U1_PolitischeStudien407 31.05.2006 10:59 Uhr Seite U1 57. Jahrgang • Mai/Junl 2006 • ISSN 0032-3462 • € 4,50 POLITISCHE STUDIEN407 Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen Schwerpunktthema: Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus? Die Bedeutung nationaler Identität zu Beginn des 21. Jahrhunderts Mit Beiträgen von Christoph Böhr, Jürgen Henkel, Hansrudolf Kamer, Hagen Schulze, Hans-Peter Schwarz und Hans-Ulrich Wehler Dieter Frey Politische Studien-Zeitgespräch zum Thema „Die psychologische Seite der Innovation“ Werner Gumpel Die „sanften Revolutionen“ und die Lage in Zentralasien Manfred Mols Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“? 01-04_Innentit_Impr_Inhalt 12.05.2006 8:26 Uhr Seite 1 57. Jahrgang • Mai/Juni 2006 • ISSN 0032-3462 • € 4,50 POLITISCHE STUDIEN407 Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen Schwerpunktthema: Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus? Die Bedeutung nationaler Identität zu Beginn des 21. Jahrhunderts Mit Beiträgen von Christoph Böhr, Jürgen Henkel, Hansrudolf Kamer, Hagen Schulze, Hans-Peter Schwarz und Hans-Ulrich Wehler Dieter Frey Politische Studien-Zeitgespräch zum Thema „Die psychologische Seite der Innovation“ Werner Gumpel Die „sanften Revolutionen“ und die Lage in Zentralasien Manfred Mols Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“? 01-04_Innentit_Impr_Inhalt 12.05.2006 8:26 Uhr Seite 2 Hanns Seidel Stiftung Herausgeber: Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Vorsitzender: Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair, Staatsminister a.D. Hauptgeschäftsführer: Dr. Peter Witterauf Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit / Publikationen: Hubertus Klingsbögl Redaktion: Dr. Reinhard C. Meier-Walser (Chefredakteur, v.i.S.d.P.) Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin) Verena Hausner (stellv. Redaktionsleiterin) Susanne Berke (Redakteurin) Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol. (Redakteurin) Irene Krampfl (Redaktionsassistentin) Anschrift: Redaktion Politische Studien Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Lazarettstraße 33, 80636 München Telefon 089/1258-241 Telefax 089/1258-469 Internet: www.hss.de E-Mail: [email protected] Druck: Bosch-Druck, Landshut Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Redaktion reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Redaktionelle Zuschriften werden ausschließlich an die Redaktion erbeten. Die Beiträge in diesem Heft geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder; die Autoren tragen für ihre Texte die volle Verantwortung. Unverlangt eingesandte Manuskripte werden nur zurückgesandt, wenn ihnen ein Rückporto beiliegt. Bezugspreis: Einzelhefte € 4,50. 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Hildmann Einführung..................................... 19 Hans-Ulrich Wehler Ein aufgeklärter Patriotismus – Über die Identitäten der Deutschen und die Gefahr neuer Subkulturen ....... 21 Hans-Peter Schwarz Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus?.................................. 26 Christoph Böhr Patriotismus, Multikulturalismus, Nationalismus: Welchen Weg gehen die Deutschen?.................... 32 Hansrudolf Kamer Nationale Triebkräfte in der globalisierten Welt – Unterschiedliche Spielformen eines erstarkenden Patriotismus ................................... 39 Hagen Schulze Was ist deutsche Identität?............ 50 Jürgen Henkel Ein Zwischenruf zum Thema Leitkultur ....................................... 58 01-04_Innentit_Impr_Inhalt 17.05.2006 10:05 Uhr Seite 4 Werner Gumpel Die „sanften Revolutionen“ und die Lage in Zentralasien ................ 61 Manfred Mols Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“? ..................... 70 Im Dialog ....................................................... 80 Das aktuelle Buch ....................................................... 84 Buchbesprechungen ....................................................... 86 Ankündigungen ....................................................... 94 Ausschreibung Förderpreis Politische Publizistik .. 95 Autorenverzeichnis ....................................................... 96 05-08_Editorial 12.05.2006 8:27 Uhr Seite 5 Editorial Identitätsstiftung in einer entgrenzten Welt Hans Zehetmair Zu Beginn seiner Rede zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters berichtete der junge Kölner Schriftsteller Navid Kermani von seinem originellen Versuch, sich bewusst zu machen, wie sich Europa in den vergangenen fünf Jahrzehnten entwickelt hat. Er habe in seinen digitalen Routenplaner als Ausgangspunkt einer fiktiven Reise zunächst das Nordkap im Norden Norwegens eingegeben, als Fahrtziel anschließend Tarifa, die südlichste Stadt Spaniens. Innerhalb weniger Sekunden sei das Ergebnis auf dem Bildschirm erschienen: Man fahre zunächst 700 Meter auf einer örtlichen Straße geradeaus, dann zwei Mal links auf die E 69, nach weiteren 5930,20 Kilometern abermals links auf die Avenida Mirador de los Ríos, dieser folgend erreiche man nach 600 Metern Tarifa. Die geschätzte Reisedauer betrage 7 Tage, 3 Stunden, 57 Minuten. Grenzkontrollen werden nirgendwo vermerkt. Eine Reise quer durch unseren Kontinent über so geschichtsträchtige Orte wie Stockholm, Kopenhagen, Ham- burg, Brüssel, Paris, Madrid ohne die Notwendigkeit eines Passes – eindrücklicher könnte man die grandiose Erfolgsgeschichte des Nachkriegseuropa in der Tat kaum illustrieren. Eines Europa ohne Grenzen inmitten der viel zitierten globalisierten Welt, die dem Reisenden – seine Zugehörigkeit zur „Western Community“ vorausgesetzt – ihrerseits ihre Grenzen nurmehr durch eine kaum spürbare Verringerung seiner Reisegeschwindigkeit in den beliebig austauschbaren Airport-Lounges der Welt zur Kenntnis bringt. Willkommen in der entgrenzten Welt am Anfang des 21. Jahrhunderts! So chancenreich, begrüßenswert und vor allem irreversibel diese Entwicklung ist, sie birgt in sich eine wahre Fülle von Unwägbarkeiten und Unsicherheiten, die bei vielen unserer Zeitgenossen das unbehagliche Gefühl eines zunehmend unbehausten Daseins in der Welt aufkeimen lassen. Flexibilität, Mobilität und Globalisierung mögen in den Ohren des einen wie helle Zukunftsfanfaren klingen. Der andere vernimmt bei diesen Schlagworten nur Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 05-08_Editorial 12.05.2006 8:27 Uhr Seite 6 6 das „Chanson triste“ drohender Heimatlosigkeit in den öden Weiten globaler Nivellierung. Letzteres nur als realitätsferne Abwehrhaltung zukunftsscheuer Reaktionäre abzutun, wird der Sache dabei keinesfalls gerecht. Es ergibt sich schon aus der anthropologischen Feststellung, dass es sich beim Menschen um ein („zoon politikon“) handelt, was vom Stichwortgeber Aristoteles im Sinne von gemeinschaftsbildendes, soziales Lebewesen gemeint war. In diese Richtung weist ebenfalls die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, die explizit darauf hinweist, dass der Mensch als ein seiner innersten Natur nach soziales Lebewesen ohne Beziehung zu den anderen weder leben noch seine Gaben zur Geltung bringen kann. Das Sein des Menschen in der konkreten Gesellschaft mit institutionalisierten und durch Sanktionen geregelten Beziehungen, mit identitätsstiftenden gemeinsamen Werten, Zwecken und Interessen ist also weit mehr als ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert der Nationalstaaten und nationalen Identitäten. Es ist Voraussetzung und Chance seiner Entfaltung auch und gerade im Blick auf sein Dasein in einer zunehmend grenzenlosen Welt. Die daraus zu ziehenden Konsequenzen liegen auf der Hand. Je mehr sich der Markt der Möglichkeiten und Probleme ausdifferenziert und globalisiert, desto mehr muss die Fähigkeit des Einzelnen gestärkt werden, den eigenen Standort in seiner Gesellschaft und in seiner Kultur überhaupt wahrzunehmen und zu definieren. Bei diesem Unterfangen sind zweifelsohne auch Politik und politische Stiftungen gefordert. Und die allerorten unternommenen Hans Zehetmair Anstrengungen, zur Identitätsstiftung in einer entgrenzten Welt beizutragen sowie sich seiner eigenen Identität wieder zu vergewissern, sind ja inzwischen unübersehbar. Die Suche nach Identitätsparametern im Zuge der inflationär geführten Wertedebatten ist hier ebenso Signal wie die neu belebte Arbeit an den verschiedenen Grundsatzprogrammen und die quer durch die Parteienlandschaft geführte Diskussion um die Frage nach der Bedeutung nationaler Identität zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Da die vorliegende Ausgabe der „Politischen Studien“ gerade letzterer einen ausführlichen Schwerpunkt widmet, hierzu noch einige Schlaglichter. Seit nunmehr knapp sechs Jahren führen wir in Deutschland in immer wiederkehrenden Wellen eine so genannte Leitkultur-Debatte. Sie stellt den vorläufigen Kulminationspunkt einer Entwicklung dar, die Mitte der 1970erJahre ihren Ausgang genommen hat, als das geschichtsmüde Ausruhen Westdeutschlands auf hohen industriellen Wachstumsraten und zunehmendem Massenwohlstand brüchig zu werden begann. Seitdem stehen Unruhe, Identitätszweifel und Orientierungsverlust wieder vermehrt auf der durch die Wiedervereinigung zusätzlich verschärften Tagesordnung unserer Republik. Sie verunsichern eine Gesellschaft, die sich, den Schlaf der Seligen noch im Auge, zudem mit den berechtigten Anforderungen anderer Nationen konfrontiert sieht, die den selbstreferenziellen Somnambulismus der größten Wirtschaftsmacht in Europa angesichts wachsender internationaler Herausforderungen nicht länger hinzunehmen gewillt sind. In solchen Zeiten wächst naturgemäß das Bedürfnis nach kollektiver Identität, nach einer Selbstverständi- 05-08_Editorial 12.05.2006 8:27 Uhr Seite 7 Editorial: Identitätsstiftung in einer entgrenzten Welt gung unserer Gesellschaft über gemeinsame Grundlagen und ein Mindestmaß an gemeinsamen Orientierungen. Da dieser Meinungsbildungsprozess nach wie vor zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt hat, und in der Frage, was denn konkret hier zu Lande unter einer Leitkultur zu verstehen sein sollte, kein Konsens besteht, ist eine Intensivierung der Debatte unumgänglich. Zielführend scheint mir hier, getreu der Losung der Renaissance-Humanisten, nicht auf Friedrich Merz und seine zugespitzte Forderung im Deutschen Bundestag vom 25. Oktober 2000 nach einer „deutschen Leitkultur“ zu rekurrieren, sondern ad fontes zu gehen. Und das heißt in diesem Fall zu Bassam Tibi, der in seinem Buch „Europa ohne Identität“ bereits 1998 den weiter gefassten Begriff einer „europäischen Leitkultur“ geprägt hat, worunter er einen Wertekonsens verstanden wissen will, der auf den Werten der „kulturellen Moderne“ (Jürgen Habermas) basiert. Zu diesen zählt er den Vorrang der Vernunft vor religiöser Offenbarung, eine Demokratie, die auf der Trennung von Religion und Politik basiert, sowie Pluralismus und Toleranz. Eine ähnliche Stoßrichtung verfolgt neben anderen Bundestagspräsident Norbert Lammert, der im Kontext des Streits um die dänischen Mohammed-Karikaturen konstatierte, dass die „bestenfalls gut gemeinte, aber bei genauerem Hinsehen gedankenlose“ Vorstellung von Multikulturalität inzwischen an ihr „offensichtliches Ende“ gekommen sei. Seiner Ansicht nach könne Multikulturalität nicht bedeuten, dass in einer Gesellschaft alles gleichzeitig und damit nichts mehr wirklich gelte, sondern in Konfliktsituationen müsse klar entschieden wer- 7 den, was Geltung beanspruchen könne und was nicht. Dabei gehe das, was für die in Deutschland grundlegende Kultur prägend sei, weit über nationale Grenzen hinaus, weshalb er es für angemessen halte, von einer „europäischen Leitkultur“ zu sprechen. Unbenommen von dieser europäischen Dimension bleibt die Frage, was denn heute unter „deutsch“ verstanden werden soll. Ohne an dieser Stelle eine umfassende Antwort geben zu können, empfiehlt sich hier ebenfalls der Weg zu den Quellen. Denn in Ansätzen schon an der Wende zum 9. Jahrhundert, verstärkt dann im hohen Mittelalter, wurde „deutsch“ als Identifizierungsbegriff der Lese- und Schreibkundigen im Gegensatz zu den als undeutsch empfundenen Lateinern und Franzosen verwandt. In dieser Bedeutung erhielt das Wort seinen wirklich dauerhaften und meines Erachtens auch heute uneingeschränkt anschlussfähigen Inhalt als Sprach- und Kulturbegriff. Dies zieht sich wie ein roter Faden von Walther von der Vogelweide über die Humanisten und Martin Luther bis Gottfried Wilhelm Leibniz und erreichte um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Qualität mit dem Aufstieg eines deutschen Bildungsbürgertums, dessen Ausläufer, so rudimentär sie inzwischen sein mögen, bis in die Gegenwart reichen. Eine verstärkte Anbindung der aktuell geführten Debatten an das Selbstverständnis der Deutschen als „Sprach- und Kulturnation“ (Thomas Nipperdey) vor der Preisgabe des zivilisatorischen Urvertrauens 1933/45 verspricht heute maßgeblich zur Definition einer genuin deutschen Identität in den Grenzen der heutigen Bundesrepublik beizutragen. 