., S. 231,
Anm.3). Über seine Stellung entzündete sich ein Streit in der Vollversammlung
der S.-Räte, da er bereits eine bezahlte Stellung als Kurier beim Vollzugsrat
(ebd., S. 412, Anm. 1) hatte. Seine politische Position vertrat A. G. in der Voll48
versammlung der S.-Räte am 30. 11., in
der er sich für eine sozialistische Republik und zugleich für eine (spätere) Nationalversammlung einsetzte, ähnlich wie
führende USPD-Funktionäre auch (ebd.,
S. 500, 502; vgl. »Die Freiheit« Nr. 30 v.
1. 12. 1918 – mit Foto des Präsidiums der
Berliner S. Räte und Auszügen aus dem
Referat A. G.: gegen die »Konjunktursozialisten«, die »Gefahr von rechts«, »für die
sozialistische Republik und die soziale
Gesellschaftsordnung«). Am 5. 12. wurde er in den »Vollzugsausschuß« (das ist
der Vollzugsrat) gewählt (ebd., S. 609,
658). Damit war er in die »Alltagsarbeit«
des Vollzugsrates eingebunden (ebd.,
S. 765, 778 f., 784 f., 802 f.), trat mit einer Warnung vor konterrevolutionären
Unteroffizieren und Offizieren hervor
(S. 665) und setzte sich für die Teilnahme der russischen Sowjetdelegation am
Reichsrätekongress ein; er lehnte den
pompösen Einmarsch der Fronttruppen
am 10. 12. ab (S. 717). Schließlich verlangte er Rechenschaft von der Regierung über die Verwendung von Finanzen
vor dem Rätekongreß am 18. 12., an dem
er vermutlich als Mitglied des Vollzugsrates teilnahm (S. 893). Am 20. 12. 1918
erklärte er im Vollzugsrat: »Auch ich habe morgen zu tun, da ich meine Entlassung durchführen und nach Hause fahren will.« Er übergab seine Unterlagen
an den Groß-Berliner Ausschuß und den
Soldatenrat (S. 905).
Alfred Gottschlings »Zuhause« war Gotha, wo er seit etwa 1910 in der Sozialdemokratie wirkte. 1916 trat er in der
oppositionellen sozialdemokratischen
»Freien Jugend« Gotha auf, sprach im
Werther´schen Gasthof, auch im Gasthaus »Zum Mohren« (wo im April 1917
der Gründungskongreß der USPD stattfand) u. a. über »Gesetzesbestimmungen
und Gerichts- Angelegenheiten«. Vor
dem 1. Mai 1918 wurde er zum Militär
eingezogen, »der bis dahin ein eifriger
Agitator (gegen den Krieg) in der Waggonfabrik war« (nach Ewald Buchsbaum,
Die Linksentwicklung der Gothaer Arbeiterbewegung von 1914 bis 1920, Diss.
Halle 1965, auch für das Folgende).
Am 11. Januar hielt A. G., »der kurz vorher aus Berlin zurückgekehrt war«, am
Abend im Theatergebäude ein mehrstündiges Referat zum Thema »Die Waffen
der Revolution«. Im »Gothaer Volksblatt«
(29. 1. 1919) wird von einer Versammlung
berichtet, auf der A.G. den Gegensatz
zwischen den Rechten und Linken in der
Gothaer Arbeiterbewegung diskutierte
und sich für »die Einigung des Proletariats über die Köpfe der Führer hinweg«
einsetzte. »Da Alfred Gottschling über
bedeutende rhetorische Fähigkeiten verfügte, dadurch Zustimmung bei vielen
Werktätigen fand«, verstand es A.G. »die
Gothaer Arbeiter irrezuführen« (meint
E. Buchsbaum, a. a. O, S. 142 völlig unbegründet!). Dagegen erklärte Wilhelm
Bock auf dem Parteitag der USPD in Berlin (2.–6. 3. 1919): »G. hat in der Partei
die spartakistischen Tendenzen vertreten«. Bei der Berichterstattung über diesen Parteitag am 4./ 5. 5. 1919 in Gotha
erklärte sich A.G. erneut für das Rätesystem. Auf dem Parteitag selbst sagte
er (USPD. Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages vom 2. bis 6.März 1919 in Berlin,
Berlin (1919), S. 180), ohne die Diktatur
des Proletariats und die »Verwurzelung
des Rätesystems gäbe es keine sozialistische Gesellschaftsordnung«. Außerdem bezog er sich auf einen »Vorgang
vor 8 Jahren«, wo es eine gerichtliche
Auseinandersetzung mit einem gewissen Rollwagen gegeben habe, offenbar
über ein »Parteiangelegenheit« (S. 190
des Protokolls).
Nach dem Kapp-Putsch im März 1920
in Gotha wegen »Hochverrats« angeklagt, soll A. G. durch »einflußreiche Gothaer« gerettet worden sein .(Diese Mitteilung und alles Folgende verdanke ich
Herrn Ingo Fuhrmann, Enkel Alfred Gottschlings, Düsseldorf, der durch seine
Kenntnisse den Weg zum Lebenslauf seines Großvaters ermöglichte). A. G. hat
sich dann auch literarisch betätigt, sein
Theaterstück »Menschen der Arbeit«,
ein »soziales Drama in 3 Akten« wurde
im Dezember 1930 in Ruhla (wo er vermutlich derzeit lebte) aufgeführt (Vgl. Eisenacher Tagespost 51. Jg., Nr. 295 v.
17. 12. 1930). Offenbar hat seine Ehefrau
Martha (gest. 1961 in Gotha) einige seiner Gedichte »Aus der Schublade eines
deutschen Arbeiters« aufgezeichnet, die
erhalten sind. Es gibt eine Gipsbüste,
gefertigt von einem Freund. Schließlich
hatte A.G. während der NS-Herrschaft
»wahrscheinlich … auch zu (dem kommunistischen Lehrer und Widerstandskämpfer-I.M.) Neubauer Kontakt, als
dieser in Ruhla unterrichtete«. – A.G. hat
dort einen Handwerksbetrieb mit mehreren Gesellen geführt; da ihn »politische
Diskussionen in den Gasthäusern« mehr
anzogen als das Handwerk, »ging er konsequent in Konkurs«. Nach dem 2. Weltkrieg malte – kopierte – er für »russische
Offiziere, die bei ihm ständige Gäste waren, Stalin-Bilder und schrieb weiter Theaterstücke, unterhielt sogar ein eigenes
Theater«.
(4) Eduard Walz
Obgleich fast in jeder Publikation
über die Revolution 1918/19 der Name Eduard Walz genannt wird, war bis
zur Publikation »Groß-Berliner A.- und
S.-Räte«, a. a. O, 1) über seine Person
nichts bekannt. Hier (S. 16) konnten
erstmalig, gestützt auf einige Briefe von
E. W. an das Entschädigungsamt Berlin
und dessen Leiter Hans Emil Hirschfeld
(im Landesarchiv Berlin E Rep. 200-18,
Bd, 3), einige Daten mitgeteilt werden.
Die folgende biographische Skizze berücksichtigt weitere Quellen, die durch
neuerliche Studien in oben genannten
Akten und Nachforschungen von Andreas Herbst in der Landesversicherungsanstalt Berlin, Entschädigungsbehörde
(Reg. Nr. 173.312 – Devisen Ausländer)
vervollständigt werden konnten. Wichtigstes Dokument ist ein von E.W. maschinenschriftlich verfaßter Lebenslauf (ohne Datum, offenbar Ende der
1950er Jahre in Paris für den Antrag
auf Entschädigung für in der NS-Herrschaft Erlittenes), der allerdings einer
quellenkritischen Bearbeitung bedarf,
da er die für unseren Zusammenhang
wichtigste Periode, nämlich die Zeit vor
und während der Revolution 1918, ausläßt, in unserer Skizze nach Möglichkeit
ergänzt wird.
Die Biographie Eduard Walz: Eduard
Paul Walz wurde am 22. 1. 1895 in München als Sohn des Kaiserlichen Marineoberingenieurs Ernst Walz (1846–
1918) und der Elisabeth W., geb. Schack
(1864–1910) geboren, besuchte die
Volksschule in Starnberg, das Gymnasium in Sigmaringen und trat, angeblich ohne Mittel für ein Studium, am
22. 11. 1913 als Fahnenjunker in das Füselierregiment 40 in Rastatt ein, am
18. 7. 1914 zum Fähnrich, am 8. 10. 1914
zum Leutnant, am 20. 6. 1918 zum Oberleutnant befördert; nach Teilnahme am
Krieg 1914–1918 als Pionieroffizier,
schied er am 6. 10. 1918 aus dem Heeresdienst (schweres Nervenleiden). Etwa zu dieser Zeit nahm er Kontakt zu
Georg Ledebour in Berlin auf, lernte
Emil Barth, Ernst Däumig und Richard
Müller kennen, die alle Vertrauen zum
ihm fassten und ihn, den Oberleutnant
»Lindner«, in die Gespräche über die
Vorbereitung des revolutionären Aufstandes einbezogen. Am 3./4. November wurde E. W. durch das Generalkommando verhaftet, in der Vernehmung
am 5. 11. gab er seine Kenntnisse über
Personen und Pläne der Revolutionäre
preis (Folge: Verhaftung von Däumig
am 8. 11.), angeblich aus »Dummheit«.
Am 9. 11. aus der Haft befreit, wurde E.
W. in der Vollversammlung der Räte am
10. 11. kurzzeitig als deren 2. Vorsitzender in den Vollzugsrat gewählt und zur
»Kontrolle« des Preußischen Kriegsministeriums bestellt. E. W. erklärte sich
in der Vollzugsratssitzung am 16. 11.
mit den Leitsätzen E. Däumigs, für Sozialismus und Räterepublik, keine vorschnelle Wahl der Konstituante, gegen
»Bauernräte« mit Gutsbesitzern, für
Räte der Landarbeiter, gegen die weitere
Dekoration der Offiziere mit Abzeichen
und Degen. Am 22. 11. beriet der Vollzugsrat erstmalig über die »Angelegenheit Walz«, sein eigenmächtiges Vorgehen im Kriegsministerium; dann erfolgte
(am 23. 11.) durch E. Barth die Aufklärung seines Verhaltens nach der Verhaftung am 3. 11., die mit der Festsetzung
im Gebäude des Vollzugsrats, Einsetzung einer Untersuchungskommission,
seinem »Verzicht« auf den Sitz im Voll-
zugsrat (am 26. 11.) endete. Ihm wurde
(u. a. durch G. Ledebour und R. Müller)
dringend geraten, Berlin zu verlassen,
zu seinem Schwiegervater, einem Medizinalrat am Starnberger See, zu gehen;
Walz selbst sprach von seiner Ehefrau,
(die in seinem Lebenslauf nicht vorkommt !). 1919 eröffnete er in München
ein Antiquariat, studierte dann Kunstgeschichte in München, Amsterdam, in der
Schweiz und arbeitete als erster Deutscher (!) als Deutschlektor an der Sorbonne. 1929–1933 wohnte er in Berlin-Frohnau bei der Mutter eines seiner
Studenten, der verwitweten Jüdin Ida
Rosenberg (1880–1946), mit deren Vermögen er mehrere Bäckereien/Konditoreien (zuletzt 4 gutgehende Geschäfte)
in Berlin betrieb, ab 1933 ständige Angriffe durch SA, Boykott. Im April 1933
mit Frau R. nach Paris geflohen, arbeitete E. W. als Lektor für deutschsprachige
und holländische Presse beim französischen Außenministerium, im September 1939 zeitweilig interniert, dann
von Juni 1940–23. 8. 1944 illegal in Paris, vom Kleinhandel existierend, Wohnungsdurchsuchung durch Gestapo Paris VIII, rue Duplot, illegale Wohnung in
31 Avenue de L´Opera mit Frau Rosenberg bei der Mutter von Jeanne Honoré, einer Pianistin, die er 1944 heiratet;
wohnhaft dann I rue Mizon, Paris XV.
E.W. bemühte sich um freundschaftliche
Beziehungen Frankreichs zur BRD und
erhielt nach langwierigen Bemühungen
(1958–1962) schließlich 1962 eine monatliche Rente von 700 DM (Berufsschadenrente), rückwirkend ab 1953.
Am 18. 5. 1985 ist Eduard Walz hochbetagt in Paris verstorben.
Professor Dr. Ingo Materna
49
Der Arbeiterkinderklub »Nordost«
in Berlin-Prenzlauer Berg 1929 bis 1933
»Eins merke Dir Arbeiterkind!
Wir weder Onkel noch Tante sind.
Kommst Du herein und hebst die Flosse,
grüßt ›Seid bereit‹ und sagst ›Genosse‹!«
Im Zuge eines Projektes, in dem ich
den Archivbestand der Bezirksorganisation Prenzlauer Berg der Vereinigung
der Verfolgten des Naziregimes-Bund
der Antifaschisten erschließe, stieß ich
immer wieder auf interessante Dokumente. So auch auf eine Akte über den
Arbeiterkinderklub »Nordost« der von
1929 bis 1933 am Helmholtzplatz, einer damaligen Hochburg der KPD, bestand. Die Informationen, welche für
mich als ehemaligem Jung- und Thälmannpionier sehr interessant und aufschlussreich waren, möchte ich auch
den Lesern des Rundbriefes nicht vorenthalten.
Der Arbeiterkinderklub »Nordost« war
der erste Klub für Arbeiterkinder in ganz
Berlin. Er wurde im November 1929 auf
Initiative des Jungspartakusbundes eingerichtet und hieß zunächst »Heim Lenin«. Für die »Roten Jungpioniere«, die
sich vorher in den Vereinszimmern der
Arbeiterlokale mit aufhalten mussten,
sollte ein eigener Anlaufpunkt geschaffen werden. Da der Klub aber allen Arbeiterkindern offen stehen sollte, also
auch sozialdemokratischen, christlichen
und parteilosen, wurde er nach kurzer
Zeit in »Nordost« umbenannt. Ziel war
es, die von der damals herrschenden
Wirtschaftskrise betroffenen Arbeiterkinder, welche hungern mussten und
sich oft auf herumtrieben, von der Straße zu holen und sie sinnvoll zu beschäftigen.
Zunächst befand sich der Klub in der
Dunckerstraße 86 in einem ehemaligen
Kino. 1930 zog er in die Lettestraße 8
in eine ehemalige Drogerie um, weil
dort die Miete, welche teilweise von der
KPD gestellt wurde, billiger war. Die Umzugskosten wurden vom KJVD getragen.
In der Dunckerstraße hatte der Klub
drei Räume gehabt: ein Bastelzimmer
mit drei Hobelbänken, einen Waschraum mit zwei Handwaschbecken und
40 Kleiderhaken sowie ein Spielzimmer mit einem kleinen eisernen Ofen.
50
In der Lettestraße hatte der Klub zwei
große Räume, einen großen eisernen
Ofen und ein Terrarium mit einer Schlange. Die Öfen spielten eine zentrale Rolle, da besonders im Winter in den Klub
viele Kinder kamen, weil es noch keine
Schulhorte gab und zuhause die Stuben oft unbeheizt blieben. Damals gab
es im Winter – so wie heute im Sommer manchmal hitzefrei – »Kohlferien«.
Dann wurden von den Kindern in den
Häusern rund um den Helmholtzplatz –
der früher im Volksmund auch »Läuseplatz« hieß – Kohlen für diese Öfen gesammelt.
Im Klub wurden Kinder im Alter von 6
bis 14 Jahren betreut. Da in den umliegenden Schulen in der Pappelallee,
der Duncker- und der Danziger Straße
die Kinder in Schichten vormittags und
nachmittags unterrichtet wurden, musste der Klub auch vormittags zugänglich sein. Dies stellte deshalb kein Problem dar, weil der Klubleiter, wie viele
seiner Genossen derzeit, arbeitslos war
und den ganzen Tag vor Ort sein konnte. Auch viele andere Arbeitslose halfen
im Kinderklub ehrenamtlich mit. Stellvertretend sei an dieser Stelle von den
vielen Helfern nur der wohl bekannteste
von ihnen genannt, und zwar Genosse
H. Burchert – wegen seiner herausragenden Körpergröße auch »Antenne«
genannt –, der später als Kinderbuchautor unter dem Pseudonym »Hein Butt«
bekannt werden sollte. Abends wurde
der Klub von der KPD, dem KJVD und
der Roten Hilfe für Versammlungen genutzt.
Zeitweise (besonders im Winter)
strömten hunderte Kinder aus den anliegenden Straßen in den Klub, um die
Angebote wahrzunehmen. Jedoch waren nur wenige Mitglieder in der Pionierorganisation, hauptsächlich Kinder
von KPD-Genossen. Aus der gesamten
Greifswalder Straße zum Beispiel waren
es nur 20 Pioniere, diese kamen aber regelmäßig.
Zu den Beschäftigungen gehörten basteln, malen und Lieder lernen, aber
auch (von älteren erfahrenen Genossen
angeleitet) so sinnvolle Tätigkeiten, wie
das Gestalten von Wandzeitungen. An
den Wochenenden und Feiertagen wurden Wanderungen im Berliner Umland
sowie Museumsbesuche unternommen. Im Winter wurden Weihnachtsgeschenke gebastelt und ein Julklapp
durchgeführt, in den Sommerferien
die Kinder in zentrale Pionierlager geschickt. Auch wurden von den Kindern
regelrechte Programme einstudiert, die
auf Parteiveranstaltungen und anderen Gelegenheiten, etwa im nahe gelegenen »Saalbau Friedrichshain«, Am
Friedrichshain 16–23, oder im »Ledigenheim«, Pappelallee 15, aufgeführt
wurden.
Um die Fahrten und die Klubmiete (teilweise) zu finanzieren, führten die Pioniere Spendensammelaktionen durch und
verkauften die Pionierzeitschrift »Trommel«, welche in der Druckerei der »Roten
Fahne« gedruckt wurde. Meist standen
die Pioniere mit den »Trommeln« an der
Ecke Schönhauser Allee. Manchmal wurden ihnen die Zeitungen von SA oder
Schupos gewaltsam entrissen.
Nach der Machtübertragung an die Nazis im Januar 1933 wurde der Klub geschlossen. Darauf demonstrierten die
Kinder auf dem Helmholtzplatz und riefen: »Gebt uns unseren Kinderklub wieder!«, bis die Polizei kam und die Demonstration auflöste. Im Jahre 1933
wurde die Arbeit mit den Kindern dann
auch eingestellt, weil man mit ihnen
selbstverständlich nicht illegal arbeiten
konnte und wollte. Jedoch waren die Pioniere in den wenigen Jahren des Bestehens des Klubs dauerhaft geprägt worden: Bis in die siebziger Jahre trafen sich
die ehemaligen Klubmitglieder jedes
Jahr auf der Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Demonstration, die zum Friedhof
der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde
führt.
Quellen:
Stiftung Archiv der Parteien und
Massenorganisationen der DDR
im Bundesarchiv:
BY 9/PB 555 Arbeiterkinderklub
»Nordost« 1929–1933
BY 9/PB 137 Ilse Fuss
Oliver Reschke M.A.
Ein sozialdemokratisches
Widerstandskämpferschicksal:
Willi Scheinhardt, Gauleiter des hannoverschen Fabrikarbeiterverbandes
von 1925 bis 1933
Willi Scheinhardt wird am 10. Januar
1892 als Sohn eines Bergarbeiters in
Etzdorf/Mansfelder Seekreis (Provinz
Sachsen) geboren. Nach Abschluss der
Volksschule arbeitet er in chemischen
Fabriken als ungelernter Hilfsarbeiter.
Er engagiert sich früh politisch, tritt
1908, erst 16 Jahre alt, in die Gewerkschaft ein und 1910 auch in Bitterfeld in
die SPD, wo er sich als Leiter der Arbeiterjugend profiliert. Im April 1919 nimmt
er eine Stelle als Sekretär des Fabrikarbeiterverbandes in Harburg an, der
ihn im November 1922 als Agitationsleiter nach Hannover beordert. Von 1925
bis 1933 ist Willi Scheinhardt in Hannover als Gauleiter des Fabrikarbeiterverbandes tätig.
Geschichtliches zum Deutschen
Fabrikarbeiterverband
Vom 29. Juni bis 2. Juli 1880 findet in
Hannover mit Delegierten aus 28 Orten des Deutschen Reiches der «Kongress aller nichtgewerblichen Arbeiter
Deutschlands« statt. Es entsteht eine
neue Organisation, der «Verband der
Fabrik-, Land- und gewerblichen Hilfsarbeiter Deutschlands«. Mit der Gründung
des Verbandes gelingt es allmählich,
zersplitterte Lokalvereine von ungelernten Arbeitern in einen festgefügten
Zentralverband einzubinden, um verbesserte Lohn- und Arbeitsbedingungen für
die Arbeiterschaft zu erreichen. Der Fabrikarbeiterverband will es Arbeitern ohne Berufsausbildung ermöglichen, sich
jeweiligen Berufsorganisationen anzuschließen. Der erste Verbandsvorsitzende des Fabrikarbeiterverbandes ist August Brey. Seine Amtszeit wird von 1880
bis 1931 dauern.
Die ersten Jahre nach seiner Gründung
verlaufen für den Verband krisenreich.
Doch ab 1895 setzt trotz der Existenzbehinderungen durch Unternehmer,
Polizei und Justiz im wilhelminischen
Obrigkeitsstaat ein Aufschwung ein. Angesichts der unruhigen gravierenden
politischen Abläufe während des Ersten
Weltkrieges, der Nachkriegszeit, der
Novemberrevolution 1918 und der politischen Umbrüche, erlebt der Verband
ein Auf und Nieder. Doch gegen Ende
der Weimarer Zeit hat sich der Fabrikarbeiterverband zum viertgrößten Verband der im Allgemeinen Deutschen
Gewerkschaftsbund (ADGB) zusammengeschlossenen Freien Gewerkschaften
entwickelt. Damit verliert er seinen Status als Verband der ungelernten Arbeiter.
Die neue Zentrale des Fabrikarbeiterverbandes in Hannover wird im Februar 1930 als erstes eigenes Verbandsgebäude käuflich erworben. Bis dahin hat
in dem Haus eine Filiale der Berliner Diskonto-Bank ihren Sitz. Der Umzug zum
Rathenauplatz 3 vollzieht sich im Juni 1930. Da der Verband aber auch am
28. Juni 1930 sein 40jähriges Dienstjubiläum begeht, bezieht er in die Feierlichkeiten die Einweihung des neuen
Verbandshauses mit dem Hauptsitz Am
Rathenauplatz 3 ein.
Während des Festaktes in der Stadthalle Hannover sind zahlreiche namhafte
Gründungsmitglieder der ersten Stunde
präsent, so August Brey, dessen Name
im engen Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte des Fabrikarbeiterverbandes steht. Die »Deutsche Welle«
überträgt die charismatische Festrede
Breys im Rundfunk. Anwesend sind ferner August Lohrberg (Hannover), Claas
de Jonge als Vertreter der Fabrikarbeiter-Internationale, Heinrich Martens
(Harburg) und Peter Graßmann vom
Bundesvorstand des ADGB.
Aus gegebenem Anlass hat der Vorstand des Fabrikarbeiterverbandes bereits im Sommer 1929 beschlossen,
einen Dokumentarfilm zur Geschichte
des Verbandes zu produzieren. Weil der
hannoversche Gauleiter Willi Scheinhardt den neuen Agitationsmethoden
und den zeitgemäßen Medien wie Film
und Rundfunk aufgeschlossen und fachkundig gegenüber steht, betraut ihn der
Verband mit der Projektleitung. In Kooperation mit dem Regisseur Albert Blum
entsteht der Film »Aufstieg«, der eine
positive Resonanz findet. Der Dokumentarfilm geht in den Wirren des Zweiten
Weltkrieges verloren.
Willi Scheinhardt äußert sich dazu weitsichtig in einem Artikel:
«Ein wichtiges Propagandamittel ist der
Film. Wir verwenden ihn seit 4 Jahren.
Unsere 4jährige Erfahrung reicht aus, um
uns ein Urteil bilden zu können. Wir sind
zu der Überzeugung gekommen, dass der
Film eins der wichtigsten Propagandamittel ist. Er wirkt überzeugend und lockert
den Boden ordentlich auf, der zu bearbeiten ist. Die Filmpropaganda ist nicht,
wie landläufig angenommen wird, die
teuerste, sondern sie ist die billigste. Die
durchschnittliche Besucherzahl unserer
Filmveranstaltungen beträgt seit 4 Jahren
200. Mit Hilfe des Films tragen wir den
gewerkschaftlichen Gedanken in die Familien. Wir arbeiten nicht nur auf großen Hauptstraßen und Märkten, wir gehen
auch in die Quer- und Nebenstraßen, d. h.
in das kleinste Dorf. Heute wird allgemein
ausgesprochen, dass die Hausagitation in
dieser Zeit das geeignetste Mittel ist, um
zu werben. Wir bestreiten das nicht. Wir
sagen aber: Der Werber hat bei der Hausagitation einen viel größeren Erfolg, wenn
durch eine großzügige Propaganda der
Boden ordentlich aufgerissen ist, der zu
bearbeiten ist. – Werfen wir einen Blick
in unsere Tages- und Gewerkschaftszeitungen, so sehen wir, dass sie arm sind
an Artikeln, die sich mit dem Schicksal
des Arbeiters, seinen Nöten und seinen
Sorgen beschäftigen. Hier war uns die alte Zeit überlegen«.
Die neue Zentrale stellt für den Fabrikarbeiterverband nicht allein ein äußeres
Zeichen von Erfolg und Aufstieg dar, sie
bietet außerdem unübersehbare bessere Arbeitsbedingungen für die einzelnen Abteilungen des Hauptvorstandes.1
Durch Um- und Ausbaumaßnahmen im
Gebäude Am Rathenauplatz 3 entsteht
eine weitere Etage mit Wohnraum für
die Verbandsangehörigen und ihre Familien. Der Gauleiter Willi Scheinhardt, seine Ehefrau Emma (geborene Gerig), die
am 14. Oktober 1924 geborene Tochter Gerda, der Reichstagsabgeordnete
und Sekretär der Tarifabteilung Richard
Partzsch2 sowie der Hausmeister Willi
Krahtz ziehen ein.
Durch die Machtübernahme Hitlers im
Januar 1933 häufen sich bald die bedrohlichen politischen Ereignisse, die
sich durch spürbare Repressalien in
Form von Aus- und Gleichschaltung und
Ermordung der vermeintlichen Gegner
aller Richtungen äußern. Einbezogen
sind Gewerkschaften und Verbände. Bereits im Februar 1933 finden in Hannover Aufmärsche der Nazis anlässlich Hitlers Ernennung zum Reichskanzler statt.
Der 1. April 1933 ist der Tag des Boykotts jüdischer Geschäfte in Deutschland. Die Nazis besetzen in Hannover
51
die Gewerkschaftshäuser und verhaften
Gewerkschafter und Angestellte. Auch
der Gauleiter Willi Scheinhardt wird von
der SS verhaftet. Im Gegensatz zu seinen Kollegen bleibt er länger im Gefängnis und kommt erst später wieder frei.
Die SS dringt in das Verbandsgebäude
am Rathenauplatz ein, beschlagnahmt
Verbandseigentum und -vermögen, versiegelt die Räume und hisst auf dem
Dach die Hakenkreuzfahne. Die im Haus
der Hauptverwaltung ansässigen Familien Scheinhardt und Partzsch dürfen
nur mit (von der SA-Hilfspolizei ausgestellten) »Erlaubnisscheinen« ihre eigenen Wohnungen betreten und verlassen.
Die im Haus der Hauptverwaltung ansässigen Familien Scheinhardt und
Partzsch dürfen nur mit (von der SAHilfspolizei ausgestellten) »Erlaubnisscheinen« ihre eigenen Wohnungen betreten und verlassen.
Die Bewohner werden aus dem Haus
vertrieben. Familie Scheinhardt zieht in
die Rodenstr. 9 (Hannover-Linden) und
lebt ab 1935 in der Hagenstr. 58 (Hannover-List).
Mitte April 1933 ist die Zentrale wieder
zugänglich und benutzbar. Der Fabrikarbeiterverband hat jedoch bereits am
1. April 1933 seine Eigenständigkeit verloren.
Der materielle Verlust nach dem begangenen Überfall bringt den schwer
geschädigten
Gewerkschaftsangehörigen Existenzkrisen. Davon betroffen ist auch die Familie Scheinhardt, die wie die anderen
Genossen aus der Not heraus nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten sucht.
Das Ehepaar Scheinhardt steigt in einen
Wäscheverkauf ein. Frau Emma führt
das Geschäft nach Verhaftung und Ermordung ihres Mannes bis 1938 allein
weiter. Weil die geringe Rente zum Leben für sie und ihre Tochter Gerda nicht
ausreicht, arbeitet Frau Emma Scheinhardt außerdem als Aushilfe in einer
Gastwirtschaft bei Bekannten.
Politische Aktivitäten3 und
Widerstand gegen die Faschisten
Schon bald erkennt der Fabrikarbeiterverband in der NSDAP den gefährlichsten Feind der deutschen Gewerkschaftsbewegung und nimmt die illegale
Widerstandsarbeit auf. Willi Scheinhardt
hat ahnungsvoll bereits Ende der zwanziger Jahre den propagandistischen Kampf
gegen die Nazis eingeleitet. Anfang 1933
reist er häufig nach Amsterdam zum
Sitz der Fabrikarbeiter-Internationale,
um dort rechtzeitig die wichtigsten Verbandsdokumente in Sicherheit zu bringen. Er schließt sich der von Werner
Blumenberg im Jahre 1932 gegründeten Widerstandsorganisation »Sozialistische Front« an, für die er illegales Material in Deutschland verbreitet. Noch
am 2. März 1933 werden einige leitende Gewerkschafter, darunter auch Willi
Scheinhardt, in seiner Funktion als Gauleiter von Hannover nach Süddeutschland delegiert, um eine zweite Gewerkschaftszentrale des Verbandes der
Fabrikarbeiter Deutschlands zu gründen.
Verhaftung, Deportation und
Ermordung Willi Scheinhardts
Noch 1936 hält er den Kontakt mit weiteren SPD-Genossen aufrecht. Sie betreiben unter anderem gemeinsam ein
Wanderkino, das jedoch unter die Zensur der Nazis fällt und verboten wird.
Im Januar 1936 zerschlägt die Gestapo
die Widerstandsorganisation »Sozialistische Front« und verhaftet dabei auch
Willi Scheinhardt in Hannover. Im Gestapogefängnis Hildesheim bleibt er unter
dem Vorwurf des Hochverrats in Haft.
Am 6. Oktober 1936 stirbt er an den Folgen grausamer Folterungen durch die
Gestapo.
Der »Neue Vorwärts« berichtet am 8.
November 1936 in seiner Nr. 178: »Der
frühere Gauleiter des Deutschen Fabrikarbeiterverbandes, der Genosse Willi Scheinhardt, ist Anfang Oktober den
Misshandlungen durch die Gestapo erlegen und am 14. Oktober in aller Stille eingeäschert worden. Der Genosse
Willi Scheinhardt, der jetzt im Alter von
44 Jahren einen so grausamen Tod erleiden musste, hat von früher Jugend an
als Sozialdemokrat und Gewerkschafter
selbstlos der Gesamtbewegung und ihren Zielen gedient; er ist auch nach Hitlers Machtantritt seiner sozialistischen
Überzeugung treu geblieben und muss-
52
te nun seine Treue zu unseren Ideen mit
dem Leben büßen.-Der Generalstaatsanwalt dokumentierte
am 17. Oktober 1936, dass er zwischen
dem 29. 9.und 6. 10. 1936 zu Tode geprügelt worden ist, weil er »vermutlich kein
vollständiges Geständnis abgelegt hat.«
Die Gestapo verweigert den Familienangehörigen zunächst die offizielle Freigabe des Leichnams. Die Urnenbeisetzung
erfolgt am 14. Oktober 1936 auf dem
Friedhof Hannover-Ricklingen. Es ist der
12. Geburtstag seiner Tochter Gerda.
Das Grab wurde inzwischen eingeebnet.
Das Schicksal der Familie nach der
Ermordung Willi Scheinhardts
1944 wird Frau Scheinhardt ausgebombt und kommt mit ihrer Tochter
Gerda bei Bekannten in Ricklingen unter. Später bewohnen beide bis zu ihrem
Umzug nach Hannover-Ricklingen in ihr
eigenes Haus im Jahre 1952 zwei Zimmer in Hannover-Waldhausen.
Frau Emma Scheinhardt stirbt 1984 im
Alter von über 92 Jahren in Hannover.
Heide Kramer
1
2
Nach1945 wird das Haus zum Sitz der IG Chemie
(Nachfolge des Fabrikarbeiterverbandes), später
Niederlassung einiger Banken.
RichardPartzsch (geboren am 15. 11. 1881 in Dresden, gestorben am 6. 11. 1953 in Hannover) Er wird
nach der Schule Dekorationsmaler. Seit 1902 ist
er Mitglied der SPD und Gewerkschaft. Dann einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg Vorsitzender
des SPD-Ortsvereins in Dresden-Cotta. Ab 1913
Geschäftsführer des freigewerkschaftlichen Fa-
3
brikarbeiterverbandes in Köslin. Zwischen 1919
und 1922 Stadtverordneter und Mitglied des Deutschen Reichstages in Köslin. Während dieser Zeit
ist Partzsch Mitglied des Provinziallandtages von
Pommern. Im März 1920 außerdem Zivilkommissar in Köslin, zwischen 1919 und 1922 in Köslin
ebenfalls Stadtverordneter, 1920 für einige Monate erstmals Mitglied des Reichstages. Ab 1922
lebt er in Hannover, wirkt dort als Gewerkschaftssekretär im Hauptvorstand des Verbandes der
Fabrikarbeiter Deutschlands. 1932/33 erneut
Mitglied des Deutschen Reichstages, ab 1933 Angehöriger der lokalen Widerstandsgruppe der Sozialistischen Front. Partzsch wird 1936 von der
Gestapo in Hannover verhaftet und erst 1937 freigelassen. 1944 erfolgt eine erneute Verhaftung im
Rahmen der Aktion »Gewitter«. Von 1945 bis zu
seinem Ausscheiden ist Richard Parztsch im Büro
des SPD-Vorsitzenden Dr. Kurt Schumacher tätig
und Mitglied im Vorstand der SPD.
Beitrag von Willi Scheinhardt, Hannover, September 1931 (Der Artikel ist von Willi Scheinhardt mit
der Schreibmaschine verfasst und hier vollständig
wiedergegeben worden).
Zeitungsartikel von Willi Scheinhardt, Hannover, September 1931:
Warum neue Formen
der gewerkschaftlichen Agitation?
Zunächst eine Bemerkung: Ich will nicht
sprechen über Dinge, die uns – die wir
hier sind – geläufig sind. Aber ich vertrete die Auffassung, dass wir Organisationskunde und Großbetriebslehre
brauchen, wenn wir nicht von der Hand
in den Mund leben wollen. In meinem
Vortrage will ich zeigen, auf was unsere Erfolge zurückzuführen sind und warum wir in der Gegenwart und Zukunft
zu einer Erweiterung unserer bisherigen
Agitationsformen und –methoden kommen müssen und gleichzeitig andeuten,
welche Wege wir einzuschlagen haben.
Ich glaube, so das zu behandelnde Gebiet abgesteckt zu haben. Meiner Arbeit
liegt folgender Satz zugrunde: »Nur der
kann der Natur gebieten, der ihren Gesetzen zu gehorchen weiß«.
Die Idee als werbende Kraft
Dass die Arbeitskraft eines Volkes den
Reichtum des Volkes darstellt und dass
das jährliche einkommen eines Volkes
sich zu verteilen hat nach dem Prinzip
der freien Konkurrenz, diese Auffassung
hat die Welt nicht erschüttert.
Dass Menschen Reichtum zusammenscharrten aus der Arbeit der von ihnen
beschäftigten Arbeiter, indem sie ihnen
keinen auskömmlichen Lohn zahlten
und dass es für die Arbeiter in der kapitalistischen Welt keine Arbeit gibt, wenn
nicht der Unternehmergewinn gesichert
ist, diese Auffassung hat die Welt erschüttert.
Das Wort «alle Menschen sind Brüder«
hat die Welt nicht aus ihren Angeln gehoben. Aber das Wort «Proletarier aller
Länder vereinigt Euch« hat die Welt tief
aufgewühlt.
Dem langen Arbeitstag setzten die Arbeiter die 8 stündige Arbeitszeit entgegen.
Der einseitigen Festsetzung des Lohnes
den Tarifvertrag, der Arbeitslosigkeit
innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft die Arbeitslosenversicherung
und der kapitalistischen Wirtschaft die
sozialistische Wirtschaft.
Aus diesen Gedanken heraus bildete
sich die gewerkschaftliche Idee, geboren aus der Not der Zeit, die Idee, ein
Gedankenbild in den Köpfen der Arbeiter wie die Welt nach ihren Anschauungen sein müsste.
Die Idee wurde die geistige Einstellung
der schaffenden Menschen.
Für die Gewerkschaftsbewegung war
die Idee der große Agitator eine werbende Kraft ersten Ranges. Sie förderte
die Liebe und den Idealismus zur Bewegung, sie gab der Bewegung Schwung,
Kraft und Inhalt, sie war der Sauerteig
der agitatorischen Kräfte.
Sie ließ die Bewegung in den Köpfen von
vielen Tausenden von Arbeitern nicht als
Rechenexempel erscheinen. Die Idee
versetzte Berge.
Der Glaube an die Kraft und Macht der
Bewegung ließ die Idee nicht erschüttern.
Ein ebenso großer Werber war das Wort
«Solidarität« und das Wort «Proletarier«. Aus beiden spricht Sorge und Not,
Kampfesfreude und Kampfeswille und
Opferbereit – schaft. Opfer bringen für
alle die, denen es schlechter geht als
uns.
Das Wort «Solidarität« gab der Gewerkschaftsbewegung den nötigen Kitt. Die
gewerkschaftliche Solidarität machte
aber auch den Gewerkschaftler zum
Weltbürger.
Als drittes kommt hinzu, dass es einen Streit über die Wege, die zum Ziel
führten, nicht gab. Wir hatten fast eine
einheitliche, in sich geschlossene Arbeiterbewegung.
Die sich über den Weg zum Ziel stritten,
war eine Handvoll Literaten. Sie standen
nicht mitten unter den Arbeitern. Der
Riss ging nicht durch die Arbeiter des
Industriebetriebes. Im Betriebe hieß es:
Wer nicht mit uns, ist gegen uns.
Es gab nur eine Auffassung, dort gab es
nur einen Willen: Die Werbung für den
Verband stärkt die Front!
Wer sich abfällig über die Gewerkschaftsbewegung oder deren Einrichtung äußerte, wurde in Acht und Bann
getan. Wer das tat, der gehörte nicht
zum Volke, der war nicht Mann vom
Bau, der war kein echter Arbeiter.
Als viertes kam hinzu: Wir hatten vor
dem Kriege eine günstige Entwicklung
der Wirtschaft. Diese Erscheinung war
53
nicht nur national, sondern auch international. Wir können sagen, wir hatten
in der Vorkriegszeit eine Hochkonjunktur der Weltwirtschaft.
Zwei Zahlen: 1900 bis 1913 erhöhte sich
die Kohlenproduktion von 9 auf 11 1/2
Mill. T., Ausfuhr stieg von 3 auf 8 Milliarden Mark.
Der Arbeiter hatte eine große Auswahl
in seinen Arbeitgebern. Stiller Protest.
Dieses Ereignis war günstig für die gewerkschaftliche Entwicklung.
Sieg der Idee
Der Durchbruch der gewerkschaftlichen
Idee erfolgte 1918 bis 1921. Hunderttausende von Arbeitern wurden Mitglieder
der Gewerkschaften. Wir hatten eine
Mitgliederzunahme ohne Werbung. Die
Idee feierte ihren Sieg. Das ließ in den
Köpfen vieler Hundert die Meinung aufkommen, man brauchte sich nicht mehr
emsig um die Werbung zu kümmern.
Es gab nicht wenig Funktionäre, die die
Meinung vertraten, man brauchte nun
alle die Wege, die man früher gegangen
war, nicht mehr zu gehen. Jüngere Angestellte verlernten überhaupt das Werben von Mitgliedern; sie schwammen
auf dem Öl der verflossenen Jahrzehnte.
Die Veränderung der Gesamtlage
Über die Volksvertretung zur Regierungsbank und Mitverantwortung im
Staat.
Noske als Kritiker des Militäretats. Noske als Reichswehrminister. Der Polizeipräsident – Eigentum. Der Übergang
war hart, zu schnell. Die Spaltung der
Arbeiterklasse.
Das Bürgertum fühlt sich in seiner Existenz bedroht. Es ist nicht mehr mit den
Kapitalisten Alleinberater der Regierung. Infolgedessen Radikalisierung des
Bürgertums. Vorübergehende Erscheinung?