05-08_Editorial 12.05.2006 8:27 Uhr Seite 8 8 Das im Jahr der Wiedervereinigung geäußerte Diktum Hagen Schulzes, keine Zukunft ohne Geschichte, hat im Jahr 2006 nichts an Bedeutung verloren, und Deutschland hat sich zweifellos den dunklen Kapiteln seiner Vergangenheit intensiv gestellt. Zu Beginn unseres Jahrhunderts ist das Verständnis deutscher Geschichte weder von nationalistischem Hochgefühl und nationaler Hybris geprägt, wie so oft im 19. und 20. Jahrhundert, noch von Katastrophenangst zerklüftet, die nach dem Bruch der Zeit des Nationalsozialismus nahe lag. Das Bild der deutschen Geschichte ist europäischer geworden, zugleich differenzierter, vielseitiger und pluralistischer. Es ist auf dem Weg, im globalen Zusammenhang neu und erfrischend unverkrampft konstruiert zu Hans Zehetmair werden und uns einen wertvollen Beitrag zur Identitätsstiftung in einer entgrenzten Welt zu leisten. Dass dies nicht allein eine innerdeutsche Sichtweise ist, dafür darf hier zum Abschluss die ungarische Generalkonsulin Mária Baranyi zitiert werden, die vor kurzem in unserer Stiftung darauf hingewiesen hat, dass Deutschland auch schon zu Zeiten seiner Teilung in ihrer Heimat stets als „einheitliche Kulturnation“ wahrgenommen worden sei. Sie betonte die Hochschätzung der Ungarn für die erfolgreiche deutsche Vergangenheitsbewältigung und schloss mit den zuversichtlichen und mutmachenden Worten: „Eine Nation, ein Land, ein Volk, das mit seiner Geschichte so verantwortungsvoll umgeht, ist für die Zukunft gewappnet!“ 09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt 12.05.2006 8:27 Uhr Seite 9 Politische Studien-Zeitgespräch mit Prof. Dr. Dieter Frey zum Thema „Die psychologische Seite der Innovation“ Prof. Dr. Dieter Frey ist Ordinarius für Sozialpsychologie am Department Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München und Akademischer Leiter der Bayerischen Elite-Akademie. Prof. Frey sieht einen Schwerpunkt seiner Arbeit darin, Theorie und Praxis zu verbinden und einen Transfer zwischen Universität und Wirtschaft zu fördern. U.a. erforscht er das Entscheidungsverhalten in Gruppen, neue Kulturen zur Erhöhung von Kreativität und Motivation, Bedingungen für Innovation und untersucht die Entstehung und Veränderung von Einstellungen und Wertesystemen. Er arbeitet mit zahlreichen internationalen Unternehmen zusammen. Politische Studien: Mit dem Innovationsbegriff sind meist technische und wirtschaftliche Errungenschaften gemeint. Sie plädieren für eine erweiterte Sicht, in der psychologische, soziale und gesellschaftliche Prozesse berücksichtigt werden. Warum? Dieter Frey: Technische und wirtschaftliche Errungenschaften werden von Menschen gemacht; meistens sind diese Errungenschaften nur möglich durch das Zusammenwirken vieler kleiner und großer „Zahnräder“ und „Zahnrädchen“. Diese haben letztlich immer mit Menschen und deren Synergie zu tun. Das bedeutet, dass es darauf ankommt, das Potenzial von Köpfen und Herzen so zu aktivieren, dass Synergieeffekte entstehen. Es ist letztlich wie bei einem Orchester, in dem der Dirigent viele Solisten zusammenbringen muss, um zu einem großen Ganzen zu kommen. Bei Innovationen geht es sowohl um die Entstehung neuer Informationen durch Kreativität als auch um die Umsetzung von Innovationen im weitesten Sinne, um die Marktfähigkeit eines Produkts, einer Maschine usw. zu erreichen. Dies geschieht nicht zufällig, sondern hier muss eine Vielzahl von Menschen zusammenwirken. Folglich spielen die Führungskultur und die Unternehmenskultur eine ganz zentrale Rolle. Haben Menschen Handlungsspielräume? Läuft die Teamarbeit so, dass heterogene Talente mit homogenen Spielregeln so zusammenarbeiten, dass Höchstleistungen entstehen? Besteht ein Austausch der betroffenen Abteilungen, zum Beispiel von Vertrieb, Marketing, Produktion und Entwicklung? Hier muss die Führung die Sensitivität haben, Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, aus unterschiedlichen Disziplinen, dazu noch schwierige, oft dickköpfige Persönlich- Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt 12.05.2006 8:27 Uhr 10 keiten, so unter einen Hut zu bringen, dass sie etwas Großes hervorbringen. Es geht weiterhin insgesamt um gesellschaftliche Prozesse wie z.B. dem, Erfinder als „Heroes of Society“ zu sehen, der Gesellschaft bewusst zu machen, wie wichtig Erfindungen sind, da letztlich unser Lebensstandard überwiegend davon abhängt, dass es Innovationen gibt. Wichtig ist deshalb, dass der Innovationsbegriff sich nicht nur auf technische und wirtschaftliche Dinge bezieht, sondern auch auf Innovationen unserer Institutionen wie Schulen, Kindergärten, Universitäten, Firmen. Also: Wie können wir Strukturen, Kulturen in diesen Institutionen schaffen, sodass Kreativität, Innovationsbereitschaft, aber auch die Akzeptanz von Innovationen gefördert werden? Und hier ist der Psychologe der Experte für diese Dinge. Politische Studien: Wenn wir an die Innovation und Kreativität von Betrieben denken: Worum geht es dort konkret? Dieter Frey: Konkret geht es bei Innovationen in Betrieben um vier Dinge: um innovationsförderliche Führung, um eine innovationsförderliche Unternehmenskultur, um innovationsförderliche Techniken, Methoden und Institutionen sowie um eine positive mentale Grundhaltung. 1. Zunächst geht es um ein richtiges Führungsverhalten, welches Kreativität und Innovation fördert. Sicherlich kann man sagen, dass Menschen unabhängig vom Führungsverhalten intrinsisch motiviert sein sollten (d.h., die Motivation muss von innen kommen). De facto ist es jedoch so, das wissen wir schon von der Schule, dass ein Seite 10 Politische Studien-Zeitgespräch begeisternder Englischlehrer das Interesse an Englisch wecken oder verstärken kann und ein unsympathischer Englischlehrer sehr oft auch das Interesse an Englisch tötet. Ähnlich ist es natürlich auch beim Führungsverhalten. Dabei gibt es nur wenige Grundprinzipien, die berücksichtigt werden müssen, um intrinsische Motivation zu erhalten oder zu aktivieren. Man muss ein Höchstmaß an Transparenz erreichen durch Information und Kommunikation, man muss Sinn vermitteln (wer Leistung fordert, muss Sinn bieten und nichts hat Bestand, was nicht gut begründet werden kann), man muss klare Ziele vereinbaren, man sollte Handlungsspielräume geben statt zu vieler Detailvorgaben und Detailkontrolle. Es geht darum, ein gutes Betriebsklima zu schaffen, Wertschätzung und Fairness zu transportieren und gleichzeitig dort, wo man Defizite sieht, konstruktiv zu korrigieren. Man kann Innovationen nicht verordnen, man kann auch nicht über Indoktrination Kreativität und Innovation erzeugen. Man kann aber die Sehnsüchte von Menschen nach Sinn, Wertschätzung, Transparenz und Handlungsspielräumen über Selbstwirksamkeit und Selbstverwirklichung, Fairness, Wertschätzung usw. erkennen und das Führungsverhalten so verändern, dass diese Sehnsüchte am Arbeitsplatz nicht unterdrückt, sondern aktiviert werden. Es geht um das Grundprinzip Wertschöpfung durch Wertschätzung oder Innovation durch ein Höchstmaß an Autonomie und Partizipation. Das Führungsverhalten sollte den Menschen ermöglichen, intrinsische Motivation und Herzblut zu entwickeln, denn nur dort, wo Herzblut vorhanden ist, wird man sich engagieren und für Verbesserungen einstehen. 09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt 12.05.2006 8:27 Uhr Politische Studien-Zeitgespräch In vielen Spitzenunternehmen der deutschen Wirtschaft ist längst erkannt worden, dass Professionalität im Führungsverhalten mit der Philosophie „Tough on the issue, soft on the person“ (also hartnäckig und klar in den Erwartungen, den Spielregeln und den Standards, aber fair und human im Umgang) der Führungsstil ist, der am ehesten zu intrinsischer Motivation, Kreativität und Innovation anregt. Meine Hoffnung ist, dass wir hier von vielen deutschen Unternehmen, die sich weltweit auch mit ihrem Führungsverhalten durchgesetzt haben, lernen können, sodass viele Führungskräfte in ganz anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Verbänden ähnliches Führungsverhalten zeigen. Wir müssen in den Universitäten hier weiter zulegen, sodass die Studierenden, egal ob sie Maschinenbauer, Chemiker, Lehrer oder Betriebswirte werden, in professionellem Führungsverhalten ausgebildet werden, denn wir wissen sehr genau, dass falsches Führungsverhalten jegliche Motivation, Kreativität und damit Innovation tötet. 2. Weiterhin geht es um so genannte Center-of-Excellence-Kulturen, die substanziell für Innovationen sind. Konkret ist das eine Kundenorientierungskultur, also das Erkennen von zukünftigen Markt- und Kundenwünschen. Wer an den Kunden und dem Markt vorbeiplant, wird kaum Chancen haben. Weiterhin geht es um eine Benchmarkkultur, was bedeutet, sich insgesamt mit den Besten der Welt zu vergleichen. Dies meint nicht, die Besten zu kopieren, denn man sollte seinen eigenen Weg gehen, aber es ist wichtig zu wissen, was die Besten machen. Es geht gleichzeitig um eine Problemlösekul- Seite 11 11 tur, die Probleme mit Lösungen verbindet. Anstatt zu jammern und zu klagen, sollten sich die Menschen über Lösungen und Lösungsmöglichkeiten unterhalten. Es geht um eine Fehlerkultur, also einerseits darum, dass Fehler gemacht werden dürfen (wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht), ohne dafür „geköpft“ zu werden. Gleichzeitig geht es darum, dass aus Fehlern gelernt wird, indem die Ursachen der Fehler professionell aufgedeckt werden: Hier spielt das Stellen der fünf Warum-Fragen (wie bei Toyota) eine wichtige Rolle, um „in den Eisberg reinzukommen“ und zukünftige Fehler zu vermeiden, d.h. man braucht eine Kultur, in der Fehler gemacht werden dürfen, in der Risiko eingegangen werden darf und in der jeweils aus Fehlentwicklungen gelernt wird. Es sollte eine Streit- und Konfliktkultur herrschen, bei der statt Harmonie und Prof. Dieter Frey: „Es geht um das Grundprinzip Wertschöpfung durch Wertschätzung oder Innovation durch ein Höchstmaß an Autonomie und Partizipation.“ 09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt 12.05.2006 8:27 Uhr 12 homogenem Denken Konträres und Querdenken erlaubt sind, denn nur dadurch kommt es zu Teamhöchstleistungen. Es geht um eine Fragekultur, die mit Führen durch Fragen verbunden ist, die aber gleichzeitig auch Fragen der Mitarbeiter zulässt. Sicherlich geht es auch um eine Kultur der Zivilcourage, was bedeutet, dass Menschen den Mut haben, sich zu artikulieren, bezüglich Verbesserungen, Doppelarbeit, Fehlerquellen usw., denn das größte Problem deutscher Unternehmen besteht darin, dass es oftmals gefährlich ist, negative Informationen von unten nach oben zu tragen. Wenn hier Arroganz von Ohnmacht bzw. Opferverhalten mit Arroganz von Macht zusammen trifft, kann dies für das Überleben eines Betriebes tödlich sein. Viele der genannten Kulturen gehen Hand in Hand mit dem, was Popper mit seinem kritischen Rationalismus gefordert hat. Nämlich, dass man durch konstruktive Kritik und Ratio, also durch das Argument, versucht, Fehler auszumerzen und der „Wahrheit“ näher zu kommen. Dazu bedarf es einer offenen Kultur, in der Menschen atmen können und in der letztlich das Argument zählt, statt der Devise ‚Ober sticht Unter‘. Will man Innovationskulturen schaffen, so braucht man zwar auf der einen Seite Hierarchie, aber entscheidend ist ebenso hierarchiefreie Kommunikation, in der auch kritische Punkte, insbesondere von unten nach oben, genannt werden dürfen. Viele Weltmarktführer in Deutschland, die die Globalisierung nicht nur überlebt haben, sondern sich durch sie auch weiter entwickelt haben, leben de facto diese Center-of-Excellence-Kulturen, und meine Hoffnung ist, dass ausgehend Seite 12 Politische Studien-Zeitgespräch von diesen erfolgreichen Firmen viele andere Institutionen in unserer Gesellschaft wie Kindergärten, Schulen, Hochschulen, mittlere Betriebe, Verbände und die Gesamtgesellschaft davon profitieren. Überspitzt könnte man also sagen, der Markt hat das eingefordert, was viele Philosophen schon längst gefordert haben, nämlich eine offene Kultur, in der Mündigkeit möglich ist und Handlungsspielräume gegeben werden. Denn nur in einer solchen Kultur sind Kreativität und Innovation möglich. 3. Schließlich geht es um die Umsetzung ganz spezifischer Methoden und Techniken, die man schnell erlernen kann und die kontinuierliches Vorschlagswesen und Innovationen fördern. Dazu gehört erstens eine laufende Selbstreflexion im Sinne von „Was lief gut?“, „Was lief nicht gut?“ und „Wo muss ich mich selber verbessern?“. Zum Zweiten analog dazu die Teamreflexion. Das Team fragt sich regelmäßig: „Was lief gut?, Was lief nicht gut?, Warum?, Was könnte man nächstes Mal besser machen?“. Wenn Teams die Fähigkeit haben, sowohl auf der Sach- wie auf der Beziehungsebene eine entsprechende Reflexion zu betreiben, entwickeln sie sich kontinuierlich weiter und haben die Chance, Hochleistungsteams zu werden und ständig Innovationen zu generieren. Wichtig ist die Institutionalisierung des Ideen- und Innovationsmanagements, d.h. dass dieses existiert, unabhängig von spezifischen Personen bzw. aktuellen Projekten. Dabei sind alle Institutionen wie Innovationsteams, Qualitätszirkel und Kaizen-Projekte wichtige Einrichtungen, die den Prozess von Innovationen vorantreiben. Dazu bedarf es schließlich auch so genannter Um- 09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt 12.05.2006 8:28 Uhr Politische Studien-Zeitgespräch setzungsbeauftragter oder auch Machtpromotoren für Innovationen, die die Aufgabe haben, Defizite zu erkennen und diese in Verbesserungen zu transportieren. 4. Wir brauchen in deutschen Institutionen auch eine positive mentale Grundhaltung. Die diffuse Gemengelage, die unsere Bürger und die Menschen, die in unseren Institutionen arbeiten, haben, sollte, ähnlich wie in der Physik, in einen negativen und einen positiven Bereich differenziert werden. Menschen, die zum Jammern, Wehklagen und der Betonung von Risiken neigen, sollten zunächst ermuntert werden, dies alles zu artikulieren. Also, wo gibt es Defizite, Schwächen, Risiken, Sorgen, Ängste? Dann ist es die Aufgabe der Führung, zur Reflexion aufzufordern. Wo gibt es Chancen, Vorteile, Entwicklungsmöglichkeiten, Potenziale? Es ist verkehrt, über Indoktrination und Appelle die Menschen zu einem „think only positive“ oder „be optimistic“ bringen zu wollen. Entscheidend ist, die Koexistenz des Negativen und Positiven zu bewahren und sich durch das Negative nicht runterziehen zu lassen, sondern sich auf das Positive zu fokussieren und beim Negativen zu unterscheiden, wo man Dinge verändern kann und wo nicht. Das zunächst Nicht-Veränderbare sollte hingenommen werden, anstatt zu jammern und zu klagen. Die veränderbaren negativen Dinge sind ja auch ein Anschub für Innovationen. Die Konzentration auf das Positive, verbunden mit der Konzentration auf veränderbare negative Dinge mag, wenn es gut getrennt ist, den Schub geben, den kontinuierlichen Verbesserungsprozess, manchmal auch den Quantensprung, der Innovationen erzeugt. Verheerend ist immer Seite 13 13 nur die diffuse Gemengelage, die Menschen dazu bringt, in Lethargie zu verfallen bzw. zu verharren. Wir plädieren also dafür, dass die Multiplikatoren der Gesellschaft, egal ob sie in den Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Betrieben oder Verbänden tätig sind, zur Klärung im Kopf beitragen, also klar trennen zwischen negativen und positiven Bereichen, um anschließend durch eine Fokussierung auf den positiven Bereich Dinge zu bewegen, ohne dass das Negative tabuisiert wird. Die veränderbaren negativen Dinge können gleichzeitig parallel die Triebfeder der Veränderung sein. Politische Studien: An Ideen fehlt es nicht – bei den Patentanmeldungen liegt Deutschland weltweit an vierter Stelle. Deutschland ist innovationsstark. Wo sehen Sie dennoch Reformbedarf? Dieter Frey: Wir sind gut, wir sind akzeptabel, was die Kreativität betrifft, aber wir sind mit Sicherheit nicht gut in der Umsetzung. Nach wie vor kann man sagen, dass unsere Menschen hochkreativ sind, aber die Ideen werden zu wenig abgerufen, weder in den Kindergärten, noch in den Schulen, Universitäten oder Firmen. Hier gilt der Spruch „Keiner weiß so viel wie alle“. Dabei gibt es ja viele positive Beispiele von Firmen, die ein hervorragend funktionierendes Vorschlagswesen, Ideenoder Innovationsmanagement haben, was letztlich nichts anderes bedeutet, als die konkreten Verbesserungsvorschläge, die in den Köpfen der Menschen sind, herauszukitzeln, zum Beispiel durch richtiges Fragenstellen (Porsche bildet seine Führungskräfte intensiv aus im richtigen Fragenstellen), diese Ideen zu bündeln und dann 09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt 12.05.2006 8:28 Uhr 14 umzusetzen. Wir müssten also unsere Führungskräfte, auch unsere Lehrer und Kindergärtnerinnen, viel stärker ausbilden im richtigen Fragenstellen. Statt Kinder, Schüler, Studierende und Mitarbeiter zu belehren, geht es darum, Interesse zu wecken und Fragen zu stellen, die mit der Lebenswelt zu tun haben. Dann kann man sehr viele neue kreative Ideen aus den Köpfen herauskitzeln. Der andere Punkt ist, dass Deutschland in mehreren Dingen schlecht in der Umsetzung ist. Oft werden die Ideen, die Firmen haben, zum Beispiel Prozessoptimierung, nicht umgesetzt, was teilweise am falschen Führungsverhalten liegt. Die Menschen werden im Vorfeld nicht einbezogen. Bedenken werden wenig geäußert, Freiräume kaum gegeben, sodass nachher, wenn die Entscheidung von oben vorgegeben wird, natürlich die Implementierung defizitär ist. Jeder macht dann das, was er machen will und man spricht mit unterschiedlichen Stimmen. Besser wäre eine Unterscheidung zwischen vor und nach der Entscheidung: Vor der Entscheidung gibt man den Menschen Freiräume. Sie sollen unterschiedliche Entscheidungsalternativen produzieren, diese mit Pro und Contra diskutieren, ihre Skepsis äußern können. Dann wird eine Entscheidung getroffen und von der Führungskraft begründet, unter Einbeziehung der Betroffenen. Dann kann man in der Umsetzung auch Loyalität und Solidarität erwarten. Diese Art von Partizipationskultur ist in Deutschland aber defizitär, was insgesamt damit zu tun hat, dass hier überwiegend schlecht geführt wird. Dies liegt auch daran, dass in den Schulen und Hochschulen zu wenig Gewicht auf professionelle Menschenführung gelegt wird. Seite 14 Politische Studien-Zeitgespräch Die andere Seite der mangelnden Implementierung besteht darin, dass wir in den Schulen und Hochschulen zu wenig Praxisbeispiele vermitteln, wie Ideen in Produkte transformiert werden können. Hier haben uns andere Länder vieles voraus. Notwendig wäre, dass flächendeckend in den Schulen und Hochschulen Menschen lernen, wie man eine Idee in ein Produkt transportiert, welche Stolpersteine dabei vorkommen, wie man einen Businessplan formuliert. Wir müssen in den Universitäten neben der Vermittlung von Wissen stärker Handlungskompetenzen und praktisches Arbeiten (etwa in Form von Projektarbeit) betonen. Last but not least haben wir durchaus auch einen Reformbedarf in den Firmen. Zu oft hat man das Gefühl, dass die Zusammenarbeit zwischen Firmen, Universitäten und Patentämtern defizitär ist. Firmen, insbesondere auch Mittelstandsunternehmen, müssten viel stärker ihre Berührungsängste den Hochschulen gegenüber abbauen. Und umgekehrt genauso. Idealerweise stelle ich mir vor, dass wir mit drei „Börsen“ arbeiten, nämlich • einer Wissenschaftsbörse bzw. Knowhow-Börse, in der die Wissenschaftler verstärkt transparent machen, welches Know-how sie haben, • Firmen, die verstärkt Problembörsen etablieren und dort verdeutlichen müssten, für welche Probleme und Fragestellungen sie Know-how suchen bzw. benötigen und • schließlich Vermittler, die beide Seiten zusammen bringen. Es ist ein Jammer, wie viele Ideen, auch in den Universitäten, brach liegen, weil die Vernetzung nach draußen zu gering 09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt 12.05.2006 8:28 Uhr Politische Studien-Zeitgespräch ist, weil sowohl bei Professoren wie bei Studenten ein Defizit bei der Umsetzung von Ideen in Produkte besteht. Wir müssen diese „Elfenbeintürme“ sowohl von Seiten der Firmen wie der Universitäten reduzieren. Und genau dieses Thema müsste laufend Gegenstand von Diskussionen und Foren in Universitäten und Firmen sein. Ebenso müssten Best-Practice-Beispiele in den Medien veröffentlicht werden. Hinzu kommt noch ein weiterer Punkt: Wir haben oft sehr kreative Köpfe in den Firmen, die gute Ideen haben, die aber unentdeckt vor sich hin schlummern. Die Vorgesetzten in den Vorständen, oft hervorragende Juristen oder Finanzfachleute, haben oft nicht die Sensibilität einzuschätzen, ob etwas innovationsträchtig ist oder nicht. Manchmal wünschte ich mir, dass die Entscheider in den Firmen nicht nur nach kurzfristigem Profitdenken orientiert sind, sondern langfristig, und dass das Topmanagement mehr Verständnis über Recht und Betriebswirtschaft hinaus hat. Wir brauchen in unseren Führungsetagen in Zukunft weniger Juristen und Betriebswirte und etwas mehr Naturwissenschaftler, die mehr Verständnis für ihr Produkt haben. Es gibt aber noch ein weiteres Problem in den Firmen: Wir haben hier teilweise schon kreative Erfinder, die aber ihre Ideen innerhalb der Organisation nicht umsetzen können, weil sie nicht zur augenblicklichen Kernkompetenz der Firma passen. Hier müsste eigentlich das Konzept von Intrapreneuring ein stärkeres Gewicht haben, d.h., dass der Kreative sich zusammen mit einem Team innerhalb eines Unternehmens selbstständig macht, quasi eine Tochtergesellschaft bildet, an der er teilwei- Seite 15 15 se beteiligt ist. Die eigene Gesellschaft bleibt die Muttergesellschaft und ist zur Hälfte beteiligt. Man würde dann schauen, inwieweit bestimmte Ideen, die der Initiator, der Kreative, hat, zu einem marktfertigen Produkt transportiert werden können. Das wäre für alle Beteiligten, sowohl für die Kreativen als auch für die Muttergesellschaft wie für die Gesellschaft, ein Vorteil und könnte ein großes Potenzial an neuen Arbeitskräften schaffen. Das Konzept des Intrapreneuring wird in Deutschland viel zu wenig forciert. Hier ist noch sehr viel Potenzial vorhanden. Wo müssten in diesem Prozess von Innovationen die Universitäten zulegen? Die Hochschulen spielen für mich eine ganz zentrale Rolle. Ich sehe eigentlich drei Bereiche: • Eine flächendeckende Ausbildung in professioneller Menschenführung. Innovationen haben sehr viel mit Menschenführung zu tun. Menschen sollten ihre Arbeiten so tun können, dass sie dabei Herzblut empfinden. Das ist, entsprechend der BMW-Philosophie, Wertschöpfung durch Wertschätzung. Dazu ist es natürlich notwendig, dass man schon Studierende dahingehend ausbildet, wie man mit Menschen umgeht, wie man zuhört, wie man motiviert, Konflikte reguliert usw. Es ist zu spät, wenn man dies alles erst in den Firmen lernen will bzw. muss. Diese Inhalte können in einem Studium Generale schon an den Hochschulen vermittelt werden. • Es ist doch verheerend, wie elfenbeinturmähnlich die Lehrstühle an den Universitäten organisiert sind. Wir brauchen schon im Studium viel mehr interdisziplinäres Denken. Es müsste doch möglich sein, viel mehr 09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt 17.05.2006 10:10 Uhr 16 als bisher Lehrveranstaltungen anzubieten, in denen die Disziplinen mehrerer Fächer zusammenarbeiten. Dies wird beispielsweise im Rahmen der Bayerischen Eliteakademie schon umgesetzt, wo etwa BWLer Techniktage besuchen und unsere Techniker BWL lernen. • Weiterhin müssten wir an den Universitäten, in einem Studium Generale, Grundkenntnisse über Innovationen vermitteln: die Geschichte der wichtigsten Erfindungen, die Geschichte von Misserfolgen bei Erfindern, Wissen und Handlungskompetenzen über förderliche und hinderliche Bedingungen von Innovationen. All dies ist für unser rohstoffarmes Land so fundamental; davon hängt unsere Zukunft ab. Schon in den Universitäten müsste der Grundstock dafür gelegt werden, und mit etwas Phantasie ist dieses auch leistbar. Die Universität ist die Institution, die das Wissen für morgen transportieren muss. Politische Studien: Wir verzeichnen einen Innovationsstau im Bereich der Sozial- und Gesellschaftspolitik. Welche gesellschaftlichen Innovationen sind in Ihren Augen in den nächsten Jahren dringend in Gang zu bringen? Dieter Frey: Die Bevölkerung sieht, dass sich etwas bewegen muss. Wir wissen aber von der Innovationsforschung, dass sich nur etwas bewegt, wenn Menschen erkennen, dass Veränderungsdefizite vorhanden sind, diese aber auch überwunden werden können. Beides scheint mir im Moment gut gegeben. Dazu betrachten die Menschen die Große Koalition jetzt auch als Chance, um mit vereinten Kräften Quantensprünge zu erreichen. Funda- Seite 16 Politische Studien-Zeitgespräch mental geht es darum, ein Bewusstsein zu schaffen, dass wir in Deutschland oder gar Europa zwei Grundwerte verteidigen müssen, nämlich die sozioökologische Marktwirtschaft und unsere Demokratie und dass wir auch in Zeiten der Globalisierung weder amerikanische noch chinesische Verhältnisse haben wollen. Somit stellt sich die Frage, was können und müssen wir dringend tun, um unter Wahrung dieser Grundwerte, die Deutschland und Europa prägen, innovativ sein zu können? Und hier geht es zunächst mal um Bildung. Wir werden unseren Lebensstandard nicht erhalten können, wenn wir 10–20% Analphabeten haben. Diese werden das Analphabetentum auch in die nächste Generation weitergeben, und mit einer schlechten Ausbildung kommt man nicht weiter. Bildung hat deshalb oberste Priorität. Das bedeutet eine völlige Reformierung von Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Betrieben. Die Kindergärten müssen technikfreundlicher werden, Fremdsprachen vermitteln dürfen, ohne das Grundsystem von Kindergärten zu verändern. Die Schulen müssen lebensnaher ausbilden, mehr Neugierde wecken und natürlich auch technikfreundlicher werden. Die Hochschulen müssen den Menschen stärker vermitteln, wie Ideen auch in Produkte transformiert werden können, ohne zu praxeologisch zu werden. Letztlich erreichen wir dies aber nur durch eine schonungslose Ist-Analyse, durch Diskussionen über den