In wirtschaftlicher Hinsicht zeigt uns
heute der Industriebetrieb ein anderes
Gesicht als das vor 10 und 15 Jahren der
Fall war. Der einzelne Betriebsunternehmer tritt in den Hintergrund. Eine starke
kartell- und konzernmäßige Bindung
ist eingetreten. Es erfolgt eine starke
Konzentration der Betriebe nach wirtschaftlichen produktions- und absatztechnischen Gesichtspunkten.
Dabei spielt die Phantasie für den Großbetrieb eine wichtige Rolle. Der Großbetrieb ist eine Betriebsform, die wir schon
aus der Vorkriegszeit her kennen, die
aber in jener Zeit in der gewerkschaftlichen Agitation nicht die Bedeutung
hatte, wie das heute der Fall ist. Es waren Betriebe, die wie alle Betriebe historisch gewachsen waren. Man hoffte im54
mer noch, die Arbeiter dieser Betriebe
organisieren zu können. Der Großbetrieb der neuesten Zeit ist etwas ganz
anderes. Er ist als Großbetrieb entstanden, es fehlt das historische Wachsen. Diese Betriebe sind von vornherein
reichlich mit Kapital ausgestattet. Sie
entstehen über Nacht.
Im alten Großbetrieb der traditionelle
Werkmeister, verbunden mit Werk und
Unternehmer, zum Teil auch Arbeiter. Im
neuen Großbetrieb ganz anders.
Wir können die Menschen geistig nicht
so schnell beeinflussen, wie sie in den
Betrieb hineinströmen. Die geistige Beeinflussung dieser Arbeiter ist eine der
großen Aufgaben, die wir in der Gegenwart und Zukunft lösen werden müssen.
Die Arbeitsteilung ist das Prinzip des
Fabrikbetriebes. Es ist uns also nichts
Neues. Es war immer vorherrschend.
Neu dagegen ist die vollständige Aufteilung des Arbeitsprozesses, des weiteren ist neu, dass in einer Fabrik nur
ein bestimmtes Produkt oder ein Teilprodukt hergestellt wird. Z. b. bei der
Continental. Im Hauptwerk: nur Autoreifen, Motorradreifen: nur im Werk
Excelsior.
Das schafft uns einen ganz anderen
Menschen. In Frage kommt weiter die
ständige Zunahme der Arbeitsmaschine, ihre Entwicklung vom Halb- zum
Vollautomat. Die motorische Kraft und
maschinelle Kraft findet eine größere
Verwendung als der arbeitende Mensch.
Nebenher läuft eine scharfe Aufteilung
des Betriebes in einzelne Betriebsabteilungen. Da steht nicht überall mehr der
Kaufmann und der Jurist, sondern an
der Spitze steht der Ingenieur und der
Techniker. Das alles wirkt zerstörend auf
den (unleserlich) … willen der Arbeiterschaft.
Stilllegung in der Kali-Industrie, zweimal
die letzte Schicht. Zerreibung der Arbeitskraft.
Durch unser gewerkschaftliches Wirken
wird aber auch das agitatorische Element geschwächt. Wir schaffen für a l
l e Tariflöhne, Arbeitszeitverkürzung, Arbeitslosenversicherung, für alle Schutz
gegen die Gefahren der Arbeit. Das gewerkschaftliche Wirken schafft also
selbst etwas Entspanntes.
Die zeitliche Entfernung
70 Jahre vom Anfang der Bewegung
entfernt. Zwei Generationen sind verbraucht. Die eine, die die Gewerkschaft
gründete und die andere, die sie bis in
die Gegenwart hinein geführt hat.
In 70 Jahren hat sich alles verändert. Da
entsteht die Frage: Wo stehen wir? Die
Antwort ist: Wir stehen in einer Zeit, in
der der ideale Gedanke des Arbeiters
stark geknickt wird.
Idee und Wirklichkeit rücken weiter auseinander als das je der Fall war. Die lange Arbeitslosigkeit zerreibt die Seele
des Menschen. Der treue Republikaner
als Arbeiter wird fortgesetzt von dem
antirepublikanischen Arbeitgeber auf
Straßenpflaster gesetzt. Dadurch tritt
bei ihm die Meinung auf, dass der republikanische Staat ein Schwächling gegenüber dem kapitalistischen Arbeiter
ist. Wenn sich das nicht ändert, werden
wir mit einer tiefen geistigen Umschichtung innerhalb der Arbeiterbewegung
rechnen müssen. Ob sie gewerkschaftsfreundlich ist, lässt sich nicht sagen.
Wir stehen aber jedenfalls an einer Stelle, (unleserlich) eine Schwankung zu unseren (unleserlich) möglich ist.
Da drängt sich die Frage auf: Kommen
wir mit den bisherigen Agitationsmethoden infolge der total veränderten
Lage aus?
Jetzt werden alle Agitationsmethoden,
die wir anwenden, blitzschnell durch Eure Gehirne fliegen und die Antwort wird
lauten: Wir sind bisher mit diesen Methoden ganz gut ausgekommen. Wenn
wir aber die Frage aufwerfen würden:
Können wir heute nach derselben Methode allgemein im ganzen Lande noch
Ziegelsteine herstellen, wie wir sie vor
60 oder 70 Jahren hergestellt haben, sofort würde das von allen verneint werden. Ich möchte natürlich keine der bisherigen Methoden vermissen. Aber wir
müssen modernisieren und ergänzen.
Im politischen Kampfe haben die Nationalsozialisten und Kommunisten einen Teil dieser Methoden modernisiert
(Straßenkolonne).
Bisher herrschte in der Agitation bei
uns Hand- und Faustrecht, d. h. jeder
auf seine Art und Weise ist überall so
eingebürgert, dass man es für unkollegial hält, darüber zu sprechen. Seit Bestehen unseres Verbandes hat man sich
auf keinem der Verbandstage mit der
Frage der Agitation beschäftigt, sondern nur hier und dort im Vorstandsbericht hat man mal Anfragen gestellt oder
Wünsche geäußert.
Wie oft sind uns schon die Flugblätter
mit ihren ganz vortrefflichen Bildern der
KPD recht unangenehm auf unsere Seele gefallen. Sehr viele dieser Bilder sind
zeitgemäß vortreffliche Zeichnungen.
Die K.P.D. hat in Berlin eine große Propaganda-Schule und bildet hier nicht alle, aber einen Teil der Funktionäre aus.
Die Auflockerung des Bodens
Zunächst muss der Boden aufgelockert
werden. Will man das aber tun, so muss
man wissen, was für Boden aufzulockern
ist, um mit dem richtigen Werkzeug an
die Arbeit gehen zu können. Wir müssen den Arbeiter und seine Arbeitsstätte
genau kennen. Wir alle stehen vielleicht
zwei Jahrzehnte und etwas mehr nicht
mehr im Betriebe und vieles hat sich im
Laufe der Jahre geändert.
Der Arbeiter in der Gegenwart
Für die Lebensschicksale der Arbeiter und Arbeiterinnen ist zunächst entscheidend, in welche wirtschaftliche
Umwelt sie hineingestoßen werden.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse und
der Arbeitsplatz sind mitbestimmend für
die geistige Einstellung des Arbeiters.
Der Arbeiter zeigt uns heute ein ganz
anderes Gesicht als (wie) vor zwei Jahrzehnten. Die junge Arbeiterin und der
Arbeiter treten uns heute entgegen mit
einer ganz anderen Schulbildung und
Lebensauffassung.
Ihr Leben wird durch die stark veränderten wirtschaftlichen und politischen
Verhältnisse geformt. Ihr Blick für alle diese Dinge hebt sich weit ab von dem der
jungen Arbeiter vor 20 oder 30 Jahren.
Sie finden ein ganz anderes Arbeitsfeld.
Das kulturelle und gesellschaftliche Leben hat sich ganz anders gestaltet. Jeder einzelne von uns betrachte nur, wie
er daheim erzogen wurde und wie heute
die Kinder erzogen werden.
Der ältere Arbeiter
Aber auch im Leben des älteren Arbeiters hat sich vieles verändert. Ist er 40
Jahre alt, so sieht er keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr, ihn erfüllt nur die
eine Sorge, wie erhälst du deinen Arbeitsplatz. –
Fällt er von seinem Arbeitsplatz, so geht
vieles verloren. Er sieht keine Möglichkeit, sich wieder hochzuarbeiten. Er
führt einen ständigen Kampf um die Erhaltung seines Arbeitsplatzes. Die Maschine macht seinen Arbeitsplatz unsicher. Alle diese Dinge haben wir zu
betrachten, wenn wir den agitatorischen
Boden auflockern wollen.
Die Masse
Die Arbeiterschaft ist ein Massenvolk. Ist
sie eine farblose Masse? (blaue Bluse)
Eine Masse mit einem ausgespro-
chenen politischen und wirtschaftlichen
Kampfeswillen. Es sind Schicksalsgenossen. Was müssen wir von dieser
Masse wissen? Worauf sie reagiert. Wie
man eine Masse zu führen hat, wieweit
man sie führen kann.Verband ist Masse.
Auseinanderfallen? Zerstörung!
Ich muss wissen, ob ich auf Massenstimmung einschalte. Versuche zwecklos.
Lebendige Bilder auf der Straße, Uniform, Trommel, Kokarde, Marsch.
Wir müssen mit den Dingen fertig werden. Aber wie wollen wir alle inneren
Kämpfe und alle Konflikte lösen, wenn
wir das Seelenleben der Masse nicht begreifen lernen? Aus der Masse können
neue Führer auftreten.
Die Zeitung
Das erste Mittel neben dem gesprochenen Wort ist das, was auf die Masse wirkt, das geschriebene Wort, - die
Zeitung.
Ein Blick auf unsere Tageszeitungen.
Tageszeitung
Gewerkschaftsteil, Wirtschaftsteil
Gewerkschaftszeitung
Vom Arbeiter muss die Zeitung sprechen, vom Leben seiner Klassengenossen. Der Lebensinhalt des Arbeiterlebens soll gestärkt werden. Die Zeitung
muss ein Spiegel der Gesamtbewegung
sein.
Das Flugblatt
Modern, sachlich, kein Leitartikel. Verbindung mit dem Betrieb, dem Arbeiter und der Organisation. Ein Flugblatt
muss etwas sein, was man von einem
Berg herabwirft und die Leute begierig
danach greifen.
Das Bild Für Zeitung und Flugblatt.
Nicht irgend ein Bild, sondern was uns
angeht. Das Krankenauto fährt vom Fabrikbetrieb oder der Betriebsunfallwagen aus der Werkswohnung werden
die Möbel des Arbeiters auf die Straße
gestellt.ein Betrieb wird stillgelegt, die
letzte Schicht, die Landjäger schätzen
Streikposten.
Kollege Schulz ist 40 Jahre Mitglied unseres Verbandes und erhält Invalidenunterstützung.
Wir brauchen im Bild nicht die Villa des
Direktors zu bringen. Uns interessiert
vielmehr das Leben des Arbeiters.
Das Lichtbild für die Mitgliederveranstaltung.
Als Demonstrationsmittel, ArbeitslosenUnterstützung, Krankenunterstützung,
Unfall-Unterstützung. Die Versammlung
muss ein Erlebnis sein. Das Lichtbild
zur öffentlichen Werbung. Kein Kitsch,
gute Bilder, Zeichnung, Farbe, Lebendiggestaltung, der Vortragende muss alles
beherrschen. Wir sind zufrieden.
Der Film
Es geht auch nicht von selbst, gute Vorbereitungen, Beispiel Hildesheim. Film
ist Leben. Auch der stumme Film spricht.
Was erreichen wir?
Kollegen, deren Frauen, die Jugend, die
Unorganisierten. Wir pflegen Geist und
Idee.
Die Musik
»Aufstieg« Proletarier aller Länder vereinigt Euch!« 100 Veranstaltungen, je 280
Besucher, 28 000 Menschen.
Das Radio
Pflege der Geselligkeit
Festrede mit Musik. Ein solches Fest
muss mit der Arbeit im Zusammenhang
stehen.
Brauchen nicht Lieder vom Rhein und
Wein, von schönen Rosen und Frühling
zu sein.
Unser Leben wird geformt durch Fabrikschlote, Maschinen, Not und Sorge. Das
muss zum Ausdruck kommen.
Die Lebendiggestaltung der Idee
Fast 200 Jahre entfernt, als die Worte
»Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« geformt wurden und 100 Jahre entfernt von
der Zeit, als das Wort »Sozialismus« und
»Proletarier« allgemein bekannt wurden.
Technik und Wissenschaft schafft täglich neue Existenzen. Wir stehen an der
Stelle, wo religiöse, politische und soziale Anschauungen zerstört werden. Die
einzige Idee, die aus diesen Trümmern
lebendig hervorgeht, kann und muss der
Sozialismus sein! 1
1
Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-EbertStiftung Bonn.
55
Der »Bund der Freunde der Sowjetunion«
und der antifaschistische Wider-Stand:
Neue Fakten aus den Akten des Bundeaarchivs
Am 4. November 1928 wurde der
»Bund der Freunde der Sowjetunion«
gegründet.
Der »Bund« trat dem Antikommunismus und Antisowjetismus entschieden entgegen und verbreitete konkrete
Kenntnisse über die Sowjetunion. Ein
erster entscheidender Schritt zur Gründung des »Bundes der Freunde der Sowjetunion« (BdFSU) war die Tagung am
18. September 1928 in Berlin, auf der
sich das Berliner Komitee des BdFSU
konstituierte. Der Arzt Dr. Max Hodann,
der den Vorsitz des Berliner Komitees
übernahm, führte über die Aufgabenstellung des Bundes unter anderem
aus: »Die Bewegung der Freunde der
Sowjetunion stelle als politische Organisation keine Konkurrenz zur ›Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland‹
dar, da diese Gesellschaft ein wissenschaftliches und künstlerisches Tätigkeitsfeld habe. Die ›Bewegung der
Freunde der Sowjetunion‹ hingegen
will alle Aktivposten aus den Arbeiterorganisationen und intellektuellen Kreisen sammeln zu einer Front gegen die
drohende Kriegsgefahr zum Schutze für
die Sowjetunion.«1
Von dieser Berliner Tagung aus trafen
die Freunde des Bundes die Vorbereitungen für den ersten Kongress im
Reichsmaßstab.
Dieser erste Reichskongreß des BdFSU
wurde für den 4. November 1928 nach
Berlin in das ehemalige Preußische
Herrenhaus in der Leipziger Straße
(heute der Sitz des Deutsches Bundesrates) einberufen. Das Vorbereitungskomitee verfasste einen Aufruf, der am
1. Oktober 1928 an die progressive, demokratische Presse gegeben wurde. Er
erschien Mitte Oktober gleichzeitig in
mehreren Zeitungen und Zeitschriften.
Der Aufruf begann mit den Worten: »An
alle Arbeiterorganisationen! Arbeiter,
Intellektuelle, Freunde der Sowjetunion! Auf zum ersten Reichskongress der
Freunde der Sowjetunion! …«2
165 Delegierte, darunter die Werktätigen von 35 Berliner Betrieben, sowie Kulturschaffende aus Kunst, Wissenschaft und Literatur, die sich mit
dem Proletariat und der Sowjetunion
verbunden fühlten, beschlossen die
Gründung des BdFSU. Delegiert waren
Vertreter bereits bestehender Ortskomitees des BdFSU, von proletarischen
56
Massenorganisationen und von pazifistischen Vereinigungen. Von den Delegierten des Kongresses gehörten 58
der KPD, 35 der SPD an, 66 waren parteilos, 3 gehörten dem Sozialistischen
Bund, 2 dem KJVD und 1 Teilnehmer
der Christlich-Sozialistischen Reichspartei an. Repräsentativ vertreten waren auf dem Kongress das »Einheits«Komitee, das die Arbeiterdelegationen
in die UdSSR organisierte, die Internationale Arbeiter-Hilfe (IAH), der Rote
Frauen- und Mädchenbund (RFMB), die
Liga für Menschenrechte und die »Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland.«3
Der Kongress gestaltete sich zu einer
eindrucksvoll verlaufenden Kundgebung. Als Redner traten unter anderem auf: Dr. Max Hodann, Ernst Toller,
Dr. Gumbel. Kurze Ansprachen hielten
Helene Overlach als Vertreterin des
»Frauenbundes« und Theo Overhagen
im Namen der Arbeiterdelegierten, die
die Sowjetunion besucht hatten. In der
Nachmittagssitzung stand der organisatorische Aufbau des Bundes zur Debatte. Die Delegierten beschlossen,
in Form von lokalen Komitees, die im
ganzen Reichsgebiet zu organisieren
waren, die Basis des Bunds zu schaffen. Nach dem Vorbild der KPD-Betriebszellen sollten die Mitglieder des
Bundes auch auf Betriebsbasis organisiert werden. Diese Betriebsgruppen sollten dann den Kern der BdFSUOrtsgruppen bilden. In der Diskussion
hoben einige Delegierte hervor, das
Schwergewicht des Bundes müsse auf
die Verbreitung von Kenntnissen über
die Sowjetunion – teils durch Gäste,
teils durch Vorträge sogenannter Russlandreisender (Delegierter) – gelegt
werden.
Die Kongressdelegierten wählten ein
Reichskomitee, bestehend aus 29 Personen. Ihm gehörten neben anderen
an: Fritz Heckert und Franz Dahlem,
beide KPD-Mitglieder und Abgeordnete des Reichstages (KPD), Mitglied des
Reichstages, Dr Helene Stöcker, vom
Bund für Mutterschutz und führendes
Mitglied der »Gesellschaft der Freunde
des neuen Rußland«, Dr. Max Hodann,
Arzt und Sexualhygieniker, Dr. Kurt Hiller, Schriftsteller, Prof. Dr. Gumbel, Historiker und Publizist und Adolf Deters,
Vertreter der Berliner Verkehrsbetriebe
(BVG), der neben weiteren Vertretern
Berliner Großbetriebe wie der AEG und
der Siemens-Werke, in den Vorstand
gewählt wurde.
Über das Ziel des Bundes geben die
Texte der Mitgliedskarten Auskunft. Es
konnten noch einige über die Zeit der
NS-Diktatur aufbewahrt werden, so
zum Beispiel von der mitgliederstarken,
auch nach 1933 illegal wirkenden Leipziger Gruppe um Lina und Richard Plock
sowie von Berliner Mitgliedern des BdFSU. Zweck und Ziel des Bundes, hieß
es auf den roten Mitgliederkarten, ist
die Zusammenfassung aller Kräfte, die
bereit sind, die Sowjetunion zu verteidigen sowie die weiteste Aufklärung
über die wirkliche Lage in der Sowjetunion zu verbreiten. Aus der Sicht einer Gruppe sozialdemokratischer Arbeiter bestand das Ziel des Bundes in
der »Schaffung einer kampfbereiten
Einheitsfront zur Verteidigung der Sowjetunion in den Betrieben und allen
Schichten des arbeitenden Volkes.«4
Große Aktivitäten entfaltete der Bund
von 1928 bis 1933 bei der Vorbereitung
und Durchführung der Antikriegskundgebungen, die am 1. August jedes Jahres stattfanden.
Nach der Machtübertragung an die
Faschisten reihten sich nicht wenige Freunde des BdFSU in die unsichtbare Front der Widerstehenden gegen
das NS-Regime ein; ganz unabhängig
davon, ob sie bis 1933 in der KPD, in
der SPD oder in den ADGB- Gewerkschaften organisiert waren oder, ob sie
parteilos waren. Jetzt, nach der Konstituierung der braunen Diktatur, setzten
sie sich mit ganzer Kraft gegen sie zur
Wehr.
Bereits im Februar und März 1933 prangerten sie in selbstgefertigten Flugschriften, die in Gartenlokalen, Sprechzimmern von Ärzten, in Kaufhäusern,
Straßenbahnen und auch bei Behörden
verbreitet wurden, den Terror der SAHorden an. Oft tauchten Handzettel auf,
worauf geschrieben stand: »Der Bund
der Freunde der Sowjetunion Lebt!« Von
der Lebenskraft der Landesorganisation
in Sachsen zeugen beispielsweise die
fortbestehende Verbindung zur Reichsleitung in Berlin und die Kontakte nach
Essen, Zwickau, Reichenbach, Plauen,
Aue, Borna, Chemnitz, Zschopau, Zwickau und Meuselwitz bei Leipzig.5
Die umfangreichen Aktivitäten des
Bundes blieben der Gestapo nicht verborgen. Fieberhaft suchte sie nach dessen Mitgliedern. In einem Lagebericht
der Gestapo im Frühjahr 1935 heißt es:
»Unmittelbar nach der Auflösung der
KPD und ihrer Nebenorganisationen
am 3. März 1933 (gemeint ist die Notwendigkeit, in die Illegalität zu gehen –
G.W.) setzte die illegale Tätigkeit der
ehemaligen Funktionäre der Freunde
der Sowjetunion ein.
Der damalige Reichsleiter Karl Becker
geb. am 19. 11. 1894 in Hannover Zurzeit vermutlich in Prag oder Amsterdam aufhältlich und der Expedient
Paul Dietrich Zurzeit in den skandinavischen Ländern, beriefen im März/
April 1933 eine Funktionärsversammlung zur Tegeler Heide ein, an der ca.
35–40 Personen teilnahmen. Bei dieser Versammlung unter freiem Himmel wurde beschlossen, dass der Bund
der Freunde seine Tätigkeit wieder aufnehmen müsse. Es wurde angeregt,
rege Propaganda zu treiben, die alten
Genossen aufzusuchen, Mitgliedsbeiträge zu kassieren und die illegalen
Schriften des Bundes zu vertreiben.
Zunächst begnügte man sich damit illegale Schriften mit Schreibmaschine geschrieben und auf Wachsmatrize abgezogen herzustellen. …«6
Maßgeblich beteiligt am Herstellen
und Verbreiten der Flugschriften waren die in Berlin-Neukölln lebenden
Antifaschisten Bruno Dieckow, Friedrich Scharfenberg und Otto Tech nebst
weiteren Helfern aus anderen Berliner Stadtbezirken. Vermutlich ab März
1934 erschien die erste im Rotationsdruck hergestellte Miniaturausgabe
des Bundes mit dem Kopf »Sowjetrußland heute – Organ der Freunde der
Sowjetunion Deutschlands.« In Berlin
wurden monatlich für das Jahr 1934
900 illegale Schriften verbreitet. Es gelang auch, nach Leipzig, Chemnitz und
in das Rheinland etwa 1.000 Exemplare
zu versenden.
Im Frühjahr 1933 setzte sich die Reichsleitung des Bundes aus folgenden Personen zusammen: Karl Becker, Paul
Dietrich (mit dem Decknamen »Scholli«) und Gerda Platschek. Diese Leitung
bestand bis zum November 1933, weil
zu diesem Zeitpunkt Paul Dietrich in die
Emigration ging.
Die Berliner Leitung des Bundes bestand bis Oktober/November 1933 aus
den Bundesmitgliedern Robert Steglich, Friedrich Scharfenberger, Walter
Heller und dem Antifaschisten »Harry«
(sein richtiger Name blieb unbekannt)
sowie Georg Müller mit dem Deckna-
men »Egon«. Ab November 1933 wurde
aus konspirativen Gründen die Reichsleitung mit der Berliner Leitung zusammengelegt. Ihr gehörten an: Karl Becker, Gerda Platschek, Georg Müller,
Alfred Lindemann, Walter Heller, Siegmund Sredzki, »Harry« und »Piepel«,
der ebenfalls namentlich nicht ermittelt
werden konnte. Im Oktober 1934 ging
Karl Becker in die Emigration, da er als
langjähriger Reichsleiter des Bundes
und Mitglied des Preußischen Landtages zu bekannt und gefährdet war.
Die Leitung des Bundes bemühte sich
um eine rege illegale Propaganda in
den Berliner Betrieben. Aus diesem
Grund sind 1934 drei Delegationen bestehend aus Frauen und Männern nach
Rußland entsandt worden. Die notwendigen Reisepapiere und Geldmittel beschaffte der Bund. Dank vieler Helfer
konnten die verdeckten Reiserouten
zusammengestellt werden, um das Ziel
Sowjetunion zu erreichen. Die Antifaschisten nutzten insbesondere die legale Reisemöglichkeit in die Tschechoslowakei. In Prag trafen sich die
einzelnen Reisenden, um dann gemeinsam weiterzureisen. Die Teilnehmer
der Delegationen betrieben nach ihrer Rückkehr rege Propaganda für den
Bund der Freunde der Sowjetunion. Die
im März, Mai und November 1934 entsandten Delegationen zeugen von der
erfolgreichen konspirativen Tätigkeit
des Bundes. Die Reisenden berichteten nach ihrer Rückkehr in Berlin und
anderen Orten über die persönlichen
Eindrücke ihrer Reise. In der UdSSR
selbst informierten sie ihre Gastgeber
über das herrschende Terrorregime in
Deutschland. Die im März 1934 organisierte Reisegruppe bestand überwiegend aus Frauen, die zum Internationalen Frauentag nach Moskau reisten. Zu
den Teilnehmerinnen gehörten aus Berlin-Prenzlauer Berg Irene Harloff, Anna
Krause und Margarethe Sredzki.
Irene Harloff schrieb in ihren Erinnerungen begeistert von dem herzlichen
Empfang in Moskau, von den Begegnungen mit sowjetischen Frauen. In
den drei Wochen ihres Aufenthalts
sammelten die Reiseteilnehmerinnen
nachhaltige Eindrücke über das Leben
in der Sowjetunion. Treffen mit Arbeitern festigten die Freundschaft und die
internationale Solidarität.
Anna Krause, eines der ältesten Delegationsmitglieder, erhielt als Geschenk
eine goldene Damenbanduhr mit eingravierter Widmung, die an ihre Teilnahme am Internationalen Frauentag 1934
in Moskau erinnerte. Die Uhr überdauerte die Zeit der Illegalität. Nach ihrer
Rückkehr verbreiteten die Frauen ihre
Erlebnisse durch geschickte Mundpropaganda.
Dank der Überzeugskraft und den organisatorischen Fähigkeiten des Leitungsmitgliedes Siegmund Sredzki war
es möglich, dass unter den harten illegalen Bedingungen »der Bund der
Freunde der Sowjetunion in den Jahren
1933 und 1934 sein Wirken fortsetzen
konnte.«7
Monatelang bemühte sich die Gestapo, die in Berlin und den anderen
Städten wirkenden Antifaschisten des
Bundes aufzuspüren. Am 7. Dezember
1934 wurde Siegmund Sredzki nebst
zehn Kampfgefährten verhaftet. In den
nachfolgenden Wochen bis Mitte März
1935 erfolgte eine Verhaftungswelle,
der 149 Antifaschisten zum Opfer fielen. Nach wochenlangen Verhören erfolgte die Anklage durch die NS-Justiz.
In 9 Prozessen, aufgegliedert von »A
bis J«, bekamen die Frauen und Männer, die illegal den Bund der Freunde
der Sowjetunion bis zum Ende des Jahres 1934 erfolgreich weitergeführt hatten, die Rache des Nazi-Terrorregimes
zu spüren. Im Prozeß »A«, in dem die
Hauptverantwortlichen nach Ansicht
des Oberreichsanwaltes beim Volksgerichtshofs zusammengefaßt waren
waren, wurden angeklagt und verurteilt: Der Dreher Siegmud Sredzki, seine Frau Margarethe Sredzki, beide in
Berlin Prenzlauer Berg wohnhaft, die
Stenotypistin Gerda Platschek aus
Berlin-Mitte, der Friseur Georg Müller
aus Berlin-Pankow, die Versicherungsbeamtin Therese Dorfner aus BerlinPrenzlauer Berg, der Weber Robert
Steglich aus Berlin-Friedrichshain, der
Theaterleiter Alfred Lindemann aus
Berlin-Prenzlauer Berg, der Schlosser
Friedrich Scharfenberger aus BerlinPrenzlauer Berg, der Werkzeugmacher
Erich Brachmann aus Berlin-Neukölln
und der kaufmännische Angestellte Otto Stahl aus Berlin-Mitte. In der über
fünfzig Seiten starken Anklageschrift
hob der Staatsanwalt hervor, dass die
Angeklagten »… im Innland, insbesondere in Berlin, Leipzig und Magdeburg,
die Angeschuldigten Müller, Gerda Platschek und Margarete Sredzki auch im
Ausland insbesondere in Prag und Moskau in den Jahren 1933 und 1934 unter
sich und mit anderen gemeinschaftlich
und fortgesetzt illegal handelten. …«8
Ausführlich ging der anklagende Staatsanwalt des »Volksgerichtshofes« darauf ein, dass die Angeschuldigten am
Wiederaufbau beziehungsweise an der
Aufrechterhaltung des Bundes der Sowjetfreunde an führender Stelle sowie
57
an der Verbreitung von Druckschriften
beteiligt waren. Gerda Platschek wurde ferner vorgeworfen, die Kassenleiterin der Reichsleitung gewesen zu sein,
während Georg Müller attestiert wurde, als Verbindungsmann der Reichsleitung zur Berliner Leitung des Bundes
tätig gewesen zu sein. Hervorgehoben
wurde auch, dass am 3. März 1933 die
Räume des Internationalen Büros des
Bundes in Berlin-Mitte, Dorotheenstr.
19, nach einer Durchsuchung polizeilich geschlossen wurden. Laut Anklageschrift hatte zu diesem Zeitpunkt
der Bund etwa 30.000 Mitglieder. Als
Bundeszeitung wurde die in der Citydruckerei hergestellte Druckschrift
»Sowjetrußland heute« in einer Auflage von 60.000 Exemplaren herausgegeben.9
Ferner ist dem Schriftstück zu entnehmen, dass unmittelbar nach der
Schließung des Büros in Berlin Karl Becker und Paul Dietrich erste Schritte in
die Illegalität des Bundes einleiteten.
Sie beriefen die zu erreichenden Mitglieder zu einer Beratung in der Tegeler Heide ein. Dort wurden die notwendigen Schritte erörtert, um illegal
weiterzuarbeiten. Bereits im April 1933
erschien die erste Ausgabe einer illegalen Bundeszeitung im monatlichen
Abstand mit einer Auflagenhöhe von
100 bis 300 Exemplaren. Die Vervielfältigung erfolgte an verschiedenen
Orten Berlins. Die Verbreitung innerhalb der Stadt organisierte Georg Müller. Zu Beginn des Jahres 1934 schuf
die Reichsleitung Voraussetzungen für
die Herausgabe einer illegal gedruckten Zeitung, die offensichtlich im Ausland gedruckt wurde, da sich im Innland keine Druckmöglichkeit fand. Im
Juni/Juli 1934 erschien die erste Nummer der Druckschrift »Sowjetrußland –
heute« im Kleinformat. Diese erste
illegale Auflage betrug etwa 2.000 Exemplare. Neben der Bundeszeitung gab
die Reichsleitung einen hektografierten
Pressedienst heraus, der fast jede Woche, aber auch in größeren Zeitabständen erschien. Besonders hervorgehoben wurde in der Anklageschrift »A«,
dass in den illegalen Druckschriften
der »Nationalsozialismus« verhöhnt,
die Maßnahmen der Reichsregierung
auf dem Gebiet der Innen- und Außenpolitik in ungewöhnlich verlogener und
gehässiger Weise verunglimpft wurden
sowie den Lesern die Anschauung nahe gelegt wurde, dass eine Beseitigung
des faschistischen Regimes im Interesse aller Werktätigen geboten sei.
»Die hochverräterischen Ziele des
Bundes«, so der Staatsanwalt, »kenn58
zeichnet am treffendsten zweifellos ein
von den Angeschuldigten abgedruckter
Artikel in der Ausgabe Nr. 8 1934 mit
der Überschrift:
Die Aufgaben der FSU in Deutschland
1. Wir müssen verstehen und danach
handeln, dass unser Kampf für die
Wahrheit über die Sowjetunion und ihre
Verteidigung nur als Kampf gegen die
Hitlerregierung geführt werden kann.
2. dass der Kriegspolitik der deutschen Bourgeoisie gegen Sowjetrußland nur mit dem Sturz der Hitlerregierung … ein Ende gemacht werden
kann … Unsere Aufgaben liegen in erster Linie auf agitatorischem Gebiet.
… Unser wichtigstes Mittel sind unsere Zeitungen. … Ein Mittel von nichtgeringerer ist das organisierte Abhören
des Moskauer Rundfunks. … Von großer Bedeutung für unsere Arbeit sind
die Arbeiterdelegationen nach der SU
und ihre Berichterstattung. Wir haben
bereits einige Delegationen trotz Naziterror mit gutem Erfolg entsandt. Wir
werden weitere entsenden. Ihre Basis
muss aber noch breiter, ihre Berichterstattung noch besser organisiert werden. Insbesondere gilt es dabei, dass
wir mit unserer ganzen Agitation Richtung nehmen auf die Arbeiter in den
kriegswichtigen Betrieben und Industrien, aus ihren Reihen Delegierte zu
entsenden, in ihren Reihen Bericht zu
erstatten. Ebenso gilt es, in den faschistischen Massenorganisationen, wie
Arbeitsfront, Hitlerjugend, usw. jede
Möglichkeit für unsere Agitation auszunutzen.«10
Zusammenfassend hob der Ankläger
in der siebzig Seiten starken Anklageschrift hervor, dass alle zehn Angeklagten sich in erschwerter Form des
Verbrechens der Vorbereitung zum
Hochverrat zu verantworten haben.
Am 4., 5. und 8. Juni 1936 erfolgte vor
dem 1. Senat des »Volksgerichthofs«
der Prozess und die Verurteilung von
Siegmund Sredzki und dessen Kampfgefährten.
Die Angeklagte Therese Dorfner wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Das Verfahren gegen Alfred Lindemann wurde eingestellt, da ihm der
innere Tatbestand eines Verbrechens
der Vorbereitung zum Hochverrat nicht
nachzuweisen war, sondern nur der
Verstoß gegen das Parteiengesetz.
Georg Müller erhielt mit sechs Jahren Zuchthaus die höchste Strafe ihm
folgte Siegmund Sredzki mit fünf Jahren Zuchthaus. Das Strafmaß für die
anderen Angeklagten schwankte zwischen drei und zwei Jahren 6 Monaten
Zuchthaus. Lediglich Robert Steglich
erhielt wegen geringfügiger Teilnahme an den Widderstandsaktionen des
Bundes 1 Jahr Gefängnis.
Im Prozeß »B« standen 15 Angehörige des Bundes am 8. Oktober 1935
vor dem 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin. Sie kamen überwiegend
aus Berlin-Neukölln, vier Angeklagte
wohnten in Finowfurt, je einer in BerlinSpandau und Ruhlsdorf. In dieser Prozessgruppe befanden sich zwei Frauen.
Der Fliesenleger Bruno Dieckow wurde
mit fünf Jahren Zuchthaus am härtesten
bestraft. Ihm wurde vor allem vorgeworfen, bereits seit 1930/31 bis zu seiner
Verhaftung am 7. Januar 1935 ununterbrochen für die Ziele des Bundes der
Freunde der Sowjetunion gewirkt zu
haben. Seine Kampfgefährten erhielten
ebenfalls langjährige Zuchthausstrafen.
Im Prozeß »C« standen 19 Angeklagte
vor dem Kammergericht in Berlin, das
im Zeitraum Oktober/November 1935
alle Prozesse von »B« bis »J« durchführte. Insgesamt wurden 129 Antifaschisten zu langjährigen Zuchtaus- bzw.
Gefängnisstrafen verurteilt.11
In den Prozessen »H« und »J« standen
Jugendliche zwischen 16 bis 21 Jahren
vor den NS-Richtern. Sie hatten wie
Gerhard Sredzki, der Sohn von Margarete und Siegmund Sredzki, sich im illegalen Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) engagiert
und indirekt den Bund der Freunde
der Sowjetunion unterstützt, ohne dort
Mitglied gewesen zu sein.
Karl Becker, der als Reichsleiter in die
Emigration gegangen war, von Amsterdam und Paris aus die Weiterführung
des Bundes mitorganisierte sowie nach
Kriegsausbruch in den Reihen der französischen Résistance kämpfte, wurde
im Juni 1941 von der französischen Polizei verhaftet und an die Gestapo ausgeliefert. Er wurde am 4. September
1942 vom Volksgerichtshof zum Tode
verurteilt und im Strafgefängnis BerlinPlötzensee am 1. Dezember 1942 hingerichtet.
Sein Kampfgefährte Siegmund Sredzki
kam unmittelbar nach seiner Strafverbüßung in das KZ Sachsenhausen. Dort
fand er Anschluß an die illegale Lagergruppe deutscher und ausländischer
Häftlinge und leistete mit ihnen unter
den unmenschlichen Bedingungen im
Konzentrationslager illegale politische
Arbeit. Er wurde am 11. Oktober 1944
mit 23 deutschen und französischen
Häftlingen wegen der Teilnahme am Widerstand im Konzentrationslager Sachsenhausen erschossen.
An sein Widerstehen gegen das NS-Regime erinnert die Sredzki Straße in Ber-
lin-Prenzlauer Berg und die Gedenktafel
an der Ringmauer der Gedenkstätte der
Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde.
Mit der Zerschlagung der Struktur des
Bundes der Sowjetunion hörte der Widerstand der Wenigen, die den Massenverhaftungen 1934/35 entkamen,
jedoch nicht auf. Sie suchten sich neue
Kontakte zu Gleichgesinnten.
Auch die aus den Haftanstalten Entlassenen wie Gerhard Sredzki und seine
Frau Gerda Sredzki (geb. Wess) sowie
Karl Ziegler setzen nach dem Kriegsausbruch in der Jacob/Saefkow/Bästlein-Organisation ihren Kampf gegen
die braune Barbarei fort.
Dr. Günter Wehner
1
2
3
4
Der drohende Krieg. Organ des BdFSU, Jg.
1/1928, S. 70.
Die Einheit, Jg. 1928, Novemberheft, H. 3.
Vgl. Die Rote Fahne, 6. 11. 1928.
Sozialdemokratische Arbeiter über den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion. Berlin 1928,
S. 56.
5
6
7
8
9
10
11
Vgl. Curt. Remer u. a., Aus der Geschichte des
Bundes der Freunde der Sowjetunion in Sachsen bis 1935; in: Jahrbuch für Geschichte der
deutsch-slawischen Beziehungen in Ost- u. Mitteleuropa, Bd. II, 1958, S. 30 ff..
Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZC 13171, Bd. 6, Bl. 70 ff..
Vgl. Zur Geschichte des Kampfes gegen Faschismus in Berlin-Prenzlauer Berg 1933 bis 1945,
hrsg. vom Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR, Kreiskomitee BerlinPrenzlauer Berg, Berlin 1987, S. 69 ff..
Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZC 13171, Bd. 5, Bl 2 ff..
Vgl. Ebenda.
Ebenda, Bd. 5, Bl. 12–14.
Vgl. Ebenda Bd. 5, Bl. 36 ff.
59
Leistungen und Fehlleistungen marxistischer Faschismustheorien aus heutiger
Sicht. Einige Vorüberlegungen für eine neue materialistische allgemeine Theorie
der Faschismen1
Die erste produktive Phase: Marxistische
Reaktionen auf den aufkommenden Faschismus
Zu den vielen bis heute umstrittenen
Fragen der faschismustheoretischen
Diskussion gehört die nach dem Zeitpunkt, an dem das, was später allgemein »Faschismus« genannt wurde,
zuerst auftrat. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass bereits einige extrem nationalistische Gruppierungen, die Ende
des 19. Jh. in Frankreich und Italien entstanden, die wichtigsten faschistischen
Wesenszüge aufwiesen, so die Associazione Nazionalista Italiana (ANI) um Enrico Corradini und die Action Francaise
(AF) um Charles Maurras. Die Marxist/
innen jedenfalls realisierten die entstehende tödliche Gefahr in vollem Umfang erst, als 1919 die sich selbst »faschistisch« nennende Massenbewegung
in Italien entstanden war und ihre paramilitärischen squadren einen beispiellosen, bürgerkriegsähnlichen Terror gegen Gewerkschaften und Sozialistische
Partei entfesselt hatten.
Es scheint, als seien die Marxist/innen
in- und außerhalb Italiens von der Mobilisierungskraft und terroristischen Wirksamkeit der Faschisten bis zu einem
gewissen Grad überrascht worden. Die
ersten prominenten marxistischen Interpretationen des Faschismus, wie sie
1923 auf einer Erweiterten Exekutivkonferenz der Kommunistischen Internationale (EKKI) entfaltet wurden, offenbaren
ausnahmslos eine enttäuschte Revolutionshoffnung und auch eine gewisse Ratlosigkeit: Wie konnte es sein, dass sich
bedeutende Teile der kleinbürgerlichen
Bevölkerung, besonders der Jugend,
den Faschisten zuwendeten, wo doch
die Marxist/innen – in ihrer Selbstwahrnehmung – eine so strahlende, überzeugende und vernünftige gesellschaftliche
und politische Alternative angeboten
und dazu noch die historischen Gesetzmäßigkeiten auf ihrer Seite hatten? Der
Erfolg des Faschismus musste den meisten Marxist/innen als Anomalie der
Geschichte erscheinen.
Es machte ihnen allerdings keinerlei
Schwierigkeiten, seine Nutznießer und
Urheber zu bestimmen. Ab spätestens
1920 hatte sich die faschistische Bewegung, deren Wurzeln eigentlich im
syndikalistischen und auch im sozialistischen Milieu lagen, mit den radikalen
60
Nationalisten und Imperialisten verschmolzen, ihren ursprünglichen Republikanismus und Antiklerikalismus zurückgestellt und sich zum bereitwilligen
terroristischen Werkzeug der Großbürger und Großagrarier gegen die drohende soziale Revolution gemacht. Der
Faschismus als Söldner- und Hilfstruppe
der alten herrschenden Klassen gegen
die vor der Tür stehende Arbeiterrevolution – dieses Erklärungsmuster sollte
paradigmatisch für die marxistische Faschismustheorie werden.
Doch wenn dies stimmte – handelte
dann der kleinbürgerliche und teilweise
sogar »unterbürgerliche«, oft jugendliche Massenanhang der Faschisten nicht
gegen seine objektiven, seine eigentlichen Interessen? Und wie war diese irrationale Entscheidung materialistisch
zu erklären? Der – vermeintliche – Widerspruch zwischen sozialer Funktion
und sozialer Basis des Faschismus, oder
anders ausgedrückt zwischen seiner
großbürgerlichen und großagrarischen
Klassen- und seiner klein- und unterbürgerlichen Massenbasis war von Beginn an das zentrale Problem der marxistischen Faschismustheorien.
Im Unterschied zu den späteren Dogmen der stalinisierten Kommunistischen Internationale vom Faschismus als »Diktatur der reaktionärsten
usw. Elemente des Finanzkapitals« und
vom »Sozialfaschismus« bemühten sich
die marxistischen Faschismustheoreme
der frühen zwanziger Jahre immerhin
noch ernsthaft um ein Verständnis der
Motive der faschisierten Massen. Clara
Zetkin nahm die faschistischen Versprechen von sozialer Gerechtigkeit und nationaler Klasseneinheit durchaus ernst,
würdigte den subjektiv ehrlichen Glauben vieler Faschisten an ihre Ideale und
fragte nach den seelischen Bedürfnissen breitester Massen, an die der Faschismus geschickt anknüpfte. Karl
Radek begriff den Faschismus als nationalistische, nach Klassenharmonie
strebende Kleinbürgerbewegung, deren
Erfolge der welthistorischen Niederlage und dem Versagen der Arbeiterbewegung geschuldet sei.2 Einige Jahre nach Zetkin und Radek betonte der
italienische Sozialist Filippo Turati die
Bedeutung der Weltkriegskatastrophe
und schwerer strategischer Fehler der
Linken für die Entstehung des Faschismus. Auch Palmiro Togliatti und Antonio Gramsci gehörten zu den wenigen
namhaften Marxist/innen, welche die
Motive und die Ideologie der Faschisten
ernst nahmen und sie nicht einfach als
Lug und Trug denunzierten.3
Ernst Bloch, etwas später schreibend
als die Vorgenannten, wurde gleichfalls davon angetrieben, die Beweggründe der Faschisten verstehen zu wollen:
Die gleichzeitige Existenz und dabei
Ungleichzeitigkeit moderner und vormoderner Produktionsweisen und Bewusstseinsformen sei der Kraftquell
des Faschismus und dieser eine Revolte
gegen die kalte und gefühllose Welt der
kapitalistischen Moderne. Bloch war einer der wenigen, dem zu diesem frühen
Zeitpunkt die besondere Anziehungskraft des Faschismus auf die männliche
Jugend des Bürgertums auffiel. Der unkonventionelle Marxist Bloch kann somit als erster Theoretiker gelten, der die
Geschlechterdimension der Faschismen
ansprach. Wie viele derjenigen Gegner/
innen des Faschismus, welche die Gedankenwelt der Faschisten ernst nahmen und nicht als irrelevant abtaten, plädierte auch Bloch leidenschaftlich dafür,
den Faschisten ihre Symbole, Phrasen
und Ideale zu entwinden, um die faschisierten Massen zu den Kommunist/innen herüber zu ziehen. Und wie viele
seinesgleichen tadelte er die oft arrogante, phantasielose und ineffektive
Agitation der Kommunist/innen – um
im gleichen Atemzug den Stalinismus
zu seiner ideologischen Wiedereingliederung von Familie, Nation und Volksgemeinschaft in die kommunistische
Ideologie zu beglückwünschen! Bloch
empfahl, den esoterischen, heilslehrenhaften Aspekt des Kommunismus gegen
den faschistischen Mythos zu stellen.
Auch Leo Trotzki, dessen Faschismusinterpretation ansonsten dem Spektrum
der Bonapartismustheorien zugehört,
erklärte wie Bloch die faschistische
Massenanziehungskraft mit einem Atavismus – der Faschismus als Rückfall in
urzeitliche Barbarei:
»Der Faschismus hat die Niederungen
der Gesellschaft zur Politik erhoben.
Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in den städtischen Wolkenkratzern leben noch heute neben dem
zwanzigsten Jahrhundert das zehnte
und das dreizehnte. Hunderte von Millionen Menschen gebrauchen den elektrischen Strom und hören doch nicht
auf, an die magische Gewalt der Gesten und Beschwörungen zu glauben.
Der römische Papst verbreitet das Mirakel der Verwandlung von Brot und Wein
durch das Radio. Die Filmstars gehen zu
den Astrologen. Die Flugkapitäne, welche wunderbare, vom Menschengeist
geschaffene Apparate steuern, tragen
Amulette auf ihren Pullovern! Welch unerschöpfliche Reserven von Dunkelheit,
Unwissenheit und Barbarei!«4 Blochs
und Trotzkis Faschismuserklärung beinhaltet sicherlich das Wahre, dass die
ideologische Arbeit der Faschisten auf
jeder irrationalen und reaktionären Tradition aufbauen beziehungsweise bei
ihr Anleihen machen konnte und ihnen
jedes Ressentiment gegen die moderne Welt zugute kam. Doch scheint das
Erklärungsmodell des Atavismus viel zu
wenig komplex und unspezifisch, um die
Faschismen von anderen irrationalen
und obskuren Erscheinungen abzugrenzen. Die Spezifik der faschistischen Antwort auf die Krisen des modernen Kapitalismus lässt sich damit jedenfalls
nicht einfangen.
Marxisten an den Ursprüngen
der Modernisierungstheorien
des Faschismus und der
Totalitarismustheorien
Vielleicht war es nur natürlich, dass die
Marxist/innen als erste Hauptgegner
und Hauptopfer des Faschismus besonders produktiv bei der Bildung von Theorien über ihn waren. Vor allem sie gaben
seit 1922 allen möglichen rechten Bewegungen und Regimen den Namen des
Faschismus, den viele für sich selbst
nicht verwendeten. Die Marxist/innen
trugen so einerseits maßgeblich dazu
bei, den Faschismusbegriff als allgemeine Kategorie zu etablieren, welche die
Wesensähnlichkeit zahlreicher extrem
rechter Bewegungen und Regime der
Zwischenkriegszeit und ihren ursächlichen Zusammenhang mit dem Kapitalismus nennbar machte. Andererseits
begründeten sie durch inflationären Gebrauch die unselige linke Tradition der
Entgrenzung des Faschismusbegriffs,
die ihn in dem Maße untauglich machte,
wie sie ihn polemisch gegen alle im weiteren Sinne rechten und autoritären
Phänomene in Anschlag brachte.
Marxist/innen standen am Anfang der
meisten wichtigen Faschismustheorien, sei es, dass sie diese tatsächlich begründeten oder substanziell beeinflussten und anregten. Ein Großteil
der nicht-marxistischen Faschismustheorien verdankte seine Entstehung
dem bürgerlichen Bedürfnis, der marxistischen Deutung eine triftigere Interpretation entgegenzusetzen. Diese
Dynamik wurde selten treffender beschrieben als vom US-amerikanischen
Historiker Henry Ashby Turner, der seinerseits angetreten war, um die marxistischen Gewissheiten über das Verhältnis von Faschismus und Großkapital ins
Wanken zu bringen: »Entspricht die weit
verbreitete Ansicht, daß der Faschismus
ein Produkt des modernen Kapitalismus
ist, den Tatsachen, dann ist dieses System kaum zu verteidigen. Ist diese Meinung jedoch falsch, dann ist es auch die
Voraussetzung, auf der die Einstellung
vieler Menschen […] zur kapitalistischen
Wirtschaftsordnung beruht.«5
Ein dissidenter deutscher Kommunist,
Franz Borkenau, gehörte zu den Begründern der Modernisierungstheorien des
Faschismus. Sein zentrales Theorem: In
schwach entwickelten kapitalistischen
Ländern wie Italien sind starke Arbeiterbewegungen ein Hemmnis der Industrialisierung. Der Faschismus stellt eine
Entwicklungsdiktatur dar mit der historischen Aufgabe, dieses Hindernis zu
zerstören. Zu Borkenaus Unglück wurden diese 1933 veröffentlichten Annahmen durch die historischen Tatsachen
sofort grundsätzlich in Frage gestellt:
Der Faschismus kam auch sowohl in
hoch entwickelten Industrieländern wie
Deutschland als auch in Ländern ohne Industrie und Arbeiterbewegung wie
Rumänien hoch. Dies hinderte aber Gelehrte wie D. E. Apter, C. A. Black und
A. F. K. Organski nicht daran, weiterhin
Modernisierungstheorien des Faschismus aufzustellen.6
Zweifellos zielten die faschistischen
Ideologien und Regime auf eine pervertierte Form von Modernisierung ab. Die
im engeren Sinne modernisierenden
Elemente der Faschismen finden jedoch
ihre Entsprechung in zahlreichen nichtfaschistischen Entwicklungswegen, die
von industrialisierten oder sich industrialisierenden Gesellschaften seit dem
Anfang des 20. Jahrhunderts beschritten wurden. Die umfassende staatliche
Durchdringung und Beeinflussung der
Gesellschaft, insbesondere der Wirtschaft, die aktive gesellschaftsplanerische und wissenschaftlich angeleitete
Tätigkeit des Staates, sein autoritäres
Krisenmanagement – all das gehörte zu
den allgemeinen Merkmalen der kapita-
listischen Entwicklung. Diese Entwicklungstendenz konnte sich auch unter faschistischen Vorzeichen verwirklichen,
sie ist aber nicht identisch mit der Spezifik der Faschismen.7
Vielfach ist vergessen worden, dass
auch am Anfang der Totalitarismustheorien sozialdemokratische Marxisten
wie Karl Kautsky standen, die Faschismus und Leninismus bzw. Stalinismus
als Erscheinungsformen eines Gleichen auffassten. Wie viele nicht-stalinistische Marxisten der zwanziger und
dreißiger Jahre versuchten diese Sozialdemokraten, den Faschismus mit Hilfe von Marx‘ Schrift »Der 18. Brumaire
des Louis Bonaparte« zu analysieren,
gehörten also zu den frühen Repräsentanten der »Bonapartismustheorien«
des Faschismus. Analog zum Regime
Napoleons III. in Frankreich von 1852
bis 1870 sollten sich faschistischer und
bolschewistischer Staat gegenüber ihrer
sozialen Basis »verselbständigt« haben.
Dies erkläre den überdurchschnittlich
tyrannischen und terroristischen Charakter dieser Regime.8 Die Gleichsetzung von Leninismus bzw. Stalinismus
und Faschismus durch einige Sozialdemokraten verhielt sich analog zu der
stalinistischen Gleichsetzung von Sozialdemokratie und Faschismus, wie sie
die Rede vom »Sozialfaschismus« ausdrückte.
Klassische Ausformung und
Stagnation: Die Agenten- und
Bonapartismustheorien
Die meisten Vertreter/innen der Bonapartismustheorien hielten sich von
solchen Gleichsetzungen frei. Fast alle
Marxist/innen der zwanziger, dreißiger
und vierziger Jahre, die sich der Stalinisierung entzogen, vertraten Spielarten
der Bonapartismustheorie, so Julius
Braunthal, Oda Olberg, Wilhelm Ellenbogen, Paul Kampffmeyer, Otto Bauer,
Arkadij Gurland, Franz Borkenau, Georg
Decker, Alexander Schifrin, Rudolf Hilferding, Angelo Tasca, Pietro Nenni, August Thalheimer, Wolfgang Abendroth,
Leo Trotzki und Antonio Gramsci.9
Die »Bonapartismustheoetiker/innen«
beriefen sich auf verschiedene Ähnlichkeiten: Faschismus wie Bonapartismus
befriedeten oppositionelle Teile der Gesellschaft durch eine Doppelstrategie
aus Repression und Integration und genossen wegen ihrer Sozialreformen und
zeitweiligen außenpolitischen Erfolge
plebiszitäre Unterstützung.10
Diese auf dem Vergleich von Herrschaftstechniken beruhende Parallelisierung blendet aus, dass keines
der als Bonapartismus bezeichneten
61
Regime (neben Napoleon III. figurieren mitunter auch Camillo Cavour, Otto von Bismarck, Fürst Schwarzenberg
in Österreich-Ungarn und der britische
Premierminister Benjamin Disraeli als
Herrscher bonapartistischen Typs) wesentliche Elemente der Faschismen
wie Massenmobilisierung, Massenpartei und Parteimiliz hervorbrachte.11 Die
ideologischen Ähnlichkeiten zwischen
Bonapartismus und Faschismus – Führerideologie, Etatismus, Militarismus,
Expansionismus, Sozialreformismus,
plebiszitäre Elemente12 – erlauben weder einzeln noch in Kombination eine
hinreichende Abgrenzung der Faschismen von nicht-faschistischen autoritären und diktatorischen Regimen.
Für den an Stalin orientierten Teil der sozialistisch-kommunistischen Weltbewegung wurde eine später häufig mit dem
Begriff: »Agententheorie« gekennzeichnete Auffassung des Faschismus kanonisch, deren Kern die Komintern-Definition von 1934 ausdrückt: Faschismus
sei »die offene, terroristische Diktatur
der reaktionärsten, chauvinistischsten,
am meisten imperialistischen Elemente
des Finanzkapitals«.
Beide Hauptströmungen der marxistischen Faschismustheorie gehen
fehl – sowohl die Agententheorie, nach
der faschistische Bewegungen einfach
Instrumente der Klassenherrschaft sind,
als auch die »Bonapartismustheorien«,
nach denen der Faschismus Kleinbürger- und Deklassiertenbewegung ist, der
im Moment relativer Kräftebalance zwischen Bourgeoisie und Proletariat von
Ersterer die staatliche Herrschaft übertragen wird, woraufhin es zu einer »Verselbständigung« des Staates kommt. Es
ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass
der Unterschied zwischen Agenten- und
Bonapartismustheorien bloß graduell
ist: In beiden handelt der Faschismus
im Auftrag und im Interesse der herrschenden Kapitalistenklasse, nur dass
die »Bonapartismustheoretiker/innen«
mittels des Verselbständigungstheorems zu erklären versuchen, wieso die
faschistische Herrschaft sich in manchen Fällen auch gegen die objektiven
Interessen der Großbourgeoisie wenden
kann.13
Dass die marxistischen Faschismustheorien den ihrer Meinung nach bürgerlichen Klassencharakter des Faschismus derart stark betonten, war
keineswegs nur dem marxistischen Interesse an der Delegitimation der kapitalistischen Gesellschaftsordnung geschuldet. Vielmehr spiegelte sich darin
eine historische Erfahrung: Wo die Faschisten tatsächlich die Staatsmacht
62
besetzen konnten wie in Italien und
Deutschland, gelang ihnen dies nur im
Bündnis mit traditionellen Führungsgruppen – wichtigen Teilen des Großkapitals, der hohen Bürokratie, der Militärführung, des Adel und des hohen
Klerus – oder zumindest mit deren Duldung.
Historisch-empirische Zweifel an
Grundaussagen der marxistischen
Faschismustheorien
Vor aller Kritik an den theoretischen
Grundlagen der marxistischen Faschismustheorien kann schon jetzt festgestellt werden, dass sich die marxistische
Deutung des Faschismus aus heutiger
Sicht nur schwer mit den historischen
Fakten in Übereinstimmung bringen
lässt. In den weitaus meisten Ländern
Europas setzten die traditionellen Führungsgruppen nicht auf die Faschisten,
sondern sahen in ihnen die längste Zeit
gefährliche Rivalen, die sie hart unterdrückten – so in Ungarn unter Admiral
Horthy und in Rumänien unter Antonescu. In anderen Ländern verbündeten
sich die politischen Vertreter der traditionellen Führungsgruppen zwar mit den
Faschisten, bemühten sich aber um ihre
Assimilation und Neutralisierung, um sie
schließlich ganz an den Rand zu drücken
und zu entmachten, wie es unter Franco in Spanien und unter Salazar in Portugal geschah. Diese unterschiedlichen
Konstellationen mussten den Marxist/
innen entgehen und tun dies manchmal
bis heute, weil ihnen jedes konservative, autoritäre oder diktatorische Regime
größtenteils ohne Weiteres als »faschistisch« galt, so dass sie die gravierende
ideologische und praktische Differenz
zwischen Faschisten und Konservativen
nicht wahrnehmen konnten.
Auch in Deutschland und Italien unterstützten maßgebliche Teile der sozialen
Führungsgruppen, allen voran das vorwiegend an Staatsaufträgen und am
Binnenmarkt interessierte Großkapital
der Schwer- und Rüstungsindustrie, die
Faschisten erst dann, als ihre eigentlichen Favoriten, die traditionellen rechten Parteien, abgewirtschaftet hatten
und man die Faschisten wegen deren
Massenbasis nicht mehr länger ignorieren konnte.
Agenten- und Bonapartismustheorien
passen außerdem wenig auf diejenigen
faschistischen Bewegungen, die wie die
rumänischen »Legionäre« oder die kroatischen »Ustascha« in Ländern empor kamen, denen eine entwickelte Industrie und folglich sowohl eine starke
Bourgeoisie als auch eine Arbeiterbewegung weitgehend fehlten. Es bleibt
aber ein Verdienst der marxistischen
Faschismustheorien und der von ihnen
inspirierten Forschung, reiches empirisches Material über die vielfach unleugbare Komplizenschaft zwischen traditionellen Führungsgruppen, vor allem
Großkapitalisten, und den verschiedenen faschistischen Bewegungen zusammen getragen zu haben.
Neben ihren grundsätzlichen Annahmen über das Verhältnis zwischen Kapitalistenklasse und Faschisten teilten
Agenten- und Bonapartismustheorien
auch folgende Grundauffassung: Die
faschistischen Bewegungen entstehen und werden von den herrschenden
Klassen zur Machtsicherung herangezogen, weil die Arbeiterbewegung eine solche Stärke gewonnen hat, dass Macht
und Privilegien der Herrschenden nicht
mehr anders erhalten werden können.
Während allerdings für die Agententheorien der frühen dreißiger Jahre kennzeichnend war, den Faschismus geradezu für das letzte verzweifelte Bollwerk
gegen die nah bevorstehende Revolution zu halten – erinnert sei an die grandiose Fehleinschätzung der KPD, wonach
die Herrschaft des Nazifaschismus den
revolutionären Prozess in Deutschland
nur beschleunigen könne – charakterisierten die Bonapartismustheorien ihn
als Notlösung, welche die Bourgeoisie in der Situation eines Kräftegleichgewichts zwischen den Hauptklassen
wählt.
Diese zentralen marxistischen Annahmen über die historische Ausgangssituation der faschistischen Herrschaft
sind mehr als zweifelhaft. Wo der Faschismus die Macht erlangte, bestand
weder ein Kräftegleichgewicht der Klassen noch eine revolutionäre oder vorrevolutionäre Situation, sondern Arbeiterbewegung und Linke hatten
entscheidende Niederlagen erlitten.14
Alle europäischen Faschismen der Zwischenkriegszeit gediehen nur, wenn ihre
Gegenspieler, also demokratische und
liberale sowie vor allem sozialdemokratische, sozialistische, kommunistische
und anarchistische Kräfte, durch vorangegangene Niederlagen geschwächt
und desorientiert, durch tief greifende
Fragmentierungsprozesse und verfehlte
politische Einschätzungen zu angemessenem Handeln unfähig oder in der jeweiligen Gesellschaft ohnehin schwach
vorhanden waren.
Bis heute haben nur wenige Marxist/
innen den vollen Umfang der welthistorischen Niederlage der Linken begriffen, die das historische Fenster für die
Faschismen öffnete. Es war dies die Situation des Weltkriegsausbruchs 1914:
Anstatt den praktischen Beweis für die
Wahrheit ihres Internationalismus zu erbringen, fügten sich die im Zenit ihrer
Organisationsmacht stehenden europäischen Arbeiterparteien mehrheitlich in
klassen- und lagerübergreifende Kriegskoalitionen ein. Der Sommer 1914 war
das Menetekel der marxistischen Arbeiterbewegung, der Beweis der praktischen Unmöglichkeit der Weltrevolution auf Generationen hin. Interessanter
weise lernten schon Marx und Engels
den europäischen Krieg, den sie lange
als Katalysator der Revolution herbei
gesehnt hatten, am Ende ihres Lebens
fürchten: Der Übergang zum Sozialismus könne in Europa nur durch einen
allgemeinen Krieg verhindert werden,
der den Chauvinismus obsiegen ließe.
Vor allem der später als Marx verstorbene Engels sah seine revolutionären
Hoffnungen durch den Nationalismus
gefährdet.15
Materialistische
Faschismustheorien nach 1945
In den ersten zwei Jahrzehnten nach
dem Untergang der faschistischen Regime in Europa stagnierte die marxistische Theoriebildung weitgehend. Die
Dogmen des Marxismus-Leninismus ließen Innovation sowieso kaum zu, aber
auch von den »Bonapartismustheoretiker/innen« kamen keine substanziellen
Weiterentwicklungen. Das Bekanntwerden der ungeheuerlichen Verbrechen
der Faschisten im Zweiten Weltkrieg,
vor allem der deutschen, veranlasste
die meisten Marxist/innen keineswegs,
die Faschismen schärfer von autoritärkonservativen Phänomenen abzugrenzen, sondern steigerte im Gegenteil die
Verlockung, alle möglichen politischen
Gegner als »faschistisch« zu brandmarken. Der ohnehin schon ausgefranste
Begriff des Faschismus wurde noch weiter entgrenzt.
Unterdessen vollzogen sich abseits des
Traditionsmarxismus und in scharfem
Gegensatz zu ihm spannende theoretische Entwicklungen, die marxistischen
Vorarbeiten unendlich viel verdankten
und bis heute nicht in vollem Umfang für
marxistische Faschismustheorie nutzbar gemacht wurden. Da wäre zunächst
die Kritische Theorie zu beachten. Schockiert von der klassenübergreifenden
Mobilisierungskraft vor allem des Nazifaschismus suchten ihre Repräsentanten nach sozialpsychologischen Erklärungen. Viele Marxist/innen kritisierten
seither, dass sozialpsychologische Erklärungsansätze die Frage nach der
Schuld an der Errichtung faschistischer
Herrschaft von den sozialen Führungs-
gruppen auf den Massenanhang faschistischer Bewegungen verlagern würden.
Beim kapitalistischen System verbleibe
nur die vage Restschuld, verantwortlich für die massenhafte Ausprägung
Faschismusanfälliger Persönlichkeitsstrukturen zu sein. Doch tragen sozialpsychologische Erklärungsversuche, ob
nun von der Kritischen Theorie oder anderen Richtungen formuliert, zweifellos
mehr zur Erklärung der faschistischen
Massenbasis bei als das meiste, was die
Traditionsmarxist/innen zu diesem Thema zu sagen hatten.
Um so interessanter ist es, dass die Kritische Theorie dort, wo sie den Faschismus nicht psychologisch, sondern sozialökonomisch erklärte, teilweise recht
nahe bei den marxistischen Agententheorien angesiedelt war. Wie bei diesen herrschte in der Kritischen Theorie
mitunter krasser Ökonomismus: Der Faschismus wurde als eine mögliche Herrschaftsform von mehreren in der schon
an sich totalitären Industriegesellschaft,
die faschistische Ideologie als inhaltlich
beliebig und rein manipulatorisch begriffen, so etwa von Adorno: »Man kann
wahrscheinlich zu den tiefsten Einsichten in die Struktur des Faszismus
gelangen durchs Studium der Reklame,
die in ihm erstmals ins politische Zentrum – oder besser in den politischen
Vordergrund – tritt und deren ökonomische Voraussetzungen wahrscheinlich wieder mit denen des Faszismus
korrespondieren.«16
Die politische Spitze dieser Interpretation richtete sich zwar auch gegen die
bürgerliche Demokratie in der Industriegesellschaft, aber natürlich ebenso
und noch stärker gegen den Staatssozialismus sowjetischer Prägung. Hierdurch geriet die Kritische Theorie in
unübersehbare Nähe zu den Totalitarismustheorien, was die meisten Marxist/
innen nachhaltig daran hinderte, die in
ihr möglicherweise enthaltenen Anregungen aufzunehmen.
Hannah Arendt als die kraetivste und differenzierteste Vertreterin der Totalitarismustheorien lehnte den marxistischen
Faschismusbegriff zwar entschieden
ab, ihre materialistische Ableitung des
Nazifaschismus aus Krise und Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft, aus
Imperialismus, Rassismus und Antisemitismus aber kann für materialistische
Faschismustheorie anregender und
fruchtbarer sein als die Schablonen der
Agenten- und Bonapartismustheorien.
Dabei fällt besonders bei ihren Überlegungen zum Imperialismus die eklatante
Nähe zu marxistischen Theorien ins Auge. Arendts rigider Antikommunismus,
ihre hanebüchene Gleichsetzung von
Bolschewismus und Nationalsozialismus, ihre mangelnde Differenzierung
zwischen Marxismus, Leninismus und
Stalinismus sowie die sich durch ihr
ganzes Werk ziehende Apologie der bürgerlichen Gesellschaft jedoch hinderten
die meisten Marxist/innen daran, ihre
Arbeiten vorurteilsfrei für sich zu nutzen.
Theoretischer Wiederaufschwung
ab den 1960er Jahren
Der Aufschwung fundamentaler Gesellschaftskritik und oppositioneller sozialer Bewegungen in den sechziger Jahren brachte zunächst einen weiteren
Schub in der verderblichen Entgrenzung
des Faschismusbegriffs. In der Linken
verbreitete sich ein Theorem namens
»Neuer Faschismus«, nach dem der Faschismus sich heute nicht mehr als politische Bewegung zu formieren brauche,
sondern gleich in Struktur und Praxis
der staatlichen Institutionen in wachsendem Maße zum Ausdruck komme
(»Faschisierung«), wo er ohnehin schon
immer angelegt sei. Dieses Theorem
ermöglichte es, jede staatliche Repression und jede Einschränkung demokratischer Rechte als faschistisch
anzuprangern. Nicht zuletzt verschaffte
es bewaffneten Gruppen wie der »Rote
Armee Fraktion« (RAF) eine vermeintlich
antifaschistische Legitimation.
Neben solchen Instrumentalisierungen
des Faschismusbegriffs im politischen
Handgemenge entspann sich aber auch
eine lange, erkenntnisreiche theoretische Diskussion, die während der siebziger Jahre unter anderem in der westdeutschen marxistischen Zeitschrift
»Das Argument« ausgetragen wurde.
Eine Weiterentwicklung der Agententheorien stellte die realistischere Monopolgruppentheorie dar, die vor allem
über das Verhältnis zwischen traditionellen Führungsgruppen und Faschisten
in Deutschland wichtiges Wissen vermittelte. Die Monopolgruppentheorie versuchte, den Widerspruch zwischen der
realen, relativen Eigenständigkeit der
faschistischen Ideologien, Bewegungen
und Regime und dem marxistisch-leninistischen Dogma vom Faschismus als
Herrschaft des Monopolkapitals durch
die Ausdifferenzierung des Monopolkapitals zu lösen. Die Autonomie des Faschismus sollte aus den Widersprüchen
der unterschiedlichen auf den Staat einwirkenden Kapitalfraktionen zu erklären
sein. Trotz ihrer Teileinsichten war die
Monopolgruppentheorie zu abenteuerlichen, ja mystifizierenden Konstruktionen und zum Lavieren gegenüber der
63
eigentlich offenkundigen Tatsache gezwungen, dass große Teile der faschistischen Herrschaftspraxis eben nicht
ökonomisch, sondern vielmehr vorrangig ideologisch determiniert waren.
Als Hauptproblem der marxistischen
Faschismustheorien stellte sich nach
wie vor die Erklärung der faschistischen
Massenbasis.17 Eine Lösung sollte die
prominent durch Reinhard Kühnl vertretene Theorie vom Bündnis zwischen
Faschismus und Monopolkapital bieten. Aber auch Kühnl ging wie so viele
Marxist/innen nicht mit der gebotenen
Ausführlichkeit auf die Eigenständigkeit und die spezifischen Inhalte der faschistischen Ideologien ein. Immerhin
erwähnte er zu Recht die Rolle des fetischisierten Bewusstseins bei der Herausbildung faschistischer Ideologie. Er
blieb damit jedoch viel zu unspezifisch,
denn dieses Bewusstsein liegt allen auf
kapitalistischem Boden entstandenen
Ideologien zugrunde.18
Der andere große westdeutsche Faschismustheoretiker der sechziger und
siebziger Jahre, Reinhard Opitz, der an
der orthodoxen Theorie vom Faschismus als Herrschaft des Monopolkapitals
festhielt, gelangte bei der Untersuchung
des Verhältnisses zwischen faschistischer Klassen- und Massenbasis auf
die richtige Fährte des Ideologischen.
Der Faschismus sei: »der im Protest gegen die vom Monopolkapital geschaffenen Verhältnisse von unten her in Gestalt rechter Bewegungen aufsteigende
Autoritarismus«. »Nichtmonopolistische
Schichten«, die in imperialistischer Ideologie befangen seien, würden durch
die ständige Verletzung ihrer objektiven
Interessen, vor allem wegen ihrer Verelendung, rebellisch gegen die offiziellen
monopolistischen Parteien. Die Radikalisierung bestimmter Formen bürgerlicher Ideologie durch die genannten
Schichten verlange nach hartem Durchgreifen gegen wirkliche und vermeintliche Feinde – Demokraten, Linke, äußere Gegner, Juden etc.:
»Das Kennzeichen dieser Mentalität
besteht, auf einen Satz gebracht, darin, dass sie aus dem imperialistischen
Feindbild die Gewaltkonsequenz zieht
und nach deren praktischer Einlösung
verlangt.« Opitz verfolgte aber die richtige Spur des Ideologischen nicht mehr
weiter. Sein Klassenreduktionismus ließ
ihn nicht nur die Möglichkeit einer Interessenidentität zwischen Großkapital
und anderen Klassen im Zeichen der Nation und damit die Zugkraft der faschistischen Versprechungen verkennen.
Der Akzent, den Opitz auf die Rolle des
Monopolkapitals legte, führte ihn auch
64
dazu, einfache Militärdiktaturen als faschistisch ansehen. Seine Faschismusdefinition, die kaum über die bekannte
der Kommunistischen Internationale hinausging, gab alle gewonnenen Erkenntnisse wieder auf.19
Höhepunkt marxistischer Faschismustheoriebildung: Die »Projektgruppe Ideologie-Theorie« (PIT)
Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre wirkte in Westdeutschland
das marxistische »Projekt IdeologieTheorie« (PIT), deren bekanntestes Mitglied Wolfgang Fritz Haug, Professor für
Philosophie an der Freien Universität in
West-Berlin, war. Das PIT formulierte eine Kritik und gleichzeitig Selbstkritik,
die meines Erachtens voll ins Schwarze traf:
Der stark ausgeprägte Ökonomismus
und Klassenreduktionismus der bisherigen Hauptströmungen der marxistischen Faschismustheorien helfe
nicht, die Wirkungsmacht der faschistischen Ideologie zu verstehen. Die
Zurückführung der faschistischen Ideologie auf Klassenherrschaft und Klasseninteresse vermag zwar Absichten zu
erhellen, aber keine Wirkungen. Von daher sei Ökonomismus auch hilflos bei
der Entwicklung von antifaschistischen
Strategien. Der Zusammenhang zwischen kapitalistischer Klassenstruktur
und Faschismus könne nur über die Ideologie und nicht durch reine Ableitung
aus der Ökonomie verständlich gemacht
werden.20
Zweifellos gehören die Texte des PIT zu
den fortgeschrittensten, bis heute anscheinend nicht eingeholten Arbeiten in
der marxistischen Faschismustheorie –
allerdings nicht hinsichtlich ihrer politisch-strategischen Schlussfolgerungen.
Der sicher richtige Grundgedanke des
PIT besteht darin, den Faschisten alle
psychischen und emotionalen Energien,
welche diese für sich einzuspannen
trachten, zu entwinden, um sie dann
demokratisch bzw. emanzipatorisch zu
kanalisieren. Problematisch wird es bei
den – nur angedeuteten – praktischen
Empfehlungen, den Diskurs um Volk und
Nation von links zu besetzen.21 Dies würde entgegen den hierein gesetzten Hoffnungen des PIT wahrscheinlich weniger
zu einer Demokratisierung des Nationalismus als zu einer Faschisierung der
Linken führen.
Ungeachtet dessen bestechen die Arbeiten der PIT dadurch, dass sie das
Ideologische wirklich ernst nehmen und
auf simple Ableitungsversuche verzichten. Dabei gehen sie von einer maßgeblich durch den französischen Marxisten
Louis Althusser inspirierten IdeologieTheorie aus, die Ideologie vorrangig als
materielle Praxis auffasst. Mit folgenden
Worten umriss Haug treffend das progressive Potenzial des PIT-Ansatzes:
»Wir sind gut beraten, wenn wir aufmerksam untersuchen, was die Faschisten
wirklich tun. […] Und wir werden von einer funktionalhistorischen Bestimmung
des Ideologischen ausgehen. Sie sucht
nicht primär Ideengebäude, auch weder
Klassenbewusstsein noch sonstige Formen ›wertbezognen‹ oder ›handlungsorientierten‹ ›Bewusstseins‹. Wir suchen
Formen der auf innere Selbstunterstellung der Individuen zielenden Reproduktion von Herrschaft. […] Und wir suchen
vor allem die faschistische Spezifik im
Ensemble der ideologischen Mächte,
Beziehungen, Praxen etc. Wir suchen
also nicht primär nach einer faschistischen Ideologie, sondern nach der
Faschisierung des Ideologischen und
nach der ideologischen Transformationsarbeit der Faschisten.«22
Leider trifft beim PIT dieses althusserianische Konzept von Ideologie auf verschiedene traditionsmarxistische Restbestände: Der Staat wird immer noch
zu sehr als Instrument der Klassenherrschaft interpretiert, seine relative Autonomie nicht in vollem Ausmaß erkannt.
Dass das PIT den Faschismus demzufolge gleichfalls als Klassenherrschaft bestimmt23, führt sie wie so viele Marxist/
innen zur Vernachlässigung der spezifisch faschistischen Form von Antikapitalismus zugunsten des faschistischen
Antikommunismus. Das PIT hätte vielleicht gut daran getan, doch ein wenig mehr nach einer spezifisch »faschistischen Ideologie« zu suchen, anstatt
»Hitlers Standpunkt« lediglich folgendermaßen zu bestimmen: »Reorganisierte Reproduktion der bestehenden
Ordnung«.24 Außerdem ist es bedauerlich, dass das PIT keine allgemeine Faschismustheorie leistete, sondern ihre
Arbeit weitgehend auf den deutschen
Extrem- und Sonderfall des Faschismus
beschränkt blieb.
Und heute?
Die Zeiten, in denen linke Gelehrte mit
ihren Faschismustheorien in der Wissenschaftslandschaft der BRD prominent vertreten waren und der Faschismusbegriff wie selbstverständlich
verwendet wurde, sind lange vorbei.
Parallel zum Abklingen der oppositionellen sozialen Bewegungen in den
siebziger und achtziger Jahren und zum
sich schon lange vor 1989/90 abzeichnenden Zusammenbruch des Staatssozialismus sowjetischer Prägung, wurde
die Verwendung des Faschismusbegriffs immer stärker zum Ausweis linker Gesinnung und damit hochgradig
unmodisch.25 Dies beginnt sich allmählich zu verändern, dennoch wurde die
wahre Renaissance allgemeiner (»generischer«) Faschismustheorien, die sich
seit der ersten Hälfte der neunziger Jahre im angelsächsischen Raum abspielte,
in Deutschland lange verschlafen.
Am bis heute schlechten Image des Faschismusbegriffs in Deutschland ist die
inflationäre und oft rein polemische
Verwendung des Begriffs von linker Seite nicht unschuldig. Aber auch die historisch bedingte Fokussierung der
Forschung hierzulande auf den deutschen Extrem- und Sonderfall des Faschismus, den Nationalsozialismus,
trug ihren Teil zur Vernachlässigung
allgemeiner Faschismustheorie und
vergleichender Faschismusforschung
bei. Selbstverständlich hatte die Sache auch eine eminent politische Seite:
Gerade in Deutschland nach 1989/90
wollten der triumphierende Kapitalismus und der neu erstarkende Nationalismus lieber nicht an ihre historische
und ursächliche Beziehung zu den Naziverbrechen erinnert werden.
Innerhalb der linken Szenerie war der
Faschismusbegriff zwar immer etabliert
und wurde und wird in vielerlei Zusammenhängen verwendet, doch ist seine
theoretische Klärung seit den siebziger
Jahren anscheinend keinen Schritt voran gekommen. Nicht allein muss konstatiert werden, dass selbst die am wenigsten aufgeklärtesten Versionen der
Agententheorie nach wie vor zahlreiche
Anhänger/innen haben. Generell fällt
genuin linke oder marxistische Faschismustheorie am meisten durch ihre Abwesenheit auf. In der Antifa-Bewegung
beispielsweise können Menschen ihre
ganze politische Sozialisation hinter sich
bringen, ohne auch nur ein einziges Mal
tiefer gehend mit Faschismustheorie in
Berührung gekommen zu sein – eigentlich erstaunlich bei einer Bewegung, die
den Faschismusbegriff im Namen trägt
und zumindest teilweise nicht so theoriefern ist wie ihr Ruf mancherorts.
Das Gedankengut des israelischen Historikers Zeev Sternhell, der entschieden dafür eintritt, die Rekonstruktion einer spezifisch faschistischen Ideologie
zum Ausgangspunkt der Faschismusanalyse und -theorie zu nehmen, wurde
zwar in Teilen der deutschen Linken aufgenommen, jedoch scheinbar ohne größere Folgen. Noch immer ist das, was es
an marxistischer oder überhaupt linksemanzipatorischer Faschismustheorie gibt, völlig auf den Faschismus als
Herrschaftsform konzentriert und vernachlässigt hierüber die Faschismen
als Ideologien und (Oppositions-) Bewegungen. Die linksradikale Theoriezeitschrift »Phase 2« schaffte es in ihrer kürzlich erschienenen Ausgabe zum
Themenschwerpunkt Faschismustheorie, dass in keinem einzigen der informativen Beiträge die faschistischen Ideologien als solche behandelt wurden.
Wenn in der Linken das Ideologische
der Faschismen verhandelt wird, dann
meist im Zusammenhang mit Ideologien der Ungleichheit, die ein viel größeres politisches Spektrum als das
eigentlich faschistische betreffen: Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und so weiter. Oft wird
angegeben, dass der Faschismus in ideologischer Hinsicht eben eine Radikaliserung der genannten und anderer antiemanzipatorischer Ideologien sei, eine
Auffassung, die in orthodox marxistischleninistischer Formulierung schon bei
Reinhard Opitz anzutreffen war. Dabei
bleibt weiterhin unklar, ab wann denn
zum Beispiel ein »normaler« Nationalist
zum Faschisten wird, wie diese unterschiedlichen Ideologien und Ideologeme bei den Faschisten zusammenhängen und sich bedingen und ob es nicht
vielleicht doch eine genuin faschistische
Ideologie gibt, deren Spezifik in der Weise der Kombination der ideologischen
Elemente liegt und durch die sich die
Faschisten von anderen Rechten zuverlässig abgrenzen lassen.