Soll-Zustand und Visionen darüber, wie unsere Gesellschaft der Zukunft aussehen soll. Mit welchen möglichen Szenarien erreichen wir das? Hier wäre es wünschenswert, dass die Universitäten, die 09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt 12.05.2006 8:28 Uhr Politische Studien-Zeitgespräch Intellektuellen, einen viel größeren Beitrag leisten. Im Kern hat vieles mit einer Entbürokratisierung und Deregulierung zu tun. Viel zu sehr sind wir geprägt von Juristen und Ausnahmefällen. Dinge zu vereinfachen heißt sowohl neue Ungerechtigkeiten zu schaffen als auch andere zu vermeiden, aber es wäre auf jeden Fall für die Menschen transparenter. Es geht um die Vermittlung von Sinn (warum und wieso), um Transparenz und dass Menschen mitgestalten können. Politische Studien: Jede Innovation verursacht Verlierer. Welche Empfehlungen der Fairnessforschung könnten Fehlentwicklungen und Sozialkosten mindern helfen? Dieter Frey: Es gibt bekannterweise vier Arten von Fairness: Ergebnisfairness, prozedurale Fairness mit Voice, informationale Fairness und interaktionale Fairness. • Ergebnisfairness besagt, dass Menschen erwarten, dass ihre Inputs mit den Outputs korrespondieren. Wir haben aber das Problem, dass Menschen ihren In- und Output unterschätzen und dass die Ressourcen immer knapper werden. Folglich ist Politik auch ein Management von Enttäuschungen. • Der nächste Punkt ist prozedurale Fairness: Die Politik und die Multiplikatoren der Gesellschaft müssen die Prozedur der Veränderungen viel transparenter machen. Nicht nur, dass die Veränderungen auch von den Opfern als fair betrachtet werden Seite 17 17 können, sondern auch die Kriterien müssen transparent gemacht werden und man muss die Menschen möglichst einbeziehen, sie müssen eine Stimme (Voice) haben. • Der dritte Aspekt ist informationale Fairness: Ganz zentral ist, den Menschen die negativen Daten zu bringen. Sie müssen Planungssicherheit haben. Dort, wo nur rosarot geschildert wird und man nur die Vorteile aufzeigt, nicht aber die Nachteile, wird man die Menschen verlieren. Man muss also immer zweiseitig informieren, damit ist man auch glaubwürdiger. • Schließlich geht es darum, interaktionale Fairness zu erreichen, also mehr Austausch von Politik und Verwaltung und Institutionen, dort, wo man die Leute durch Netzwerke erreicht, sodass Menschen sehen, es ist interaktionale Fairness vorhanden. Je höher das Vertrauen in einen Staat ist, und dieses entsteht durch die genannten vier Fairnessarten, umso eher sind Menschen auch bereit, Opfer zu bringen. Schon Nietzsche sagte, Menschen sind bereit, nahezu alles zu ertragen, wenn sie nur wissen, warum. Und wie ein Chirurg muss man in der Politik oft von der Notwendigkeit überzeugen, dass Einschnitte gemacht werden müssen, um die Zukunft zu bewahren. Manchmal tut es weh, aber es ist die einzige Chance, damit es gut wird und bleibt. Politische Studien: Herr Professor Frey, wir danken Ihnen für das Gespräch. Das Interview führte Prof. Dr. Siegfried Höfling, Referent für Technologie und Zukunftsfragen der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der HannsSeidel-Stiftung e.V., München. 09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt 12.05.2006 8:28 Uhr Seite 18 Schwerpunktthema Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus? Die Bedeutung nationaler Identität zu Beginn des 21. Jahrhunderts 19-20_Einführung 12.05.2006 8:28 Uhr Seite 19 Einführung Philipp W. Hildmann Verfemte Begriffe melden sich zurück, wenn die Zeit sie braucht. Dazu gehört in unseren Tagen offenkundig der Patriotismus-Begriff, der quer durch die bundesrepublikanische Parteienlandschaft eine ungeahnte Renaissance erlebt. Im Gefolge der 68er-Bewegung stigmatisiert, oftmals simplifizierend mit Nationalismus gleichgesetzt und als rechtsextrem oder zumindest reaktionär diskreditiert, sind derzeit allerorten tastende Versuche zu beobachten, das totgesagte Wort wieder positiv zu konnotieren und mit konkreten Inhalten zu füllen. Als Mitauslöser für diese Entwicklung gelten die Widersprüche, welche die politisch-kulturelle Situation der Gesellschafts- und Staatenwelt zu Beginn des 21. Jahrhunderts kennzeichnen.1 Während auf der einen Seite infolge der Auflösung der Sowjetunion und ihres hegemonialen Paktsystems in Mittelost- und Osteuropa eine Auferstehung des Nationalen zu verzeichnen ist, beobachten wir auf der anderen Seite des Spektrums eine zunehmende Globalisierung politisch-ökonomischer Problemlagen, wachsende internationale Verflechtungen, den Ausbau supranationaler politischer Kompetenzen und in der Folge einen zunehmenden Funk- tionsverlust des klassischen Nationalstaats. Diese divergierenden Prozesse, einhergehend mit Wahlerfolgen regionalistischer, separatistischer und populistischer Parteien im Osten wie im Westen Europas, erzeugen neue Unsicherheiten hinsichtlich der alten Überlegungen nach dem Verhältnis von Partikularismus und Universalismus, von Nationalismus und Patriotismus und bündeln sich in der existenziellen Frage: Was hält unsere Gesellschaft eigentlich noch zusammen, was stiftet jenseits der Rechtsordnung Zusammengehörigkeit und Gemeinwohlbezogenheit? Im Unterschied zu unseren Nachbarn, die sich ganz selbstverständlich mit ihrem Land, seiner Geschichte, seinen Traditionen, seiner Kultur identifizieren, tun wir uns in Deutschland angesichts unserer gebrochenen jüngsten Vergangenheit schwer mit diesem Thema. So zeigen die Reaktionen auf den nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten geäußerten Satz Horst Köhlers „Ich liebe unser Land“, dass der Umgang mit der Vaterlandsliebe, denn nichts anderes heißt diese neulateinische Bildung ja in deutscher Übersetzung, bei uns keineswegs unverkrampft ist. Bezweifelte ein Teil der Bevölke- Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 19-20_Einführung 12.05.2006 8:28 Uhr Seite 20 Philipp W. Hildmann 20 rung, dass ein Mitglied der deutschen Führungselite einen solchen Satz überhaupt sagen dürfe, fand ihn eine Mehrheit doch richtig und erfreulich. Zustimmung wurde spürbar, dass Empfindungen wie Liebe, Zuneigung und Sympathie, die Menschen üblicherweise an ihre Heimat, an ihre Region, an ihr kulturelles Lebensumfeld und darüber hinaus auch an ihre Muttersprache und ihr Vaterland binden, vom Bundespräsidenten in neuer Unbefangenheit artikuliert wurden. Dabei ist die Suche nach einer inhaltlichen Präzisierung der Rede von einem aufgeklärten Patriotismus in scharfer Abgrenzung zu einem exklusiven Nationalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine intellektuelle Schattenfechterei oder rein wahltaktisches Kalkül, sondern sie ist angesichts der bedenklichen Erosion der bürgerschaftlichen Fundamente des deutschen Gemeinwesens und der anstehenden Veränderungen in unserer Umbruchzeit dringend geboten. Darüber hinaus sollten wir Leitbegriffe wie Heimat, Nation und Vaterlandsliebe nicht den Falschen überlassen. Als dem 1938 aus Deutschland vertriebenen Historiker Fritz Stern vor kurzem der Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung verliehen wurde, warnte er zu Recht vor der „Gefahr eines unbehaus- ten Nationalgefühls“ und wies zugleich darauf hin, dass ein nationales Bewusstsein von fundamentaler Bedeutung für eine Gesellschaft sei, denn kein Staat könne ohne die loyale Unterstützung seiner Bürger existieren. Nicht zuletzt aus diesen Gründen hatte die Akademie für Politik und Zeitgeschehen im Dezember 2005 in Berlin unter der Leitfrage „Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus?“ die beiden Historiker Hans-Ulrich Wehler und Hans-Peter Schwarz zu einem Gespräch über die Bedeutung nationaler Identität zu Beginn des 21. Jahrhunderts geladen. Die dort gehaltenen Referate wurden für den Druck nun mit weiteren Aufsätzen flankiert. So schreibt Christoph Böhr aus der Sicht des christdemokratischen Politikers, Hansrudolf Kamer blickt von Zürich, Hagen Schulze von London und Jürgen Henkel von Bukarest aus auf die Situation in Deutschland. Nicht „des Zopftums neueste Phase“ (Heinrich Heine) einzuläuten, sondern in positiver Weise zu einer Präzisierung der notwendigen Debatte um einen aufgeklärten Patriotismus im Rahmen einer europäischen Leitkultur beizutragen, ist das erklärte Ziel der im folgenden Schwerpunkt versammelten Beiträge. Anmerkung 1 Vgl. Kronenberg, Volker: Patriotismus heute – eine ernsthafte Debatte über Gemeinsinn in Deutschland tut Not, in: Politische Studien 400 (2005), S.82–92; so- wie grundlegend Kronenberg, Volker: Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation, Wiesbaden 2005. 21-25_Wehler 12.05.2006 8:30 Uhr Seite 21 Ein aufgeklärter Patriotismus – Über die Identitäten der Deutschen und die Gefahr neuer Subkulturen* Hans-Ulrich Wehler Die deutsche Identität und die Frage, ob wir eine deutsche Leitkultur brauchen, lösen in jüngster Zeit intensive Debatten aus. Leider kommt es in der Auseinandersetzung darüber manchmal zur Vermischung der Begriffe Nationalismus und Patriotismus. Dabei muss man beide scharf auseinander halten: Im Gegensatz zum Patriotismus ist der Nationalismus eine gefährliche Vorstellung, die abgewirtschaftet hat. In der Vorstellung, die wir uns vom Nationalismus machen, hat es in den letzten 20 Jahren einen Paradigmenwechsel gegeben. Die ältere Lehre beruhte darauf, dass seit der Völkerwanderung keimartig die Entwicklung zur Nation angelegt gewesen sei, sich allmählich entfaltet habe und im Nationalstaat zu voller Blüte gekommen sei. Bis in die Achtzigerjahre hinein herrschte diese Denkfigur vor. Dem lag ein fast schon marxsches Verständnis zu Grunde: Die Nation als Basis treibe allmählich ein Ideensystem hervor, das Nationalbewusstsein oder, in der Sprache der internationalen Geschichts- und So- zialwissenschaft heute den Nationalismus. Die neue Debatte seit den frühen Achtzigerjahren wendet sich von dieser biologistischen Evolutionslehre scharf ab und betont, dass es sich bei Nationalismus und Nation um Phänomene der Neuzeit handelt, die höchstens 300 Jahre alt sind. Nachdem es jahrtausendelang Loyalitätsbindungen an den Familienclan, die Polis, den örtlichen Adligen oder die Heimatstadt gegeben hat, kommt es zu einer plötzlichen Änderung: Der Nationalismus entwickelt sich als Antwort auf eine Umbruchsituation, die Herrschaftssysteme erschüttert und Weltbilder erodieren lässt. In der puritanischen Revolution wird erstmals die Vorstellung eines neuen auserwählten Volkes mit der britischen Insel als gelobtem Land und der historischen Mission formuliert, der Welt als Vorbild zu dienen. In den transatlantischen Kolonien wird dieses Gedankengut, das die ausgewanderten Puritaner Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 21-25_Wehler 12.05.2006 8:30 Uhr Seite 22 22 mitgebracht haben, zu einem verbindlichen Konsens. Das gelobte Land ist der neue Kontinent, die Eingeborenen sind die Kinder des Satans, die man vernichten darf. Die vereinigten Kolonien verstehen sich als „the first new Nation“. Und dieses puritanische Commonwealth formuliert für sich eine weltgeschichtliche Mission. Dort entsteht ein geistiges Klima, dessen Auswirkungen man heute noch in den Reden des jüngeren Bush verfolgen kann. Wahn vom auserwählten Volk In Deutschland erleben wir als politische Erschütterung den Verfall der rund 1700 Herrschaftsgebiete unter dem Andrang Napoleons. Auch wirtschaftlich verändert sich Grundlegendes. In dieser Situation ergreift eine Gruppe von Intellektuellen die neue säkulare Religion und verkündet sie den Deutschsprachigen. Diese frühe Nationalbewegung besteht aus nicht mehr als 1000 bis 1200 Intellektuellen. Nachdem die Adligen die Gefahr für ihre Privilegien erkannt haben, kommt es zu einer Repressionsphase; nach der gescheiterten Revolution von 1848 folgt eine zweite Welle der Unterdrückung. Das italienische Beispiel der nationalen Einigung zeigt aber, dass ein Erfolg möglich ist, und inspiriert die deutsche Nationalbewegung neu. Bismarck hat die Nationalliberalen von 1848 gehasst, aber er sagt schon 1858: „Preußische Politik kann man nur noch mit Hilfe der nationalen Bewegung machen.“ Erst nach dem Sieg über Frankreich 1871 beginnt in meinen Augen der wirkliche Prozess der Bildung einer kleindeutschen Nation. Man kann ihn juristisch, administrativ Hans-Ulrich Wehler und in der Indoktrination bis hin zu den Lehrplänen der Schulen verfolgen. Im Ersten Weltkrieg wird er enorm beschleunigt. Der Schock der Niederlage von 1918, die als Knechtung erlebte Erfahrung des Versailler Vertrages laden den Nationalismus in einer traumatischen und ressentimentgeladenen Form auf. Am Ende der Weimarer Republik kann Hitler den radikalen Nationalismus mobilisieren und Millionen von Wählern gewinnen. Auch später bedient er immer wieder aufs Neue dieses tief gekränkte Nationalgefühl. Das Fatale am Nationalsozialismus ist, dass er den kulturellen Auserwähltheitsglauben des deutschen Bildungsbürgertums unterwandert mit der Vorstellung der auserwählten Rasse. 