Grundlagenkritik der marxistischen
Faschismustheorien und Anforderungen an eine neue allgemeine
materialistische Theorie der
Faschismen
Die breite Akzeptanz der Agententheorien im Marxismus lässt sich zunächst
damit erklären, dass diesem eine eigentliche Staatstheorie fehlt. Bei Marx
finden sich nur wenige und dazu widersprüchliche staatstheoretische Fragmente. Was Engels und später Lenin an
Theorie des Staates zuwege brachten,
ließ diesem nur noch wenig Eigenständigkeit.26 Das erschwerte das Verständnis des überaus »verselbständigten«
faschistischen Staates. Wer daran gewöhnt ist, in allem Staatlichen den direkten Ausdruck herrschender Klasseninteressen zu sehen, für den können
faschistische Regime nur bloße Agenturen sein. Ähnliches betrifft Ideologien:
Wer in diesen nur entweder Klasseninteresse oder Verschleierung wahrer Absichten erblicken kann, dem wird sich
die massenhafte Anziehungskraft der
faschistischen Ideologien auch auf Ar-
beiter/innen nicht erschließen können. Der sozialdemokratisch-marxistische Theoretiker Rudolf Hilferding
hat die faschismustheoretische Schwäche der Marxist/innen in einem kurz
vor seiner Ermordung durch die Nazis
geschriebenen und erst 1948 bekannt
gewordenen Aufsatz klar erkannt: Der
Faschismus sei mit marxistischen Kategorien kaum beschreibbar, das heißt.
weder ökonomisch noch klassentheoretisch direkt ableitbar.27
Anders als selbst die differenziertesten
Ausprägungen der Agententheorie vermögen die Bonapartismustheorien mittels des Verselbständigungstheorems
immerhin zu denken, dass sich der Faschismus an der Macht auch gegen die
traditionellen Führungsgruppen wenden
kann. Den Kardinalfehler der Verkennung der relativen Eigenständigkeit und
Eigengesetzlichkeit des Ideologischen
haben Agenten- und Bonapartismustheorien jedoch gemeinsam. Bei den Bonapartismustheorien wird die Selbständigkeit der faschistischen Ideologie aus
der angeblich vorwiegend kleinbürgerlichen Basis der Faschismen abgeleitet
oder als mehr oder weniger über den sozialen Bedingungen Schwebendes, von
ihnen Losgelöstes dargestellt. Überhaupt stellt sich das Verselbständigungstheorem als systemimmanentes
und daher ebenso falsches Gegenstück
der Agententheorie dar. Reduziert der
marxistisch-leninistische Ökonomismus Staat und Ideologie gnadenlos auf
einen machtlosen, völlig unselbständigen Rest, so ersetzt das Verselbständigungstheorem den Zusammenhang
der gesellschaftlichen Bereiche durch
ein unverbundenes Nebeneinander.28
Zwar können die Bonapartismustheorien mehr Wahrheitsmomente als die
Agententheorien beanspruchen, aber
trotzdem lässt sich mit ihnen nicht viel
anfangen. Der Eindruck drängt sich auf,
dass die Marxist/innen, als sie sahen,
wie ratlos sie den Faschismen gegenüberstanden, verzweifelt nach Ideen im
Werk der »Klassiker« suchten, die sich
irgendwie auf die Faschismen beziehen
ließen.
Agenten- und Bonapartismustheorien
teilen das grundsätzliche Desinteresse
am Ideologischen und die Fixierung auf
den Faschismus als Herrschaftsform.29
Insofern der Faschismus an der Macht
selbstverständlich wesentlich mehr
Unheil anrichten kann als eine faschistische Bewegung in der Opposition,
hat diese Fixierung auch eine gewisse
theoriepolitische Berechtigung. Dennoch versteht sich von selbst, dass die
marxistischen Faschismustheorien da65
durch nur sehr begrenzt tauglich sind
zur Analyse der übergroßen Mehrzahl
der Faschismen, die nie an die Staatsmacht kamen. Nazi- und Italofaschismus blieben Ausnahmen; alle anderen
faschistischen Regime Europas wurden
im Laufe des Zweiten Weltkriegs von
Deutschen und Italienern eingesetzt. Es
dürfte feststehen, dass ohne Unterstützung durch wesentliche Teile der sozialen Führungsgruppen kein Faschismus
an die Macht gelangt wäre und gelangen
würde. Aber die Faschismen existieren
auch ohnedies als Ideologien und Bewegungen, und sie werden für Führungsgruppen nur in dem Maße interessant,
wie sie Massenanhang bekommen. Die
immense Dynamik der Faschismen als
politische Bewegungen, die Gründe für
die Anziehungskraft, der »genuine Antrieb einiger Zehntausend Fanatiker«30
entzogen sich somit weitgehend dem
marxistischen Verständnis. Die marxistische Ignoranz gegenüber den faschistischen Ideologien lässt sich nur so
erklären, dass die Marxist/innen im vermeintlichen Vollbesitz der Wahrheit gar
nicht auf den Gedanken kamen, dass ihre faschistischen Gegner auch denkende Wesen sein und tatsächlich für eigene – herrschaftliche – Interessen und
Privilegien eintreten könnten.31
Die meisten Marxist/innen weigern
sich bis heute, die Aussagen der Faschisten zu ihrem Selbstverständnis,
ihren Motiven und Zielen für bare Münze zu nehmen. Das, was gemeinhin als
faschistische Ideologie gilt, gilt vielen
Marxist/innen demnach nur als demagogische Tarnung und Täuschung. Ein
guter Neuanfang wäre, die Aussagen
der Faschisten endlich wortwörtlich
ernst zu nehmen.32 Dies würde bedeuten davon auszugehen, dass die Faschisten in der Regel – wie viele andere
Akteure in der politischen Arena – keine käuflichen Agenten oder zynischen
Machtmenschen sind, sondern dass
die meisten von ihnen oft wirklich meinen, was sie sagen. Faschisten werden
wie andere politische Akteure meistens
von einer aufwühlenden Wahrnehmung
gesellschaftlicher Probleme umgetrieben und von dem dringenden Wunsch
geleitet, ihnen Abhilfe zu schaffen. Es
steht völlig außer Frage, dass die meisten Faschisten subjektiv ehrlich davon
überzeugt waren und sind, das Gute und
Richtige zu tun. Dies schließt weder aus,
dass einzelne faschistische Akteure tatsächlich einen rein instrumentellen Zugang zum Ideologischen haben, noch
dass der gespürte Erfolg eines Ideologems zu seiner verstärkten Benutzung
führt und gewissermaßen auch auf den
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Ideologen selbst wirkt, das heißt seinen
Glauben an dieses Ideologem intensiviert.33
Zur materialistischen Rekonstruktion
der spezifisch faschistischen Ideologie
müsste zunächst der historischen Entstehungssituation der Faschismen –
imperialistische Mächtekonfrontation
und Erster Weltkrieg – nachgegangen
werden: Was war die spezifisch faschistische Antwort auf die allgemein wahrgenommenen existenziellen Herausforderungen und Probleme der Epoche?
Um weiter das Verhältnis von Kapitalismus und Faschismen zu klären, erscheint es zweckmäßig, die faschistische Interpretation und Kritik des
Kapitalismus zu betrachten: Was haben
die Faschisten am Kapitalismus zu kritisieren und wie tun sie es? Wie sieht ihr
sozialer Gegenentwurf aus? Zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Kapitalismus und Faschismus gehören auch
klassentheoretische Überlegungen, die
(nicht nur) in der marxistischen Faschismustheorie traditionell viel angestellt
wurden: Welche Interessen und Mentalitäten von sozialen Klassen, Schichten
und Gruppen drücken sich in den Faschismen aus beziehungsweise machen
besonders anfällig für faschistische Ideologien? Wer sind die Träger und wer die
Nutznießer der Faschismen?
Anders als vielen nicht-marxistischen
Faschismustheorien kann den marxistischen nicht vorgeworfen werden, den
Zusammenhang zwischen Kapitalismus
und Faschismus zu verschleiern. Im Gegenteil neigt der marxistische Antikapitalismus meist zu einer Verwischung
der Spezifik faschistischer Regime
gegenüber anderen kapitalistischen
Herrschaftsformen, seien sie nun
parlamentarisch-demokratisch oder autoritär-diktatorisch. Ähnlich verkennen
die Marxist/innen meist die Besonderheit der faschistischen Ideologien gegenüber nicht-faschistischem Nationalismen und dem Konservatismus. Wo
sich aus marxistischer Perspektive mit
faschistischen Ideologien beschäftigt
wurde, da verhinderte die Fixiertheit auf
den faschistischen Antimarxismus die
Erkenntnis der großen Bedeutung, welche die Feindschaft gegen Liberalismus,
Individualismus, bürgerlichen Lebensstil und Hedonismus für die Faschismen
hatte. Stattdessen müsste eine adäquate materialistische Faschismustheorie
in undogmatisch-marxistischer Tradition sowohl den Bruch als auch die Kontinuität im Verhältnis von Faschismen
und Kapitalismus bestimmen können.
Mathias Wörsching M.A.
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Die Wahl der Pluralform deutet an, dass die Faschismen zwar eine kategoriale Einheit darstellen,
sich aber dennoch von Land zu Land ganz erheblich unterscheiden. Damit wird einer vor allem mit
den Namen George L. Mosse und Roger Griffin verbundenen theoretischen Linie gefolgt, nach der die
Faschismen in ideologischer Hinsicht zunächst als
ultranationalistische Bewegungen aufgefasst werden müssen, woraus ihre frappierende Pluralität
herrührt: »Jedes Land entwickelte den Faschismus,
der seinem spezifischen Nationalismus gerecht
wurde.« Vgl. George L. Mosse, Die Völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1991 (zuerst: New York
1964), S. Vf. Der Historiker Roger Griffin verwendet das Wort »Faschismus« häufig, ohne sich konsequent für Singular oder Plural zu entscheiden.
2 Vgl. Ernst Nolte, Einleitung, in: derselbe, Hrsg.,
Theorien über den Faschismus, Königstein/Taunus
1984, S. 21 ff.
Vgl. Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen in marxistischen Faschismustheorien, in:
Projekt Ideologie-Theorie (PIT), Faschismus und
Ideologie, Berlin 1980 (Argument-Sonderheft 60),
S. 25 ff.
Zitiert nach: Ernst Nolte, Theorien, S. 56 f..
Zitiert nach: Reinhard Opitz, Über die Entstehung
und Verhinderung von Faschismus, in: Das Argument, Heft 87, November 1974, 544. Vgl. Max
Horkheimer in: Die Juden und Europa (1939): »Wer
aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch
vom Faschismus schweigen.« (Zitiert nach: Wolfgang Fritz Haug, Annäherung an die faschistische
Modalität des Ideologischen, in: PIT, Faschismus
und Ideologie, S. 44.)
Vgl. Wolfgang Wippermann, Europäischer Faschismus im Vergleich, Frankfurt a.M. 1983, S. 20 u.
derselbe, Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion, Darmstadt 1989, S. 80 ff.
Vgl. Rajani Palme Dutt, Was ist Faschismus?
(1934), in: Ernst Nolte, Theorien über den Faschismus, S. 297 ff., wo im Rahmen einer marxistischagententheoretischen Argumentation bestimmte
Elemente der Modernisierung kapitalistischer Industriegesellschaften (Aufbau eines Systems der
organisierten Klassenzusammenarbeit, Ausdehnung der staatlichen monopolistischen Organisation von Industrie und Finanz) als zentrale faschistische Inhalte bestimmt und infolgedessen
Roosevelt und Brüning als Proto- oder Quasifaschisten aufgefasst werden. Strukturell ähnlich
argumentierte auch Johannes Agnoli: Der Faschismus sei die politische Entsprechung der
monopolkapitalistischen, imperialistischen, etatistischen Phase des Kapitalismus im Gegensatz
zum Konkurrenzkapitalismus. Kritik an Agnolis
Gleichsetzung von Korporatismus und Faschismus
und der daraus folgenden Tendenz zur Inflation des
Faschismusbegriffs übt Reinhard Opitz, Über die
Entstehung und Verhinderung von Faschismus,
S. 581. Zur Differenz zwischen dem, was für Opitz
die normale »staatsmonopolistische Formierung«
ist, und dem Faschismus vgl. ebd., 584 ff.
Vgl. Wolfgang Wippermann, Die Bonapartismustheorie von Marx und Engels, Stuttgart 1983,
S.209 f.
Ebenda, S. 8 ff., 15, 207 f.
Vgl. derselbe, Europäischer Faschismus, S. 124 f..
Dagegen spricht Wolfgang Abendroth, Das Problem der sozialen Funktion und der sozialen Voraussetzungen des Faschismus, in: Das Argument, 12. Jg., H. 4–6, August 1970, S. 252, von
der »breiten und partial militanten auf Mittelklassen und Deklassierte gestützten Massenbewegung
(Dezembergesellschaft)« des Louis Bonaparte. Allerdings »war es nicht möglich, diese Massenbewegung zu einer permanenten selbständigen politischen Herrschaftsgruppe zu organisieren und zu
stabilisieren. Noch waren die sozialen Techniken
ungenügend entwickelt«. Vgl. zu den – fundamentalen – Unterschieden zwischen Bonapartismus
und Faschismus ebd., 254.
Vgl. Wolfgang Wippermann, Bonapartismustheorie, S. 12, 23 ff., 173; derselbe, Faschismustheorien, S. 68 ff.; Wolfgang Abendroth, Das Problem
der sozialen Funktion, S. 251.
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So drückte es der österreichische sozialdemokratische Führer Otto Bauer aus: »Wenn sie (die Kapitalistenklasse; d. Verf.) die faschistischen Banden auf das Proletariat loslässt, so wird sie selbst
zur Gefangenen der faschistischen Banden. Sie
kann … (sie) nicht mehr niederwerfen, ohne sich
der Revanche des Proletariats auszusetzen. Sie
muss sich daher selbst der faschistischen Diktatur der faschistischen Banden unterwerfen«. Zitiert
nach: Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S.18.
Dies sahen auch einige Marxisten so, z. b. mit August Thalheimer mindestens ein prominenter Vertreter der Bonapartismustheorie (vgl. Wolfgang
Wippermann, Bonapartismustheorie, S. 205 ff.),
und außerdem Karl Radek und Clara Zetkin. Vgl.
Clara Zetkin, Der Kampf gegen den Faschismus,
in: Ernst Nolte, Theorien über den Faschismus,
S.88 f., 95 f., 106 f.; Ernst Nolte, Einleitung, in:
derselbe, Theorien, S. 21 ff.; Daniel Guerin, Faschismus und Kapitalismus, in: ebenda, S. 271 f.
Für Franz Borkenau, in: ebenda, S. 156 ff, ist der
Faschismus die Welt-Konterrevolution nach der
abgebrochenen marxistischen Weltrevolution.
Ebenda wird harsche Kritik an Otto Bauer, August
Thalheimer und ihren modifizierten Bonapartismustheorien geübt: Der Faschismus sei ein Symptom der Schwäche der Linken, nicht ihres nah
bevorstehenden Sieges oder einer Kräftebalance.
Reinhard Kühnl, Probleme der Interpretation des
deutschen Faschismus, in: Das Argument, 12. Jg.,
H. 4–6, August 1970, S. 273 f., kritisiert die vom
orthodoxen Marxismus-Leninismus vorgetragene
Interpretation, wonach der Nazifaschismus einer
proletarischen Revolution zuvorkommen sollte. Diese sei Anfang der 1930 er Jahre unwahrscheinlich gewesen. Desgleichen auch Reinhard Opitz,
Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus, 585 und Nicos Poulantzas. Vgl. Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S. 31.
Vgl. Wolfgang Wippermann, Bonapartismustheorie, S. 79 ff.; Ernst Nolte, Faschismus über den Faschismus (Rückblick), S. VIII ff.
Zitiert nach Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im
Vergleich, Darmstadt 2005, S. 47. Das Zitat ist
sehr früh, noch aus den 30 er Jahren.
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Prägnant wird das Problem bei Reinhard Kühnl,
Probleme der Interpretation des deutschen Faschismus, S. 272 ff., gefasst. Ebenfalls bei Reinhard Opitz, Fragen der Faschismusdiskussion.
Zu Reinhard Kühnls Bestimmung des Faschismusbegriffs, in: Das Argument, 12. Jg., H. 4–6,
August 1970, S. 282 u. 288 f. Das Problem ist
auch ein Hauptthema des genannten Aufsatzes
von Opitz.
Vgl. die Kritik an Kühnl bei Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S. 24.
Vgl. Reinhard Opitz, Fragen der Faschismusdiskussion, S. 286; Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus, S. 591–602. Vgl. die Kritik
des PIT bei Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S.21 ff., so z. b. ebd., S. 22: »Opitz kapituliert vor seinem eigenen Anspruch der theoretischen Vermittlung.«
Vgl. PIT, Faschismus und Ideologie, Vorwort, S. 8
u. 11; Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S. 13 ff.
Vgl. dazu ebenda, S. 35; Wolfgang Fritz Haug, Annäherung an die faschistische Modalität des Ideologischen, S. 76 ff.
Vgl. ebenda, S. 47 u. S. 76: »Dies ist unser Forschungsgegenstand und die leitende Frage: Wie
hat sich die faschistische Macht über die Herzen
des Volkes befestigt?«
Vgl. Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S. 14 u. 24.
Vgl. Wolfgang Fritz Haug, Annäherung an die faschistische Modalität des Ideologischen, S. 54–
59. Vgl. ebenda, S. 59 ff.: »National-Sozialismus
als Gegen-Bolschewismus«.
Vgl. Busch, S. 32; Wolfgang Wippermann Wippermann, Totalitarismustheorie, S. 2 f.
Vor allem in den Schriften: »Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« (Friedrich Engels) und »Staat und Revolution« (Wladimir
I. Lenin).
Vgl. Wolfgang Wippermann, Bonapartismustheorie, 210 ff. Eine sehr differenzierte, nicht mehr
agententheoretische Erklärung des Faschismus –
allerdings wieder nur des Faschismus an der
Macht – lieferte auch Nicos Poulantzas. Sie wird
gleichwohl beherrscht vom Klassenreduktionismus, d. h. von dem Bemühen, bestimmte Ideolo-
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gien bzw. Ideologeme eindeutig den Interessen bestimmter Klassen zuzuordnen (vgl. hierzu die Kritik
des PIT bei Jan Rehmann, Die Behandlung des Ideologischen, S. 28–35.
Vgl. ebenda, S. 15–21.
Vgl. Wolfgang Wippermann, Faschismustheorien,
S. 76.
Vgl. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche.
Action Francaise, Italienischer Faschismus, Nationalsozialismus. Mit einem »Rückblick nach 30 Jahren«, München 1984 (zuerst: 1963), S. 453 f.
Beispielhaft ist Wolfgang Abendroth, Das Problem
der sozialen Funktion, S. 254: »Den diesen Sozialschichten [v. a. dem Kleinbürgertum – M.W.]
angebotenen antibolschewistischen und antimarxistischen Parolen wurde der Schein ›antikapitalistischer‹ Ideologie zugesetzt, um ihnen die Illusion des Kampfes für ihre eigenen Interessen zu
geben. Mit Hilfe dieser Parolenmixtur sollte das
Mittelstandsaufgebot die Arbeiterorganisationen
ausschalten.« Deswegen bleibt die richtige Feststellung ebd., dass die »Rechtsstaatlichkeit […]
durch einen […] unverhüllt dezisionistisch-repressiven Teil staatlicher Tätigkeit weithin verdrängt
wurde«, auch unbegründet in der Luft hängen.
Um diesen Umstand zu erklären, hätte es ja der
Ideologie bedurft, der oben jegliche Eigenständigkeit abgesprochen wurde. Kritik an der völligen
Abwesenheit sozialpsychologischer – und damit
immer auch Ideologie-bezogener – Erklärungsmodelle bei vielen Marxisten übt auch Kühnl, Probleme der Interpretation des deutschen Faschismus, S. 278.
Vgl. Zeev Sternhell, Faschistische Ideologie. Eine
Einführung, Berlin 2002. S. 13 f.; Ernst Nolte, Der
Faschismus in seiner Epoche, S. 54 f. Vgl. PIT, Faschismus und Ideologie, Vorwort, S. 8: »Bei den
Materialstudien machten wir die verblüffende Erfahrung, dass die Kommentare der führenden Faschisten die Strukturen und Wirkungsweisen ideologischer Praxen klarer beschreiben als der größte
Teil der faschismuskritischen Autoren.«
Vgl. Wolfgang Fritz Haug, Annäherung an die faschistische Modalität des Ideologischen, S. 65 ff.
(hier am Beispiel des Hitlerschen Antisemitismus).
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Das antifaschistische Thema in
der DDR-Literatur
Demokratische Erneuerung war die Losung, mit der deutsche Antifaschisten aus
dem Exil und aus dem Widerstand im Jahre 1945 ihre Aufbauarbeit in der sowjetischen Besatzungszone begannen. Um
die verstörten und orientierungslosen
Menschen für eine antifaschistische
Neugestaltung ihrer Lebensverhältnisse
zu gewinnen, musste Klarheit geschaffen
werden über Wesen und Wurzeln des Hitlerfaschismus. Schluss gemacht werden
musste vor allem mit militaristischen und
chauvinistischen Ideologien, die der Nationalsozialismus ausgenutzt hatte – ganz
zu schweigen vom Rassismus und Herrenmenschentum der Funktionsträger
und Nutznießer des deutschen Faschismus.1 Die Verantwortung des deutschen
Volkes für das, was in seinem Namen geschehen war, die Bereitschaft zur Wiedergutmachung musste geweckt werden. Dafür wurde in der sowjetischen
Besatzungszone und in der frühen DDR
viel getan und die Literatur hat einen hervorragenden Anteil daran gehabt.
Einer der ersten, die in die zerstörte
Heimat zurückkamen, war der Dichter Johannes R. Becher Seinen Bemühungen ist die Gründung des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung
Deutschlands zu danken, der ersten Organisation von Intellektuellen und kulturinteressierten Menschen, die in
Deutschland entstand. Sie sollte zum
Kern einer geistigen Erneuerungsbewegung werden, in der Menschen aller Weltanschauungen und politischen
Richtungen zusammenfinden konnten,
die den Faschismus ablehnten oder Widerstand geleistet hatten. Bald öffneten
sich die Reihen des Kulturbundes aber
auch für solche, die zeitweise den Nationalsozialisten gefolgt waren und
erst jetzt den verbrecherischen Charakter des Naziregimes und seines
Raubkrieges zu begreifen begannen.
Es ging Johannes R. Becher und seinen
Freunden im Kulturbund um ein »nationales Befreiungs- und Aufbauwerk größten Stils auf ideologisch-moralischem
Gebiet«2. Deshalb war er, der entschiedene Antifaschist und Kommunist, der
vom ersten Tage an leidenschaftlich
gegen den deutschen Faschismus gekämpft hatte, als Dichter bemüht, sich
mit den Menschen in Deutschland zu
solidarisieren und zu identifizieren. »An
die Sieger« heißt ein Gedicht aus dem
Band »Volk im Dunkel wandelnd« (1948):
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»Ihr, die ihr Sieger seid, lasst mir das eine: Lasst mich beweinen meines Volkes
Leid, Darin ich aller Welt Leid mit beweine – Lasst mir dies eine, die ihr Sieger
seid!
Ich bitt euch nicht, dass ihr uns sollt verzeihn. Nur eines bitt ich. Lasst mich darum bitten, – noch ist das ganze Leid
nicht ausgelitten – Lasst mich verzweifelt sein und traurig sein.«3
Er suchte den Ton zu finden, den seine
Landsleute, seine erhofften Leser verstehen konnten, suchte den Willen zur
Umkehr und zur Abrechung mit der Vergangenheit zu wecken und zu stärken.
Gerade von manchen Hitlergegnern ist
dieser Versuch nicht immer verstanden worden, die Verführten und mitschuldig gewordenen Menschen, die
Mehrheit der Deutschen anzusprechen.
Manchen, die aus den Konzentrationslagern oder – wie Becher selbst – aus
der Emigration zurückkamen, hielten
es für wichtiger, sozialistische Überzeugungen – vor allem in der Arbeiterklasse – zu stärken.4 Ihnen hielt der Dichter
entgegen, dass proletarisches Klassenbewusstsein erst wieder erweckt und
den Menschen aller Schichten wieder
ein humanistischer Lebenssinn vermittelt werden müsse.
Unter den Aktivisten der ersten Stunde,
den Mitbegründern des Kulturbundes,
waren Männer wie der bekannte Romancier Bernhard Kellermann. Er war
in Deutschland geblieben und hatte sogar Bücher veröffentlichen können, obwohl er von den Nazis mit Misstrauen
betrachtet wurde. 1945 griff er sofort in
die Auseinandersetzungen mit der Naziideologie ein und unterstützte die Bemühungen um eine antifaschistischen
und demokratischen Umgestaltung des
gesellschaftlichen und intellektuellen
Lebens.5 Ihn beschäftigte das Problem,
warum viele, besonders aus kleinbürgerlichen Kreisen stammende Menschen
dem Einfluss des deutschen Faschismus erlegen waren. So schrieb er den
Roman »Totentanz« (1948).6 Es ging ihm
darum – wie er im Vorwort schreibt –
»die gefährliche militaristische Weltanschauung vor dem deutschen Volk anzuprangern« und »der erschreckenden
Mentalität der herrschenden Klassen
schonungslos die Maske vom Gesicht zu
reißen«. Für einen bürgerlichen Autor ist
das ein bemerkenswertes Programm. In
dem Buch wird ein Rechtsanwalt geschildert, der sich anfangs nicht zu entscheiden weiß und schließlich zum Mitläufer der Nazis wird. Kellermann erzählt
zügig und teils kolportagehaft, wie der
Tod der beiden Söhne dieses Mannes
im Kriege ihn allmählich zur Besinnung
bringt. Doch seine Einsicht reicht nicht
bis zum aktiven Widerstand. Er beginnt zwar zu ahnen, wer hinter dem deutschen Faschismus steht: die Herren
der Industrie. Aber der Tanz um das
goldene Kalb wird zum Totentanz. Der
Held des Buches geht in den Freitod.
Auch Hans Falladas Buch »Jeder stirbt
für sich allein« (1947)7 ist ein wichtiger
Versuch der Auseinandersetzung mit
den Nazi-Jahren. Fallada war in Deutschland geblieben und hatte sogar zeitweise mehr als problematische Zugeständnisse an die faschistischen Machthaber
gemacht. Doch blieben seine Bücher
in der Substanz realistische Schilderungen der zwanziger und dreißiger Jahre mit deutlich gesellschaftskritischen
Zügen. Johannes R. Becher kannte die
schriftstellerische Begabung Falladas
und wusste, dass dieser Autor einen
weiten Leserkreis erreichen konnte.
Deshalb verschaffte er dem – schwerkranken und suchtabhängigen – Fallada Einsicht in Gestapo-Akten, in denen
von einer individuellen Widerstandsaktion eines einfachen, unpolitischen Ehepaars gegen das Naziregime und seinen
verbrecherischen Krieg berichtet wurde.
Der Stoff faszinierte den Romanschreiber sehr und er schrieb in kurzer Zeit
seinen Roman über den Widerstand des
Ehepaars Quangel. Als beider Sohn in
Frankreich gefallen ist, beginnt der völlig unpolitische Quangel ganz spontan
hitlerfeindliche Postkarten zu schreiben,
handgeschriebene Flugblätter also. Die
Gestapo vermutet – zu Unrecht – eine
Widerstandsorganisation, wo nur aus
tiefem Schmerz um den Tod des Sohnes
ein moralischer Protest und ein humanes
Verantwortungsgefühl erwachsen sind.
Ein drittes Buch schließlich wäre hier
noch zu nennen, das in den ersten Nachkriegsjahren eine große Wirkung getan
hat – Theodor Pliviers Roman »Stalingrad« (1945).8 Das Buch ist noch im
sowjetischen Exil geschrieben worden,
sein Autor stand den Kommunisten nahe und war nach seiner Rückkehr nach
Deutschland zunächst Vorsitzender des
Kulturbundes in Thüringen. Er hat dann
bald die sowjetische Besatzungszone
verlassen und in seinen später im Westen veröffentlichten Büchern dem antikomummunistischen Zeitgeist seinen
Tribut gezollt. Der Roman »Stalingrad«
war und bleibt ein literarisches Ereignis
von großem Gewicht und einer lang andauernden Wirkungskraft. Hier wurde
zwar kaum etwas über das geschichtliche Wesen des Nationalsozialismus
gesagt, aber die intensive Darstellung
der Tragödie von Stalingrad in einer Fülle von Einzelschicksalen hat das Buch
zu einer der erregendsten Kriegsschilderungen gemacht, die nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland erschienen sind. Sicher: die Gestalten sind oft
skizzenhaft dargestellt und der Autor
verzichtet weitgehend auf eine Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge.
Aber das Massenschicksal der im Kessel von Stalingrad sinnlos geopferten
Armee und die Schilderung der individuellen Leiden lassen den Leser begreifen,
dass Stalingrad die Wende des Krieges
war. Für die Vernichtung militaristischer
Denkweisen und die Kritik der faschistischen Verherrlichung des Krieges hat
das Buch einen bemerkenswerten Beitrag geleistet. Der Untergang des faschistischen Okkupationsheeres wurde
von den Lesern mit Recht als gleichnishaft für die Aussichtslosigkeit des nazistischen Kriegsabenteuers insgesamt
empfunden.
Wie breit die Palette der damals in der
sowjetischen Besatzungszone entstehenden Literatur war, die sich mit dem
Faschismus auseinandersetzte, zeigt
der Roman der katholischen Autorin Elisabeth Langgässer »Das unauslöschliche Siegel« (1946).9 Der Titel bezieht
sich auf das Sakrament der Taufe, das
die Autorin zum Zentrum ihres Buches
macht. Erzählt wird die Geschichte
eines getauften Juden, der zu Beginn
des ersten Weltkrieges nach Frankreich
fährt und dort interniert wird. Er erkennt, dass seine Konversion nur oberflächlich war und schwört dem Glauben
ab. Aber – so will es die Schreiberin –
die Gnade Gottes bewirkt seine plötzliche Bekehrung. Er geht zurück nach
Deutschland und wird dort – als Christ
jüdischer Abstammung – während der
Naziherrschaft ins Konzentrationslager
verbracht. Nach der Befreiung schlägt
er sich als ein armer Bettler durchs Land
und folgt dem Weg der Roten Armee
nach Westen. Für die Autorin ist er ein
Symbol der Hoffnung auf Rettung aus
der Katastrophe des Krieges und der
Vernichtung: einer Rettung freilich, die
nur aus dem Glauben kommen soll. Zur
Analyse des Faschismus gibt das Buch
wenig her. Die streitbare Katholikin mit
jüdischen Vorfahren sieht die Ursache
des Faschismus letztlich im Abfall der
Menschen von der katholischen Kirche,
in der Glaubensspaltung und der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts,
der die französische Revolution folgte.
Sie meint, der Mensch könne nicht aktiv
eingreifen in die Weltgeschichte, denn
diese Weltgeschichte ist für sie eine
Heilsgeschichte, bestimmt vom Kampf
zwischen Gott und dem Satan. Dennoch wendet sich ihr Buch klar gegen
den Nazifaschismus und enthält starke
Momente einer religiös-moralischen Kritik des bürgerlichen Zeitalters.
Der linkskatholische Publizist Walter
Dirks hat 1948 in den »Frankfurter Heften« geschrieben, die Bücher von Elisabeth Langgässer, Theodor Plivier und dazu noch der Roman »Das siebte Kreuz«
von Anna Seghers seien die repräsentativen Zeugnisse der Nachkriegsliteratur.10 Dass der westdeutsche Autor
damit drei Bücher nennt, deren Autoren zunächst in der sowjetischen Besatzungszone lebten, bezeichnet die damalige Situation ebenso wie die Tatsache,
dass zwei von ihnen eben zu dieser Zeit
in den Westen übersiedelten. Damals
wurde die deutsche Literatur noch als
eine Einheit betrachtet. Die in Berlin lebende Elisabeth Langgässer veröffentlichte ihren Roman in Hamburg – das
galt zu jener Zeit als normal. Ihre Übersiedlung in ihre rheinhessische Heimat
nach Rheinzabern vollzog sich 1948 sogar mit Unterstützung der sowjetischen
Besatzungsorgane. Sie hat zeitweise im
Kulturbund mitgearbeitet und Hörspiele
für den Berliner Rundfunk geschrieben.
Aber sie mochte sich nicht den gesellschaftlichen Umwälzungen in der Sowjetzone anbequemen.
Während Elisabeth Langgässer in ihre
katholische Heimat übersiedelte, kam
Anna Seghers, die Dirks als eine wesentliche Autorin der Nachkriegszeit
genannt hatte, nach Berlin. Sie war zu
Beginn der Nazizeit nach Frankreich
emigriert, musste 1940 vor der einmarschierenden Wehrmacht fliehen und
fand in Mexiko ein Asyl. Nun war sie –
wenn auch zögernd – aus dem Exil dorthin zurückgekehrt, wo sie als kommunistische Schriftstellerin ihren wichtigsten
Wirkungskreis sah: in die sowjetischen
Besatzungszone. In ihrem Gepäck lag
das beinahe fertige Manuskript eines
neuen Romans mit dem Titel »Die Toten
bleiben jung« (1949).11 Anders als »Das
siebte Kreuz« umfasste dieser Roman
ein großes historisches Panorama. Die
Erschießung eines Spartakisten im Jahr
1919 steht am Anfang und die Handlung
des Buches verfolgt in mehreren parallelen Fabeln die Schicksale von Menschen, die mit diesem Toten und seinem
gewaltsamen Tod verbunden waren:
die Schicksale seiner Mörder und die
Schicksale seiner Freunde und Genossen – vor allem der Frau, die ihn geliebt
und ihm ein Kind geboren hat.
Die Handlung um den Mörder führt in
die großkapitalistischen und JunkerKreise, die den deutschen Faschismus
vorbereiteten und schließlich an die
Macht geschoben haben. Sie zeigt aber
auch Menschen aus diesen Kreisen, die
aus moralischer Verantwortung sich
der Herrschaft Hitlers widersetzen. Auf
der anderen Seite wird das Schicksal
der »kleinen Leute«, von sozialistischen
und von unpolitischen Proletariern dargestellt. Spontane Solidarität und Klassenverbundenheit zeigt sich ebenso wie
die unselige Spaltung der Arbeiterbewegung – immer in individuellen Handlungen und Reaktionen, im alltäglichen
Leben der Leute. Anna Seghers zeigt,
dass der Faschismus viele, ja die meisten
Menschen verführen und korrumpieren,
aber nicht den Widerstandswillen und
die Kampfbereitschaft der besten Vertreter der Arbeiterbewegung ersticken
konnte. Sie stellt dar, woher sich – trotz
Niederlage und Terror – der Widerstand
immer wieder rekrutierte. Der Sohn des
toten Spartakisten wird am Schluss des
Buches wiederum erschossen – er ist
ein Widerstandskämpfer geworden und
wie sein Vater bezahlt er mit dem Leben:
Die Toten bleiben jung. Doch als Symbol
der Hoffnung steht auch diesmal ein ungeborenes Kind.
Ebenso wichtig an diesem Buch von
Anna Seghers scheint mir die Art und
Weise zu sein, wie die Verbindungen
zwischen Monopolkapital und preußisch-deutschem Militarismus erzählerisch bloßgelegt werden. Das geschieht
nicht als soziologische Lehre, sondern
ganz und gar innerhalb persönlicher Beziehungen und sozialer Prozesse, in die
die handelnden Figuren eingebunden
sind. Ob das sozialistisch-kommunistischen Milieu, einflussreiche Industriellenfamilien oder die Militärkaste Gegenstand der epischen Erzählung sind,
immer gelingt es der Autorin, die soziale Mentalität und die persönlichen Erfahrungen der Protagonisten genau darzustellen, aus denen faschistische oder
antifaschistische Haltungen erwachsen.
Antifaschistische Thematik, wie ich sie
hier verstehe, umfasst den unmittelbaren Bezug der Bücher auf die – wie Johannes R. Becher einmal formulierte –
69
»politisch-moralische Vernichtung des
Faschismus«.12 Schon im Exil in Mexiko
hatte Anna Seghers geschrieben – es
war 1942 –, die Macht des Faschismus
vermöge nicht nur Länder zu besetzen
und Völker zu unterdrücken, sondern
auch ganze Strecken geistigen Besitzes
zu verwüsten, »alte, teuere Begriffe zu
verfälschen«. Es gebe eine Anzahl von
Worten, die viele Menschen nicht mehr
ohne Ekel anhören können – wie beispielsweise: Vaterland, Heimaterde,
Volk. Der antifaschistische Schriftsteller müsse solche Verfälschungen aufbrechen und die Konflikte bewusst machen, die sich dahinter verbergen. Er
müsse die wichtigsten Vorgänge innerhalb eines Volkes sichtbar werden lassen, die zum Austragen dieser Konflikte
führen. Und schließlich müsse er sich
mit jener Schicht seines Volkes identifizieren, »die die progressive Geschichte, die Freiheit seines Volkes sichert«.13
Im Jahr 1944 fragte Anna Seghers,
welche Rolle die Kunst in naher Zukunft haben werde, wenn der Kampf
mit den Waffen entschieden sein wird,
aber »der Kampf von Verstand zu Verstand, von Geist zu Geist noch lange
andauern wird, ein erbitterter Kampf
zwischen Weltanschauungsfronten«.
Ihre Antwort ist, der Künstler von heute müsse »die Angriffspunkte ersinnen,
von denen aus er die Mentalität der faschistischen Jugend von ungeheurem
Wahn, von lügenhaften Vorstellungen,
von totenstarrhafter Verkrampftheit in
Herrschsucht und mechanischem Gehorsam befreien kann«. Er – der Künstler – dürfe sich nie scheuen, die Angriffspunkte zu benutzen, auf denen
Karl Marx in seiner Zeit bestanden hat:
die Erniedrigung, in die Deutschland
gefallen ist, noch furchtbarer machen
durch das Bewusstsein der Erniedrigung, durch das rücksichtslose Aufzeigen aller Folgen, aller Kennzeichen der
politischen Ohnmacht, die nicht nur das
Dasein der Nation, die das Dasein jedes
einzelnen in der Nation brandmarken, in
zahllosen, oft nur unbewussten Einwirkungen«. Vor allem aber müsse der antifaschistische Künstler die Begriffe von
drei Werten in der deutschen Jugend neu
erwecken: Das »Individuum, das Volk,
die Menschheit«14. Antifaschismus wird
hier von Anna Seghers nicht als eine Haltung bestimmt, die nur als ein »Gegen«,
nur vom Negativen her definiert werden kann. Dieser Begriff ziele vielmehr
auf eine demokratische Erneuerung. In
diesem Sinne – möchte ich verallgemeinern – ist die antifaschistische Thematik
für die Literatur in der DDR ein konstitutives Moment ersten Ranges geworden.
70
Die Wendung an die Jugend ist deshalb
ein charakteristischer Zug in der Literatur der Nachkriegszeit. Friedrich Wolf
gibt seinem 1947 in Berlin geschriebenen Stück »Wie Tiere des Waldes«
den Untertitel »Ein Schauspiel von Hetzjagd, Liebe und Tod einer Jugend«.15 Das
Stück spielt im April 1945 in der Nähe
von Berlin und beruht auf einer tatsächlichen Begebenheit. Ein junger Soldat
ist in den letzten Kriegstagen desertiert und versucht, mit seiner Freundin
zu entkommen. Die beiden wollen ihre
Liebe verteidigen und ihr Leben retten.
Doch sie geraten in die Maschinerie des
Amok laufenden Nazisystems: sie werden gehetzt und in die Enge getrieben.
Das Mädchen wird getötet, der junge
Soldat gefangen. Wolf will nicht stehen
bleiben bei der bloßen Darstellung der
Unmenschlichkeit und Brutalität des
Naziregimes, bei der Bedenkenlosigkeit
der Henker und ihrer Helfershelfer. Als
kämpferischer Antifaschist zeigt er, wie
die Großmutter des Jungen zusammen
mit anderen um das Leben des Neunzehnjährigen kämpft und schließlich Erfolg hat. Die humane Tat soll den Weg
eröffnen in eine Zukunft, die Wolf mit
voller Absicht noch unbestimmt lässt.
Die Ratlosigkeit, die er dem geretteten
Soldaten zuschreibt, soll gerade junge
Zuschauer zu einer Identifizierung veranlassen – denn er will vor allem Resignation und Hoffnungslosigkeit überwinden helfen. Das Zeitstück betont die
humane, die moralische Entscheidung,
um diese Zuschauer an die kommende politische Entscheidung heranzuführen. Sehr erfolgreich war er freilich damit nicht.
Für viele Autoren, die aus dem Exil in
ihre Heimat zurückkamen, war es nicht
leicht, Mentalität und Gedankenwelt
der Deutschen während und unmittelbar nach der faschistischen Herrschaft
zu verstehen und zu gestalten. Doch
sie verstanden rasch, dass in der moralischen Entscheidung der Leute zur
Ehrlichkeit gegen sich selbst, in der
Entscheidung zur Einsicht in ihre Mitverantwortung für faschistische Verbrechen oder gar die Mitschuld an ihnen
eine wesentliche Voraussetzung lag,
mit der faschistischen Vergangenheit
zu brechen und einen neuen Anfang zu
finden.
Willi Bredels Erzählung »Das schweigende Dorf« (1948)16 behandelt eben
diese Frage. Berichtet wird von den
Bewohnern eines mecklenburgischen
Dorfes, die kurz vor Kriegsende den
SS-Mördern geholfen haben, sechzig
entflohene KZ-Häftlinge zu fangen und
zu ermorden. Die Bauern vereinbarten, Schweigen darüber zu bewahren.
Nur ein Mädchen hat eines der Häftlingskinder gerettet, und durch sie erfährt ein junger Heimkehrer aus dem
Kriegsgefangenenlager den Vorfall.
Der – fiktive – Bericht zeigt exemplarisch, dass eben dieses Schweigen, die
Weigerung, das Verbrechen öffentlich
zu bekennen, das schweigende Dorf
hindert, das nötige Umdenken, die notwendige Umgestaltung ihres Lebens zu
vollziehen. Denn die Gemeinsamkeit
des Schweigens bedeutet, die Schuldigen zu decken und eine Selbstabrechnung zu verweigern. Wie die Leute dieses Dorfes dazu finden sollen, mit
ihrer Vergangenheit abzurechnen, weiß
Bredel nicht. Seine Erzählung ist ein
Gleichnis für gesamtgesellschaftliche
Vorgänge und zeigt die Schwierigkeit,
denen Antifaschisten zu begegnen hatten. Er zeigt auch, wie isoliert sie sich
oft fühlen mochten gegenüber den vielen Menschen, welche die eigene Vergangenheit zu verdrängen, aber nicht zu
bewältigen wussten.
Das damit verbundene Problem für die
Schriftsteller hat Anna Seghers auf dem
zweiten deutschen Schriftstellerkongress 1950 unmissverständlich formuliert. Sie zitiert eine Zeitung, in der zu
lesen war, viele der Aktivisten des Zweijahrplans seien zwar früher Nazis gewesen, aber auf Grund ihres Elans, ihrer Arbeitsmoral, zu einer großen moralischen
Kraft gekommen. Anna Seghers stimmt
dem zwar völlig zu, betont jedoch zugleich, das sei nur eine Seite der Sache.
Denn ein Schriftsteller könne unmöglich
die Arbeit der Aktivisten, die grandiose
Aufbauarbeit schildern, ohne zu wissen,
dass er als Schreiber »nicht abbrechen
(darf) mit der Vergangenheit«, das heißt
nicht ignorieren darf, was die Menschen
ringsum während der Nazijahre gedacht
und getan haben. Ein antifaschistischer
Schriftsteller – mahnt sie – könne nicht
auslassen, was sein Herz bewegt. Er
könne doch nicht seine Angehörigen
vergessen, die unter dem Faschismus
ermordet wurden, und sich der Aufbauarbeit zuwenden, als sei nichts geschehen. Der großartige Aufbau, die Verwirklichung des Fünfjahrplans vollziehe sich
nicht nach denselben Gesetzen und mit
demselben Tempo im Innern eines Menschen. Ein Schriftsteller müsse das wissen, sonst laufe er Gefahr, dass es ihm
geht wie einem Arzt, der eine Krankheit
geheilt glaubt, während sie sich in Wahrheit nur in tiefere Schichten des Körpers
hinein verzogen hat.17
Die Folgerungen aus dieser Einsicht hat
Anna Seghers auch als Autorin gezogen,
indem sie die Erzählung »Der Mann und
sein Name« (1952)18 schrieb. Das war
ein neuartiger Zugriff zum antifaschistischen Thema. Sie erzählt die Geschichte einer Wandlung, aber in einer
außergewöhnlichen Zuspitzung. Ihr Held
ist ein ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS, der sich nach dem Krieg den Namen eines Widerstandskämpfers zulegt,
um sich zu tarnen. Alte Faschisten helfen ihm dabei, wollen ihn zu ihrem Werkzeug machen. Der junge Mann, der sich
zunächst verstellt und heuchelt, ein Antifaschist zu sein, gerät immer mehr
in Widerspruch zu sich selbst und seinen alten Freunden. Die Arbeit für die
neue Ordnung, das Zusammensein mit
Genossen der Sozialistischen Einheitspartei, die neuen menschlichen Beziehungen und das Gefühl, gebraucht zu
werden und wiedergutmachen zu können, verursachen eine tief greifende
Wandlung. Er wendet sich nun gegen
die Feinde der neuen Ordnung, gerät damit jedoch in einen neuen Widerspruch.
Seiner gewandelten Überzeugung nach
muss er bekennen, unter falschem Namen zu leben, aber sein Bekenntnis bedeutet zugleich, das er ausgeschlossen
wird aus dem Kreis, in den er hineingewachsen und in dem er wirksam geworden ist. Er entschließt sich zur Ehrlichkeit, in der Hoffnung, seine Schuld
sühnen zu können.
Die Geschichte erzählt – ganz im Sinne
der damals unter aufgeschlossenen
Leuten gängigen Vorstellungen – von
einem neuen Charakter der Arbeit und
von neuen Beziehungen unter den Menschen. Aber sie erzählt auch von den
zerreißenden Widersprüchen, die dennoch wirksam sind – und das ist der
realistischere Teil des Ganzen. Gewiss
hat Anna Seghers mit dieser Geschichte und der darin vorgetragenen Sicht
auf die Gegenwart dazu beigetragen,
dass nun eine neue Schriftstellergeneration sich selbst und ihre Erfahrungen
im Krieg und im Nachkrieg zu artikulieren wagte. Wie ein Engagement für
die – wie der offizielle Terminus lautete – antifaschistisch-demokratische
Ordnung beitragen konnte, die eigene
Vergangenheit zu bewältigen, das war
für viele der jungen Autoren der fünfziger Jahre ein lebenswichtiges Thema:
das Thema der Abrechnung mit der eigenen Jugend unter dem Faschismus
und der Wandlung zu einer neuen Haltung und Weltanschauung. Eines der
bemerkenswertesten Bücher der beginnenden fünfziger Jahre nennt Anna
Seghers in ihrer Rede auf dem sowjetischen Schriftstellerkongress. Bisher –
sagte sie da – sei von den Autoren der
DDR noch kein bedeutendes Buch über
den Krieg geschrieben worden. Aber
mehrere junge Schriftsteller hätten begonnen, ihre Kriegserlebnisse zu verarbeiten.
So habe Franz Fühmann in seiner
Dichtung »Die Fahrt nach Stalingrad«
(1953) »entscheidende Punkte herausgebracht in dem Prozess seiner eigenen
Veränderung. Er schildert drei Fahrten
nach Stalingrad in Gedichtform: als Soldat, als Gefangener und als Gast«19.
Sie beschließen zu schweigen und glauben sich mit den faschistischen Leitbegriffen wie Kameradschaft und Treue
vor sich selbst rechtfertigen zu können.
Nach dem Beginn des Krieges gegen die
Sowjetunion veranlasst ein Naziführer,
der Vater eines der drei Soldaten, dass
der Tod des Mädchens sowjetischen
Soldaten angelastet wird und – als angebliche »Vergeltung« – zwei russische
Mädchen erhängt werden. Tief erschüttert bricht einer der drei Kameraden
jetzt das Schweigen – und wird selber
erschossen. Sein Gewissen ließ ihm keine andere Wahl.
Fühmanns Poem ist nach einer Delegationsreise deutscher Schriftsteller
geschrieben worden, die ihn im Mai
1953 in die Sowjetunion führte. Diese dritte Begegnung mit der Stadt Stalingrad wird für den Dichter Anlass der
Selbstabrechnung – und der Selbstverständigung über die Wandlung, die er
durchlaufen hat. Es ist ein autobiographisches Poem und ein Weltanschauungspoem, mit großer Ehrlichkeit geschrieben und mit großer Strenge. »O
Wunder/dieser Gefangenschaft!« –
heißt es darin. »Die uns einst Feinde
hießen,/erkennen wir als unsere wahren Freunde;…«. Deutschland-Pathos
bestimmt das Gedicht, wie es der Programmatik dieser beginnenden fünfziger Jahre entsprach: ein einheitliches, demokratisches Deutschland
ohne Kriegstreiber und Monopolisten
zu schaffen. Weniger polemisch formuliert bedeutet das: ein neutralisiertes Land, das sozialen Umgestaltungen
aufgeschlossen gegenüber steht. Diese Hoffnung ging 1955 mit den Pariser
Verträgen und der Remilitarisierung der
Bundesrepublik zu Ende. Ein Grundton
des Poems aber, der schon Fühmanns
frühes Werk bestimmt, ist die Wendung
gegen das Vergessen: »Nein, wir dürfen
nicht vergessen,/bis an das Ende unseres Lebens nicht; und unsere Kinder,/sie sollen immer wissen, was geschah …«.20
Die Novelle ist in strenger und klarer Prosa geschrieben, sie eröffnet eine Reihe
epischer Versuche Fühmanns, das Thema des tragischen Widerspruchs vieler
junger Soldaten zu gestalten, die beeindruckt von faschistischer Ideologie,
sich dennoch »anständig« zu verhalten
versuchen – und angesichts der Realität des faschistischen Weltanschaungsund Vernichtungskrieges scheitern
müssen. Ein Band »Stürzende Schatten« (1959)22 ist hier ebenso zu nennen
wie die gesammelten Erzählungen unter
dem Titel »König Ödipus« (1966).23 Dieser Band enthält neben der eindrucksvollen Titelgeschichte aus dem besetzten Griechenland mit dem aktualisierten
Ödipus-Motiv auch die Erzählung »Barlach in Güstrow«, eine eindringliche
Auseinandersetzung mit der beklemmenden Situation des großen Bildhauers in Nazideutschland. Und in der Erzählung »Böhmen am Meer« (1963)
verschränkt der Autor kunstvoll die Geschichte einer böhmischen Umsiedlerin,
die in ihrer neuen Heimat Fuß fasst, mit
dem Erleben des Erzählers, welcher in
Westberlin gleichzeitig den Forderungen
ewiggestriger Revanchisten konfrontiert
wird, die die Korrektur der Nachkriegsgrenzen fordern.
Hatte Anna Seghers 1954 noch festgestellt, es gebe noch kein episches Werk,
das den Romanen vergleichbar wäre, die
nach dem ersten Weltkrieg in Deutschland geschrieben wurden – von Ludwig Renn bis Arnold Zweig -, so war es
wiederum Fühmann, der 1955 mit seiner Novelle »Kameraden«21 den Durchbruch zu einer neuen Fragestellung
erreichte. Die Handlung spielt am Vorabend des Überfalls auf die Sowjetunion.
Drei deutsche Soldaten erschießen unbeabsichtigt die Tochter eines Offiziers.
Mit unerbittlicher Konsequenz ist Fühmann den Problemen der Wandlung
nachgegangen. In dem Band »Das Judenauto« (1962)24 sucht er in vierzehn
Episoden die Etappen seiner eigenen
Entwicklung nachzuzeichnen. Welcher
Mechanismus ihn als Kind im Sudetenland an ein dämonisch-gefährliches
»Judenauto« glauben ließ und antisemitische, rassistische Gefühle weckte;
wie er als Sohn einer kleinbürgerlichen
Familie zum Antikommunisten und
SA-Mann gemacht wird und sich einspannen lässt in die Zerschlagung des
tschechoslowakischen Staates – alles
das wird erzählt und fortgeführt bis zur
Entscheidung für ein Leben in der DDR.
71
Schärfer wird der Blick in den »Studien zur bürgerlichen Gesellschaft«, die
unter dem Titel »Der Jongleur im Kino« (1970)25 erschienen sind. Diese
vier Erzählungen handeln von Erfahrungen des Kindes mit der Erwachsenenwelt der dreißiger Jahre, mit der
bürgerlichen Lebensweise. Dargestellt
wird, wie die Zwänge des Besitzdenkens und der sozialen Abhängigkeit
den Menschen deformieren, wie sie
zu verkehrten Bildern von der Wirklichkeit und zu antihumanen Haltungen und
Handlungen führen. Am Schluss steht –
als böser Triumph des Kindes über die
Erwachsenen – das wie eine Monstranz erhobene Hitler-Bild. Mit ihm ist
die Drohung verbunden, alle zu vernichten, die den »Führer« nicht lieben wollen. Die Lust zu verletzen, andern wehe
zu tun, sie einzuschüchtern und zu beherrschen, erweist sich als eine – sozial begründete – emotionale Grundlage
faschistischer Denkweise und Haltung.
Fühmann legt Wert darauf, dass diese
Haltung durch eine politische Entscheidung nicht spurlos verschwindet.
Dieses Durcharbeiten individueller
und kollektiver Erfahrungen – vertieft
durch Studien der Mythen als »Modelle von Menschheitserfahrung«26 – führt
Fühmann schließlich zu einer grundlegenden Neubewertung seines bisher
zentralen Themas: der Wandlung vom
bürgerlichen zum sozialistisch engagierten Menschen. In »Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens«(1973)
wird das Tagebuch einer Reise nach Ungarn zum Ausgangspunkt einer philosophish-weltanschaulichen Selbstbesinnung großen Stils. Sie umfasst eine
neue Vorstellung von Dichtung, in der
Mythologeme, Verallgemeinerungen von
Menschheiterfahrungen, als Grundstoff
und Urmuster erscheinen. Aufgabe des
Chronisten sei nicht, etwas zu ändern,
heißt es bei Fühmann, sondern Merkwürdiges festzuhalten. Die Funktion des
Dichters ist aus solcher Sicht: jenes
Stückchen Literatur zu schaffen, das nur
er und kein anderer schreiben kann. Das
bedeutet nicht mehr und nicht weniger
als eine Distanzierung von kulturpolitischen Forderungen an die Literatur,
wie sie in der DDR jener Jahre gängig
waren. Zugleich reflektiert Fühmann
seine vergeblichen Versuche, das, was
man Wandlung nennt, (92) überzeugend
zu beschreiben. Damit gelangt er zu der
Frage, worin denn die typischen Züge
faschistischen Handelns und Denkens
bestanden haben (94), und er kommt
schließlich zu der erschreckenden Einsicht: »Gesetzt, du wärest nach Ausch72
witz kommandiert worden, was hättest
du dort getan? … Du hättest in Auschwitz vor der Gaskammer genau so funktioniert, wie du in Charkow oder Athen
hinter deinem Fernschreiber funktioniert hast«.27
Fühmann nimmt Abschied von der romantischen Auffassung von einem geistig-moralisch souveränen Individuum.
Mit einer solchen Vorstellung – meint
er nun – seien die Bewegungen dieses
Jahrhunderts nicht mehr fassbar: »Nicht
das ist der Faschismus: dass irgendwo
ein Rauch nach Menschenfleisch riecht,
sondern dass die Vergaser auswechselbar sind«.28 Und so formuliert er eine
wichtige Einsicht von grundsätzlichem
Gewicht: »Ich bin gleich Tausenden anderen meiner Generation zum Sozialismus nicht über den proletarischen Klassenkampf oder von der marxistischen
Theorie her, ich bin über Auschwitz in
die andere Gesellschaftsordnung gekommen. Das unterscheidet meine Generation von denen vor ihr und nach ihr,
und eben dieser Unterschied bedingt
unsere Aufgaben in der Literatur.«29
Natürlich ist das nicht ohne weiteres
verallgemeinerbar, die Formulierung
Fühmanns ist eine poetologische Prinzipienerklärung, welche zuerst und vor
allem ihn selber und sein Schaffen erfasst. Aber er spricht damit doch auch
eine Tendenz aus, die nicht auf den ein
oder anderen Schreiber begrenzbar ist.
Die Durcharbeitung von Faschismuserfahrungen im antifaschistischen Thema
vollzieht sich in der Literatur der DDR
in charakteristischen Etappen. In den
sechziger Jahren herrschte das Bemühen vor, der Forderung Anna Seghers
gerecht zu werden: epische Darstellungen des zweiten Weltkrieges zu geben.
Dieter Nolls Roman »Die Abenteuer
des Werner Holt«30 ist 1960 erschienen. Das Buch ist viel gelesen worden,
vor allem von den jungen Menschen, die
den Krieg noch hautnah erlebt hatten.
Es war aber auch jenseits der Grenzen
der DDR erfolgreich, weil der Autor die
Mentaltität junger Hitlersoldaten in ihrer
Differenziertheit begreiflich machte und
zeigte, wie der Mechanismus ihrer Integration in den Raubkrieg Hitlers funktionierte. Dabei wollte er freilich nicht
stehen bleiben. Er ging vielmehr darauf
aus, es nicht bei der Entscheidung seines Helden gegen den Krieg und gegen
den Faschismus zu belassen, sondern
in anschließenden Bänden eine – nicht
weniger komplizierte und umwegige –
Entscheidung seines Helden für den
Sozialismus herbeizuführen. An dieser
künstlerischen Zielstellung scheiterte
Noll freilich, wie ich meine vor allem
deshalb, weil eine solche Sicht auf das
Thema wenig Spielraum ließ. Sie drängt,
bei allen möglichen Komplikationen, auf
eine zweite Entscheidung, deren Endpunkt und Ergebnis letztlich politisch
vorgegeben und vom Leser leider allzu
folgerichtig abzusehen war. Das verleiht
der Fortsetzung der Erzählung – selbst
bei beträchtlicher Realitätshaltigkeit im
einzelnen – einen unbefriedigenden,
einen ermüdenden Charakter.31 Eine
solche – zum mehrbändigen Entwicklungsroman tendierende – Strukturierung ist für eine ganze Reihe von Versuchen bezeichnend, von der individuellen
Auseinandersetzung mit dem Kriegserlebnis zu einer als epochentypisch
aufgefassten Wandlung und Persönlichkeitsentwicklung eines jungen Helden
zu kommen. Dessen Entscheidung gegen den Krieg soll sich in der Entscheidung für ein sozialistisches Engagement
bewähren.
Auch Max Walter Schulz’ Roman »Wir
sind nicht Staub im Wind« (1962)32 ist
nach einem solchen Muster aufgebaut.
Anders als bei Noll wird hier freilich der
Versuch gemacht, die Desillusionierung
der Zentralfigur Rudolf Hagedorn in der
faschistischen Armee als eine Auseinandersetzung mit der Wehrlosigkeit eines
Bildungshumanismus zu geben, der an
Traditionen der machtgeschützten Innerlichkeit deutscher Art orientiert ist.
Thomas Mann hat Pate gestanden bei
diesem bildungsbewussten Buch, das
klassisches Erbe und klassisches Denken in die aktuelle Auseinandersetzung des Helden einbezieht. Die Lehre
des Buches läuft darauf hinaus, die Beschränkung auf eine kontemplative Verehrung und Verinnerlichung klassischer
Bildungsideale reiche nicht aus, um sich
der Anziehung und der Bedrohung entziehen zu können, die der Nationalsozialismus für die junge Intelligenz zweifellos besaß. Auch dieser ursprünglich
auf mehrere Bände geplante Roman ist
nicht zu Ende geführt worden. Aber mit
der Novelle »Der Soldat und die Frau«
(1978)33 erzählt Schulz die Geschichte eines deutschen Soldaten, der als
Kriegsgefangener sowjetischen Menschen begegnet, russischen Frauen,
deren Hass sich in Vertrautheit und
schließlich elementare menschliche
Gemeinschaft verwandelt. Der kleine
Mann, der den Krieg der Herren führte,
obwohl er weder die Herren noch den
Krieg gewollt hat, erfährt in dieser legendenhaften Erzählung Solidarität, Liebe, Gemeinsamkeit und gewinnt ein bisher nie gekanntes Selbstbewusstsein.
Zu nennen ist hier auch der Roman
»Der Hohlweg« von Günter de Bruyn
(1963).34 Der Autor hat sich später – im
Jahr 1974 – in einem Essay mit dem ironischen Titel »Der Holzweg« recht kritisch mit seinem Erstling auseinandergesetzt. Vorgeschwebt habe ihm, den
Bewusstseinszustand junger Menschen
zu zeigen, die noch wenig Gelegenheit
hatten, schuldig zu werden und das Ende des Krieges als einen geistigen Zustand der Schwerelosigkeit, der Leere, der Offenheit, der Herrschafts- und
Verantwortungslosigkeit erlebten: als
das »Glück der Anarchie«. Die Erinnerung an diesen selbst erlebten Zustand
sei für ihn eine Art »Mythos vom verlorenen Paradies« geworden. Diese besondere Art der Befreiung, des SichLosmachens vom Faschismus aber sei
im Roman nicht mehr zu erkennen. Dort
werde statt des Gefühls, endlich Herr
seiner selbst zu sein, allein, groß und
frei, ein Gefühl der Verzweiflung und eine Haltung des Suchens beschrieben:
»Die Erkenntnis, dass es kein geistiges
Vakuum gibt, verführte dazu, auch das
Gefühl davon zu leugnen«.35 So – meint
der Autor – sei das Buch zum Klischee
geworden und er habe sein Thema verfehlt. Eine solche Kritik falscher Geradlinigkeit der Entwicklung korrespondiert
mit Fühmanns Überlegungen und weist
damit auf die literarische Neuansätze
der siebziger Jahre.
Im Jahr 1948 hatte Walter Ulbricht die
SED-Schriftsteller gemahnt, sie seien
zurückgeblieben hinter der Gegenwart
und hielten sich mit Emigrationsliteratur, KZ-Literatur oder gar mit dem ersten Weltkrieg auf, statt die Bodenreform zu gestalten.36
Der in diesem Fall sehr kurzsichtige Politiker ahnte nicht, dass ein Jahrzehnt
später gerade ein Roman über die Befreiung von Buchenwald zu einen der
größten Bucherfolge der DDR in der
Welt werden würde: Bruno Apitz’ Roman »Nackt unter Wölfen« (1958).37
Das ist ein Roman über das Konzentrationslager Buchenwald, kein Tatsachenbericht. Neu und fesselnd war an dem
Buch, dass nicht nur Leiden und Aufbegehren der Häftlinge dargestellt, sondern als Kern der Fabel die Geschichte von der Rettung eines Kindes erzählt
wurde. Das war ein Hoheslied der
Menschlichkeit, gerade deshalb, weil
schroff ein Konflikt herausgearbeitet
wurde, in dem politische Zweckmäßigkeit gegen humane Verpflichtung stand:
Sollte die bewaffnete Widerstandsorganisation der Häftlinge gefährdet werden
um eines Kindes will? Durfte sie gefährdet werden? Oder war nicht gerade die
Rettung des Kindes ein Sieg, der mehr
als irgendetwas das Selbstbewusstsein
der Häftlinge heben konnte? Um solche
Fragen ging es, und damit letztlich um
die schwierige und gefährdete Einheit
von revolutionärer Moral und humaner
Solidarität.
Vor dem Hintergrund der Ergebnisse
des XX. Parteitages der KPdSU und seiner Enthüllungen über die Ungesetzlichkeiten unter Stalin war das eine bedrängende Problematik. Und nachdem
in der DDR der Übergang von der antifaschistisch-demokratischen Phase zur
sozialistischen offiziell verkündet und
schließlich als vollzogen erklärt wurde, rückten verschiedene Maßnahmen
zur Konsolidierung und Stärkung des
Staatswesen in der DDR solche Fragen
individueller und kollektiver Verantwortung und Entscheidung immer wieder
ins Zentrum öffentlicher Selbstverständigung. Wenn Ende der sechziger Jahre eine ganze Reihe von Büchern sich
ausdrücklich wieder des scheinbar so
fernen Themas von Ghetto, Lager und
Zuchthaus zuwandten, so steht dahinter das Bedürfnis, sich von vereinfachenden Klischees bei der Aufarbeitung der Nazivergangenheit zu lösen,
den Spuren nachzugehen, die sie hinterlassen hat. Und natürlich spielte
auch das Hervortreten von neofaschistischen Tendenzen in der Bundesrepublik eine Rolle, die in beiden deutschen
Staaten durchaus als bedrohlich empfunden wurde.
Jurek Becker erzählte in »Jakob, der
Lügner« (1968)38 die Geschichte von Jakob, der im Ghetto mit tausenden Leidensgefährten gefangen, die Hoffnung
auf Rettung aufrechterhält, weil er behauptet, ein Radio zu besitzen. So erzählt er von der nahenden Roten Armee
und anderen Dingen, die Rettung verheißen. Jakob ist – wenn man so will –
ein Hochstapler und Schelm, aber einer,
der durch »wohltätige Lügen« seinen
Freunden »Kraft zum Überleben« vermittelt. Jüdisches Schicksal und Erlebnis des Widerstandes verbindet Peter
Edel in seinem Roman »Die Bilder des
Zeugen Schattmann« (1969)39 und dem
autobiographischen Bericht »Wenn es
ans Leben geht« (1979).40 Im gleichen
Jahr ist auch Eva Lippolds autobiographischer Roman »Haus der schweren
Tore« (1979)41 erschienen, ein Bericht
von Widerstand und Haft im Nazizuchthaus, der – von Günter Rücker zum
Filmszenarium frei umgestaltet – durch
den Film »Die Verlobte« (1980)42 zu ei-
nen tief bewegenden Erlebnis für Millionen von Zuschauern geworden ist. Die
Kraft dieser Darstellung liegt nicht zuletzt in der ungeschminkten und ganz
und gar unheroischen Erfassung des
Alltags, des alltäglichen Lebens und
der individuellen psychischen Welt der
Figuren. Ein Film des großen Regisseurs
Michail Romm trug den Titel »Der gewöhnliche Faschismus« (1965), und es
kann als ein wichtiger Ansatz einer neuen Reflexion und Gestaltung des antifaschistischen Themas in den siebziger
Jahren gelten, dass dem faschistischen
Alltag, dem Alltagsfaschismus nachgegangen wird.43
In seinem Drama »Die Schlacht«44 –
entstanden zwischen 1951 und 1974 –
hat Heiner Müller eine rigorose Faschismuskritik gegeben. Mit Mitteln
satirischer Überhöhung und grotesker
Stilisierung gelingt ihm eine paradoxe
Leistung: alltägliche Wirklichkeit des
Lebens im faschistischen Deutschland
durch die Darstellung extremer Situationen nachvollziehbar zu machen. Große
Widersprüche werden erfasst, in denen
alltägliches Erleben große geschichtliche Konturen erhält. Da tötet ein Widerständler seinen Bruder, weil dieser
zum Verräter geworden war. Doch dass
er es wurde, hat seinen Grund darin,
dass ihn seine Genossen als Fremden
behandeln mussten, nachdem er von
den Nazis verhaftet worden war. Da
werden deutsche Soldaten im Schnee
im buchstäblichen Sinn zu dem, was
sie im übertragenen Sinn immer waren:
zu Kannibalen. Schließlich wird ein Nazi-Kleinbürger vorgeführt, der nach Hitlers Selbstmord erst seine Tochter und
dann die sich sträubende eigene Frau
erschießt – um dann am Leben zu bleiben. Selten sind die Deformierungen
der Menschen so konsequent ausgestellt worden wie hier bei Müller. Hatte
Fühmann geschrieben, die Endform der
bürgerlichen Gesellschaft sei das KZ45,
so sind Müllers »Szenen aus Deutschland« Warnbilder einer kollektiven Deformation, die nur mühsam aufgebrochen werden kann. Ob die notwendige
Befreiung möglich ist, scheint der Autor
seinen Lesern und Zuschauern freilich
nicht in der Form einer nachvollziehbaren Botschaft vermitteln zu wollen.
Das ist eine irritierende Wendung an die
gegenwärtigen Leser und Zuschauer.
Es ist nicht zu übersehen: Die Neuaufnahme des antifaschistischen Themas
ist vielschichtiger und problemgeladener geworden. »Blickwechsel«46 hat
Christa Wolf eine Darstellung des ersten Augenblicks der Freiheit 1945 ge73
nannt. »Ich hatte keine Lust auf Befreiung«, schreibt sie darin und schildert
den Treck und die Tieffliegerangriffe,
mit der emotionalen Genauigkeit wie
sie ihre Ich-Figur erlebt hat. Fremd sind
ihr die Vorgänge von damals, ob KZHäftlinge sich statt auf Brot auf die Gewehre im Straßengraben stürzen oder
polnische Fremdarbeiter einen deutschen Gutsbesitzer beiseite schieben
und seine geschwungene Peitsche
wortlos zu Boden fallen lassen. Im Roman »Kindheitsmuster« (1976)47 will
Christa Wolf die »Struktur der Vergangenheitsbeziehungen« ihrer Generation
erforschen, indem sie drei Zeitebenen
in Beziehung setzt: die Kindheit unter dem Faschismus, eine Familienreise in den Heimatort, der heute in Polen liegt, und schließlich die Zeit des
Schreibvorgangs zu Beginn der siebziger Jahre. Über ihr Anliegen bemerkt
sie pointiert, ein Autor, der heute über
den Faschismus schreibe, habe es »bereits mit anderen Sachverhalten zu tun
als die antifaschistischen Schriftsteller
in der Emigration oder kurz nach dem
Krieg«. Die Zeit – schreibt sie – also unsere Lebenszeit seitdem, gebe der Periode unserer Geschichte fortlaufend
eine neue Dimension. Deshalb sei der
Sachverhalt, der sich ihr als Stoff anbietet, nicht mehr: Faschismus (d. h. seine
sozialökonomischen Wurzeln, die Eigentumsverhältnisse, aus denen er entstehen konnte etc,), sondern »die Struktur der Vergangenheitsbeziehungen
meiner Generation, das heißt: Bewältigung der Vergangenheit in der Gegenwart«.48 Überwindung oder Weiterwirken der »Kindheitsmuster« in dieser
Gegenwart werden reflektiert. Am Ende des Romans bleibt die Frage: »Das
Kind, das in mir verkrochen war – ist
es hervorgekommen? Oder hat es sich,
aufgescheucht, ein tieferes, unzugänglicheres Versteck gesucht? Hat das Gedächtnis seine Schuldigkeit getan? Oder
hat es sich dazu hergegeben, durch Irreführung zu beweisen, dass es unmöglich ist, der Todsünde dieser Zeit zu entgehen, die da heißt: Sich nicht kennen
lernen zu wollen?«49
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(Diesem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, der am 22. März 1985 vor japanischen Germanisten in Berlin – Hauptstadt der DDR – gehalten wurde.)
20
Professor Dr. Dieter Schiller
74
Vgl. Johannes R. Becher, Zur Frage der politischmoralischen Vernichtung des Faschismus (1945),
in: derselbe, Publizistik 2 1939–1945 (Gesammelte Werke Band 16), Berlin und Weimar 1978,
S. 403 ff. Vgl. auch Dieter Schiller, Bechers Gedanke einer demokratischen Erneuerung der deutschen Kultur und der Kulturbund 1943–1947, in:
Bulletin des Arbeitskreises »Zweiter Weltkrieg«
Nr. 1–4, 1985, S. 165–181.
Johannes R. Becher, Bemerkungen zu unseren Kulturaufgaben (1944), in: Johannes R. Becher, Publizistik 2, S. 362 ff.
Johannes R. Becher, Gedichte 1942–1948 (Gesammelte Werke Band 5), Berlin und Weimar 1967,
S. 538.
Vgl. Fritz Selbmann, Aufbruch des Geistes. Zur Frage der neuen deutschen Volkskultur. Referat auf
der Kulturtagung des Antifaschistischen Blocks,
Leipzig, 29. Juni 1945, Hg. Zentralausschuss Antifaschistischer Block Leipzig, S. 4.
Bernhard Kellermann: Was sollen wir tun? Auferstehung aus Schutt und Asche. Berlin 1945
Bernhard Kellermann: Totentanz, Berlin 1948; weitere Ausgaben: 1951, 1960, 1983. – Vgl. Bernhard
Kellermann, Eine Nachlese 1906–1951, hrsg. v.
H.D. Tschärtner. Berlin 1979, S. 45 ff.
Hans Fallada, Jeder stirbt für sich allein. Berlin
1947. Die Ausgabe besorgte Paul Wiegler. – Auch:
Hans Fallada: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben VIII, hrsg. v. Günter Caspar. Berlin und Weimar
1981.
Theodor Plievier, Stalingrad, Berlin 1945.
Elisabeth Langgässer, Das unauslöschliche Siegel. Hamburg 1946. – Vgl. dazu ergänzend Dieter Schiller, Drama zwischen Gott und Satan. Elisabeth Langgässers Auseinandersetzung mit dem
Faschismus in »Das unauslöschliche Siegel«, in:
Erfahrung Nazideutschland. Romane in Deutschland 1933–1945, hrsg. v. Sigrid Bock und Manfred
Hahn, Berlin und Weimar 1987, S. 412 ff.
Walter Dirks, Elisabeth Langgässer, in: Frankfurter
Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik. Frankfurt
am Main, 3. Jg., Heft 12/1948, S. 1127.
Anna Seghers, Die Toten bleiben jung. Roman. Berlin 1949. – Vgl. auch Sigrid Bock, Erziehungsfunktion und Romanexperiment. Anna Seghers: Die
Toten bleiben jung, in: Erfahrung Exil. Antifaschistische Romane 1933–1945, hrsg. von Sigrid Bock
und Manfred Hahn, Berlin und Weimar 1979.
Johannes R. Becher, Publizistik 2, S. 403.
Anna Seghers, Volk und Schriftsteller, in: Anna
Seghers: Aufsätze, Ansprachen, Essays 1927–
1953 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben Band
XIII), Berlin und Weimar 1980, S. 114 ff.
Anna Seghers, Aufgaben der Kunst, in: ebenda,
S. 168 ff.
Friedrich Wolf, Wie Tiere des Waldes. Ein Schauspiel von Hetzjagd, Liebe und Tod einer Jugend,
in: derselbe, Gesammelte Dramen Band IV, Berlin
1952, S. 195 ff. – Geschrieben 1947 in Berlin.
Willi Bredel, Das schweigende Dorf und andere Erzählungen, Rostock 1949. – Siehe auch Willi Bredel, Auf den Heerstraßen der Zeit. Erzählungen,
Berlin 1957, S. 526 ff.
Anna Seghers, Aufsätze, Ansprachen, Essays,
S. 336 f.
Anna Seghers, Der Mann und sein Name, Berlin
1952.
Anna Seghers, Zum zweiten Kongress der Sowjetschriftsteller, in: dieselbe, Aufsätze, Ansprachen,
Essays 1954–1979 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben Band XIV), Berlin und Weimar 1980,
S. 39. – Anna Seghers schätzte die Dichtung Fühmanns und hat eine essayistische Studie mit dem
Titel »Fahrt nach Stalingrad« darüber veröffentlicht. Vgl. Aufsätze, Ansprachen Essays 1954–1979,
S. 49 ff. – Fühmann hat diese frühe Arbeit nicht in
seine Werkausgabe aufgenommen.
Franz Fühmann, Die Fahrt nach Stalingrad. Eine
Dichtung, Berlin 1953, S. 49 und 60 f.
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Franz Fühmann, Kameraden. Novelle, Berlin 1955.
Franz Fühmann, Stürzende Schatten. Novellen.
Illustrationen von Hans und Lea Grundig, Berlin
1959 (Enthält: Das Gottesgericht, Kapitulation,
Das Erinnern).
Franz Fühmann, König Ödipus. Gesammelte Erzählungen, Berlin und Weimar 1966.
Franz Fühmann, Das Judenauto. Vierzehn Tage aus
zwei Jahrzehnten, Berlin 1962.
Franz Fühmann, Der Jongleur im Kino oder Die Insel der Träume, Rostock 1970.
Franz Fühmann, Das mythische Element in der
Literatur, in: derselbe, Erfahrungen und Widersprüche. Versuche über Literatur, Rostock 1975,
S. 164.
Franz Fühmann, Zweiundzwanzig Tage oder Die
Hälfte des Lebens. Rostock 1973, S. 198 ff.; vgl.
auch S. 36, 41, 79, 92, 181 ff.
Ebenda, S. 198.
Ebenda, S. 200.
Dieter Noll, Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Jugend, Berlin 1960.
Dieter Noll, Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Heimkehr, Berlin 1963.
Max Walter Schulz, Wir sind nicht Staub im Wind.
Roman einer unverlorenen Generation. Buch 1,
Halle 1962.
Max Walter Schulz, Der Soldat und die Frau. Novelle, Halle-Leipzig 1978.
Günter de Bruyn, Der Hohlweg. Roman, Halle
1963.
Eröffnungen. Schriftsteller über ihr Erstlingswerk,
hrsg. v. Gerhard Schneider, Berlin und Weimar
1974, S. 138 ff., insbes. S. 141.
Walter Ulbricht, Der Künstler im Zweijahrplan.
Diskussionsrede auf der Arbeitstagung der SEDSchriftsteller und Künstler. 2. September 1948,
in: derselbe, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen. Band III:
1946–1950, Berlin 1953, S. 313
Bruno Apitz, Nackt unter Wölfen. Roman. Halle
1958.
Jurek Becker, Jakob der Lügner, Berlin und Weimar
1969.
Peter Edel, Die Bilder des Zeugen Schattmann. Ein
Roman über deutsche Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1969.
Peter Edel, Wenn es ans Leben geht. Meine Geschichte. Erster und zweiter Teil, Berlin 1979.
Eva Lippold, Haus der schweren Tore. Roman, Berlin 1971; Leben, wo gestorben wird. Berlin 1974
Günther Rücker, Die Verlobte, in: derselbe, Die Verlobte u. a. Berlin 1988, S. 361 ff. – Der Film »Die
Verlobte« (Regie Günther Rücker/Günter Reisch)
hatte am 2. September 1980 Premiere.
Vgl. hierzu auch: Rolf Richter, Reicht es aus, sich
mit dem Alltag zu befassen? Zur Analyse und Kritik
der nichtmarxistischen Alltagsgeschichtsschreibung, in: Konsequent, Westberlin, H. 4/1982,
S. 81–91 u. derselbe, Zur Analyse und Kritik der
nichtmarxistischen Geschichtsschreibung über
den Alltag im deutschen Faschismus, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft
6/1983, S. 824–834.
Heiner Müller, Die Schlacht. Szenen aus Deutschland, in: derselbe, Die Schlacht/Traktor. Leben
Gundlings. Friedrich von Preußen. Lessings SchlafTraumSchrei. Mit einem Nachwort von Joachim
Fiebach, Berlin 1977, S. 7 ff.
Franz Fühmann, Zweiundzwanzig Tage oder Die
Hälfte des Lebens, S. 195.
Christa Wolf, Blickwechsel, in: Der erste Augenblick der Freiheit, hrsg. v. Elli Schmidt, Rostock
1970, S.329 ff.
Christa Wolf, Kindheitsmuster, Berlin und Weimar
1976.
Christa Wolf, Fortgesetzter Versuch. Aufsätze, Gespräche, Essays, Leipzig 1982, S. 92.
Christa Wolf, Kindheitsmuster, S. 530.
75
BERICHTE UND INFORMATIONEN
2. Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft
Rechtsextremismus/Antifaschismus der
Linkspartei im Jahre 2008
Am 6. Dezember 2008 fand im Berliner Karl-Liebknecht-Haus die zweite Tagung der BAG statt. Horst Helas konnte
dazu für den Sprecherrat 40 Mitglieder
und Gäste begrüßen, darunter Vertreter mehrerer antifaschistischer Organisationen und erstmals auch Vertreter
der Landesarbeitsgemeinschaft Antifaschismus der Linkspartei aus dem Saarland.
Im ersten Tagesordnungspunkt erörterten die Beratungsteilnehmer –
ausgehend von den Erfahrungen der
letzten Monate und mit Blick auf die
Vorbereitung wichtiger Wahlen im Jahre 2009 – aktuelle Einschätzungen zum
Rechtsextremismus und zu den Gegenstrategien. Impulse dafür gab zunächst
das Mitglied der Bundestagsfraktion Die
Linke MdB Ulla Jelpke. Außerdem hatte
der Sprecherrat in Vorbereitung der Beratung ein Diskussionspapier »Rechtsextremismus und Antifaschismus in
Deutschland« versandt und auch mit
dem neuen Rundbrief 4/2008 lagen
weitere Einzelanalysen zur Situation in
den Bundesländern vor.
Ulla Jelpke vermittelte eingangs einen
Überblick über das gegenwärtige Agieren der drei wichtigsten Strömungen
des Rechtsextremismus im Lande: die
eher rechtspopulistischen Kräfte (hier
unter anderem die Pro-Bewegungen
und die nicht mehr vom Verfassungsschutz beobachteten Republikaner),
die neonazistischen Parteien (NPD,
DVU), die militant und aggressiv auftretenden Gruppierungen (von der Kameradschaftsszene bis hin zu den erstarkenden »Autonomen Sozialisten«).
Dabei verdient die NPD nach wie vor
besondere Aufmerksamkeit, die mit ihren zur Zeit 7.300 Mitgliedern inzwischen auch die weiter an Einfluss verlierende DVU überholt hat, die verstärkt
ihren völkischen »Antikapitalismus« propagiert und versucht, den Spagat zwischen den eher auf »Ankommen« in der
bürgerlichen Mitte ausgerichteten Kräften und ihrem mit den »Freien Kräften«
operierenden militanten Flügel auszuhalten. Jelpke betonte, dass aus den für
diese meist enttäuschenden Wahlergebnissen im letzten Jahr und aus den fortwährenden personellen und finanziellen
76
Krisen rechtsextremer Parteien keinesfalls eine Entwarnung vor den bestehenden Gefahren herausgelesen werden
kann.
Aus ihrer Erfahrung im Bundestag setzte
sich die Referentin mit den verschiedenen Standpunkten zu einem Verbot
der NPD auseinander. Da es sich zeigt,
dass bei vielem Wortgeklingel von Seiten anderer Parteien eine ernsthafte
Bekämpfung dieser neonazistischen
Partei fehlt, bleibt für die Linke als nächster Schritt neben der ständigen Entlarvung der NPD auch weiterhin die Forderung nach Abschaltung der V-Leute
des Verfassungsschutzes auf der Tagesordnung. Für die Wahlen im Jahre 2009
müssen auch die Aktivitäten der Pro-Bewegung, die zum Beispiel in NordrheinWestfalen bei den Kommunalwahlen
flächendeckend antreten will, die der
Republikaner und ähnlicher Kräfte im
Visier behalten werden, die allesamt auf
einer nationalistischen, rassistischen
und ausländerfeindlichen Plattform
agieren.