1945 war die totale Niederlage nicht zu leugnen, und damit war der deutsche Nationalismus an sein historisches Ende gekommen. Nur am Narrensaum der deutschen Politik gab es danach noch Versuche, das zu leugnen. Aber im Grunde genommen hat der Nationalismus seine legitimierende und integrierende Kraft verloren. Keine politische Weichenstellung in der Bundesrepublik ist unter alten nationalpolitischen Gesichtspunkten erfolgt. Das große Erfolgserlebnis der politischen Kultur der Bundesrepublik ist, dass sie auch in der außergewöhnlichen Phase der Wiedervereinigung und danach ohne die Mobilisierung von Nationalismus ausgekommen ist. Man kann am deutschen Beispiel lernen, dass der Nationalismus auf dreifache Weise gescheitert ist. Er hat die ursprüngliche Verheißung, die Nationsgenossen zusammenzuführen, dementiert durch ständige Exklusionen 21-25_Wehler 12.05.2006 8:30 Uhr Seite 23 Ein aufgeklärter Patriotismus von ungewollten Bevölkerungsteilen. Das zweite Versprechen, die friedliche Koexistenz der Nationalstaaten, wurde durch blutige Nationalkriege widerlegt. Und er hat den Anspruch auf Exportfähigkeit verloren, denn in Asien und Afrika erweist sich der „Transfer-Nationalismus“ als Fehlschlag. Die Deutschen sollten die Überwindung des Nationalismus als Gewinn betrachten, nichts spricht dafür, freiwillig die Rückkehr zu versuchen. Auch der sehr schmerzliche Prozess, sich über rund 20 Jahre hinweg der nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen, ist nicht etwa eine Schwächung. Ich halte das für einen Erfolg, der mit zum Identitätsbewusstsein der Deutschen gehören sollte. Engagement der Patrioten Patriotismus ist etwas völlig anderes als Nationalismus. Er scheint mir die natürliche Reaktion auf Umwelt, Heimat, Region, in der man groß wird, zu sein. Das hat nichts mit dem Anspruch des Nationalismus zu tun. Patriotismus wurde in Deutschland zunächst im Zeitalter der Aufklärung aufgegriffen und umgesetzt etwa in den „Patriotischen Gesellschaften“ von Hamburg oder Lüneburg. Es waren in der Regel Bildungsbürger, die ihre unmittelbare Umgebung, ihre Heimatstadt fördern wollten. Da wurde Geld gesammelt, sozialpolitische Aktivitäten fanden statt, Zeitungen wurden gegründet. Sich für seine Umgebung, seine Mitmenschen einzusetzen, war die ursprüngliche Vorstellung von Patriotismus, die Kant und andere geteilt haben. Und natürlich kann man in der Bundesrepublik von Patriotismus sprechen 23 und sich darauf beziehen. Im Gegensatz zur Erfindung der Nation, die kein naturwüchsiges Produkt ist, sondern nach einer berühmten Formulierung durch den Nationalismus erst geschaffen wird, ist der Patriotismus etwas, was man in der Familie, in der Schule, in der ganzen Sozialisation aufnimmt. Damit identifiziert man sich schon durch das Medium der Sprache. Im Hinblick auf das Großwerden in einem solchen Gefühl sehe ich überhaupt keinen Unterschied zwischen der Bundesrepublik und den anderen westeuropäischen Ländern. Dieser Begriff ist auch nicht so belastet wie der Nationalismus mit seinen Auserwähltheitsvorstellungen und der Exklusion derer, die man nicht gerne in der Nation hat. Ein Plädoyer für einen aufgeklärten Patriotismus ist vertretenswert. Kommen wir noch einmal zurück auf unser Identitätsbewusstsein. Bei der Debatte über die eigene Identität hat sich herausgeschält, dass wir in der Regel mehrere Identitäten haben. Nehmen wir als Beispiel einen Kölner Handwerksmeister von 1914: Er ist Rheinländer, Katholik, Kolpingsohn, fühlt sich als Rheinpreuße, ist durch die Zeit im Kaiserreich auch deutschnational und glaubt, man müsse gegen den russischen Überfall das Vaterland verteidigen. In seinem Inneren hat er mehrere Identitäten. Heute bestehen der Unterschied und Gewinn zur damaligen Situation darin, dass die nationale Komponente der Identität verdrängt und ganz stark zurückgetreten ist. An ihre Stelle ist eben ein aufgeklärter Patriotismus getreten. Ich glaube auch, dass zu ihm ein Gefühl von europäischer Identität gehört, das in großen Teilen schon existiert. 21-25_Wehler 12.05.2006 8:30 Uhr Seite 24 24 Wenn man mit Studenten aus Polen, den baltischen Ländern oder Süditalien diskutiert, gibt es eine Summe von Gemeinsamkeiten, auf die man sich schnell einigen kann. Die gibt es, weil wir einem Kulturkreis angehören, in dem bestimmte vereinheitlichende Wirkungen gegeben sind. Dazu zählt auch das Christentum. Auf Grund unserer historischen Prägung gibt es eine Summe von Gemeinsamkeiten, die ein jetzt schon in den EU-Ländern weit verbreitetes europäisches Identitätsgefühl begründen, als Teil unserer multiplen Identität. Dieses Gefühl ist ausbaufähig. Die Tatsache, dass viele Menschen in den Referenden zum EUVertrag mit Nein gestimmt haben, spricht nicht dagegen. Im Kern waren dies Stimmen gegen eine überzogene Expansion der EU, die mit dem Beitritt der Türkei noch vorangetrieben würde. Die Deutschen haben nach dem Kollaps von 1945 auf die Europapolitik gesetzt, nirgendwo sind die Menschen so europabegeistert gewesen wie bei uns, weil hier ein Vakuum entstanden war. Diese anfängliche Begeisterung hat nachgelassen, was auch ein Generationenphänomen ist. Aber es gibt längst eine dem Nationalismus überlegene Programmatik: Die Funktionsfähigkeit des Verfassungsstaats, die Bewahrung des Rechtsstaats und auch der Sozialstaat, selbst wenn er jetzt umgebaut werden muss, bestimmen die Identität der Bürger im Alltag und nicht die Erinnerung an nationale Größe und Vergangenheit. Präsent bei uns ist auch, was wir als europäisches Unikat genießen, ein System aus Werten, Verhaltensweisen, Vorstellungen, Konventionen. Nicht zuletzt ist den Deutschen der Abschied vom Nationalismus durch einen außerordentlich erfolgrei- Hans-Ulrich Wehler chen Föderalismus erleichtert worden. Es gibt also starke bindende und integrierende Kräfte, die ein selbstbewusstes Identitätsgefühl ohne Rückgriff auf Nationalismus ermöglichen. Dies zu vertreten und es auch den nach Deutschland kommenden Migranten zu vermitteln ist für ein großes Einwanderungsland wie die Bundesrepublik völlig legitim. Man findet nicht einen Amerikaner, der bereit wäre, gegenüber den Millionen von Latinos darauf zu verzichten, dass amerikanische Verfassungspolitik und das kulturelle Erbe von Shakespeare bis Updike Teil der eigenen Leitkultur sind. Von den „Neuen“ erwartet man, dass sie diese absorbieren. Das amerikanische Gemeinwesen ist bisher auch ganz erfolgreich damit gewesen. Dasselbe findet man in anderen Nationen. Insofern fand ich die Forderung von Friedrich Merz nach einer deutschen Leitkultur banal. Aber sie kommt natürlich unter Beschuss, wenn ein Hegemonieanspruch darin stecken sollte. Nur ist der mit dem eigentlichen Anliegen nicht verbunden. Es geht um Integration. Die hat in Deutschland auf verblüffend erfolgreiche Weise stattgefunden: Zwischen 1945 und 2000 kommen 14 Millionen deutscher Flüchtlinge und Vertriebene in diesen schmalen Landstreifen der alten Bundesrepublik. Nur zwei Jahrzehnte vorher hat Hans Grimm noch den Roman „Volk ohne Raum“ geschrieben! Seit den Sechzigerjahren kommen sieben Millionen Ausländer. Auch die werden, obwohl sie nicht den sprachlichen und kulturellen Hintergrund haben, den die Vertriebenen mitbringen, im Grunde genommen erstaunlich gut integriert. 21-25_Wehler 12.05.2006 8:30 Uhr Seite 25 Ein aufgeklärter Patriotismus Werte und kulturelles Erbe Heute aber müssen wir uns neuen Problemen stellen und verhindern, dass es in städtischen Problemvierteln zu einer Subkultur kommt. Es gibt auch ein Versagen des Einwanderungslandes, das nicht rechtzeitig gesehen hat: Wir importieren nicht einfach nur Arbeitskräfte. Wenn wir uns nicht mit kostspieligen Programmen um Integration bemühen, kann ein Subproletariat entstehen, das sich in die deutsche Gesellschaft nicht mehr eingliedern lässt. Der frühzeitige Spracherwerb, der jetzt in einigen Bundesländern gefördert und verlangt wird, ist der erste Schritt. Man 25 muss den Menschen darüber hinaus klar machen, dass ein Land wie die Bundesrepublik nicht auf eine leitende Kultur verzichten kann. Die kann und darf sich nicht auf den Verfassungspatriotismus reduzieren. Es geht um mehr: um die Stellung von Mann und Frau, die Vertrautheit mit dem kulturellen Erbe. Dazu muss man stehen und dafür kämpfen und sich nicht beleidigt zurückziehen, wenn Gegenwind kommt. Es gibt ein schönes Wort von Max Weber – eigentlich stammt es von Hegel – „Es werden große Dinge nur geschaffen, wenn sie mit Leidenschaft betrieben werden.“ Anmerkung * Der Text beruht auf einer Rede bei einer Diskussionsveranstaltung der Konrad-Adenauerund der Hanns-Seidel-Stiftung am 15.12.2005 in Berlin. 26-31_Schwarz 12.05.2006 8:31 Uhr Seite 26 Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus? Hans-Peter Schwarz Patriotismus heißt zu Deutsch Vaterlandsliebe. Das ist weniger als die Extremform des Nationalismus, aber mehr als bloß emotionale Sympathie für das Land, in dem man geboren und aufgewachsen ist oder dem man sich als Einwanderer verbunden fühlt. Der Begriff beinhaltet auch die Bereitschaft, eigene Interessen dem Wohl des Vaterlands unterzuordnen, ihm notfalls selbstlos zu dienen und Opfer zu bringen. Dem liegt zumeist die Erwartung zu Grunde, dass ein Gemeinwesen, dem es gut geht, auch dem einzelnen Bürger am meisten nützt. Etwas überhöht formuliert könnte man sagen: Im Patriotismus befindet sich der individuelle Eigennutz auf dem Weg zur sittlichen Idee. Der Blick auf die heutige Wirklichkeit zeigt allerdings, dass sich der Patriotismus oft auf recht unterschiedliche politische Einheiten richtet. Man muss kurz darauf eingehen, weil mancherorts eine Neigung besteht, gewisse subnationale oder übernationale Patriotismen gegen den Patriotismus im Nationalstaat auszuspielen. Wir alle kennen den Lokalpatriotismus, die oft naive Liebe zu der größeren oder kleineren Stadt, in der man aufgewachsen ist. In Deutschland ist der Lokalpatriotismus besonders auffällig, wenn die jeweilige Großstadt auf Grund einer Laune der Geschichte ein kleines Bundesland ist – Bremer Lokalpatriotismus, Hamburger Lokalpatriotismus, Berliner Lokalpatriotismus. Doch was bewirkt der Lokalpatriotismus? Ich fürchte: wenig. Die Zeit, in der die Kommunen Gemeinwesen waren, von denen starke Impulse ausgehen konnten, ist lange vorbei. Es fehlen sowohl die Mittel wie die Zuständigkeiten zu weitreichender Gestaltung. Daneben beobachten wir den Regionalpatriotismus. Zumeist decken sich die Regionen durchaus nicht mit den Ländergrenzen. Regionen sind in unserem Gefühlshaushalt durchaus „in“. Wer beispielsweise beobachtet, mit welchem Stolz man in diesen Wochen in Nürnberg und anderswo in Franken zur Kenntnis nimmt, wie eine fränkische Mannschaft auf die Kapitäns- Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 26-31_Schwarz 12.05.2006 8:31 Uhr Seite 27 Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus? brücke des Bundeswirtschaftsministeriums geklettert ist, weiß, was fränkischer Regionalpatriotismus ist. Doch in Deutschland ist der Regionalpatriotismus eher eine folkloristische Größe. Deutschland unterscheidet sich darin, das sei unterstrichen, von einer Reihe anderer Länder der EU. Spanien hat es mit dem Autonomiestreben der Basken und Katalanen zu tun, England hat sein Schottlandproblem, Belgien leidet chronisch unter dem Gegensatz von Flamen und Wallonen, Frankreich unter dem Aufbegehren der Korsen. Politisierter Regionalismus tickt wie eine Bombe im Gebälk bestimmter europäischer Nationalstaaten. Hier zu Lande aber nicht. Wir kennen auch den deutschen Länderpatriotismus, den die Staatskanzleien nach Kräften zu pflegen bemüht sind. In Bayern, im Saarland, auch in Sachsen ist das relativ erfolgreich, in dem Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen nicht besonders. Wenn Länder nach dem Willen der Parteien fusionieren sollen, wie vor einiger Zeit Berlin und Brandenburg, bekunden die Bürger allerdings Skepsis. Zu viele interne Interessen stehen dabei auf dem Spiel. Aber das traditionalistische Widerstreben erlaubt es noch nicht, von einem sehr lebendigem Länderpatriotismus zu sprechen. Seit gut einem Vierteljahrhundert ertönt auch das Plädoyer für einen europäischen Patriotismus, der sich mit den Europäischen Gemeinschaften in ihrer jeweiligen Form verbinden soll. Eine Europa-Hymne, eine Europa-Fahne, deren Sterne sich kontinuierlich vermehren wie einstmals die Sterne im Sternenbanner der USA, sollen dazu beitragen. Und dieser oder jener Historiker 27 fühlt sich wie ein Heinrich Treitschke des frühen 21. Jahrhunderts, indem er seine Aufgabe darin sieht, der Europäischen Union ein teleologisches Geschichtsbewusstsein zu schaffen. Zweifellos verfügt die EU über ungleich größere Machtpotenziale als die zuvor genannten Bezugsebenen von Patriotismus. Doch die Konkurrenz der Patriotismen von 25 Nationalstaaten ist noch überstark. Zwischen diesen genannten Patriotismen, die in den meisten EU-Staaten ziemlich dünnblütig sind und kaum etwas bewegen, liegt nämlich der altetablierte Patriotismus der jeweiligen Nationalstaaten. Sieht man von erwähnten Ländern mit evidenten Regionalproblemen ab, so ist er die einzige Erscheinungsform des Patriotismus, die heute wirklich etwas bewegen kann und über die es sich ernsthaft zu reden lohnt. Dass auch die nationalstaatlichen Patriotismen historisch wechselhafte Phänomene sind, die entstehen, die ihre Blütezeit haben, oft auch ihre gemeingefährliche Narrenphase, und die sich früher oder später wieder verflüchtigen, wissen wir alle. Dennoch ist eines nicht zu bestreiten: Der Demokratische Nationalstaat konstituiert heute, im Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts, immer noch unsere vorrangige politische Wirklichkeit, dies trotz Globalisierung, trotz Verpflichtung auf die Regeln der Völkergemeinschaft und trotz der Einwirkungsmöglichkeiten und Ansprüche der Europäischen Union. Wer vom Patriotismus spricht, sollte also rasch die Sphäre der Gefühligkeit verlassen. Er sollte von der Realität der gewachsenen Nationalstaaten sprechen und fragen, ob sie nicht eines Minimums von Patriotismus bedürfen. 