In der anschließenden regen Diskussion
wurde ein breiter Fragenkreis berührt –
von der Zunahme der rechtsextremen
Militanz und Gewalt in einigen Bundesländern (unter anderem in RheinlandPfalz und im Berliner Umland), der Einschätzung der Situation in der NPD, der
Beurteilung von Wahlergebnissen, der
Rolle der Musik für den Einfluss der Neonazis bis zur Reaktion der rechtsextremen Parteien auf die weltweite Finanzkrise.
Einen besonderen Schwerpunkt bildeten dabei Erfahrungen aus den Kommunen. Aus dem Einzug einer ganzen
Reihe von Neonazis in die kommunalen
Parlamente, wie jüngst bei den Kommunalwahlen in Brandenburg im September 2008, ergeben sich neue Probleme.
Auch wenn eine Anzahl dieser Leute
erst sehr geringe Erfahrungen in ihrem
parlamentarischen Auftreten hat, so
sind doch die Anstrengungen der Neonazis zu deren Schulung und zur Koordinierung überörtlich nicht zu übersehen.
Wie die sächsischen NPD-Erfolge bei
den Kreistagswahlen zeigen, sind diese
auch das Sprungbrett für weitere Aktivitäten bei Landtagswahlen und darüber
hinaus. Für die Linke ergeben sich deshalb Notwendigkeiten einer verstärkten Hilfe in schriftlicher und mündlicher
Form für ihre Vertreter in den kommunalen Parlamenten, wie unter anderem
Reiner Tietz und Gerhard Seifert an Beispielen aus dem Kreis Oberhavel demonstrierten.
Aus Beiträgen zur Heranziehung historischer Erfahrungen für die kommenden
Auseinandersetzungen (die unter anderem von Rolf Richter und Heinz Engelstädter vorgetragen wurden) ergab sich,
dass der Kampf um die Aufrechterhaltung demokratischer Verhältnisse angesichts der zahlreichen Versuche, demokratische Rechte der Bürger auch von
Regierungsseite her zu beschneiden
und angesichts immer neuer Provokationen der Neonazis im Straßenkampf,
nach wie vor höchste Priorität genießen
muss. Stets braucht es breite, demokratische Bündnisse und zivilgesellschaftliches Engagement, besonders auch
dort, wo es gilt, junge Menschen vor
neonazistischem Einfluss zu schützen.
Und massenpsychologisch – so wurde
ebenfalls mit Bezug auf geschichtliche
Lehren und auf Erfahrungen im antifaschistischen Kampf beruhend hervorgehoben – müssen dabei stets die sozialpolitischen Forderungen im Vordergrund
stehen, um der Demagogie der Neonazis keinen Raum zu lassen.
Wichtige Informationen enthielt auch
der Beitrag des Bundessprechers der
VVN-BdA, Prof. Gerhard Fischer. Er würdigte die Erfolge der Kampagne 2008
»NPD-Verbot jetzt!«, deren Ergebnisse
mit 175.000 Unterschriften vom Bundestag letztlich doch nicht einfach weggewischt werden konnten und dankte
für die Unterstützung, die auch aus den
Reihen der Linkspartei kam. Auch im
nächsten Jahr wird die NPD keine Ruhe
haben, es wird Fortsetzungen der Kampagne geben, auch das Logo »NoNPD«
wird uns weiter begleiten.
Im zweiten Punkt der Tagesordnung
beschäftigten sich die Teilnehmer der
Beratung mit der Situation in den Gedenkstätten für die Opfer der faschistischen Diktatur, darunter mit der sogenannten Gedenkstättenkonzeption
der Bundesregierung. Anerkennende
Worte fanden sie für die fleißige Arbeit
der Mitarbeiter in den Gedenkstätten
und den Einsatz vieler Zeitzeugen für
den Erhalt und die Betreuung der Besucher der Einrichtungen. Besondere Anerkennung zollten sie intensiver Jugendarbeit in manchen Gedenkstätten, über
die zum Beispiel Peter Hochmuth von
der Lagergemeinschaft Buchenwald und
Karl-Heinz Lutkat von der verdi-Jugend
berichteten.
Gleichzeitig hielten sie mit ihrem Unverständnis und ihrer Kritik an dem Dokument der Bundesregierung nicht zurück,
die mit der Vermischung der Gedenkstätten-Konzeptionen für die Opfer der
Nazidiktatur und der »DDR-Diktatur«
und der Schwerpunktsetzung der Förderung auf letztere dem Geschichtsrevisionismus Tür und Tor öffnet und neue
Instrumente zur »Delegitimierung« der
DDR schafft.
Dr. Detlef Kannapin, Mitarbeiter der Bundestagsfraktion Die Linke, zeichnete in
seinem einführenden Vortrag den Werdegang der Konzeption der Bundesregierung nach, die auch nach vielen
Diskussionsrunden in der nun im November von der Mehrheit des Bundestages gebilligten Fassung keinen wirklich akzeptablen Rahmen gefunden hat.
Zwar konnte im Verlauf der letzten beiden Jahre die im ersten Entwurf praktisch geleugnete Singularität der faschistischen Verbrechen nun im Dokument
verankert werden, doch bleibt dieses
Papier in seiner antikommunistischen
Diktion. Mussten zum ersten Entwurf
auch Leiter der Gedenkstätten für die
Opfer des Faschismus feststellen, dass
hier ein regelrechter »geschichtsrevisionistischer Putsch« versucht wurde, so
bleibt nach dessen Entschärfung auch
heute die Absicht deutlich und die Gefahr reaktionären Missbrauchs virulent.
Kommt die Konzeption doch nicht nur
jenen entgegen, die ganz offenkundig
die gesamte Geschichte der DDR hinter Stasi-Gebäuden und die hinter den
Erinnerungen an die Sonderlager der
sowjetischen Besatzungsmacht in Buchenwald und Sachsenhausen die KZGedenkstätten verschwinden lassen
wollen. Sie steht auch nicht zufällig im
Rahmen der CDU-Debatten über den
Umgang mit der eigenen Geschichte,
über die Erinnerungen in der Bevölkerung an die DDR und um die künftige
antikommunistische Beeinflussung der
Schüler. Auch die Einrichtung eines Zentrums in Berlin, das Erika Steinbachs
Versionen von Vertreibungen darstellen
soll und die Schaffung neuer Denkmale
für tote Bundeswehrsoldaten und vor
dem Neubau des Berliner Schlosses hat
damit zu tun.
In der Diskussion wurde betont, dass
beträchtliche Mittel in die Baulichkeiten
der KZ-Gedenkstätten investiert wurden, dass es aber gleichzeitig dort nicht
genügend Gelder für die notwendige
pädagogische Arbeit und dazu gehörende Ausstellungen gibt. Hinsichtlich
der immer weniger werdenden Zeitzeu-
gen wurde vermerkt, dass es wichtig ist,
deren Wissen und Erfahrungen solange
wie möglich gerade im Gespräch mit
Jugendlichen zu nutzen, dass es aber
auch gilt, die von ihnen hinterlassenen
schriftlichen und audiovisuellen Quellen
vor Verfälschungen zu schützen. Heute
führt die Konzeption der Bundesregierung zur Förderung der Gedenkstätten
bei denen mit »doppelter Vergangenheit« wie Sachsenhausen und Buchenwald dazu, dass bewusst mehr Gelder
für die Darstellung der »Sonderlager«
fließen, während andererseits zu den
Rettern vor dem Faschismus immer weniger gesagt wird. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass
es in den alten Bundesländern auch eine Erinnerung an die »doppelte Vergangenheit« mancher Einrichtungen geben müsste. So ist zwar das Gefängnis
Wolfenbüttel als faschistische Kerkerund Opferstätte bekannt, verschwiegen
wird aber, dass es nach 1945 in den Jahren des kalten Krieges gleich wieder als
Kerker für Antifaschisten, Kommunisten
und Kriegsgegner diente.
Am Schluss der Beratung erläuterte Dr.
Gerd Wiegel die Vorbereitungen für eine zentrale Konferenz der Bundestagsfraktion Die Linke und der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Rechtsextremismus,
die am 24. und 25. Januar 2009 im
Berliner Abgeordnetenhaus stattfinden
wird.
Dr. sc. Roland Bach
77
78
»Es brennt!« Eine Ausstellung zum
antijüdischen Terror im November 1938
Am 6. November 2008 wurde eine
neue Ausstellung in Berlin eröffnet. Im
Centrum Judaicum ist sie bis 1. März
2009 zu sehen. Und es gibt einen reich
illustrierten und informativen Begleitband zur Ausstellung – zum erschwinglichen Preis von 15 Euro.
Die drei für Ausstellung und Publikation projektverantwortlichen Stiftungen
(Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum; Stiftung Topographie
des Terrors; Stiftung Denkmal für die
ermordeten Juden Europas) haben untertrieben, indem sie diesen Band als
»Katalog« bezeichneten. Erschienen ist
vielmehr eine gelungene Mischung aus
Essay-Band und Ausstellungskommentierung.
Bilder einer Ausstellung sollte man
nicht zu beschreiben versuchen. Die
ganz individuelle Betrachtung macht
doch den Reiz aus, auch in diesem besonderen Falle. Mir fiel als Gemeinsames an den kaum bekannten Fotos
vom Novemberpogrom 1938 besonders auf: Die Spuren von Gewalt sind
im Straßenbild unübersehbar gewesen, ebenso das Nichtstun vieler Gaffer und das Tun von sich an fremdem
Eigentum bereichernden Raffern. Das
Gezielte der Aktion vom November
1938 wird erkennbar, wenn Straßenzüge zu sehen sind, wo zerschlagene
Schaufensterscheiben neben unberührten Geschäftsauslagen zu sehen
sind. Aus Nachbarn waren Juden geworden.
Der Begleitband/Katalog wird eingeleitet durch drei kurze Beiträge: Einem
Vorwort der Direktoren der genannten Stiftungen (Dr. Hermann Simon,
Prof. Dr. Andreas Nachama und Uwe
Neumärker), einem Grußwort des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit, sowie einem Text
des Direktors des Zentrums für Anti-
semitismusforschung an der TU Berlin,
Prof. Dr. Wolfgang Benz.
Der erste Teil des Bandes beschreibt verschiedene Aspekte der Vorgeschichte
und des Verlaufs des Pogroms. Im Zentrum stehen die zeitgenössischen Fotos. Zwei am Beginn dieses Abschnitts
(S. 46 f.) gegenübergestellte historische
Karten gewinnen ihre Aussagekraft
nicht durch die Detailgenauigkeit als
Wegweiser zur Suche nach historischen
Orten. Sie bestechen durch zwei Aussagen. Die Dichte jüdischer Einrichtung,
die für das Deutschland der Weimarer
Republik davon zeugten, dass jüdisches
Leben zum Alltag gehörte. Und die Dichte der Übergriffe im November 1938.
1283 Synagogen und jüdische Betesäle
wurden im November 1938 zerstört. Die
Forschungen sind nicht abgeschlossen,
immer wieder kommen weitere, bislang
nicht bekannte Beispiele hinzu.
Angemerkt sei, dass auch ein weit verbreiteter Irrtum aufgeklärt wird, er betrifft die Neue Synagoge in der Berliner
Oranienburger Straße. »Das Foto, das
die brennende Synagoge im November
1938 zeigt, ist um das Jahr 1948 entstanden. Dabei handelt es sich um eine Fälschung: Flammen sind in eine Aufnahme, die nach dem Bombenangriff
(vom November 1943) gemacht wurde, hineinretuschiert worden. Dennoch
dient dieses Foto immer wieder dazu,
die Geschehnisse des November 1938
zu illustrieren.« (S. 103)
Der Teil zwei des Begleitbandes/Kataloges umfasst sechs Beiträge, die bloße
Nennung ihrer Titel soll die Neugier potentieller Leser fördern: Frühe Berichte
von Verfolgten des antijüdischen Terrors
im November 1938 (Ulrich Baumann);
Der Novemberpogrom 1938 im Spiegel
diplomatischer Berichte aus Berlin (Hermann Simon); Reaktionen auf den Novemberpogrom in der jüdischen Pres-
se in Polen 1938/39 (Ingo Loose); Zur
bildlichen Überlieferung des Novemberpogroms (Klaus Hesse); Die justizielle
Ahndung von »Reichskristallnacht«-Verbrechen durch die westdeutsche Justiz
seit 1945 (Edith Raim); Das Gedenken
an den Novemberpogrom 1938 (Andreas Nachama).
Der Begleitband/Katalog wird im Anhang durch ein Orts- und Personenregister sowie Literaturempfehlungen komplettiert.
Die Verantwortlichen für Ausstellung
und Katalog sehen ihr Wirken als Beitrag, »den 9. November 1938 als Gedenktag für die jüdischen Opfer aus
dem Deutschen Reich wieder in den
Vordergrund der deutschen Erinnerungskultur zu rücken«. (S. 9) Dass dies im Herbst 2008 in hohem Maße gelungen ist, davon zeugt eine große Zahl
von Initiativen, Veranstaltungen und
Ausstellungen überall in Deutschland.
Leider gibt es aber auch eine andere
Tendenz. Mehr als in den Jahren zuvor
berichteten die Medien in den Tagen
des Jubiläums über Fälle von Gewalt
gegenüber Juden als Personen und jüdischen Einrichtungen sowie über notwendigen Bürgerprotest gegen rechtsextremistische Verunglimpfung dieses
Gedenkens. Aachen, Berlin, Erfurt, Fulda, Gotha, Moers, Schöneiche, Waren,
Wetter und andere Orte wären hier zu
nennen. Die Anstrengungen zur Zurückweisung jeglicher Erscheinung von Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft – immer sofort, überall und mit
aller Konsequenz – bleibt eine zentrale
Aufgabe.
Schließlich die übliche Anregung: Die
Ausstellung selbst besuchen, den Katalog kaufen und Freunde wie Bekannte
auf beides hinzuweisen.
Dr. Horst Helas
79
»Stille Helden« – Noch eine Gedenkstätte
in Berlin? Ja, und das ist gut so.
Am 27. Oktober 2008 wurde die neue
Gedenkstätte Stille Helden feierlich eröffnet, unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit. Auf zwei Ausstellungsetagen werden am Hackeschen Markt
ausgewählte Beispiele jahrelanger Forschungen vorgestellt. In einem Begleitbuch zur Präsentation kann man dazu
Näheres nachlesen.1 Im Buch wie in der
Dauerausstellung werden unterschiedliche Hilfsaktionen erläutert, die alle
einem gemeinsamen Ziel dienten: bedrängten Juden in Deutschland zu helfen – auf dem Weg ins rettende Exil oder
in die Illegalität mitten in Deutschland.
Allein 1.700 Frauen, Männer und Kinder versteckten sich als so genannte UBoote in Berlin, 3.000 waren es in ganz
Deutschland.
Porträtiert werden bekannte Helfer
wie Oskar und Emilie Schindler oder
der Helferkreis in Berlin um Maria Grä-
80
fin von Maltzan. Aber auch an weniger
bekannte, mutige Menschen, die keine Juden waren (nach NS-Terminologie
»Arier«) und mit ihren Taten das eigene
Leben gefährdeten, wird erinnert.
Die neue Gedenkstätte ist eine Zweigstelle der von Prof. Dr. Johannes Tuchel
geleiteten Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Dr. Beate Kosmala und Barbara Schieb, die seit Jahren nach »Stillen Helden« suchten, erhielten in der
Rosenthaler Straße 39 eine neue Wirkungsstätte mit verbesserten Arbeitsbedingungen. Sie sammeln weiter Berichte, Fotos und Dokumente. Jede
mündliche Erinnerung ist willkommen
und wird in Bild und Ton festgehalten.2
Für die Gedenkstätte Stille Helden wurde mit der Adresse Rosenthaler Straße
39 ein besonders günstiger Ort gefunden. Dies meint nicht nur die verkehrsgünstige Lage am S-Bahnhof Hacke-
scher Markt. Unter dieser Adresse kann
man nun gleich drei Orte des Gedenkens an früheres Jüdisches Leben besuchen. Die anderen beiden, die sich
schon längere Zeit regen Zuspruchs erfreuen, sind das Anne-Frank-Zentrum
Berlin3 und das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt.4 Berlinern und Berlin-Besuchern, allen Geschichtsinteressierten und namentlich vielen Schülern
mit engagierten Lehrern sei dieser »Geheimtipp« für eine historische Spurensuche wärmstens ans Herz gelegt.
Dr. Horst Helas
1
2
3
4
Siehe: Gedenkstätte Stille Helden. Eine Dokumentation der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 2008.
Kontaktadressen:
[email protected]; [email protected]
Siehe: www.annefrank.de
Siehe: [email protected]
81
ZUR DISKUSSION
Anmerkungen zu einer strittigen Frage –
Zu Horst Helas’ Artikel zum Antisemitismus
in der DDR
Horst Helas ist nicht der Einzige, der
hinsichtlich der Anfänge der PDS die
Feststellung betont, man habe endgültig
und für ewig dem Stalinismus Valet gesagt. 1 Es ist allerdings schon merkwürdig, dass regelmäßig nur die verkündete
konsequente Überwindung des Stalinismus als das zu Merkende des Außerordentlichen Parteitages der SED/PDS
vom Dezember 1989 genannt wird. Das
ist die Negativaussage über das, was
die Partei niemals mehr sein dürfe: stalinistisch. Selbstverständlich ist es richtig, beim Rückblick auf die Geschichte
der DDR dort, wo stalinistische Praxis
vollzogen wurde, diese auch zu benennen und zu kritisieren. Allerdings sollte
das dann auch korrekt geschehen. Die
Überwindung des Stalinismus wie von
Gebetsmühlen herabzubeten, ohne exakte Angaben darüber, was als schändliche Praxis angesehen werden muss,
verzichtet auf geschichtliche Wahrheit.
Offenbar meint man aber, dass alles abstrafbar ist, wenn es nur gehörig oft behauptet wird. Wozu auch die inzwischen
als antisemitisch verteufelte DDR gehört, in der es, was nicht bestritten werden kann und soll, zeitweilig antisemitisches Verhalten gab.
Warum verweist man eigentlich immer
wieder lediglich und nur auf die Überwindung des Stalinismus und »vergisst«, über den Bericht an den Parteitag zum Stalinismus hinauszugehen
und sich des Beschlussentwurfs und
des Statuts zu erinnern? Dort nämlich
sind in der Zielstellung auch das Konstruktive formuliert, das den Inhalt der
Parteinahme und – arbeit der entstalinisierten Partei bestimmen sollte. In
der »Zusammenfassung« zum Beschlussentwurf der Redaktionskommission,
die von Lothar Bisky vorgetragen wurde, heißt es unter anderem, dass eine
neue sozialistische Partei entstehen
solle, »die die Traditionen der Arbeiterbewegung fortsetzt. Sie knüpft an sozialdemokratisches, sozialistisches, kommunistisches, antifaschistisches und
pazifistisches Erbe an. … Unsere Partei
stützt sich in ihrer Politik auf die modernen Gesellschaftswissenschaften. Marx
und Lenin sind uns dabei historisches
82
Vorbild.«2 Und in der Präambel des Statuts, das am 17. Dezember 1989 beschlossen wurde, heißt es: »Die Partei
ist eine marxistische sozialistische Partei. … Theoretische Grundlage der Partei ist der Marxismus. … Ziel der Partei
ist ein neuer menschlicher, demokratischer Sozialismus in der DDR, jenseits
von Profitwirtschaft, Ausbeutung und
administrativ-bürokratischem Sozialismus. … Die Partei kämpft entschieden
gegen jede Form von Nationalismus,
Faschismus, Rassismus und Chauvinismus. … Die internationale Solidarität mit
allen um nationale und soziale Befreiung
Kämpfenden ist ihr ein wesentliches Anliegen.«3 Dazu würde dann auch eine objektive Betrachtung der Frage gehören,
ob und inwieweit es Antisemitismus in
der DDR gegeben hat.
Nun muss man feststellen, dass die genannte Politikbestimmung der SED/
PDS Schritt für Schritt einer Wandlung
unterlag und unterliegt, wobei ein tendenzielles Abgehen vom Marxismus und
eine sukzessive Sozialdemokratisierung
nicht zu übersehen sind. Schritt für
Schritt ist in den nachfolgenden Jahren
von dieser klaren Inhaltsbestimmung
der Partei Abstand genommen worden.
Dennoch wäre es wohl sinnreich, sich
auch dieser Ausgangssítuation immer
wieder zu erinnern, wenn man mit Verve auf die Ablehnung des Stalinismus
verweist.
Der Kampf gegen den Rassismus war in
der DDR Realität. Bedauerlicherweise
gab es zu einem bestimmten Zeitpunkt –
in den 50 er Jahren – Verstöße gegen das
hehre Ziel auch dadurch, dass jüdische
Personen bestimmten Sanktionen ausgesetzt waren bzw. aus Furcht vor derartigen Repressionen die DDR fluchtartig
verließen. Diese Phase wurde überwunden, obwohl kritisch zu vermerken ist,
dass eine offene Kritik und Selbstkritik der Verantwortlichen für diese dem
Charakter nach auch antisemitischen
Entgleisungen leider nicht erfolgte. Was
jedoch durchaus der üblichen Praxis der
Parteiführung entsprach, Negatives »im
Vorwärtsschreiten« zu überwinden und
sich nicht durch »rückwärtsgewandte
Diskussion« hemmen zu lassen.
Aber man wird wohl kaum, sofern man
nicht konsequenter Ignorant ist, ableugnen können, dass die DDR in der
internationalen Auseinandersetzung
Front gegen Rassismus machte, was
nicht zuletzt die Entkolonisierung verlangte. Die DDR stand auf der Seite
jener, die die nationale Befreiung erstritten. Was letzten Endes auch die
Unterstützung der Palästinenser und
der PLO erklärt, die unter anderem einen sichtbaren Ausdruck in der Anerkennung von Yassir Arafat als ihrem
politischen Repräsentanten fand. Diese Tatsache löste bei den politischen
Spitzen Israels keine Freude aus. So
wie auch die Annäherung der DDR an
Staaten des Nahen Ostens, mit der unter anderem die gegen die Souveränität und internationale Anerkennung der
DDR gerichtete bundesdeutsche Hallstein-Doktrin durchbrochen werden
konnte, missbilligt wurde. Die israelische Seite hatte sich nach der Staatsgründung, die mit Billigung der UdSSR
stattfand, sukzessive nach Westen orientiert. So wie die UdSSR diese Hinwendung nicht begrüßte, verhielt sich
auch die DDR. Wenn der DDR das Fehlen diplomatischer Beziehungen zu Israel angelastet wird, dann muss deutlich gemacht werden, dass Israel als
der früher konstituierte Staat das Angebot an den später entstandenen Staat
hätte unterbreiten müssen. Israel hat
weder dies getan, noch der Aufnahme
der DDR in die UNO zugestimmt als das
auf der Tagesordnung stand.
Prinzipiell falsch ist die Praxis, Israel,
den Zionismus und das Judentum, was
durchaus unterschiedliche Sachverhalte
sind, zu vermengen und daraus Antisemitismus abzuleiten.
Dass die DDR den Zionismus einseitig
für einen bürgerlichen aggressiven Nationalismus hielt, der zur Legitimierung
des Handelns Israels genutzt wurde, traf
mit Sicherheit nicht auf alle Formen des
Zionismus zu, war jedoch kein Antisemitismus. Man sollte sich auch daran erinnern, dass nicht wenige dem Judentum
angehörende Bürgerinnen und Bürger
durchaus Kritiker des nationalistischen
Zionismus waren und sind.
Dass Israel sich als ein Staat des westlichen Weltlagers mit allen sich daraus
ergebenden Konsequenzen der Klassenauseinandersetzung gegenüber der
DDR antikommunistisch verhielt, um
den heutzutage verpönten, jedoch kennzeichnenden Begriff zu gebrauchen, hatte entsprechende Wirkungen, wie sie
sich für die DDR im Verhältnis zu allen
Staaten des imperialistischen Lagers
ergaben. Antisemitismus war diese Haltung jedenfalls nicht.
Dass die DDR an Israel keine Wiedergutmachung leistete, war kein Antisemitismus, sondern die Konsequenz aus
dem, was die DDR im Gefolge der Niederlage des deutschen Faschismus an
Wiedergutmachung gemäß dem Potsdamer Abkommen bereits geleistet hatte. Im Verständnis Israels hat die DDR
keine Wiedergutmachung geleistet.
Im Verständnis der DDR ist diese eine
Wiedergutmachung in zweifacher Hinsicht realisiert worden: Erstens durch
die Beseitigung der ökonomischen, politischen und ideologischen Grundlagen
für die beispiellose Vernichtung von jüdischen Menschen, wie sie der deutsche Faschismus unter der menschenverachtenden Losung einer »Endlösung
der Judenfrage« vollzogen hatte; zweitens durch die Reparationsleistungen
an die Sowjetunion als Folge des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion.
Israel hat nie akzeptiert, dass die DDR
nach 1945 als Konsequenz aus der faschistischen Aggression eine Wiedergutmachung zu leisten hatte, die im
Potsdamer Abkommen und anderen alliierten Dokumenten in Gestalt der Reparationen eingefordert wurde. Diese Reparationen gingen nach alliierten
Festlegungen an die UdSSR. Die Sowjetunion hatte ihre Reparationsforderungen gegenüber Deutschland auf 10
Milliarden Dollar zu den Preisen von
1933 beziffert. »Gemäß der von den
Westmächten auf der Potsdamer Konferenz maßgeblich beeinflussten Reparationsregelung war die Sowjetunion darauf angewiesen, die ihr zuerkannten
Reparationsansprüche fast ausschließlich aus ihrer Besatzungszone zu befriedigen. Die vereinbarten ergänzenden
Lieferungen aus Demontagen in den
Westzonen waren relativ gering; eine
Einigung über die dafür auszusuchenden Objekte erwies sich als schwierig,
und der Realisierung erfolgte schleppend oder gar nicht.«4 Die Reparationen
erfolgten auf drei Wegen: 1. durch Demontagen, 2. aus der laufenden Produktion und 3. durch die Verpflichtung von
deutschen Wissenschaftlern zu wissen-
schaftlich-technischer Arbeit für die Sowjetunion. Die Demontagen erfolgten
unter anderem in folgendem Bereichen:
»In der Reifenindustrie waren alle Produktionsmittel abgebaut. Die Demontage des Anlagevermögens belief sich
beim Schienenfahrzeugbau auf 80 Prozent, im polygrafischen Maschinenbau
auf zwischen 95 und 60 Prozent, im
Werkzeugmaschinenbau auf 55 Prozent, in der Strick- und Wirkwarenindustrie auf 43 und in den Spinnereien auf
10,6 Prozent.« Das zweite Gleis wurde
auf dem Gebiet der Ostzone demontiert, so dass sich die Kilometerzahl von
6.081, 27 im Jahre 1944 auf 1.063,09 im
Jahre 1948 verringerte. Es versteht sich,
dass sich daraus schwerwiegende Verpflichtungen für einen Neuaufbau der
industriellen Grundlagen ergaben. Die
bundesdeutschen Reparationen an die
Westmächte beliefen sich auf lediglich
517 Millionen Dollar (Handelsflotte, Auslandswerte, Erträge von Demontagen). 5
Und die BRD profitierte vom Marshallplan.
Wenn man die Haltung der DDR zu Israel
beurteilen will, dann muss man zweifelsohne die Haltung Israels zur DDR mit bedenken. Zwar wünscht Horst Helas ausdrücklich, von dem Totschlagargument,
die BRD sei viel antisemitischer gewesen als die DDR, verschont zu bleiben,
es ist aber doch merkwürdig, dass Israel
sich gegenüber der DDR strikt antikommunistisch verhielt, aber offenbar keinerlei Bedenken daran hatte, dass beispielsweise ein Hans Globke in der BRD
eine hohe staatliche Funktion ausübte,
um nur eine herausragende Figur mit
nazistischer Vergangenheit zu benennen. Juden erhielten allerdings im obersten Leitungsgefüge der BRD kein Betätigungsfeld. Demgegenüber waren – um
nur dieses Beispiel zu nennen –, zwei Juden, Albert Norden und Hermann Axen,
Mitglieder des Politbüros der SED. Jedenfalls wurde die BRD offiziell und als
Staat nie als antisemitisch charakterisiert. Wenn man dies zweifelnd überdenken würde, stellte man sich schon
die Frage, ob dabei eine Rolle spielte,
dass die BRD Israel mit erklecklichen
Summen unterstützte, die keineswegs
zwingend für die direkte Entschädigung
von Opfern des deutschen Faschismus
eingesetzt sein mussten.
Asher Ben Nathan konstatiert, die Sowjetunion habe massive Waffenlieferungen an arabische Staaten geleistet.
»Strauß’ Ziel war, Israel zu einem Bollwerk gegen den sowjetischen Einfluss
zu machen. Soweit war er auch Gründer
der Globalpolitik.«6 Kurz gesagt: Wir befanden uns mitten im Kalten Krieg. An
dieser Tatsache kommt niemand vorbei,
der Geschichte objektiv schreiben will.
Es ist nicht meine Absicht, hier eine Geschichte der Beziehungen zwischen Israel und der DDR darzulegen. Mein Anliegen ist es, jenem Ansinnen Paroli zu
bieten, das verkündet, die DDR sei antisemitisch gewesen. Wohlgemerkt: Es
geht nicht um gelegentliche antisemitische Exzesse einzelner Personen oder
von Personengruppen, auch nicht um
Handlungen, die als antisemitisch bewertbar sind, wie das beispielsweise
bei der Schändung von Friedhöfen anzunehmen ist. In den Unterlagen des MfS
ist die Zahl derartiger Untaten nachzulesen. Allerdings bestand durchaus
keine Notwendigkeit, einen propagandistischen oder/und strafrechtlichen
Feldzug zu eröffnen. Dazu waren die
Fakten selbst zu geringfügig gegenüber
der sozialistischen »Staatsräson« der
DDR, der sich die DDR verpflichtet fühlte, um diesen aktuellen Begriff einmal
zu verwenden.
Besonders gern wird heutzutage dargelegt, dass Menschen jüdischer Herkunft
von ihren Eltern in der DDR oft nicht erfuhren, dass sie jüdischer Abstammung
waren. Das hätte sie überrascht und bestürzt gemacht. Abgeleitet aus solchen
den Eltern angelasteten Beispielen wird
dann geschlussfolgert, man habe es mit
Antisemitismus zu tun, weil die Eltern
aus unterschiedlichem Interesse ihre
Abstammung nicht offen verbreitet hätten. Einige Kinder solcher Eltern verbreiten in ihrem heutigen Auftreten oft den
Eindruck stärkster Betroffenheit, was
gern als Beweis für einen schändlichen
DDR-Antisemitismus gewertet wird.
Dass die Eltern es damals für wichtiger
hielten, als Sozialisten/Kommunisten
an der Gestaltung der sozialistischen
DDR mitzuwirken, statt die jüdische Abstammung zu betonen, die für sie nur
eine sekundäre Rolle spielte, zählt bei
diesen Kindern dann nicht. Mit dem Untergang der DDR hat nun bei manchen
Personen die Erinnerung an das Judentum Konjunktur. Dabei wird heute so getan, als hätten sie isoliert und einsam
in der DDR gelebt und wären völlig unwissend bezüglich einer jüdischen Abkunft gewesen. Ihr jüdisches ICH habe
sich de facto erst nach dem DDR-Untergang entfalten können. Dabei setzen sie den Beginn ihrer Zerrissenheit
in der gelebten DDR-Realität immer früher an. Herauskommen soll ein von der
DDR zu verantwortendes Zwanghaftes
83
und das Jüdischsein Unterdrückendes.
Man kann schlecht dagegen sprechen,
wenn solche Gefühle behauptet werden, es ist nur merkwürdig, wie diese
Gefühle immer zunehmender den Vorwurf einer Repression artikulieren, so
dass am Ende nur ein verdammenswürdiges Dasein, das sich sozialistischer
Staat nannte, der zudem antisemitisch
gefärbt gewesen sei, übrig bleibt. Womit
Klaus Kinkel in Jubelschreie ausbrechen
könnte: Wieder ist ein Teil an DDR-Delegitimierung im Gange.
In einem kann man Horst Helas durchaus folgen: Es ist nicht eindeutig zu beweisen, welche positiven (oder negativen) Wirkungen alle jene Bemühungen
um das Vermitteln und Kennenlernen
des Jüdischen und des Wissens von den
Verbrechen gegen die Juden bei den
Adressaten insbesondere der Werke
von Kunst und Literatur gehabt haben.
Bestenfalls kann man aus dem nachweisbaren Interesse an den Werken
schlussfolgern, dass positiv-menschliche Beeinflussungen des Bewusstseins
vieler Bürgerinnen und Bürger der DDR
erreicht werden konnten. Millionen Käufer und Leser des Buches »Nackt unter
Wölfen« von Bruno Apitz, Millionen Besucher der gleichnamigen Filmvorführung und die spürbare Sympathie, als
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Stefan Jerzy Zweig, das »Buchenwaldkind«7, gefunden wurde und die DDR
besuchte, sind keine Fiktion. Niemand
wurde gezwungen, sich mit dem Schicksal eines jüdischen Kindes zu befassen.
Es ist schandbar, wenn, um es vorsichtig zu formulieren, stalinistische Dogmatiker sich damit befassten, beispielsweise Friedrich Wolf und seinen »Professor
Mamlock« politisch/ideologisch zu verdächtigten. Was bei den damaligen Verhältnissen in der UdSSR durchaus lebensgefährliche Folgen haben konnte.
Was aber im Geheimen geschah und
in den nun zugänglichen Akten dokumentiert ist, hat nicht zwingend auf die
Adressaten solcher dramatischen Werke
wie »Professor Mamlock« gewirkt. Diese wussten ja von dem nichts, was sich
hinter den Kulissen abspielte und konnten das Kunstwerk/den Roman auf sich
einwirken lassen und beeindruckt sein.
Sie erlebten im Gegenteil, dass Friedrich Wolf im August 1949 in Weimar einen Nationalpreis 2. Klasse erhielt, wobei »Professor Mamlock« ausdrücklich
erwähnt wurde.8 Jedenfalls ist es nicht
akzeptabel, aus solchen Tatsachen »hinter den Kulissen« auf die gesamtgesellschaftlichen Zustände zu schlussfolgern. Interner Streit, interne Intrigen,
politische Diffamierungen gab es bedauerlicherweise. Das Üble besteht darin,
dass aus den Aktenfunden generalisiert
und am Ende, gewürzt durch eigene Erfahrungen als Schüler der DDR-Schule,
heute eben die Behauptung akzeptiert
werden soll, die DDR, um die es hier
konkret geht, habe beispielsweise in der
Schule ideologisch nicht gegen Antisemitismus wirksam sein können. Die »logische« Schlussfolgerung – und was zu
beweisen war: Die DDR sei selbst antisemitisch gewesen.
Dr. sc. Detlef Joseph
1
2
3
4
5
6
7
8
Vgl. Horst Helas, Fast zwanzig Jahre später: Zur
»linken« Streitkultur in Deutschland, in: Rundbrief,
Heft 4/2008 (hrsg. von der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Bundesvorstand der
Partei DIE LINKE), S. 20 ff.
Außerordentlicher Parteitag der SED-PDS. Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin, Berlin 1990, S. 154.
Außerordentlicher Parteitag der SED-PDS. Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin, Berlin 1990, S. 438 f.
Autorenkollektiv, Deutsche Geschichte, Bd. 9: Die
antifaschistisch-demokratische Umwälzung, der
Kampf gegen die Spaltung Deutschlands und die
Entstehung der DDR von 1945 bis 1949, Berlin/
DDR 1989, S. 206.
Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 18, S. 301.
Richard Chaim Schneider, Hg., Wir sind da! Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis
heute, Berlin 2000, S. 212.
Stefan Jerzy Zweig. Der große Bericht über das Buchenwaldkind. Sonderdruck (2. Auflage) der Zeitung »BZ am Abend, Februar 1964.
Neues Deutschland, 26. August 1949.
85
Die »Linken« und ihre Geschichte
Nachdenken über die eigene Geschichte und deren Platz im historischen Prozess ist eine unerlässliche Voraussetzung für das aktuelle Selbstverständnis
sowie die Erarbeitung einer alternativen
politischen Strategie und Taktik einer
Linkspartei. Das gilt um so mehr, als diese Partei auf mehr als 150 Jahre politischen Kampfes der verschiedensten
linken Strömungen zurückblicken kann.
Diese Geschichte umfasst nicht nur Erfolge und positive Seiten ihres Wirkens,
sondern die geschichtliche Gesamtbilanz weist auch Fehlentwicklungen, Versagen und Vergehen gegen die eigenen Grundsätze auf, die unnachsichtig
analysiert werden müssen, um daraus
Schlußfolgerungen für die heutige und
zukünftige Tätigkeit ziehen zu können.
Die Verständigung darüber erfordert einen breiten sachorientierten Diskurs .
Die jüngst veröffentlichte Wortmeldung des Ältestenrates der Partei DIE
LINKE kann meines Erachtens als eine Wortmeldung dazu angesehen werden.1 Sie stellt Existenz und Wirken
der heutigen Linken in die Gesamtgeschichte des. Kampfes um eine sozial gerechte und menschenwürdige Gesellschaft und geht davon aus, dass sie
für die Bewährung unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen sich der Gesamtheit der dabei erwachsenen Erfahrungen versichern muss. Richtig wird
dabei die Notwendigkeit unterstrichen,
sich mit Fehlern und geschichtlichem
Versagen auseinanderzusetzen, ohne
dabei die Legitimität und die Leistungen
des Kampfes namentlich der Arbeiterbewegung infrage zu stellen. Das Papier
des Ältestenrates ist nicht als abschließende und endgültige »linke« Antwort
auf die Frage nach dem Umgang mit der
Geschichte anzusehen – so war es auch
nicht gedacht.
Mir scheint es nach der Lektüre des Papiers angebracht, bevor einzelne Etappen und Entwicklungsstränge auf ihre
Bedeutsamkeit für die aktuelle Positionsbestimmung abgeklopft werden,
einige Grundsätze zu formulieren, die
für die Geschichtsdebatte der Linken
durchgängig zu beachten wären.
Darunter würde ich zum Beispiel erstens verstehen, an der Vision einer
sozial gerechten und menschenwürdigen Gesellschaft mit ökologisch verträglicher Wirtschaftsweise und einer
grundsätzlichen friedfertigen Außenpolitik festzuhalten. Sie ergibt sich daraus,
dass trotz partiell dauerhafter sozialer
Verbesserungen die bestehenden kapi86
talistischen Verhältnisse nach wie vor
diesen genannten Ansprüchen nicht gerecht zu werden vermögen. Auf dieser
unumstößlichen geschichtlichen Tatsache beruht die Existenzberechtigung
und –notwendigkeit alternativer Bewegungen und Parteien, als deren eine
sich die Partei »DIE LINKE« versteht.
Zum Zweiten: Eine glaubhafte Bezugnahme auf die Geschichte der eigenen
Bewegung in diesem Sinne muss nach
dem Scheitern des in der Sowjetunion und danach in anderen osteuropäischen Ländern eingeschlagenen Weges
zur Verwirklichung einer sozialistischen
Gesellschaft auch klar Position dazu beziehen, wovon DIE LINKE sich bei Verfolgung einer alternativen Politik ein für
allemal abgrenzt, was also weder als Inhalt noch als Methode sozialistischer
Politik nicht mehr infrage kommt. In
wenigen Worten gesagt: Die Verwirklichung von sozialistischen Zielen darf
niemals demokratischen Formen ihrer
Durchsetzung gegenübergestellt werden. Ein Monopolanspruch auf den Besitz der allein richtigen Kenntnis der
einzuschlagenden Wege für eine Partei
gibt es nicht. Gesellschaftliche Veränderungen bedürfen der Akzeptanz von Bevölkerungsmehrheiten, um die linke Bewegungen ringen müssen. Dazu gehört
die Bereitschaft, die eigene Politik einer
ständigen kritischen Überprüfung zu unterziehen, ob sie den angestrebten Zielen gerecht wird. Wenn sie diese Anforderung nicht erfüllt, muss sie korrigiert
oder modifiziert werden.
Ich würde mir auch wünschen, deutlicher als im Papier des Ältestenrates
auszudrücken, dass die Ursachen für
das Scheitern des Sozialismus in erster Linie im Versagen der Bewegung
selbst gesucht werden müssen. Selbstverständlich haben die Gegner einer
sozialistischen Erneuerung der Gesellschaft, die herrschenden Klassen der
kapitalistischen Welt und besonders
auch der Faschismus, kein Mittel unversucht gelassen, um den Sozialismus
zu diskriminieren, zu schädigen und zu
beseitigen, kriminelle und aggressiv-militärische Machenschaften eingeschlossen. Aber das ist nun einmal so: Neues
stößt immer auf Gegenwehr des Alten.