26-31_Schwarz 12.05.2006 8:31 Uhr Seite 28 28 Das prinzipielle Festhalten am demokratischen Nationalstaat ist nämlich nicht nur eine empirische Tatsache, die sich in den meisten EU-Ländern beobachten lässt – so auch in Spanien, Großbritannien, Belgien und Frankreich, die allesamt kritischere oder weniger kritische Regionalprobleme haben. Prinzipielles Festhalten an den etablierten Staaten ist vor allem geboten, weil diese Staaten Demokratien sind und Demokratien bleiben wollen. Nur im demokratischen Verfassungsstaat ist jene Form der Demokratie möglich, die wir für zeitgemäß halten, also Verantwortlichkeit der Regierungen, mehr oder weniger effektive Kontrolle der Herrschenden durch eine Tag und Nacht wachsame veröffentlichte Meinung und, dies ganz entscheidend, die Möglichkeit der Bürger, ihre abgewetzten Regierungen abzuwählen oder sie wenigstens in eine große Koalition zu zwingen. Wer über den heutigen Patriotismus diskutieren will, muss somit weiterhin über den Patriotismus in den real existierenden Nationalstaaten Europas sprechen. So sehr es also zutrifft, dass sich moderner europäischer Patriotismus in erster Linie auf den Nationalstaat richtet, so zutreffend ist es zugleich, dass dieser Patriotismus überall starken Erosionstendenzen ausgesetzt ist, dies nicht nur in Deutschland. Als Alexis de Tocqueville in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts die Vereinigten Staaten entdeckte und als eine Demokratie freier Bürger bewundern lernte, hat er geschrieben: „Nun vermag in der Welt einzig die Vaterlandsliebe oder die Religion die Gesamtheit der Bürger im Streben nach einem gleichen Ziel für längere Zeit zu Hans-Peter Schwarz einigen“1. Dass im westlichen Europa von den politischen Bindekräften der Religion nicht mehr viel übrig geblieben ist, ist allbekannt. Doch auch der Patriotismus kann höchsten noch als Schwund- oder Schrumpfpatriotismus bezeichnet werden. Das gilt für die meisten Staaten im heutigen Westeuropa, ganz besonders, wir wissen es, für Deutschland. Bevor man sich also Gedanken darüber macht, ob ein „aufgeklärter Patriotismus“ in den post-modernen Demokratien Westeuropas wieder zur lebendigen Vaterlandsliebe führen könnte, sollte man deshalb einen realistischen Blick auf den heutigen Schrumpfpatriotismus werfen. Solange sich die gegenwärtigen Erosionstendenzen noch nicht so stark bemerkbar machten wie heute, hat sich der traditionelle Patriotismus in den Demokratien Europas als ein mixtum compositum manifestiert. Neben vielem anderem ließ er drei Elemente erkennen: er war Wirtschaftspatriotismus, er war Kulturpatriotismus, er war Staatspatriotismus und ist dank des Zusammenfallens dieser drei Elemente zur politischen Kraft geworden. Nehmen wir Deutschland und die Bundesrepublik. Die Zeithistoriker und eine aufmerksame Öffentlichkeit sind sich weitgehend darüber einig, dass unter den Elementen des Patriotismus, die das politische und moralische Debakel des Dritten Reiches überlebt haben, der Wirtschaftspatriotismus am stärksten war. Stolz auf das Wirtschaftswunder, auf die Überlegenheit der eigenen Exportwirtschaft, Stolz auf das ungebremste Wachstum, Stolz auf die harte D-Mark, mit Mitleid gemischte Verach- 26-31_Schwarz 12.05.2006 8:31 Uhr Seite 29 Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus? tung für die ökonomische Zurückgebliebenheit der DDR – das stand mit im Zentrum des bundesdeutschen Identitätsbewusstseins. Die seither stattgefundenen Veränderungen können deshalb auch den heutigen Schrumpfpatriotismus teilweise erklären. Das stetige Wachstum und die ökonomisch-technische Überlegenheit sind dahin. Der Sog der Globalisierung erschüttert den Industriestandort Deutschland. Und sehr wichtige Steuerungsinstrumente sind inzwischen auf die nur noch schwer beeinflussbaren Brüsseler Institutionen übertragen worden. Dass sich die Wirtschaft zu großen Teilen auf die neue Lage eingestellt hat, einstellen musste, versteht sich von selbst. Man kann nur mit einem gewissen Zynismus konstatieren, wie dieselben Politiker, die ihre Autopiloten auf das Programm ständiger Vertiefung und ständiger Erweiterung der EU eingestellt hatten, Krokodilstränen darüber vergießen, wenn sich die Unternehmen gezwungen sehen, ihre Produktionsstandorte irgendwohin in den großen europäischen Binnenmarkt zu verlagern und es dem teilweise entkernten eigenen Staat überlassen, für die Arbeitslosen zu sorgen und mit den Steuerverlusten fertig zu werden. Demgegenüber war der Kulturpatriotismus in der Bundesrepublik stets recht schwach ausgeprägt. Die Übersteigerungen in den vorhergehenden Narrenphasen des deutschen Nationalismus ließen es vernünftigerweise geboten erscheinen, das erneuerte Deutschland auf die übernationalen Werte der westlichen Zivilisation zu gründen. Wichtig und rühmenswert 29 schien nicht, was die Deutschen von den Nachbarn kulturell unterschied, sondern das mit anderen Gemeinsame. Seit den 80er-Jahren wurde das zeitweilig durch den Multikulturalismus verstärkt. Dieser ist zwar stark rückläufig, nachdem auch die deutsche Gesellschaft erschreckt erkannt hat, wie schwierig es ist, Einwanderer aus fremden Kulturkreisen zu integrieren. Doch die heutigen Deutschen tun sich weiterhin schwer damit, ihre eigene Sprache, ihre eigene Literatur, ihre eigene Geschichte, kurz, das weit verzweigte Wurzelwerk deutscher Kultur in seiner unverwechselbaren Eigenart überhaupt noch wahrzunehmen, geschweige denn, darauf stolz zu sein. Die Gründe dafür kennen wir. Schließlich der Staatspatriotismus. Die vorhergehenden Exzesse des Machtstaats, die autoritäre und totalitäre Vorgeschichte der Bundesrepublik, die Teilung Deutschlands, auch der Blick auf die DDR und den Ostblock hatten zur Folge, dass die Bundesrepublik das ausgeformt hat, was Dolf Sternberger den Verfassungspatriotismus nennt. Nach vielen, durchaus begründeten Besorgnissen in der bundesdeutschen Frühphase war man stolz darauf, funktionierende demokratische Institutionen entwickelt zu haben. Das verband sich mit der Überzeugung, auch außenpolitisch endlich zur Vernunft gekommen zu sein. Verfassungspatriotismus und Westbindung fielen mehr oder weniger zusammen. Doch auch dieses Element hat sich abgeschwächt. Ich nenne nur die Zweifel daran, ob der lange Zeit hochgerühmte Föderalismus gegenwärtig nicht eine der gefährlichsten Reformbremsen bil- 26-31_Schwarz 12.05.2006 8:31 Uhr Seite 30 30 det. Verfassungspatriotismus lässt sich auch schlecht kultivieren, wenn die politischen Eliten kontinuierlich daran arbeiten, immer weitere verfassungsrechtliche Zuständigkeiten an die Brüsseler Oligarchien zu übertragen. Der Staat des Grundgesetzes wird zunehmend ausgehöhlt, wobei die dafür Verantwortlichen ängstlich bestrebt sind, die Europäisierung weiter Bereiche doch um Gottes willen nicht dem Volkssouverän zur Entscheidung anheim zu stellen. Natürlich bemerken das die Staatsbürger. Sie fühlen sich fremdbestimmt und von den eigenen Eliten im Stich gelassen. Der Verfassungspatriotismus wird zwar noch offiziell zelebriert, doch die Wirklichkeit der EU-Regulierung bewirkt auf zahlreichen Feldern, dass sich dieser Patriotismus nur noch auf ein partiell entkerntes Grundgesetz und partiell entkernte Länderverfassungen bezieht. Soweit knapp formuliert der Befund. Wie sollte demgegenüber ein „aufgeklärter Patriotismus“ umschrieben werden. Was ist unter „aufgeklärt“ zu verstehen? „Aufgeklärter Patriotismus“ könnte sich an einer Maxime der Aufklärung orientieren: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, anders formuliert: „Beobachte die Wirklichkeit so, wie sie ist, und scheue dich nicht, daraus kritische Schlussfolgerungen zu ziehen“! Welche Schlussfolgerungen wären dies? Ich nenne nur sehr verkürzt deren drei. Erstens lässt sich der Verfassungspatriotismus nicht wiederbeleben, wenn die politischen Eliten und die öffentliche Meinung nicht deutlich und nimmermüde betonen, dass der Verfassungsstaat des Grundgesetzes auf Hans-Peter Schwarz Dauer gestellt sein muss. Anders formuliert: Unsere Autoritäten müssten einer inzwischen desorientierten Öffentlichkeit wieder und wieder ins Bewusstsein rufen: Vorrang hat die Demokratie des Grundgesetzes, in zweiter Linie kommt Europa. Aufgeklärter Patriotismus ist entschlossen, dem eigenen demokratischen Staat den Vorrang zu geben. Aufgeklärte und mündige Bürger, aber auch deren politische Repräsentanten, sollten es sich drei Mal überlegen, wie weitgehend sie sich in die Obhut internationaler Bürokratien und Oligarchien begeben wollen, die weder verlässlich kontrollierbar noch abwählbar sind. Natürlich kann und soll man gleichzeitig beides sein: gut deutsch und gut europäisch. Aber die Reihenfolge muss doch stimmen, sonst verflüchtigt sich neben vielem anderem auch der Verfassungspatriotismus. Zweitens sollte der aufgeklärte Patriotismus bei der Schule ansetzen, so wie das einstmals die gute alte Aufklärung getan hat. Solange es im Unterricht wichtiger erscheint (ich pointiere jetzt etwas), die Schüler in unermüdlicher Belehrung und mit vielen symbolischen Akten darauf abzurichten, in der Verteilung des Mülls auf gelbe, grüne, blaue und schwarze Mülltonnen eine der vorrangigen Bürgerpflichten zu sehen oder vorrangig ihre technischen Fertigkeiten zu verstärken (so wichtig diese auch sind), statt sie für den Wert der deutschen Sprache, die deutsche Literatur in ihrer großen Vielfalt und die unverkürzte deutsche Geschichte nachhaltig und positiv zu interessieren – solange wird es beim Schwundpatriotismus bleiben. Drittens sollte ein aufgeklärter Patriotismus erkennen, bekennen und auch 26-31_Schwarz 12.05.2006 8:31 Uhr Seite 31 Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus? gesetzgeberisch zu realisieren suchen, dass der Verfassungsstaat, somit auch der Verfassungspatriotismus, auf vorpolitischen Einstellungen und Werten beruht: Familie und Familiensolidarität, bürgerliche Tugenden wie Gesetzestreue, Fleiß, Fairness, Sorgfalt beim Umgang mit öffentlichen Gütern, Ehrlichkeit, auch Religiosität oder zumindest Sinn für die überstaatlichen kulturellen Werte des Abendlands, das Jahrhundert der Aufklärung dabei nicht zu vergessen. Aufgeklärter Patriotismus ist somit auch der geschworene Gegner eines finsteren, fanatischen Obskurantismus, der sich bereits im Innern der europäischen Zivilgesellschaften eingenistet hat und diesen in den kommenden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts auch von außen her zu schaffen machen wird. Patrioten wissen nicht nur zu präzisieren, was sie dem Gemeinwohl für dienlich halten. Sie wagen auch zu sagen, was sie nicht wollen. Anmerkung 1 31 Über die Demokratie in Amerika, I, Kap. 5, Zürich 1987, S.136. 32-38_Boehr 12.05.2006 8:31 Uhr Seite 32 Patriotismus, Multikulturalismus, Nationalismus: Welchen Weg gehen die Deutschen? Christoph Böhr Die Frage lässt aufhorchen: Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus? Gibt es einen Patriotismus, der nicht aufgeklärt ist? Bedeutet die Tatsache, erst auf dem Weg zu sein, dass wir das erwünschte Ziel noch nicht erreicht haben? Sind wir Deutschen immer noch unterwegs, gar auf der Suche? Es lässt sich nicht verhehlen, dass wir Deutschen unsere eigene Rolle und die in der Welt noch nicht gefunden haben. Einige denken vielleicht, dass wir wieder einmal hinterherhinken bei der Klärung unseres Selbstverständnisses als Nation, wie das schon im 19. Jahrhundert war. Doch wir können uns rechtfertigen: Die vereinigte Bundesrepublik besteht erst seit 16 Jahren. Erst seit dieser Zeit genießen alle Deutschen einen umfassenden Grundrechtsschutz, ein demokratisches Regierungsund Verwaltungssystem, eingebunden in ein vereintes Europa. Zum ersten Mal ist Berlin eine ungeteilte, freie und demokratische Stadt, in der braune und rote Horden weder auf der Straße noch in einem Scheinparlament die Messer wetzen. Man könnte lakonisch anmerken, wir Deutschen haben es geradeso noch einmal geschafft, kurz vor der Jahrtausendwende unsere Nation zu formen. Die Ungarn und Polen haben uns dabei ebenso geholfen wie die Franzosen, Amerikaner, Briten und Russen. Sie wollten, so einfach ist es am Ende, ein unaufgeregtes Land in der Mitte Europas, ein Land ohne Sonderwege, berechenbar in seinen Empfindungen und Handlungsweisen. Was aber ist ein normales Land? Für die Franzosen ist ihre Grande Nation einzigartig. Die Amerikaner stehen – meist – parteiübergreifend hinter ihrem Präsidenten und ihrer Fahne. Die Polen sind stolz auf den 3. Mai, als 1791 dort die erste Verfassung Europas in Kraft trat, die zweite auf der Welt nach den Vereinigten Staaten. Unser Feiertag ist der 3. Oktober und bezieht sich auf ein Ereignis, welches zweihundert Jahre nach der Inkraftsetzung der polnischen Ver- Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 32-38_Boehr 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 33 Patriotismus, Multikulturalismus, Nationalismus fassung stattfand. Unsere Nation feiert den 3. Oktober 1990 als Geburtsstunde eines Landes, das in dieser Größe und Lage nie zuvor so bestand. Man meint, Deutschland habe nun einen glücklichen äußeren Abschluss seiner Identitätssuche gefunden. Unsere Nachbarn sind weitgehend zufrieden. Helmut Kohl hat die kleinen, mittelund osteuropäischen Länder nie aus dem Auge und dem Herzen verloren. Und Angela Merkel steht ganz in der Kontinuität dieses Denkens. Wir pflegen gute Kontakte zu allen Nachbarn, ganz besonders zu den kleineren Staaten und zu Frankreich. Wir können stolz sein auf das Erreichte. Sind wir also ein normales Land? Die Frage zu stellen heißt, sie zu beantworten. Wenn wir fühlen, dass wir stolz sein können auf das Erreichte, dann sind wir ein normales Land. Genauso wie die Franzosen und Polen stolz sein können – und diese beiden Völker sicherlich ganz besonders –, dürfen auch wir zufrieden sein mit der Entwicklung unseres Landes. Gleichzeitig sind wir voller Demut. Wir wissen, dass wir das Geschenk der Einheit Deutschlands nicht nur selber erkämpft, sondern auch von anderen empfangen haben. Das Jahr 1990 war das Geschenk Europas und der Großmächte an Deutschland. Helmut Kohl hat dieses Geschenk stellvertretend für uns alle entgegen genommen und im Gegenzug Normalität zugesichert: die Anerkennung der Ostgrenzen ebenso wie die Einbindung in die NATO und eine gemeinsame europäische Währung. Inzwischen verteidigt unser Land Demokratie und Frauenrechte in Afghanistan, verhindert Piraterie und Drogenschmuggel am Horn 33 von Afrika und bemüht sich um den Aufbau im Kosovo. Gleichzeitig ist aber auch deutlich, dass sich Deutschland nicht überall militärisch verpflichten kann. Deshalb schied eine Teilnahme am Irak-Feldzug von vornherein aus – was man aber nicht, wie Gerhard Schröder als einziger Regierungschef es tat, auf einem Marktplatz (in Goslar) im Wahlkampf verkünden sollte. Überhaupt hat die Außenpolitik Schröders uns eine gefährliche Ferne zu den Vereinigten Staaten beschert. Jetzt wird der Scherbenhaufen zusammengekehrt. Die Welt ist erfreut über eine neue Verbindlichkeit, die Deutschland nun wieder ausstrahlt; die Welt ist erleichtert, weil Deutschland wieder berechenbar geworden ist. Gleichzeitig fürchten wir uns selbst vor diesem Zustand eines unbeschwerten Verhältnisses zum Heimatland. Normalität ist eingekehrt, aber Patriotismus fehlt. Wir Deutschen scheinen uns dem Patriotismus ganz entziehen zu wollen, weil wir gesehen haben, dass Heimatliebe schrecklich missbraucht werden kann. Die Spannung, in der sich der Patriot bewähren muss, bewegt sich zwischen den Polen von Nationalismus und Multikulturalismus. Doch die Deutschen tun sich noch schwer, in und mit Spannungen zu leben; sie wollen lieber Spannungen auflösen. Das Bedürfnis nach Harmonie ist hoch. Der Wunsch nach Gleichheit wird dem Streben nach Freiheit oft vorgezogen. Umverteilung soll alle Probleme lösen. Nach dem Staat und seiner Zuständigkeit wird allenthalben gerufen, seltener nur nach den Menschen und ihrer Verantwortung. Hier sind sich rechte Nationalisten und linke Multikulturalisten einig. Sie berufen 32-38_Boehr 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 34 34 sich auf Denker, die einen irdischen Weg zur Auflösung aus der vermeintlich unerträglichen Spannung weisen, weil sie es nicht ertragen, dass die Welt zwischen Schwarz und Weiß noch unendlich viele Grautöne kennt. Karl Marx ist dafür ein Beispiel. Mit seiner Beschreibung der unerträglichen Zustände der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert hat er ohne Zweifel einen wichtigen Beitrag auch in der politischen Auseinandersetzung geleistet. Doch seine politische Theorie des Sozialismus zeigt, dass aus einer nachvollziehbaren Zustandsbeschreibung auch falsche Schlussfolgerungen gezogen werden können. Marx bezeichnet die notwendigen Spannungen in der Gesellschaft lapidar als unauflöslichen Widerspruch. Die Spannung wird bei ihm zum Widerspruch. Marx schreibt: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer und rascher um.“ Die Ergebnisse sind bekannt. Bis heute finden wir den tiefen Wunsch mancher Deutscher nach Gleichheit und Gleichmacherei: Wettbewerb unter den Bundesländern? Abgelehnt! Unterschiedliche Schulsysteme in Deutschland? Zurückgewiesen Christoph Böhr mit Hinweis auf die Kinder, die nach einem Umzug umlernen müssen. Die Hinweise der PISA-Studien, dass Kinder in Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen mit dem gegliederten Schulwesen besser auf das Leben vorbereitet werden als dies in den Einheitsschulen in Brandenburg und Berlin geschieht? Verdrängt! Wie schön hört sich die Vereinheitlichung im modischen Kampfbegriff der „Bürgerversicherung“ an. Eine Versicherung für alle Bürger, eine Schule für alle Schüler, ein Kinderhort für alle Kinder, eine Gesamthochschule für alle Studenten, eine Einheitsgewerkschaft für alle Arbeitnehmer! Nur in einem eher dumpfen Bauchgefühl scheinen viele zu ahnen, dass Ludwig Erhards Politik, Wohlstand für alle zu schaffen, das Ergebnis einer Wettbewerbsordnung ist. Mit dem Herzen sind wir lieber Kollektivisten. Jedes Jahr lesen Tausende von Studenten die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, aber eine deutsche Taschenbuchausgabe der „Verfassung der Freiheit“ von Friedrich August von Hayek fehlt. Ausgangspunkt der Ausführungen von Hayek ist wie bei Locke, Smith und Kant die persönliche Freiheit. Um sie und alle ihre Werte zu verwirklichen, erweise sich eine freie, also offene Gesellschaft als notwendig. Herzstück der freien Gesellschaft sei die sich selbst bildende oder spontane Ordnung. Eine spontane Ordnung sei zweckgebunden und nur insoweit zu überwachen, als die Regelmäßigkeit im Verhalten ihrer Glieder überprüfbar und vom Staat zwangsweise durchsetzbar ist. Die Einzelheiten der spontanen Ordnung seien jedoch infolge der Komplexität der Interaktionsfolgen nicht bestimmbar. Das ist einleuchtend: Wenn man zu- 32-38_Boehr 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 35 Patriotismus, Multikulturalismus, Nationalismus lässt, dass Menschen ihr Leben selbst gestalten, sind wir erstaunt, auf welche Gedanken sie kommen und was alles an Schönem und Sinnvollem entsteht. Doch wir Deutschen haben uns daran gewöhnt, all das Schöne und Sinnvolle still zu genießen und mit dem Finger auf das zu zeigen, was ungewollt aus dem Ruder läuft, wo sich also eine spontane Ordnung eingestellt hat, die wir missbilligen. Bis hierhin ist das noch nicht verwerflich. Die Opposition, die Medien, der Rechnungshof und viele andere haben die Aufgabe, auf Missstände aufmerksam zu machen. Wir müssen diese Missstände ernst nehmen. Aber diese Missstände sind kein Grund, bei jeder Gelegenheit die ganze Ordnung zum Teufel zu wünschen. Es ist unverantwortlich, wenn Tausende Arbeitsplätze in ertragreichen Unternehmen vernichtet werden – aber deswegen hat die Soziale Marktwirtschaft doch nicht versagt. Es muss uns eher Ansporn sein, die Rahmenbedingungen für neue, zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen. Wir sollten mehr selber in die Hand nehmen und weniger auf andere warten. Solange wir das nicht schaffen, fehlt unserem Patriotismus das Herz. Aufgeklärter Patriotismus zeichnet sich dadurch aus, dass wir die Normalität, die Deutschland inzwischen nach außen hin ausstrahlt, uns auch im Inneren angewöhnen. Wir sollten von uns selbst verlangen, dass unser Zusammenleben zu Spannungen führt, die wir nicht nur ertragen müssen, sondern die wir als Antrieb für die Entwicklung unserer Gesellschaft brauchen. Ein totalitärer Staat erstarrt. Er gleicht einem kurzgeschorenen Rasen im Vorgarten. Alles ist millimetergenau 35 im Gleichmaß, unterschiedslos einheitlich. Unser System von Wettbewerb, Rechtstaat und Sozialer Marktwirtschaft, unsere offene Ordnung ist dagegen eine Frühlingswiese mit vielen tausend wild wachsenden Blumen, die in allen Farben blühen. Es ist eine Wiese, in der manche Blumen zwar im Schatten anderer stehen, aber alle sich entwickeln dürfen. Keine läuft Gefahr, abgemäht zu werden, nur weil sie anders ist. Wir freuen uns über diese vielfältige und bunte Wiese – doch verteidigen wir sie auch noch, wenn das Licht der Fernsehkameras auf jene Stängel fällt, die einen Teil des Lebens im Schatten verbringen? Können wir es ertragen, dass nicht alle gleich sind und dass nicht alle gleich sein müssen? Oder ertragen wir das nicht und meinen, alle sollen dem gleichen Hort, der gleichen Schule, der gleichen Versicherung angehören und ungefähr das Gleiche verdienen? Wenn man davon ausgeht, dass alle Menschen nicht nur vor dem Gesetz gleich sind, sondern auch in ihrer Persönlichkeit, dann nehmen wir das auch von allen Völkern an. Wenn alle Völker gleich sind und es unerheblich ist, ob man Franzose ist oder Chinese, Brasilianer oder Australier, dann spürt man in der Tat keine besondere Beziehung zum eigenen Volk und wertet die eigene Schicksalsgemeinschaft zu einem kollektiven Versicherungssystem ab. Das ist der Kerngedanke des Multikulturalismus. Erstaunlich nur, dass all jene, die uns so gleich erscheinen, daran gar kein Interesse haben. Franzosen sind stolz auf Frankreich, Chinesen sind stolz auf China, Brasilianer sind stolz auf Brasilien und Australier auf Australien. Nir- 32-38_Boehr 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 36 36 gendwo hört man von einem Wunsch, nur gleich sein zu wollen. Eher hört man, die Deutschen sollten sich nicht verstecken. Einigen Asiaten ist es schon ganz peinlich, wenn sie Deutsche über Deutschland reden hören. Ein Studentenmagazin hat Anfang 2006 darüber berichtet, was man bei einem Auslandsstudium in China beachten soll. Hier fand sich ausdrücklich die Warnung, nicht schlecht über das eigene Land zu sprechen. Das würde Chinesen nicht nur verunsichern, sie würden sogar die Verbindung zu einer solchen Person meiden. Haben unsere deutschen Studenten am Ende schlechtere Berufsaussichten in der Welt, weil wir ihnen nicht beigebracht haben, ihr Land zu lieben? Wer sein Land liebt, hat doch deshalb keine Vorbehalte gegenüber anderen. Diese Einsicht ist längst noch nicht Gemeingut. Dabei ist es so einfach. Wer eine Frau heiratet, weil er sie liebt, verachtet deswegen doch nicht andere Frauen. Aber eines muss jeder mitbringen, der einen anderen Menschen lieben lernt: Nur wer mit sich selbst im Reinen ist, kann anderen unbedingtes Vertrauen entgegenbringen. Nur wer fest in seinem eigenen Glauben steht, kann nachvollziehen und mit Verständnis begegnen, was andere Gläubige bewegt – ob es Christen, Juden oder Muslime sind. Nur wer sein Land liebt, kann die Heimatliebe anderer nachempfinden und den Schmerz einer Vertreibung mitfühlen. Ohne Liebe gibt es keine Treue. Hass entsteht dort, wo zu wenig oder nicht mehr geliebt wird. Deshalb hat Patriotismus auch nichts mit Nationalismus zu tun. Nationalismus entsteht dort, wo die Liebe zur Heimat ersetzt wird durch den Hass auf Christoph Böhr andere. Die Nationalsozialisten haben ihr Land nicht geliebt! Sie kannten nur den Hass: auf ihre Gegner, andere Rassen und fremde Länder. Deshalb haben sie Millionen eigener Bürger sowie die Bürger anderer Staaten ermordet, und deshalb haben sie Tausende Städte zerstört und, als der Krieg verloren war, kein Erbarmen mit ihrem eigenen Volk gehabt, sondern Deutschland vernichten wollen. Mit dem Fremdenhass ging der Selbsthass am Ende Hand in Hand. Das ist der große Unterschied: Der Patriot liebt sein Land, der Nationalist liebt nichts, sondern hasst andere und der Multikulturalist liebt alles und nichts. Die Geisteshaltungen des Nationalisten wie die des Multikulturalisten unterscheiden sich tief greifend von der Heimatliebe eines Patrioten. Die Ähnlichkeit beider Geisteshaltungen, nämlich die des Nationalismus wie die des Multikulturalismus, ist nicht weiter verwunderlich: Wer nicht liebt, weil er nicht lieben kann, ist begeistert von Führern, die ebenso wenig lieben, wie man selbst (nicht) zu lieben vermag. Wer nicht liebt, versteht die vielen Schattierungen des Lebens nicht. Wer nicht liebt, kann seine Meinungen tauschen wie seine Unterwäsche: Gestern ganz rechts, heute ganz links – ein Wechsel der Fronten ist dann nichts Ungewöhnliches. Der christliche Glaube, auf dem unsere Verfassung, unser Staat, unsere Kultur und unsere Ethik gründen, ist eine Verkündung der Liebe. Wären wir doch nur so mutig und stellten die Liebe in den Mittelpunkt unseres Handelns. Die Menschenliebe ist für einen Christen und natürlich auch für einen christlichen Politiker, der alles entscheidende Beweggrund seines Handelns. Die Hei- 32-38_Boehr 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 37 Patriotismus, Multikulturalismus, Nationalismus matliebe ist der Ausgang allen Strebens. Die Elternliebe ist der Ursprung allen Fühlens und Denkens. Und die Gottesliebe ist der Quell aller Zufriedenheit. Die Liebe steht im Mittelpunkt des christlichen Glaubens und es ist nicht verwunderlich, dass er von den Ideologen des 20. Jahrhunderts entweder verschmäht oder missbraucht wurde. 