Für DIE LINKE ist jedoch wichtig zu erkennen, dass die Gegenseite nur einen
solchen durchschlagenden Erfolg erringen konnte, weil er durch unser Versagen begünstigt wurde. Deshalb muss
es in dem Umgang mit unserer eigenen
Geschichte darum gehen, sorgsam auf-
zudecken, worin die Ursachen für Fehlentscheidungen und Verstöße gegen
die Grundsätze der Errichtung einer sozial gerechten und menschenwürdigen
Ordnung bestanden, damit sichergestellt wird, das solche Fehler nicht
wieder begangen werden. Und noch
eines ist wichtig. Fehlentscheidungen,
Misserfolge und Versagen bleiben keiner Bewegung, keiner Partei erspart,
die in der Gesellschaft agieren. Deswegen gilt es aus der Geschichte der sozialistischen, insbesondere der kommunistischen Bewegung zu lernen, dass
ein ehrlicher Umgang mit Fehlern unerlässlich ist. Die Losung, »Keine Fehlerdiskussion zuzulassen«, hat nicht nur
keinen Nutzen gebracht, sie hat irreparablen Schaden zugefügt. Fehler machen ist menschlich, sie nicht einzugestehen und zur Korrektur nicht bereit zu
sein, zieht schädliche Folgen nach sich,
wie wir drastisch erleben mussten..
Solche Präliminarien voranzustellen,
halte ich für sehr sinnvoll. Damit könnte
auch dem rationellen Kern der Bedenken, wie sie Michael Wolff in seinem Leserbrief massiv äußert, Rechnung getragen werden.2 Allerdings gibt sein Beitrag
auch Anlass, auf eine Unsitte linker Diskussionskultur zu sprechen zu kommen.
Offenbar fällt es linken Kräfte immer
noch schwer, sich von den unseligen
Gepflogenheiten jenes Umgangs mit Ihresgleichen zu lösen, die dazu geführt
haben, dass in der sozialistischen und
vor allem kommunistischen Bewegung
des 20. Jahrhunderts kein kreativer Diskurs zustande kommen konnte.
Es ist auffällig: Wenn Linke miteinander diskutieren, werden, was bedauerlicherweise auch heute noch so ist, wie
der Leserbrief von Michael Wolff erkennen lässt, Meinungsdifferenzen dazu benutzt, um sofort Abweichungen
von einer imaginären vorgegebenen Linie vorzuwerfen. Statt von den gemeinsamen Positionen auszugehen und sich
auf deren Grundlage argumentativ um
Annäherung zu bemühen, werden in erster Linie die strittigen Positionen einander so gegenübergestellt, dass der
unbefangene Leser den Eindruck gewinnen muss, hier liefern sich unversöhnliche Gegner ein Gefecht. Dann wimmelt
es von »Fragwürdigem« in den Äußerungen der anderen und es wird »ein
Vorbeimogeln an Tatsachen« unterstellt,
um die Wortwahl des Leserbriefschreibers zu wählen.
Viel sinnvoller wäre es doch, sachliche
Einwände zu formulieren, die an die
Sachargumente des kritisierten Textes
anschließen, dann würde sich zeigen,
dass die Diskutanten oft gar nicht so
weit auseinander liegen. Nehmen wir
nur den Einwand von Michael Wolf gegen die Feststellung des Ältestenrates,
dass die sozialistische Bewegung im
20.Jh. einen »Höhepunkt« erreicht hatte. Die Tatsache, dass am Ende des
Jahrhunderts die sozialistische Bewegung eine schwere Niederlage erlitten
hat und die von ihr vertretene Konzeption einer sozialistischen Gesellschaft
gescheitert ist, bedeutet ohne Frage
einem Tiefpunkt. Andererseits schafft
das die Tatsache nicht aus der Welt,
dass die organisierte Arbeiterbewegung
noch nie einen solchen Höhepunkt ihres
Einflusses auf die gesellschaftliche Entwicklung verbuchen konnte, wie dies im
20. Jahrhundert der Fall war. Bekanntlich haben Höhepunkte es an sich, zu
Ausgangspunkten des Niedergangs zu
werden, wenn politische Kräfte nicht fähig sind, durch eine flexible, auf neue
Herausforderungen reagierende Politik
die erreichten Positionen zu sichern.
Im Volksmund sagt man nicht umsonst,
dass man sich »tot siegen« kann. Ein
Schicksal, dass übrigens nicht nur der
sozialistischen Bewegung passiert ist,
wenn ein Seitenblick auf aktuelle Erscheinungen erlaubt ist.
Das aber ist gerade unserer Bewegung
und namentlich ihren Führungskräften
passiert. Im Vollgefühl der Macht wurde
unterlassen, ständig ein ehrliche Bilanz
über den durchschrittenen Weg zu ziehen und zu überprüfen, ob die verfolgte
Strategie und die angewandten Mittel
im Einklang mit den Zielstellungen standen: Vor allem bestimmte Krisensituationen hätten unbedingt der Anlass sein
müssen, um unnachsichtig die Frage
nach Ursachen der entstandenen Krisen
zu stellen. Stattdessen wurde nur an
Symptomen herumgedoktert und nicht
bis zu »Systemfehlern« vorgedrungen.
Das kann man aber heute nur produktiv
machen, wenn man den geschichtlichen
Weg der sozialistischen Bewegung in
seiner Gesamtheit analysiert. Nur so
lässt sich die Frage beantworten, warum trotz beachtlicher Erfolge und großer Möglichkeiten die sozialistische Alternative so kläglich gescheitert ist und
damit auch richtige und wichtige Errungenschaften letztlich ihrer Wirkung beraubt wurden.
Dem kann man aber nicht gerecht werden, wenn man der Geschichtssicht der
Linken eine undialektisch einseitige Negativ-Darstellung der Geschichte der
sich sozialistisch verstehenden Länder
einschließlich der DDR aufnötigen will,
wie das Michael Wolff offenbar für richtig hält. Er begründet das damit, dass
die realen Verhältnisse in diesen Ländern mit sozialistischen Idealen nichts
zutun gehabt hätten. Ich kann dieser
These nichts abgewinnen. Wenn, wie
ich vermute, diese These verteten wird,
um damit die Belastung heutiger alternativer politischer Bewegungen zu mindern, weil sie sich von den Geschehnissen dieser geschichtlichen Periode
lossagen, so kann man nur sagen, dass
sie einem kolossalen Irrtum unterliegen.
Gegner des Sozialismus werden sich davon nicht beeindrucken lassen.
Aber es stimmt auch sachlich nicht,
dass eine breite Bewegung im vergangenen Jahrhundert große Opfer in
Kauf nahm, um aus dem kapitalistischen
System, das sie aus praktischem Erleben zu Recht für wirtschaftliche Ausplünderung, soziale Benachteiligung, für
die Entstehung ökonomischer Krisen,
von Kriegen und politischer Unterdrückung verantwortlich machten, auszubrechen, und die Vision einer freien, sozial gerechten und menschenwürdigen
Gesellschaft zu verwirklichen. Dieser
humanistischen Vision darf man wohl
auch dann die Legitimation nicht versagen, wenn diese Entwicklung nicht zu
dem angestrebten Ergebnis geführt hat.
Solche rigorosen pauschalen Abwertungen sind aber nichts anderes als die
Verweigerung der Legitimität von Gesellschaftsveränderungen, was sicherlich den heute Herrschenden durchaus
Recht sein kann, aber nicht denjenigen Kräften, die an der Notwendigkeit
festhalten, die Gesellschaft weiter zu
demokratisieren und die verhängnisvollen Folgen kapitalistischer Profitgier
zu beseitigen. Es ist also mit dem Geschichtsverständnis einer Linkspartei
schlichtweg unvereinbar, eine solche nihilistische Haltung gegenüber der Geschichte des Sozialismus zu kultivieren.
Vielmehr müsste man dieser Periode mit
dem schuldigen Respekt gegenübertreten, der sowohl die Anstrengungen und
Leistungen würdigt, als auch die Ursachen und Entscheidungssituationen aufdeckt, die zu Misserfolgen, Fehlern und
auch zu Verbrechen des Stalinismus geführt haben.
Im Leserbrief von Michael Wolff sind also Positionen zum Umgang mit der Geschichte formuliert, die einer produktiven Aneignung der geschichtlichen
Erfahrungen nicht sonderlich dienlich
erscheinen.. Das wird sofort deutlich,
wenn man einige Thesen zu Ende denkt.
Dazu gehört das sehr vordergründige
Bemühen, die Linke zu veranlassen, sich
möglichst nicht mit der DDR-Vergangen-
heit und der Geschichte des Kampfes
der Arbeiterbewegung in Verbindung zu
bringen. So schreibt er beispielsweise:
»Die guten Absichten und der oft Kräfte zehrende Einsatz vieler DDR-Bürger
und SED-Mitglieder (der Autor dieser
Zeilen eingeschlossen) hat letztlich weder den Zusammenbruch noch die Fehlentwicklungen und die im Namen des
Sozialismus begangenen Verbrechen
verhindern können. … Schlimmer noch,
durch unseren Einsatz haben wir auch
die Herrschaftsverhältnisse der DDR
(Ich bleibe mal bei dieser) stabilisiert
und damit vieles (z. b. auch den Mauertoten) billigend in Kauf genommen. Ein
Bekenntnis zu unserer Verantwortung,
Schuld bzw. Mitschuld ist kein Kniefall
vor wem auch immer, sondern Verantwortung für einen ehrlichen Neuanfang
linker Politik.«3
Diese Bemerkungen besagen eigentlich
nichts anderes, als dass eigentlich alle
DDR-Bürger, übrigens sogar die Mehrzahl der Oppositionellen, die ihrer Arbeit nachgegangen sind, auch wenn sie
sich den sozialistischen Idealen nicht
verpflichtet gefühlt haben, für alles und
jedes, was in der DDR geschehen ist,
verantwortlich sind. Denn sie haben
alle auf die eine oder andere Art dazu
beigetragen, die Funktionsweise des
»Systems« aufrecht zu erhalten. Nach
Wolff müssten sie dieses Verhalten auf
das schärfste verurteilen und könnten
nur als »reuige Sünder« eventuell die
Berechtigung erwerben, sich heute als
»Linke« zu bezeichnen.
Im Grunde genommen läuft ein solches
Herangehen an die Geschichte darauf
hinaus, dass jeder, der zum Beispiel in
dieser Gesellschaft der Bundesrepublik
Deutschland seiner Arbeit nachgeht, eine beliebige Verantwortung ausübt und
überhaupt am öffentlichen Leben teilnimmt, eigentlich in einer linken Partei
fehl am Platze ist; denn er hält das bestehende System mit all seinen Unzulänglichkeiten, seiner Krisenhaftigkeit,
seiner sozialen Kälte, seiner Ausplünderung der Dritten Welt und seinen Kriegsabenteuern am Laufen, wogegen ja wohl
eine Linkspartei in Opposition steht. Um
auf diesen »starken Tobak« ebenso rigoros zu reagieren, bedeutet dies, dass eigentlich nur unschuldige Kinder und so
genannte Aussteiger als Mitglieder für
eine Partei infrage kommen, die eine alternative Politik vertritt.
Wolff verwahrt sich zwar dagegen, mit
seiner Haltung einen Kniefall vor »wem
auch immer« zu begehen! Dass das
nicht seine Absicht ist, will ich ihm gern
zugestehen. Aber objektiv bewegt er
sich nun einmal unbestritten auf Pfa87
den, wie diejenigen Politiker und Journalisten, die unter anderem dem sächsischen Ministerpräsidenten Tillich zum
Vorwurf machten, als stellvertretender
Vorsitzender des Rates des Kreises Kamenz für Handel und Versorgung durch
eventuell gute Amtsführung besonders
verwerflich gehandelt zu haben, weil er
dadurch das SED-Herrschaftssystem
befestigt habe. Dieses Vorgehen zeigt,
dass solcherlei Argumentationen nichts
mit Wahrheitsfindung und Aufarbeitung
von Geschichte zu tun haben, sondern
politische Instrumentalisierung von Geschichte sind, indem sie Werkzeuge für
eine politische Disziplinierung und Ausgrenzung schaffen. Dabei tut es nichts
zur Sache, dass im Falle Tillich diesmal
ein Angehöriger der herrschenden politischen Klasse durch diese Verfahrensweise in Verlegenheit gebracht werden
sollte.
Nun möchte ich noch einen letzten Gedanken, angeregt durch das Papier des
Ältestenrates, äußern. Die Linkspartei
ist auf dem Wege, eine gesamtdeutsche
Partei zu werden, wozu es hohe Zeit ist.
Das erfordert auch, bei der Bilanzierung
der eigenen Geschichte diese Tatsache
zu beherzigen.
Zu unserer Geschichtsbilanz muss
auch die Analyse des Wirkens aller lin-
88
ken Kräfte in Westdeutschland seit
1945/1949 gehören. Im Papier des Ältestenrates wird durchaus auf die geschichtlichen Erfahrungen der SPD hingewiesen, aber das allein reicht nicht.
Es geht um die vielen alternativen Ansätze und Anläufe, die teilweise in kritischer Distanz zu der Entwicklung in
der DDR entstanden sind. Es gehört sich
dabei nicht nur, deutliche Worte dafür
zu finden, dass Fehler und Versagen,
Repressionsakte und Vergehen der Partei- und Staatsorgane in der DDR dazu
beigetragen haben, um alternative Bewegungen zu diskreditieren, sondern es
gilt auch die Frage zu untersuchen, was
an Aktionen in der BRD geeignet war, alternative Entwicklungen zu inaugurieren
und was sie behindert hat.
Man kann an der Tatsache nicht vorübergehen, dass alle diese Bewegungen
letztlich auch gescheitert sind.
Für eine unter heutigen Bedingungen
zu entwickelnde alternative Politik ist
es wichtig, sich der Erfahrungen zu bemächtigen, die unter kapitalistischen
Verhältnissen von linken Kräften gesammelt wurden. Auch hier geht es sowohl
um positive als auch negative Erfahrungen. Auch hier muss Stellung dazu
bezogen werden, woran man anknüpft,
und was man als total verfehlt ansieht.
Es sei nur an die Aktionen der RAF erinnert.4 Nach meinem Dafürhalten gibt
es dieser Hinsicht erheblichen Nachholbedarf.
Abschließend möchte ich noch einmal
unterstreichen, dass ich eine kontroverse Diskussion befürworte; denn nur
dadurch können die verschiedensten
Meinungen und Aspekte zur Geltung
gebracht werden. Aber es sollte eine
Suche unter Gleichgesinnten sein, die
sich auch in der Form manifestieren
muss, das heißt, sie muss allen Teilnehmern das Bestreben zubilligen, einen
Beitrag zu einem tragfähigen Umgang
mit der eigenen Geschichte leisten zu
wollen.
Professor Dr. Helmut Meier
1
2
3
4
Siehe: Anregungen des Ältestenrates der Partei
DIE Linke zum Umgang mit der Geschichte. In:
Rundbrief. AG Rechtswextremismus/Antifaschismus beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE.
4/08, S. 41 ff.
Siehe: Michael Wolf: An Tatsachen nicht vorbeimogeln, in: ebenda, S. 45.
Ebenda
Vgl. hierzu die folgenden Beiträge im »Rundbrief«:
Reiner Zilkenat, Christian Klar, Inge Viett, die RAF
und die Linke, in: H. 1–2/2007, S. 37 ff; Birgit Wulf,
Leserbrief, in: ebenda, H. 3–4/2007, S. 49 u. die
»Anmerkungen« hierzu von Reiner Zilkenat, ebenda.
LESERBRIEFE
Leserbrief zu Beiträgen im Heft 4/2008:
Der Artikel »Zur linken Streitkultur in
Deutschland…« von Dr. Horst Helas war
für mich Anlass, einiges zu durchdenken
und schriftlich festzuhalten.
Zur Stalinismus-Problematik:
Erstens: Ein Problem dürfte sein, dass
die Mehrheit unserer Mitglieder eine
Diskussion für nicht notwendig hält, sie
auch keinen Bezug mehr zur Problematik Stalinismus und auch nicht das Wissen darüber haben. Ich meine, dass es
auch unter uns Linken Erscheinungen
gibt, die ich dem Wesen des Stalinismus zuordnen würde (Glorifizierung der
DDR, Negierung richtiger Erfahrungen
und Tatsachen aus der DDR, keine objektive Geschichtsbewertung, Unsachlichkeit beim Streit, unbedingt recht haben wollen usw.).
Zweitens: Stalinismus wird von vielen
unserer Mitglieder sehr häufig als unmittelbare Politik Stalins bis 1953 betrachtet. Ich meine, dass der Stalinismus ein System darstellt, welches
unmittelbar nach der Oktoberrevolution sich auszuprägen begann und sich
in den folgenden Jahrzehnten in der
UdSSR zu Machtmissbrauch, zur Politik des Verbrechens und der Diskriminierung der Ideen des Sozialismus/
Kommunismus führte (geistige und physische Vernichtung Andersdenkender,
Kollektivierungszwang, Hungersnot in
der SU, sinnloses in den Tod treiben der
eigenen Soldaten im II. Weltkrieg usw.).
Stalin hätte aber niemals seine Maßnahmen durchsetzen können, wenn er
nicht willige Vollstrecker gefunden hätte
(Speichellecker, Karrieristen).
Leider – und das ist die Tragik – waren
auch viele Menschen von der Richtigkeit
seiner Maßnahmen überzeugt (»Stalin wird schon wissen, was er macht«,
»Unser Väterchen Stalin«). Hinzu kam
auch, dass sich unter Stalin für viele Sowjetbürger die Lebensbedingungen verbesserten und Stalin als der Kopf des
Sieges über die deutschen Faschisten
galt.
Drittens: In der Internationalen Arbeiterbewegung hat der Stalinismus
meines Erachtens seine Ursachen darin; dass die SU das Vorbild für die Möglichkeit des Sieges der Unterdrückten
wurde, die KPdSU die erste Macht ausübende kommunistische Partei war, die
Kommunistischen Parteien den Marxismus-Leninismus nicht verarbeitet
hatten, unkritisch sich verhielten, alles
gläubig übernahmen was vom »Großen
Vaterland aller Arbeiter« kam und in der
Endkonsequenz jegliche stalinistische
Handlungsweisen bedingungslos als
richtig und notwendig und im Interesse
der Sowjetunion und der eigenen Partei
betrachteten.
Frage: Konnte man es überhaupt unter
den Bedingungen des damaligen Entwicklungsstandes, der ständig größer
werdenden faschistischen Gefahr, des
konkreten Widerstandes usw. anders
sehen? Waren die Fehler der einzelnen
Parteien in der Kommunistischen Internationale »objektiv« hervorgerufen
durch den großen Einfluss der KPdSU?
Wir haben es heute leichter. Sprichwort
»Der Abend ist klüger als der Morgen«.
Viertens: Ich glaube, dass in unserer
Entwicklung in der DDR der Stalinismus durch die Tatsache des Sieges im
II. Weltkrieg, deieRolle der Besatzungsmacht, das Exil führender KPD-Funktionäre in der UdSSR, die unkritische Übernahme von »Erfahrungen« aus der SU in
Ideologie, Politik, Kultur, Wirtschaft, der
Einfluss der KPdSU auf SED usw. gefördert wurde und sich dann eine deutsche Erscheinungsform des Stalinismus
herausbildete (z. b.: Rolle des Politbüros und des Generalsekretärs, Überbetonung des Zentralismus, Negierung
der Demokratie, die Unterordnung der
Staatsmacht, Haltung zur SPD, unsere
eigene Unterordnung unter die Parteidisziplin)
Wir haben aus Stalin eine Kultfigur gemacht (Wahl in das »Ehrenpräsidium«,
»4. Klassiker«, uneingeschränkte Bejahung seiner theoretischen Auffassungen, nicht zuletzt seine Anschauung:
je weiter die Entwicklung zum Sozialismus geht, um so schärfer werde der
Klassenkampf. Für uns – und das galt
auch für mich – brach mit dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 eine Welt zusammen, denn meine Generation ist
mit dem Namen Stalin erzogen worden.
Ich habe einmal versucht, den Begriff
»Stalinismus« zu definieren. Es ist mir
nicht gelungen und ich glaube, man
kann die Vielfältigkeit seiner Erscheinungen auch nicht in eine Definition
pressen. Wäre aber nicht eine Abgrenzung doch notwendig? Neigen wir eventuell dazu, alles was uns an unserer Bewegung nicht gefällt, als Erscheinungen
des Stalinismus zu bezeichnen? Wenn
ja, dann würden wir damit unsere eige-
nen Mängel und Unzulänglichkeiten entschuldigen!
Zum Artikel des Ältestenrates
zur Auseinandersetzung mit
der Geschichte:
Erste Bemerkung:
»Linke … betreiben die Auseinandersetzung mit geschichtlichen Themen zuerst um ihrer selbst willen. Es muss …
erlaubt sein, eigene früher für absolute
Wahrheiten gehaltenen Ansichten kritisch und selbstkritisch neu zu befragen«
Ich meine, dass in unserer Partei die
Auseinandersetzung über geschichtliche Ereignisse, Bewertungen usw. viel
zu gering entwickelt ist. Das beginnt
aber bereits bei den Leitungen. Die Erklärung des Ältestenrates habe ich zustimmend gelesen, musste aber feststellen, dass sie weitgehend unbekannt
ist und kaum Beachtung findet. Deswegen muss ich sogar von einer Ignoranz
unter großen Teilen der Linken zur Bewertung geschichtlicher Prozesse, Personen usw. Sprechen.
Zweite Bemerkung:
Als ehemaliger Geschichts- und Staatsbürgerkundelehrer musste ich 1989/90
begreifen, dass ich viele Details in der
Politik der DDR falsch eingeschätzt und
somit auch nicht »objektiv« meinen
Schülern übermittelt habe.
Das tat ich nicht bewusst, sondern entsprechend den mir übermittelten bzw.
bekannten Tatsachen. Mit Zorn und Verbitterung musste ich feststellen, dass
die Parteiorgane der SED und auch die
Staatsorgane uns in vielen Dingen belogen hatten und auch viele Historiker
nicht die ihnen bekannten Wahrheiten
schrieben, sondern sich der »Parteimeinung« anpassten: da betraf zum Beispiel
Katyn, die Geheimabkommen zwischen
dem faschistischen Deutschland und
der UdSSR. Sehr interessant war dabei
für mich in diesem Zusammenhang das
im letzten Jahr veröffentlichte Buch von
Professor Kurt Pätzold »Die Geschichte
kennt kein Pardon« und seine Rezension im »Rundbrief«. Ich musste also nach
1989/90 umdenken und vieles neu bewerten. Dafür schäme ich mich nicht,
auch wenn manche meiner Weggefährten in mir nun einen »Abweichler« sehen.
Dritte Bemerkung:
Wir – und auch ich – sprechen oft von
einer objektiven Bewertung der Ge89
schichte. Ich glaube, das ist nur bedingt
richtig, denn unsere Meinungsbildung
beruht doch oftmals auf den Meinungen
anderer bei der Durcharbeitung von Literatur, des eigenen Erlebens und so ist
immer ein subjektiver Faktor vorhanden. Sollten wir nicht besser von einer
wahrheitsgemäßen Bewertung entsprechend des gegebenen Kenntnisstandes
sprechen?
Zur Problematik des
Antisemitismus:
Was verstehen wir unter Antisemitismus? Ich habe bisher keine wissenschaftlich begründete Erklärung dafür
gefunden und meine, dass »Judenfeindlichkeit« zu wenig aussagt, denn der Antisemitismus tritt meines Erachtens in
vielen Variationen auf.
Ich denke, dass es in der DDR keinen offenen, aber einen versteckten Antisemitismus gab. Das zeigte sich in der Nichtbereitschaft, sich mit der Geschichte
des Judentums öffentlich zu befassen,
der Haltung zu bestimmten Persönlichkeiten jüdischer Abstammung, der Reduzierung der Jüdischen Geschichte in
Lehrbüchern, wissenschaftlichen Abhandlungen usw. auf ein Minimum und
auf die Nichtakzeptanz des Staates Israels. Doch ob »versteckter oder offener«
Antisemitismus, Antisemitismus bleibt
Antisemitismus. Ich war der erste im
Kreis Guben, der sich mit der Geschichte der dortigen Jüdischen Gemeinde befasste und dazu auch im Gubener Heimatkalender 1988 meine Ergebnisse
veröffentlichte.
90
Antifaschismus schloss nicht Antisemitismus aus, denn wir haben den Begriff
des Antifaschismus fast ausschließlich
auf die Haltung zur UdSSR, führender
Politiker, des Widerstandes von KPDMitgliedern gegen den Faschismus usw.
begrenzt. Unsere Kranzniederlegungen
am 8. Mai und andere Veranstaltungen
ähnlicher Art wurden hinsichtlich der
Teilnahme »organisiert«, doch die wenigsten Teilnehmer fühlten sich als Antifaschisten, einfach deswegen nicht,
weil sie kaum noch Erinnerungen an
den Faschismus hatten bzw. sein Wesen einzuschätzen wussten. Doch das
kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen, denn wir haben doch immer den
»antifaschistischen Charakter« der DDR
betont und den Charakter und die Politik des Faschismus fast nur von seiner
diktatorischen Form versucht aufzuarbeiten.
Große Probleme habe ich zur Zeit mit
meiner Haltung zum Staat Israel. Ich
anerkenne selbstverständlich das Recht
der jüdischen Menschen auf einen selbständigen eigenen Staat und ich unterscheide zwischen der Haltung dieser
jüdischen Staatsbürger und der aggressiven Außenpolitik ihrer Regierung. Ich
betrachte diese Außenpolitik als inhuman und unmenschlich und lehne sie
strickt ab. Frage: Bin ich deshalb antisemitisch?
Ich habe mich in den letzten Jahren besonders mit der faschistischen Politik
von 1933 bis 1945 in Guben befasst und
dazu auch im Gubener Heimatkalender
eine Anzahl Beiträge veröffentlicht. Ver-
sucht habe ich auch, den antifaschistischen Widerstand in Guben aufzuarbeiten und schriftlich niederzulegen. Ich
will damit nur andeuten, dass ich mich
mit der Problematik des Antisemitismus, Antifaschismus und Faschismus
stärker befasse, als viele andere in unserer Stadt.
Trotz der neuen Erkenntnisse, die ich
seit 1989/90 gewonnen habe, blieb die
DDR meine Heimat. Ich bin in ihr – Jahrgang 1930 – aufgewachsen, ich half, sie
mit zu gestalten und bin nun über die
oftmals falsche und einseitige Darstellung des Lebens in der DDR durch die
Medien, durch Politik und Historiker –
besonders aus den alten Bundesländern – empört.
Überzeugt bin ich davon, dass im Jahr
2009 die Flut der Verleumdungen über
unser Leben in der DDR weiter anwachsen wird und ich frage mich, was tut die
Partei, der ich angehöre, dagegen. Wiederholt habe ich – wie bereits erwähnt –
versucht, örtliche Parteiorgane für eine
ehrliche Geschichtsaufarbeitung zu gewinnen, doch das Ergebnis ist unbefriedigend.
Ich spreche mich für eine »objektive«
oder besser wahrheitsgemäße Darstellung der geschichtlichen Entwicklung
in den beiden deutschen Staaten und
in der jetzigen BRD aus und versuche
dafür auf regionalem Gebiet durch bestimmte Veröffentlichungen und Veranstaltungen meinen bescheidenen Beitrag zu leisten.
Manfred Augustyniak
Leserbrief zum Heft 4/2008 des »Rundbriefs«
»Die Rundbriefe, die ich seit dem Jahr
2004 erhalte, habe ich stets aufmerksam gelesen und auch einzelne Artikel daraus mit dem Fotokopiergerät in
der Geschäftsstelle der LINKEN abgelichtet und an Vorstandsmitglieder des
Kreisverbandes Elbe-Elster (im Süden
Brandenburgs gelegend.Red.) gegeben.
(…) Aus dem Rundbrief 4/08 habe ich
den Artikel ›Anregungen des Ältestenrats der Partei zum Umgang mit der Geschichte‹ in 10 Exemplaren abgelichtet
und verteilt. Ich halte die Bekanntmachung dieser Erklärung für besonders
notwendig, da von Mitgliedern des Bundesvorstandes schon oft Geschichtslügen verbreitet wurden oder in Doku-
menten der Partei Eingang fanden. Ich
verurteile die Verschweigetaktik, da diese Erklärung des Ältestenrats nicht mal
im »Disput« zu finden war.
Das…Material über Rechtsextremismus halte ich für sehr wertvoll und wissenswert, vor allem für führende Genossen in unserer Kreisorganisation.
Ablichtungen habe ich der Geschäftsstelle übergeben und je ein Exemplar
den Kreisvorsitzenden und der Landtagsabgeordneten Carolin SteinmetzerMann zugestellt. Seit 1994 habe ich in
den von mir erarbeiteten Wahlanalysen
des Elbe-Elster-Kreises auf die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Einfluss
der rechtsextremen Parteien hingewie-
sen. Bei der Kreistagswahl 2008 erhielt die DVU 5,1 Prozent der Stimmen
(2003: 3,7 Prozent) und bekam 3 Sitze
im Kreistag gegenüber 2 bei der vorherigen Wahl. Landesweit kam die DVU
auf 1,6 Prozent. Im Elbe-Elster-Kreis
ist es besonders das Schradenland im
Altkreis Bad Liebenwerda, wo die DVU
in manchen Orten mehr Stimmen hat,
als die LINKE. Unser Kreisvorsitzender
wohnt im Altkreis Bad Liebenwerda und
beschäftigt sich seit einigen Jahren verstärkt mit dem Problem Rechtsextremismus/Antifaschismus. (…)«
Gerhard Rohr,
Finsterwalde (Brandenburg)
Horst Helas, Dagmar Rubisch, Rainer Zilkenat (Hrsg.)
Neues vom Antisemitismus:
Zustände in Deutschland
Texte 46 der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Karl Dietz Verlag Berlin 2008,
175 Seiten, Broschur, 14,90 Euro, ISBN 978-3-320-02142-9
Antisemitismus
ist in der deutschen Gesellschaft eine seit
vielen Jahren relativ unveränderte Einstellung
eines großen Teils
der Bevölkerung.
Trotz dieses Befundes ist die
Har tnäckigkeit
der vielen Akteure beim Kampf um die Zurückdrängung des
Antisemitismus in Deutschland bewunderns- und unterstützenswert. Mehrere Beiträge in dieser Publikation belegen
die lange Entwicklungsgeschichte von Antisemitismus. Andere beleuchten aktuelle Aspekte dieses Phänomens. Sie
bekräftigen, dass der Kampf gegen Antisemitismus einen
unverwechselbar eigenständigen Platz in der Bekämpfung
von Phobien verschiedenster Art innehat, der nicht relativiert werden sollte.
Im Zentrum des Buches stehen die Referate und ausgewählte Diskussionsbeiträge der Antisemitismus-Konferenz der
Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 11. Januar 2007. Dort wurde das Bedürfnis bekräftigt, grundlegende Erfahrungen der
Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus einem breiten
Interessentenkreis zugänglich zu machen.
Die Herausgeber möchten vier Aspekte ihrer grundsätzlichen Haltung benennen:
1. Für Menschen, die sich zu „den Linken“ zählen, ist der Antifaschismus ein unverzichtbarer Grundwert. Dass dieser Antifaschismus keinesfalls monolithisch zu verstehen ist, versteht
sich von selbst. In Deutschland hat es vor wie nach 1945 immer Antifaschismen gegeben. Das entsprechende Handeln
von Menschen verschiedener Herkunft und Weltanschauung
gründet sich auch in der Gegenwart auf unterschiedliche Motive. Zudem meint Antifaschismus heute immer auch ein PRO,
das Eintreten für bestimmte Grundwerte der bestehenden Gesellschaft, ihre Verteidigung wie Ausgestaltung.
2. „Die Linke“ muss sich fast 60 Jahre nach der Gründung
zweier deutscher Staaten und fast 20 Jahre nach der erneuten Herstellung der Einstaatlichkeit mit allen Facetten ihrer
Geschichte differenziert, kritisch und sachlich auseinandersetzen. Auch hier versteht es sich von selbst, die äußeren
Aspekte, beispielsweise die Zwänge des Kalten Kriegs, zu
berücksichtigen. Dies sollte aber nicht zur Entschuldigung
für Unzulänglichkeiten, Fehlentwicklungen und auch Verbrechen im jeweiligen Deutschland. Dies gilt auch für eine solche Frage wie die, ob es in der DDR Antisemitismus gegeben
habe. Dieses Spezialthema der Geschichte der DDR verdient
Aufmerksamkeit.
3. Staatliche Organe, Wissenschaftler wie Publizisten sollten
aufhören, zwischen Rechtsextremismus und sogenanntem
Linksextremismus ein Gleichheitszeichen zu setzen – auch
hinsichtlich des Antisemitismus. In Theorie wie gesellschaftlicher Praxis sollte man den Trennungsstrich zwischen all
jenen Kräften, die die demokratische Grundordnung in
Deutschland als ihren Handlungsrahmen ansehen, und jenen, die das „ganze System“ und „alle Systemparteien“
überwinden wollen, klar kenntlich lassen.
4. In Publizistik wie wissenschaftlicher Debatte erleben wir
immer wieder, dass ein beliebiger Autor mit seinen Aussagen von Vorgestern immer wieder neu konfrontiert wird. Dies geschieht manchmal in der Erwartung, der Zitierte möge
sich rechtfertigen.
91
Die Pogrome begannen am 7. November 1938
Horst Helas und Reiner Zilkenat haben
anlässlich des 70. Jahrestages der antisemitischen Pogrome eine verdienstvolle Dokumentation vorgelegt, die noch
einmal in einem Querschnitt die wichtigsten Aspekte dieses faschistischen
Verbrechens benennt. Diese Ergänzung
soll nur im Detail eine Erweiterung der
Blickrichtung und eine notwendige Korrektur der historischen Chronologie
bringen. Es geht um die Anfänge der Pogrome und damit auch deren politische
Bewertung.
Völlig zurecht schreiben Helas und Zilkenat: »Keine zentrale Direktiven – weder von Goebbels oder gar von Hitler
unterschrieben – lagen dem Novemberpogrom zu Grunde. Gleichwohl wähnten
sich die Anführer vor Ort durch den
Trend der allgemeinen Politik gedeckt,
ja ermuntert.«
Dies gilt auch und gerade für die ersten
Pogrome, die bekanntlich in Nordhessen, nämlich in Kassel, Sontra und Bebra stattfanden. Dort starteten die Pogrome nicht erst am 8. November, als
die Morgenzeitungen vom Attentat in
Paris berichteten, sondern die Pogrome
wüteten dort bereits am Abend des 7.
November. Die Nachricht über das Attentat auf den Legationsrat vom Rath
wurde natürlich auch im Radio verbreitet. Und in Kassel startete am Abend –
nach einer Versammlung der örtlichen
NSDAP – unter aktiver Mitwirkung von
SS-Angehörigen aus Arolsen, die in Zivil mitmischten, der Sturm auf das jüdische Cafe Heinemann, anschließend
92
auf die große jüdische Synagoge in der
Bremer Straße (Untere Königstraße)
und das jüdischen Schul- und Gemeindezentrum in der Großen Rosenstraße. Die Pogrome begannen um 21 Uhr
45 und dauerten bis etwa 1 Uhr, wobei die Zahlenangaben der Beteiligten
schwankten. Bestätigt ist, dass neben
einem organisierten Kern von gut dreißig Anführern sich noch mehrere Hundert Mitwirkende und Schaulustige
beteiligten. Bilanziert wurde die Zerstörung von 20 jüdischen Geschäften und
die Tatsache, dass es bis zum Vormittag des 8. November zu »Plünderungen
kleineren Umfangs« gekommen sei. Bereits im Laufe des 8. November berichtete die Stapostelle Kassel direkt an SSGruppenführer Reinhard Heydrich in
Berlin über diese Vorgänge. Der Bericht
über die Kasseler Aktion machte seine Runde bis in die Staatskanzlei und
diente als Vorbild für ähnliche Aktionen
in den folgenden Tagen.
Dabei war dieser Bericht noch nicht einmal vollständig. Denn in der nordhessischen Provinz kam es ebenfalls in dieser Nacht zu weiteren Ausschreitungen.
Für Bebra liegen mehrere Berichte vor.
In den Unterlagen des Prozesses, der
1946 gegen die Verantwortlichen der
Pogrome in Bebra vor dem Landgericht
Kassel geführt wurde, heißt es: »Bei einer Parteiversammlung, die am Abend
des 7. November im hessischen Hof
stattfand, hatte der stellvertretende
Kreisleiter die Judenaktion angekündigt
und zur Vergeltung aufgefordert. Um
dieser so genannten Vergeltungsaktion
die gewünschte Richtung und das erstrebte Ausmaß zu geben, hatte die Parteileitung auswärtige Einsatztrupps herangezogen«. Hierbei handelte es sich
um Kasseler SS-Angehörige.
Da die örtliche NSDAP auf diese Kräfte
einige Zeit warten musste, begannen die
Ausschreitungen erst um Mitternacht.
Ungeachtet dessen wurden die Synagoge, die jüdische Schule sowie Wohn- und
Geschäftshäuser demoliert. In einem
Bericht des Bürgermeisters von Bebra
vom 23. November 1938 wurde auch
der zweite Beweggrund der Pogrome anschaulich deutlich, nämlich die »polizeiliche Sicherstellung« von Waren aus jüdischem Besitz. Zerknirscht musste der
Bürgermeister eingestehen: »Zu vermeiden war nicht, dass mehrere Diebstähle
begangen wurden. Zum teil konnte das
Diebesgut wieder herbeigeschafft werden. Von der Parteileitung sind Goldund Silbergegenstände der Polizei zur
Aufbewahrung übergeben worden.«
Merke: Wenn einzelne Nazis sich bei
den Pogromen jüdisches Eigentum aneignen, ist es Diebstahl, wenn der Staat
es macht, ist es legal.
Und dieser ökonomische Aspekt der
antisemitischen Ausschreitungen hat
ebenfalls von Anfang an eine Rolle gespielt, nicht erst nach der Verkündigung
der kollektiven Sühnezahlung, auf deren
Basis verbliebenes jüdisches Eigentum
»arisiert« wurde.
Dr. Ulrich Schneider, Kassel
LITERATURBERICHT
Neue Veröffentlichungen zur Geschichte der
»Sudetendeutschen«
Dr. Reiner Zilkenat
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95
96
REZERNSIONEN UND ANNOTATIONEN
Der »Generalplan Ost« und die »Kollaboration«
bildungsbürgerlicher Eliten mit dem Naziregime
Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik
im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 2008
(Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hrsg. von Rüdiger vom
Bruch, Ulrich Herbert und Patrick Wagner, Band 3).
Der »Generalplan Ost« und die »Kollaboration« bildungsbürgerlicher Eliten mit
dem Naziregime
Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Franz Steiner
Verlag, Wiesbaden 2008 (Studien zur
Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hrsg. von Rüdiger vom
Bruch, Ulrich Herbert und Patrick Wagner, Band 3).
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft
(DFG) hat seit 1965 schon drei Darstellungen zu ihrer Geschichte in Auftrag gegeben. Aber unabhängig davon, ob Kurt
Zierold, Thomas Nipperdey und Ludwig
Schmugge oder Notker Hammerstein
zur Feder griffen, sie alle umgingen, verharmlosten oder rechtfertigten die Verantwortung der DFG für die Ausrichtung
der Forschungen auf Rüstung und Krieg
in der Nazizeit.1 Der vierte Anlauf soll das
korrigieren und eine kritische Geschichte
dieser Institution erbringen. Das von Rüdiger vom Bruch und Ulrich Herbert geleitete Projekt umfaßt inzwischen mehr
als zwanzig Einzelprojekte, unter anderem eine Serie von Konferenzen, eine eigene Schriftenreihe, Stipendien, Qualifizierungsschriften und Ringvorlesungen.
Eine DFG-Wanderausstellung zum »Generalplan Ost«, die im Februar 2008 auch
in Berlin zu sehen war, wurde dem historischen Gewicht dieser Verbrechensplanung jedoch noch nicht gerecht.
Einen integralen Teil des Großprojekts
bildet die kürzlich veröffentlichte Dissertation von Sören Flachowsky. Deren Gegenstand ist nicht unmittelbar die DFG,
sondern der 1937 gebildete Reichsforschungsrat (RFR). Dieser verkörperte eine zweite Etappe bei der Orientierung
der staatlichen Wissenschaftsförderung
auf die Bedürfnisse der Diktatur und
Kriegsvorbereitung und blieb an die DFG
gebunden. Die Entscheidungskompetenzen fielen an den Rat, die DFG hatte die Mittel auszuzahlen. So verkümmerte die DFG zur Kassenabteilung des
RFR. Der Autor arbeitet diesen Zusammenhang explizit heraus, stellt die Ge-
schichte dieser Institution seit dem ersten Weltkrieg dar und beweist, dass den
stärksten Hebel jeglicher Forschungsförderung die Bedürfnisse der naturwissenschaftlichen und technischen Grundlagenforschung für den Krieg bildeten. An
die interinstitutionelle Kooperation und
Steuerung der Forschung durch die zu
diesem Zweck gegründete »Kaiser-Wilhelm-Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft« mitten im Ersten Weltkrieg
knüpften alle späteren Fortsetzungen an.
Voraussetzungen für die Gründung des
RFR schufen Görings Vierjahresplan, der
den rüstungswirtschaftlichen Kurs auf
die Vorbereitung des Krieges festlegte,
und ein Bündnis der ansonsten wenig
einflußreichen Wissenschaftsbürokratie
des Reichserziehungsministeriums mit
dem Heereswaffenamt. Dieses Ministerium hatte schon zu Beginn der Nazidiktatur mittels einer Reichsakademie die
Forschung steuern wollen, war aber gescheitert. Jetzt jedoch konnten die führenden Männer von Forschungsgemeinschaft und Forschungsrat, Bernhard Rust
und Rudolf Mentzel, das OKW, die Luftwaffe und die Vierjahresplanbehörde als
Entscheidungsträger in die Rüstungsforschung einbinden. Der RFR setzte das
Führerprinzip an die Stelle von Fachausschüssen, Fachspartenleiter entschieden allein und diktatorisch über Anträge.
Natürlich regulierte der RFR nicht die gesamte Rüstungsforschung, diejenige für
die Luftwaffe blieb z. b. selbständig.
Flachowsky korrigiert zwei Fehlurteile:
erstens die Ansicht, die DFG hätte hauptsächlich die »normale Forschung« gefördert, zweitens die Ausrede, daß der
Reichsforschungsrat so uneffektiv gearbeitet hätte, dass er kaum Bedeutung
für die Kriegsforschung habe gewinnen
können und gescheitert sei. In der These vom Scheitern trafen und treffen sich
divergente Interessen, zunächst die von
hohen Mitarbeitern des RFR an ihrer eigenen Entlastung, dann die mancher
US-Kommissionen nach 1945 an der
Abwertung der Konkurrenz, bei Autoren der verschiedenen Geschichten der
DFG die Apologetik für einen Auftragge-
ber, der sich »völlig herkömmliche, unideologische Forschungen« (Notker Hammerstein) bescheinigen ließ, gegenüber
der Wissenschaftsfeindlichkeit und forschungspolitischen Konzeptionslosigkeit
der Nazidiktatur, deren Stiefkind angeblich die natur- und technikwissenschaftliche Forschung gewesen sei (Karl Heinz
Ludwig).
Flachowsky rückt hier einiges zurecht.
Unbestreitbar ist, daß die vom Reichsforschungsrat vergebenen Mittel der
DFG der Kriegs- und Expansionspolitik
nicht nur dort dienten, wo es um Menschenversuche an politisch und rassisch
Verfolgten oder um (Um)Siedlungsplanungen für die besetzten Ostgebiete
ging. Bereits mit der Gründung war entschieden worden, daß Forschungen für
den Vierjahresplan Priorität erhalten
sollten. Gefördert wurden die Entwicklung von Radargeräten, Torpedosprengköpfen, Gas- und Biokampfstoffen, von
Metalllegierungen für Geschoßführungsringe und Flugzeugmotoren, die Erschließung neuer Rohstoffvorkommen ebenso
wie die Züchtung winter- bzw. dürreresistenter Getreidesorten und die im »Generalplan Ost« verankerten Maßnahmen
der Vertreibung, Umsiedlung und des
Völkermords.
Gestützt auf eine solide Quellengrundlage belegt Flachowsky, daß dem RFR
bei der Koordinierung der Rüstungsforschung eine zentrale Rolle zukam und er
in der Endphase des Zweiten Weltkrieges
die rüstungsrelevante Forschung über alle Fächer hinweg auf breiter Front finanzierte. Die menschenfeindlichen Ziele
mußten den Wissenschaftlern nicht aufgezwungen werden, sie schrieen geradezu danach. Seit den Tagen des Ersten
Weltkriegs hatte eine große Zahl nationalkonservativer Wissenschaftler die
entsprechenden Netzwerke geschaffen
und sie nahezu nahtlos über die Weimarer Republik in die faschistische Diktatur überführt. Flachowsky nennt dies
»Selbstindienstnahme« und spricht von
»Kollaboration« bildungsbürgerlicher Eliten mit dem Naziregime.
97
Professor Dr. Werner Röhr
1
Vgl. Kurt Zierold: Forschungsförderung in drei Epochen. Deutsche Forschungsgemeinschaft. Geschiche – Arbeitsweise – Kommentar, Wiesbaden
1968; Thomas Nipperdey, Ludwig Schmugge: 50
Jahre Forschungsförderung in Deutschland. Ein Abriß der Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1920 – 1970, Berlin-West 1970; Notker
Hammerstein: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten
Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur, München 1999; vgl. auch: Karl Heinz Ludwig:
Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Düsseldorf
1979.
98
»Sie waren die Boys«. Die Geschichte von 732
jungen Holocaust-Überlebenden.
Martin Gilbert, Sie waren die »Boys«. Die Geschichte von 732 HolocaustÜberlebenden, Verlag für Berlin-Brandenburg, 560 Seiten.
1996 war dieses Buch von Martin Gilbert in London erschienen, im Januar
2008 konnte die deutsche Übersetzung
präsentiert werden. Endlich!
Seit 1968 gilt Martin Gilbert in Großbritannien als der »offizielle« ChurchillBiograf. Sein Buch über die »Boys« hat
einen ganz anderen Gegenstand. Im
Sommer 1945 erlaubte die britische Regierung, dass 1.000 jüdische Kinder und
Jugendliche in das Land einreisen durften. Am Ende der Aktion waren es 732.
Diese jungen Holocaust-Überlebenden
hatten Grauenhaftes erlebt, sie waren
zumeist Vollwaisen. Manche von ihnen hatten den Tod ihrer Eltern und Geschwister mit ansehen müssen. Worte
wie »Ghetto«, »Arbeitslager« »Deportation«, »KZ«, »Todesmarsch«, waren für sie
keine abstrakten Begriffe. Sie kannten
sie aus eigenem Erleben. Nach Großbritannien kamen sie aus Auschwitz,
Bergen-Belsen, Buchenwald, Theresienstadt und anderen Konzentrationsoder Zwangsarbeiterlagern.
Sie waren schwer traumatisiert und
brauchten viele Jahre, um wieder ein
»normales Leben« führen zu können.
Erwachsene, manche nicht viel älter als
die Betreuten und selbst jüdische Opfer des NS-Regimes, halfen ihnen durch
Fürsorge und Zuwendung, mittels der
Suche nach geeigneten beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten und mit vielfältigen Freizeitangeboten, sich allmählich
im Alltag zurecht zu finden. Die 15 bis
19 Jahre alten »Boys«, unter ihnen auch
80 Mädchen, lernten es, wieder jung zu
sein – mit allen Problemen von Heranwachsenden.
Das Buch über die »Boys« besticht
durch die Kompaktheit des Dargestellten. Eine persönliche Erinnerung nach
der anderen wird vorgestellt, nur selten
von zusammenfassenden Kommentaren
begleitet. Die Nüchternheit und Fülle
der wiedergegebenen Berichte über Erlebtes erschreckt in jedem der Einzelfälle. In der Summe lässt sich das ganze
Ausmaß der Nazi-Verbrechen an den europäischen Juden dennoch nur erahnen.
Das Wort »Kollektivbiografie« ist eigentlich der falsche Begriff für dieses Kompendium von Einzelschicksalen.
Martin Gilberts Buch ist in 23 Kapitel unterteilt. Elf schildern Wege aus der Kindheit über das Erleben in der NS-Zeit bis
zur Befreiung 1945. Der Leser bekommt
im ersten Kapitel eine Vorstellung vom
Leben in den jüdischen Gemeinden Polens, in Dörfern, kleinen und größeren
Städten. Von Entbehrungen im Alltag
und familiärer Geborgenheit ist ebenso
die Rede wie davon, inwieweit jüdische
Sitten und Bräuche befolgt wurden. All
diese jüdischen Gemeinden (wie auch
alle anderen in Ost- und Südosteuropa)
existieren nicht mehr, ihre Mitglieder
wurden zumeist ermordet.
Und noch eines gehört zu den Kindheitserfahrungen der »Boys«. Perec Zylberberg aus Lodz resümiert: »Schon
als Schulkind hatte ich viele Fälle von
offenem oder verdecktem Antisemitismus seitens polnischer Kinder und Erwachsener erlebt; manchmal mehr von
Seiten der Kinder, manchmal auch umgekehrt. Das Bewusstsein, dass dieser
Antisemitismus existierte, begleitete
uns ständig.« (S. 55).
Die Hoffnung, dass für die Juden die
deutsche Besatzungsmacht – wie in den
Jahren des 1. Weltkrieges – ab September 1939 wieder relativ mild vorgehen
würde, erwies sich als trügerisch. Arek
Hersch findet im Nachhinein die Worte,
dass nach einer »allgemeinen Kampagne der Furcht«, was kommen würde,
für Juden eine »neue Gestalt des Schreckens des Krieges« begann (S. 73). Geiselerschießungen; brennende Synagogen; Einrichtung von Ghettos in jedem
kleinen Ort; schamlose Plünderungen
und Denunziation, auch von früheren
nichtjüdischen Nachbarn; Familientrennung; Deportation; Vergasungen
oder Arbeitslager, nicht enden wollende Schläge und ständiger Hunger bestimmten für über fünf Jahre das Leben
der »Boys«. Zum Zeitpunkt ihrer Befreiung waren »die wenigen Überlebenden
an der äußersten Grenze ihrer Leidensfähigkeit angelangt.« (S. 258)
In den Kapiteln elf bis zweiundzwanzig werden die verschiedenen Etappen
des Ankommens der »Boys« in Großbritannien, die einzelnen Orte ihrer
Unterbringung und Beispiele des Heimischwerdens in einem fremden Land
beschrieben. Die meisten der »Boys«
blieben in Großbritannien, aber auch die
USA, Israel, Kanada, die Schweiz, Argentinien, Australien oder Brasilien wurde
manchen von ihnen zur neuen Heimat.
Die meisten der »Boys« lernten sich erst
in Großbritannien kennen. Neue Freundschaften entstanden, die jahrzehntelang
hielten. Nur wenige hatten das Glück,
noch lebende Familienangehörige ausfindig zu machen oder Weggefährten
wieder zu treffen, mit denen sie ein Teilstück ihres Leidensweges gegangen waren. Auch hier ist die Bilanz bitter – und
sollte Nichtbetroffene immer wieder zu
Sensibilität mit solchen »Zeitzeugen«
mahnen. »Für die Überlebenden stellte
es eine besondere Härte dar, dass das
Schicksal ihrer Angehörigen niemals
vollständig aufgeklärt werden konnte.
Die meisten Familienangehörigen wurden zwischen 1942 und 1944 ermordet,
andere starben während der Todesmärsche des Jahres 1945. Doch die genauen
Umstände ihres Todes sind unbekannt,
da keinerlei Dokumente existieren. Nur
die Asche, die in jedem Lager zuhauf zu
finden ist, bezeugt das ganze Ausmaß
der Vernichtung.« (S. 422)
Das 23. Kapitel stellt die »’45 Aid Society« vor, die eigene Wohltätigkeitsorganisation der »Boys«, deren Mitglieder sich
jährlich zum Wiedersehen und Gedankenaustausch treffen. Auch im hohen
Alter verstehen sie sich und handeln
als verschworene, solidarische Gemeinschaft. Ihr jährliches Gedenken an ihre
Befreiung ist für die »Boys« dabei besonders wichtig.
Komplettiert wird das Buch durch eine
Liste der bis 1996 verstorbener »Boys«,
historische Karten sowie ein Personenund Ortsregister.
Martin Gilbert wurde zu diesem Buchvorhaben von zwei »Boys« ermuntert
und in den Mühen der Bearbeitung von
über einhundertfünfzig Erinnerungsberichten zu einem einzigartigen Buch begleitet: Rabbi Hugo Gryn (1996 verstorben) und Ben Helfgott. Sie ermunterten
Martin Gilbert zu dem Buchprojekt und
begleiteten es bis zum erfolgreichen Abschluss 1996.
Diese beiden waren es auch, die ab
1993 die anderen »Boys« dazu ermunterten Erinnerungen schriftlich festzuhalten, Verdrängtes noch einmal zu beschreiben, es völlig fremden Menschen
mitzuteilen. Sie alle fällten auch diese
Entscheidung, die Ihnen sehr viel abverlangte, jeder ganz für sich allein und
schließlich sehr bewusst. Texte entstan99
den, von denen manche zwanzig bis
dreißig Seiten lang waren, alle ein eigenes Buch wert.
Die »Boys« fanden darüber hinaus auch
die Kraft, vor allem Jüngeren bei persönlichen Begegnungen von sich zu erzählen. Deren Aufmerksamkeit war ihnen
eine große Genugtuung.
Die »Boys« sind in der Geschichte des
Holocaust und der Geschichte ihrer
100
Überlebenden etwas Besonderes. Das
sehen sie selbst so. Der langjährige Vorsitzende der »’45 Aid Society« Ben Helfgott fand bei seinen Gefährten 1976 für
folgende Worte lebhafte Zustimmung:
»Wir haben bewiesen, dass das Elend
und die Verzweiflung, die Brutalität und
die Ungerechtigkeit, die wir zu erdulden
hatten, nicht imstande waren, unseren
Willen zu brechen. Wir haben uns nicht
vom Hass verzehren lassen, sodass er
am Ende uns selbst und andere zerstört
hätte. Stattdessen haben wir uns daran
gemacht, ein neues Leben aufzubauen.«
(S. 493)
Bleibt die Empfehlung: das Buch kaufen, lesen und andere zu ermuntern,
Gleiches zu tun. empfehlen.
Dr. Horst Helas
Reflexionen zum Rechtsextremismus in
Ostdeutschland?
Johanna Engelbrecht, Rechtsextremismus bei ostdeutschen Jugendlichen vor und
nach der Wende, Peter Lang – Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt
am Main 2008 (Res humanae. Arbeiten für die Pädagogik, hrsg. v. Hans-Joachim
Plewig, Helmut Richter u. Horst Scarbath), 188 Seiten, 39 Euro.
Das 2008 erschienene Buch von Johanna Engelbrecht »Rechtsextremismus bei
ostdeutschen Jugendlichen vor und nach
der Wende« ist vor allem für Pädagogen
bestimmt. Es gliedert sich in elf Kapitel,
von Begriffsdefinitionen bis hin zu der
Frage, was man gegen Einfluss und Verbreitung des gegenwärtigen Rechtsextremismus unternehmen könnte. Dabei
dienen die recht oberflächlich geratenen
Kapitel zur Geschichte der DDR und der
FDJ nur bedingt zur Klärung der im Buch
aufgeworfenen Probleme.
Entstanden ist die Publikation aus einer
Abschlussarbeit an der Leuphana-Universität in Lüneburg, ihr Niveau überschreitet nicht das Niveau eines mittelmäßigen
Seminarreferates. Inhaltlich werden bis
auf einige Passagen zu den Erklärungsansätzen des heutigen Rechtsextremismus kaum neue Erkenntnisse geboten
und seit langem bekannte fragwürdige
Behauptungen wiederholt.
Zumeist kommentiert die Autorin nur aus
der umfangreich genutzten Sekundärliteratur bereits seit längerem bekannte Fakten und Analysen. Außer einigen Leipziger Publikationen werden Forschungen
zum Rechtsextremismus aus den neuen
Bundesländern kaum genutzt und auch
nicht im umfangreichen Literaturverzeichnis aufgeführt. Theoretisch stützt
sich Johanna Engelbrecht auf die Veröffentlichungen von Wilhelm Heitmeyer
und im Schlussteil auf die Arbeiten von
Franz Josef Krafeld.
Der Schlüsselbegriff der Verfasserin für
ihre Analyse des Rechtsextremismus in
der DDR ist das dogmatisch-simple Axiom vom Autoritarismus. Wie bei vielen
anderen Autoren von links bis rechtskonservativ werden alle gesellschaftlichen
Prozesse in der DDR recht unterschiedslos damit in Verbindung gebracht. Da
gibt es pauschalisierend die »autoritäre
Persönlichkeit«, die »autoritäre Familie«,
die »autoritäre Erziehung« usw. Dabei
sind die diesen Begriffen zugrunde gelegten Fakten empirisch kaum belegbar.
Autoritarismus kann Rechtsextremismus
begünstigen, muss es aber nicht. Dort,
wo 1990/91 Untersuchungen in Ostdeutschland zu dieser Thematik vorgenommen wurden, unterschieden sich die
Ergebnisse kaum von solchen in West-
deutschland. Viele seriöse Wissenschaftler, wie zum Beispiel Detlef Oesterreich,
Walter Friedrich und Oskar Niedermeyer,
lehnen deshalb die Kategorie »Autoritarismus« als verbindlichen Indikator für
die gegenwärtige Rechtsextremismusforschung ab. Das Otto-Stammer-Institut
der Freien Universität Berlin hat deshalb
diesen Begriff aus seinem Kriterienkatalog zur Untersuchung des Rechtsextremismus herausgenommen.
In den einleitenden Teilen des Buches
(S. 36 ff.) kolportiert die Verfasserin viele
der gängigen, simpel gestrickten Legenden zur Geschichte der DDR und zeichnet sich selbst durch eine diesbezüglich
bemerkenswerte Unkenntnis aus. So
ist für sie die SED schon seit 1946 eine
kommunistische Partei, verkörpern die
antifaschistischen Boden- und Industriereformen von 1945/46 in der damaligen
Sowjetischen Besatzungszone durchweg
eine »Entmachtung des Besitzbürgertums«, verlegt sie die Gründungsdaten
der 1945/46 entstandenen Massenorganisationen FDGB und Kulturbund in
das Jahr 1948 und der erste Ministerpräsident heißt bei ihr nicht Otto Grotewohl, sondern Walter Ulbricht. Unstimmig – um nicht zu sagen: unsinnig – ist
gleichfalls ihre Behauptung, dass erst in
den siebziger Jahren Erich Honecker auf
Druck der Bevölkerung wirtschaftliche
Beziehungen zu den westlichen Industriestaaten knüpfte.
Der interessanteste Teil der vorliegenden
Publikation sind die Kapitel zu den verschiedenen Theorien über die Ursachen
des Rechtsextremismus in der DDR und
den neuen Bundesländern. Eine zentrale Position nehmen dabei – wie schon
erwähnt – die Aussagen des Bielefelder
Soziologen und Jugendforschers Wilhelm
Heitmeyer über Individualisierungstendenzen und die so genannten Modernisierungsverlierer ein. In diesem Kontext
wird manches Zutreffende gesagt, aber
auch manches Fragwürdige, was von Johanna Engelbrechten kaum kritisch reflektiert wird.
Das Zweifelhafte trifft auch auf die Zustimmung der Verfasserin zu der abenteuerlichen »Töpchen-Theorie« des Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer zu (vgl.
S. 132). Die vermeintlich wissenschaft-
lichen »Erkenntnis« dieses Professors,
der die Ursachen des DDR-Rechtsextremismus in der Reinlichkeitserziehung in
den ostdeutschen Kindergärten verortet,
stieß von Rügen bis zum Thüringer Wald
auf heftigen Widerspruch und – weitgehend unabhängig von den weltanschaulich-politischen Affinitäten der sich Äußernden – auf eine einhellige Ablehnung.
Als einen wesentlichen Mangel bei der
Suche nach den Ursachen für den Rechtsextremismus sieht der Rezensent in der
Unterbelichtung, zum Teil sogar in der
Ablehnung einer Analyse solcher wesentlichen sozialökonomischen Faktoren wie
der Massenarbeitslosigkeit, wachsender
Armut, der um sich greifenden Zukunftsängste sowie in der weitgehenden Negation von politischen und sozialen Alltagserfahrungen in den neuen Bundesländern.
Für sehr fragwürdig halte ich in diesem
Zusammenhang auch die vom Herausgeber Hans-Joachim Plewig im Vorwort umrissene Position, dass nicht etwa »Armut,
Arbeitslosigkeit und Desintegration die
wesentlichen Ursachen für Rechtsextremismus seien. Das ist empirisch falsch
und politisch gefährlich.« (S. 8)
Die Antworten der Autorin auf die Frage, was zur Zurückdrängung und Überwindung des Rechtsextremismus in
den neuen Bundesländern getan werden könne, kreisen im Wesentlichen
um die Theorie und Praxis der akzeptierenden Jugendarbeit des Bremer Wissenschaftlers Franz Josef Krafeld. Nach
der »Wende« von 1989/90 führte deren
Anwendung zu solchen überaus problematischen, ja unannehmbaren Erscheinungen, dass bekannte neonazistische
Gewalttäter als staatsfinanzierte Betreuer bzw. Sozialarbeiter in neonazistischen
Gruppen eingesetzt wurden. Bilanzierend
kann man heute sagen, dass das Konzept
der akzeptierenden Jugendarbeit in Ostdeutschland weitgehend gescheitert ist
und deshalb nur noch von wenigen Politikern und Sozialbehörden bejaht wird.
Abschließend sei vermerkt, dass der
Preis des Buches im Vergleich zu ähnlichen, meistens umfangreicheren Publikationen, und vor allem angesichts dessen, was inhaltlich geboten wird, mit 39
Euro bei weitem zu hoch bemessen ist.
Dr. sc. Norbert Madloch
101
Die NPD in den Parlamenten
NiP-Redaktionskollektiv, HeinrichBöll-Stiftung, weiterdenken –
Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Hrsg.,
Die NPD im sächsischen Landtag.
Analysen und Hintergründe 2008,
Druckhaus Dresden, Dresden 2008,
96 Seiten.
Projekt »Auseinandersetzung mit
Rechtsextremismus in kommunalen
Gremien Berlins – Dokumentation
und Analyse«, Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK),
Hrsg., Berliner Erfahrungen. Zwei
Jahre demokratische Auseinandersetzungen mit Rechtsextremen in
kommunalen Gremien, Berlin 2008,
61 Seiten.
Am 7. Juni werden die Sitze im Landtag
des Freistaates Sachsen neu verteilt und
auch die NPD stellt sich erneut zur Wahl.
Nachdem sie 2004 mit zwölf Abgeordneten in das sächsische Parlament einzog, scheint ihr der Wiedereinzug sicher.
Pünktlich zum so genannten »Superwahljahr« 2009 legt das Redaktionskollektiv
»Nazis in den Parlamenten« (NiP) Sachsen in Kooperation mit der Heinrich-BöllStiftung eine Publikation vor, die die Aktivitäten der NPD in Sachsen analysiert.
In acht Beiträgen geben die Autor/innen
einen Einblick in das Wirken der NPD inner- und außerhalb des Landtages und
den Umgang der demokratischen Parteien sowie der Medien mit den rechtsextremen Abgeordneten. Gleichzeitig
bietet der Sammelband einen Ausblick
auf die kommende Wahlperiode.
Beispielsweise kommt Chris Fisher zu
der Erkenntnis, dass die NPD-Fraktion – wider Erwarten – trotz personeller
Einbußen keineswegs in der Versenkung
verschwunden ist. So stellten die NPDAbgeordneten bis Sommer 2008 allein
2.165 Kleine Anfragen, wie Michael
Nattke in einer vergleichenden Analyse der NPD-Fraktionen in Sachsen und
Mecklenburg-Vorpommern feststellt.
Nattke zeigt zugleich aber auch Schwächen auf: So scheint es, entgegen den
Erwartungen, keinen kontinuierlichen
Austausch zwischen beiden Fraktionen
zu geben. Dies zeigt sich bei Anträgen
102
der NPD, die sich in ihrer Stoßrichtung
zwar durchaus ähneln, in Argumentation und Formulierung jedoch erhebliche
Unterschiede aufweisen. Dabei wird allerdings unterschlagen, dass einige,
meist besonders skandalträchtige, Anträge trotz allem den Weg durch Landesparlamente und kommunale Gremien finden. Als Beispiel sei nur der
geschichtsrevisionistische Antrag für
»Rote Stolpersteine gegen das Vergessen« genannt, der in einigen Berliner
Bezirksverordnetenversammlungen für
Aufregung sorgte, nachdem er bereits
im Schweriner Schloss gestellt wurde.
Kritisch beäugt wird der Umgang der demokratischen Parteien mit der NPD. Besonders CDU und FDP falle die Abgrenzung gegenüber den Rechtsextremen
nicht immer leicht. »Auf kommunaler
Ebene wird immer wieder von freundschaftlichen Kontakten einzelner Abgeordneter zu in den entsprechenden
Parlamenten vertretenen Neonazis berichtet […]« (S. 69).
Mit einer weiteren Publikation, die sich
mit den parlamentarischen Aktivitäten
rechtsextremer Parteien befasst, stellt
sich das Projekt »Auseinandersetzung
mit Rechtsextremismus in kommunalen
Gremien Berlins – Dokumentation und
Analyse« vor. Die Broschüre analysiert
Auftreten und Strategien der Rechtsextremen in den Bezirksverordnetenversammlungen Berlins. Seit 2006 sind
dort Verordnete von NPD, DVU und »Republikanern« (REP) vertreten. So ziehen die Autor/innen zunächst eine Zwischenbilanz und stellen einerseits eine
gewisse Stabilisierung der Präsenz der
NPD fest. Andererseits hindern mangelnde kommunale Verankerung und der
»Berliner Konsens« der demokratischen
Parteien die NPD an einer Verstetigung
ihrer Präsenz. Anträge der Rechtsextremen werden konsequent abgelehnt und
in der Regel entgegnet nur ein/e Vertreter/in der demokratischen Parteien den
rechtsextremen Initiativen. Trotz dieser
Erfolge und der anhaltenden Stigmatisierung der Rechtsextremen in Berlin
raten die Autor/innen, »die bisher ge-
machten positiven und negativen Erfahrungen genauer in den Blick zu nehmen«
und an einer »Weiterentwicklung demokratischer Handlungsweisen« (S. 37)
zu wirken. Folglich wartet die Broschüre mit einem umfangreichen und nützlichen Anhang auf, in dem Praxisbeispiele aus der Auseinandersetzung mit
Rechtsextremismus auf kommunaler
Ebene sowie beispielhafte Anträge und
Debatten dokumentiert sind.
Trotz innerparteilicher Querelen ist die
NPD auf dem Vormarsch: So verfügt sie
bundesweit über dutzende Mandate und
Kommunalparlamenten. Sie nutzt diese
Möglichkeit, um ihr menschenverachtendes Gemeinschaftsmodell zu propagieren. An sachpolitischer Arbeit in den
Kommunen jedoch zeigt sie kein Interesse. Trotzdem erfordert die Abgrenzung der demokratischen Parteien eine
kontinuierliche Auseinandersetzung mit
dem Rechtsextremismus. Die beiden
vorliegenden Broschüren können Vertreter/innen aus Kommunal- und Landespolitik sowie zivilgesellschaftlichen
Akteuren Anregungen und Hilfestellungen hierzu geben.
Yves Müller
Hinweis
Die Broschüre »Die NPD im sächsischen
Landtag. Analysen und Hintergründe
2008« kann gegen Erstattung der Versandkosten über das Bildungswerk weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung bezogen werden. Bestellungen bitte an
[email protected]. Außerdem steht sie unter www.weiterdenken.
de zum Download bereit.
Die Broschüre »Berliner Erfahrungen.
Zwei Jahre demokratische Auseinandersetzungen mit Rechtsextremen in kommunalen Gremien« kann über den Verein für Demokratische Kultur in Berlin
e.V. (VDK) bestellt werden. Bestellungen
bitte an doku-und-analyse@vdk-berlin.
de. Sie kann auch unter www.mbr-berlin.de/Verein/Rechtsextremismus_in_
den_BVVen heruntergeladen werden.
Die NPD in Mecklenburg-Vorpommern.
Reihe DEMOKRATIEPOLITIK(Politikwissenschaftliche Arbeitspapiere aus dem Arbeitsbereich Politische Theorie
und Ideengeschichte)
Herausgeber: Prof. Dr. Hubertus Buchstein, Universität Greifswald. Lehrstuhl für
Politische Theorie und Ideengeschichte / Institut für Politikwissenschaft.
In fortlaufender Folge (Hefte 2–4) sind
bisher drei Broschüren in dieser Reihe
erschienen, die sich explizit mit Problemen des Rechtsextremismus auseinandersetzen. Prof. Dr. Buchstein zeichnet als Herausgeber verantwortlich. Sie
sind auch ins Internet eingestellt.
Das Heft 2 von
Benjamin Fischer:
Ueckermünde – ein Refugium des
Rechtsextremismus? (2006, 42 S.)
untersucht, ob Ueckermünde, eine relativ kleine Stadt am Nordostende der
Republik, in der ersten Hälfte des Jahrzehnts ein Refugium des Rechtsextremismus geworden ist. Es umfasst ein
kurzes Lagebild der Kommune, die Aktivitäten der NPD im Ort, das Auftreten der Kameradschaften und vor allem
von sogenannten Kulturkreisen wie dem
HBP (Heimatbund Pommern). Zum späteren Einzug der NPD in den Schweriner
Landtag auf Grund der Ansammlung
entsprechenden Stimmenpotentials der
extremen Rechten trug vor allem das
demagogische Wirken einer Bürgerinitiative »Schöner und sicherer wohnen in
Ueckermünde« mit ihrer ausländerfeindlichen Hetze bei.
Es sind nur wenige aber politisch profilierte Kader der NPD, die mit klaren
Strategien für eine Verankerung des
Rechtsextremismus in der gesellschaftlichen Mitte der Stadt sorgten. An zahlreichen Beispielen wird demgegenüber
deutlich gezeigt, wie schwache demokratische Strukturen und Versagen
kommunaler Behörden eine Mitschuld
an der Entstehung eines solchen »Refugiums« tragen und die Notwendigkeit
aktiver und offensiver politischer Auseinandersetzung mit den rechtsextremen
Gruppen begründet.
Das Heft 3 von
Benjamin Barkow: Die Berichterstattung über die NPD in der regionalen
Presse Mecklenburg-Vorpommerns
(2007, 51 S.)
nimmt als Beispiele für die Untersuchung erstens die Anklamer Ausgabe des »Nordkurier« und zweitens die
Stralsunder Ausgabe der »Ostseezeitung«. Im einzelnen erfährt man dabei
etwas über die Anordnung dieser Berichterstattung in den Zeitungen, über
den Umfang der Berichte zu den Ereignissen, Berichte über das Auftreten
der NPD in der Stadtvertretung Anklam
und im Kreistag OVP (Ostvorpommern)
sowie in der Stralsunder Bürgerschaft.
Dann erfolgt ein Vergleich der Berichterstattung in den beiden Zeitungen und
eine Bewertung.
Das Heft 4 von
Laura Niemann: Die NPD im Landtag
von Mecklenburg-Vorpommern.
Ihre Parlamentsarbeit im ersten
Jahr. (2008, 96 S.)
ist das bisher umfangreichste Heft. Erfasst wird dabei das Geschehen im
Schweriner Landtag von Ende 2006 bis
Ende 2007. Vorangestellt ist eine Übersicht zum Auftreten rechtsextremer Parteien in Landtagen der Bundesrepublik
in der Vergangenheit. Danach werden
die Aussagen der NPD vor ihrem Einzug in den Landtag 2006 analysiert. Den
Hauptteil bilden die Untersuchungen zu
den von den NPD-Vertretern im Landtag
gehaltenen Reden, die eingebrachten
Entschließungs- und Gesetzesentwürfe sowie die Auseinandersetzungen der
demokratischen Parteien im Landtag mit
der NPD. Die faktenreiche und detaillierte Beschreibung von Laura Niemann
ist zusätzlich durch Interviews gestützt.
Für weiter reichende Schlussfolgerungen über Mecklenburg-Vorpommern
hinaus ist hervorzuheben, dass die Autorin einerseits die Arbeit der NPD im
Schweriner Landtag als vergleichsweise
professionell und gut organisiert bewertet, dass zum anderen es aber auch den
demokratischen Parteien vergleichsweise gut gelingt, die Provokationsstrategie
der NPD ins Leere laufen zu lassen.
103
Karl-Heinz Jahnke – Arbeiterbewegung und
Antifaschismus: Bilanz eines Forscherlebens
Karl-Heinz Jahnke, Gegen das Vergessen! Biographische Notizen. Forschungen zum
Widerstand gegen die NS-Diktatur in Deutschland, Verlag Ingo Koch, Rostock 2008,
203 Seiten.
Diese Publikation des Rostocker Historikers Professor Karl-Heinz Jahnke ist sein
persönlichstes Werk. Er hält umfassend
Rückschau auf sein Wirken als engagierter Hochschullehrer und Forscher
zur jüngsten deutschen Geschichte. Der
Autor vermittelt den Lesern mehr als die
Bilanz eines erfülltes Wissenschaftlerleben. Das Buch führt in die Vergangenheit und ist zugleich eine Reise in die
Gegenwart und Zukunft.
Zeitlebens hat Karl Heinz Jahnke in seinem wissenschaftlichen Wirken immer gegen »das Vergessen« geforscht
und publiziert. Sehr treffend schreibt
er, dass er, geprägt durch die Kriegsereignisse des Zweiten Weltkrieges, mithelfen wollte, eine neue Welt aufzubauen – frei von Völkermord, sozialer
Ungleichheit und Verletzung der Menschenwürde.
In diesem Sinne ist auch seine Rede
als Vertreter der Studentenschaft anlässlich des Festaktes zur 500-Jahrfeier
der Ernst-Moritz-Arndt-Universität am
16. Oktober 1956 zu bewerten, in der
er voller Stolz auf die großzügigen Ausbildungsmöglichkeiten für die Jugend,
insbesondere für die Arbeiter- und Bauernkinder in der damaligen Deutschen
Demokratischen Republik verwies.
Knapp aber zugleich prägnant skizziert
Karl Heinz Jahnke seine Schulzeit in Rostock, Grammow, Kavelstorf und in Bad
Doberan. Bereits 1948 schloss sich der
Autor der Kinderlandbewegung der FDJ
und den Jungen Pionieren an. Freimütig schildert er, dass ihm die vier Schuljahre in Bad Doberan nicht leicht gefallen seien, da er kriegsbedingt erhebliche
schulische Rückstände aufzuholen hatte. Sachlich beschließt der Autor diesen
Lebensabschnitt mit der Feststellung,
dass er einen politischen Reifeprozess
durchlief und als Konsequenz dieser Erkenntnis in die SED eintrat.
Einprägsam schildert der Autor die
Etappen seines Studiums an der ErnstMoritz-Arndt-Universität. Er betont dabei die fundierte Ausbildung zum Lehrer
für Geschichte an Erweiterten Oberschulen. Zugleich verweist er darauf,
dass am Historischen Institut in Greifswald Mediävisten die Forschung und
Lehre prägten und dass das Gebiet der
Neuzeit sich erst im Aufbau befand. We104
nig geschah auf dem Gebiet der Neuesten und Zeitgeschichte. Zielgerichtet
wandte sich Karl-Heinz Jahnke dieser
Thematik zu, indem er seine Diplomarbeit dem Thema »Zur Geschichte der
SPD in Stralsund« (1891–1914) widmete. Mit berechtigtem Stolz schreibt er,
dass sein Staatexamen zu den Besten
des Jahres 1957 gehörte und er die
Möglichkeit erhielt, an der der Greifswalder Universität seine Studien und
Forschungen fortzusetzen (vgl. S.22).
Der Autor spart aber auch nicht die vielfältigen Schwierigkeiten in seinem damaligen Lebensweg aus. Der Leser erhält einen anschaulichen Einblick in die
umfangreichen Aktivitäten als Forscher
und als politisch engagierte Persönlichkeit in der FDJ-Hochschulleitung.
Große Aufmerksamkeit widmet der Autor
seinem Wirken als Historiker in Greifswald von 1957 bis 1968. Hier lotet er
tiefgründig seine Erfolge, aber auch die
ihm zugefügten Verleumdungen über sein
Wirken in politisch bewegten Zeiten aus.
Der Autor betont in seinem Rückblick auf
die Greifswalder Jahre, dass er sich hier
vor allem auf die Erforschung des europäischen Widerstandes der Studenten gegen den Faschismus konzentrierte. Der
Leser erfährt, dass unter seiner Federführung 1957 die Idee zu dem Forschungsprojekt »Studenten Europas im Kampf
gegen den Hitlerfaschismus« entwickelt
wurde. Dazu fand er Partner in anderen Ländern. Im Oktober 1959 erschien
zu dieser Thematik das Buch »Niemals
vergessen! Aus dem antifaschistischen
Widerstandskampf der Studenten Europas«. Im Oktober des gleichen Jahres
konnte unter seiner Leitung die erste
wissenschaftliche Konferenz zum Thema
»Europäische Jungend im Widerstand«
in Greifswald durchgeführt werden. Die
Greifswalder Jahre des Historikers KarlHeinz Jahnke sind seit seiner 1960 erfolgten Promotion und der im Frühjahr
1966 verteidigten Habilitationsschrift vor
allem dadurch gekennzeichnet, dass er
als Forscher und Hochschullehrer sein
selbst gewähltes Forschungsthema, den
antifaschistischen Widerstand, und dabei
vor allem den Anteil der Jugend nie verlassen hat; auch dann nicht, wenn andere Herausforderungen von ihm zu bewältigen waren.
Völlig zu Recht stellt der Autor über diese Jahre fest: »Eine bedeutende Wegstrecke in der beruflichen Entwicklung
war zurückgelegt. Mit 31 Jahren hatte
ich habilitiert. Durch meine Leistungen
in Forschung und Lehre erfuhr ich Annerkennung über Greifswald hinaus.«
(S. 46)
Im Ergebnis der gegen ihn erhobenen,
ungerechtfertigen Verleumdungen musste der Autor 1968 zur Wilhelm-PieckUniversität Universität nach Rostock
wechseln. Begründet wurde dieser
Wechsel unter anderem auch damit,
dass nur noch in Rostock zur Jugendgeschichte geforscht und gelehrt werden
sollte.
Sein Wirken als Historiker in Rostock
unterteilt der Autor in zwei Abschnitte.
Im ersten skizziert er den neuen komplizierten Anfang am Historischen Institut
der Rostocker Universität. Der gestandene Wissenschaftler mußte vertraute
und bewährte Lehrveranstaltungen aufgeben und neue Kontakte zu den Studenten und Fachkollegen suchen. Es
galt die Auszubildenden für sein Forschungsgebiet aufzuschließen und zu
motivieren, nämlich für die Erforschung
der deutschen Arbeiterbewegung und
der Jugendgeschichte bis in die Gegenwart.
Karl-Heinz Jahnke stand vor der Aufgabe, sich Grundlagen für eine systematische Forschungsarbeit zu schaffen.
Der Autor schildert detailliert, wie er die
zu bewältigenden Probleme meisterte.
Wie viel Kraft und Zeit aufgewandt werden musste, um das von der politischen
Führung geforderte Buch »Geschichte
der Freien Deutschen Jungend« zu erarbeiten, kann man in diesem Kapitel
nachlesen. Die Buchnutzer erfahren hier
auch, wie groß die Freude aller Beteiligten war, als im Jahre 1982 das Werk
endlich gedruckt vorliegen konnte.
In der Zwischenzeit, nämlich am 1. September desselben Jahres, wurde KarlHeinz Jahnke auch zum ordentlichen
Professor für Geschichte der deutschen
Arbeiterbewegung berufen. Lebendig
und unterlegt mit aufschlussreichen
Details beschreibt der Rostocker Historiker sein Wirken als Direktor der Sektion Geschichte in den Jahren von 1981
bis 1986. Die letzen zwei Jahre skizziert
er als Jahre heftiger Auseinandersetzungen über den Niedergang der DDR
und ihr schließliches Ende.
Im Kapitel »Arbeit als Historiker in Rostock 1991–2008« (S. 85–126) vermittelt und belegt der Verfasser durch eine Vielzahl von Episoden als Forscher
und Publizist sowie aus dem liebevoll
nachgezeichneten Familienleben, dass
er selbst unter härtesten Lebensbedingungen an seiner Lebensmaxime »Gegen das Vergessen« tätig zu sein festgehalten hat.
Ein Vorzug des Buches ist, dass der
Autor mit zahlreichen Bild- und Textdokumenten seine wissenschaftlichen
Weggefährten benennt und in seinen
Ausführungen betont, dass er vor allem
durch die Vielfalt seiner Kontakte im Inund Ausland so erfolgreich tätig sein
konnte und auf ein erfülltes Leben als
Historiker verweisen kann.
Typisch für ihn ist auch sein mahnender
Hinweis auf offengebliebene Forschungs- und Publikationsvorhaben, die
noch zu bewältigen sind
Abgerundet wird die vorliegende Publikation durch das Kapitel »Dokumente«.
Hier stellte er eine Fülle seiner veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten
vor und berichtet schonungslos über
die Ereignisse an der Sektion Geschich-
te der Rostocker Universität zwischen
September 1988 bis Oktober 1990.
Im Nachwort spürt man die Freude und
Erleichterung des Autors dieses so persönlich angelegte Buch geschaffen zu
haben. Jeder, der an der Geschichte der
Arbeiter(jugend)bewegung interessiert
ist und sich mit dem Antifaschismus in
Geschichte und Gegenwart beschäftigt,
sollte diesen lesenswerten Band, dem
auch sehr aufschlussreiche Fakten zur
Geschichte der DDR zu entnehmen sind,
in die Hand nehmen.
Dr. Günter Wehner
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