37 noch begeistert, mit Trier die älteste Stadt Deutschlands kennen zu lernen? Kennen unsere Schüler das Obere Mittelrheintal und den Limes, die beide zum Weltkulturerbe zählen? Sind wir uns der Schönheit des Ahrtals bewusst und kennen wir die Sagen um die Loreley? Warum spielt St. Kastor in Koblenz eine so wichtige Rolle in der europäischen Geschichte? Woher kommt die Mainzer Fassenacht? Wieso ist Kaiserslautern heute ein moderner Wissenschaftsstandort? Wer kämpfte um die Festung Ehrenbreitstein in Koblenz? All das können unsere Schüler lernen. Sie surfen im weltweiten Netz, aber sie sollten ebenso wissen, was vor ihrer Haustüre liegt und geschieht. Das macht uns nämlich unverwechselbar. Ein Patriot schämt sich der Liebe zu seinem Land nicht, im Gegenteil: Er ist stolz darauf. Er zeigt diese Liebe. Genauso wenig wie der Glaube nur ein inneres Gefühl bleiben kann, wird man seine Heimatliebe nicht zu verbergen suchen. Seinem Land zu dienen, schwört der Minister. Treu gegenüber seinem Land zu sein, verspricht der Beamte. Und alle anderen? Überlassen wir den Patriotismus den Staatsdienern und werden selbst zu seinen Gefolgsleuten nur anlässlich einer Fußball-Weltmeisterschaft? Das wäre der falsche Weg. Wenn wir in den Schulen unsere Kinder auf das Leben in der Welt der Globalisierung vorbereiten wollen, müssen wir sie Geborgenheit spüren lassen und ihnen Heimat geben. Nur wer irgendwo zu Hause ist, kann in die Fremde gehen und dort berichten, von wo er kommt. Nur er kann Fremde zu sich nach Hause einladen. Nur wer seine Heimat liebt, vermag andere zu verstehen, die ihre Heimat ebenfalls lieben. Doch um dieses Gefühl zu haben, muss man seine Heimat erstmal kennen. In diesem Sinne verstanden ist ein aufgeklärter Patriotismus mehr als nur Verfassungspatriotismus. Das Grundgesetz gibt Staat und Gesellschaft einen Ordnungsrahmen – und es ist, da es eine Fülle von Schlussfolgerungen aus den bitteren Erfahrungen des Nationalsozialismus zieht, genuin deutsch. Unsere Verfassung ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung zur Verteidigung des Bewahrenswerten. Die Verfassung als unser Leittext muss gelebt werden – dieses Leben ist unsere Kultur. Sie gründet in einem Menschenbild, nämlich dem christlicheneuropäischen, das sich von denen anderer Kulturen maßgeblich unterscheidet. Deshalb habe ich vorgeschlagen, dass in rheinland-pfälzischen Schulen Heimattage stattfinden. Wer verbindet noch etwas mit dem Hambacher Fest, das in der Pfalz stattfand? Wer weiß um die Bedeutung, die Worms und sein Dom früher gespielt haben? Wer ist Patriotismus ist keine Gefühlsduselei. Johannes Paul II. verwies auf den „moralischen Wert des Patriotismus“: So wie Mutter und Vater einem Kind Leben und Lebenssinn schenken, so schenkt das Vaterland seinen Bürgern ein Vermächtnis, das für den Bestand 32-38_Boehr 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 38 38 des Ganzen, der Gemeinschaft, lebenswichtig ist. In unserem Kulturkreis ist es vor allem Zivilität, die den Maßstab für das Gelingen von Gesellschaft bereitstellt. Wie eine Gesellschaft sich selbst verstehen will, prägt ihr Verhältnis von Bildung und Erziehung, beeinflusst Kunst und Wissenschaft, begründet den Stolz der Bürger und weist politischen Entscheidungen die Richtung. Das ist die Leitkultur der Gesellschaft, die geistige Heimat, die das umgreift, was wert ist, von Generation zu Generation weitergegeben zu werden. Die geistige Heimat ist für einen Menschen genauso wichtig wie seine landsmannschaftliche Herkunft oder das ihm ans Herz gewachsene Land seiner Kindheit. Niemand wird in Deutschland zu einer nationalen Identität gezwungen, anders als in der Türkei oder im Iran. Gerade das macht unsere Identität aber aus. Wir sind ein offenes und freizügiges Land. Patriotismus bedeutet aber auch, keine Toleranz gegenüber Intoleranz. Ganz sicher ist es diese Erkenntnis, die uns nicht abhanden kommen darf, um notwendige politische Entscheidungen zu treffen: dass wir die Zwangsheirat von Minderjährigen ver- Christoph Böhr hindern, indem wir das Nachzugsalter von ausländischen Familienangehörigen verändern; dass wir bei einem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zurückhaltend sind, solange dort Schriftsteller wie Orhan Pamuk verfolgt werden, weil sie den Völkermord in Armenien ansprechen; dass wir ein Kopftuchverbot in Schulen durchsetzen, um unseren Kindern die Gleichberechtigung der Frauen vorzuleben; dass wir von unseren Gästen, die Deutsche werden wollen, zunächst zum Beispiel wissen möchten, ob sie Homosexuelle als minderwertige Kranke ansehen; dass wir Friedenstruppen ausbilden, die in Afghanistan und anderswo dafür sorgen, dass Mädchen eine Schulbildung erhalten, statt von mordenden Horden vergewaltigt zu werden. Unser Patriotismus ist am Ende keine Ausgrenzung, sondern eine Einladung: teilzuhaben an den aus unserer Geschichte erwachsenen, maßgebenden Grundsätzen der Menschlichkeit, des Lebens, Denkens, Fühlens und Handelns. Leitkultur fordert aber auch etwas – von Ausländern die Annahme dieser Grundsätze und von uns selbst, dass wir sie selbstbewusst und mutig leben. 39-49_Kamer 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 39 Nationale Triebkräfte in der globalisierten Welt – Unterschiedliche Spielformen eines erstarkenden Patriotismus Hansrudolf Kamer 1. Einführung Das jüngste Filmepos „Tal der Wölfe“ mit amerikanischen Bösewichten und türkischen Helden bestätigt die „unmoderne“ Erscheinung, dass der Durst nach nationaler Ehre und Größe keineswegs erloschen und die Gefühle dafür sehr verbreitet sind. Türkischer Nationalismus, nicht islamische Verbrüderung oder gar islamistischer Eifer, ist die Botschaft des Films und er prägt die Reaktion der Türken auf den Streifen. Fußballspiele lösen vergleichbare emotionale Erschütterungen aus und haben Weiterungen bis in die hohe Politik. Die Olympischen Spiele und Fußballweltmeisterschaften sind zu einem großen Fest nationalistischer Selbstbespiegelung geworden, mit Beteiligung der Politik auch auf höchster Rangstufe.1 Bemerkenswert, dass alle diese Phänomene im Unterhaltungsbereich spielen und Gefühle ansprechen. Sie sind wohl Ersatzhandlungen. Doch damit nicht genug. Auf ganz anderer Ebene sind das jüngste Fiasko bei der Ratifizierung des europäischen Verfassungsvertrags und die Handlungsweise vieler Mitgliedstaaten der EU zwei von mehreren Indizien, dass Nationalismus in Europa wieder im Kommen ist. 2. Der Einfluss der Medien In dem von den Medien dominierten Informationszeitalter scheint es dem Nationalismus jedenfalls besser zu gehen denn je; die Medien verstärken seine Botschaft ungemein, direkt und indirekt. Sie sind in der Regel national ausgerichtet und interpretieren das Geschehen durch eine nationale Brille. Internationalismus oder Supranationalismus haben kein Medium. Nationalismus meint eine „nationale Einstellung“ und „nationales Handeln“ in der Politik, während „nationale Identität“ das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Nation oder einem Nationalstaat bedeutet, worauf der Patriotismus aufbaut, der ein starkes Engagement für das „Vaterland“ beinhaltet. Dass alle Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 39-49_Kamer 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 40 40 diese Begriffe zurzeit intensiver diskutiert werden, ist Ausdruck ihrer Relevanz und ihrer Stärke, eine Entwicklung, die sich im Übrigen seit Jahren abzeichnet. Dass die Verankerung in einer nationalen Identität ein reales Bedürfnis befriedigt, steht wohl außer Frage, eher schon, ob das mehr oder weniger als früher der Fall ist. Ein Rückfall ins 19. Jahrhundert, wie das besorgte Internationalisten befürchten, steht allerdings kaum bevor. Jener Teil des Patriotismus, der Opferbereitschaft für das Vaterland beinhaltet, ist nicht unbedingt stärker geworden. Und die Gründe für die Ablehnung des Verfassungsvertrags der Europäischen Union waren vielschichtig, eine Mischung aus innenpolitischen Taktiken und anderen Elementen, die mit der europäischen Einigung an sich wenig zu tun hatten. Auch die Folgen dieser Ablehnung werden sich kaum mit der Situation vergleichen lassen, wie sie vor 150 Jahren in Europa herrschte. Es handelte sich um eine auf jeden Fall nicht ganz unerwartete Entscheidung. Wenn und so lange sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union über das eigentliche Ziel ihrer Einigungsbestrebungen nicht einigen können, werden die „Vaterländer“, wie sie de Gaulle genannt hat, weiterhin die entscheidende Rolle spielen und werden Bemühungen, eine europäische Identität aktiv zu stiften, stets den Makel einer etwas bemühten Public-Relations-Aktion haben, die Unzulänglichkeiten überspielen muss. Die EU wird sich durch konkrete Leistung definieren müssen. Nur so könnten sich immer mehr Bürger mit ihr identifizieren, und nur so entstünde eine europäische Identität, die den Nationalismus überlagern könnte. Hansrudolf Kamer 3. Multikulturalismus im Rückgang Das Phänomen einer Rückbesinnung auf die eigene Nation und die Suche nach nationaler Identität sind jedoch real und nicht auf Europa beschränkt. In Amerika ist der Trend zum Multikulturalismus bereits vor einigen Jahren an seinem Ende angekommen und die Rückkehr, eine sicher modifizierte Rückkehr zur Vorstellung des „melting pot“, ist zu beobachten. Der Schmelztiegel war immer mit einer starken Betonung eines amerikanischen Nationalgefühls verbunden. Entsprechend ist eine neue Hervorhebung der anglo-protestantischen Kultur 2 festzustellen, des Ankers des amerikanischen Staatswesens, der die traditionell kontingentierte Einwanderungspolitik ergänzt. Auch in Zeiten der Hochblüte des Multikulturalismus oder auch des Kosmopolitismus standen amerikanisches Nationalbewusstsein und Patriotismus nie in Frage. Selbst der inneramerikanische Protest gegen den Vietnamkrieg war oder argumentierte unverhohlen patriotisch. Der wirtschaftliche Aufschwung in China ist von deutlichen nationalistischen Erscheinungen begleitet und auch vom Gefühl getragen, dass den Chinesen künftig eine wichtige Rolle auf der Weltbühne zusteht. Dieses Selbstbewusstsein ist nicht nur bei der kommunistischen Führungsspitze zu beobachten, sondern lässt sich auch aus anderen Reaktionen ablesen.3 Neben der Hebung des allgemeinen Wohlstands ist der Nationalismus für die chinesische Führungsspitze die eigentliche Legitimation ihrer Herrschaft. Deutschland ist vielleicht noch immer – auch mehr als 15 Jahre nach der Ver- 39-49_Kamer 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 41 Nationale Triebkräfte in der globalisierten Welt einigung – ein Sonderfall. Vielleicht, denn Zeichen für Ermüdungserscheinungen mehren sich. Es war in der gesamten Nachkriegszeit nicht so ganz klar, ob der offizielle Anti-Nationalismus oder wie immer man das Phänomen nennen will, sich nur auf die politische Führung beschränkte. Als die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands oder vielmehr der beiden deutschen Staaten kam, brach sich jedenfalls ein recht tief reichendes Nationalgefühl sofort Bahn, das ja schon vorher vorhanden gewesen sein musste. Dennoch: Im Vorwort zum bemerkenswerten Werk über Mythen der Nationen4, das neun Jahre später herauskam, wird zustimmend und fast entschuldigend Thomas Mann zitiert, der in seiner Rede „Von Deutscher Republik“ den Kosmopolitismus gepriesen und die Deutschen zur Beschäftigung mit den Kulturen der Nachbarländer aufgefordert hat. Inzwischen ist die Entwicklung weit über diese Ermahnung, die zwar aufrichtig gemeint ist und sachlich richtig bleibt, hinweg gegangen. Das deutsche Nationalgefühl ist unstreitig und stärker als früher eine politische Tatsache geworden. Das hat Weiterungen. Es ist Deutschland und die neue Mehrheitspartei, die CDU/CSU, die sich zum Beispiel gegen einen Beitritt der Türkei zur EU sperrt und dies mit einem wachsendem Echo und wohl auch zunehmender Zustimmung in der Bevölkerung. Die Türkei ist für Deutschland kein Nachbar, den Thomas Mann gemeint hat, sondern viel mehr: Sie ist in Deutschland selber mit einem wachsenden Bevölkerungssegment präsent. Die rot-grüne Bundesregierung, die von 1998 bis 2005 im Amt war, ließ sich dadurch bekanntlich zu wahltakti- 41 schen Überlegungen verleiten. Die Auseinandersetzung über den Beitritt der Türkei ist aber auch Ausdruck der Rückbesinnung auf „eigene Werte“. Die Diskussionen über „Leitkultur“ und andere Begriffe signalisieren auch hier eine Wende. 4. Schwache Weltordnung – starker Nationalstaat Größere Zusammenhänge sind leicht zu erkennen. Die Feststellung, dass der Nationalstaat seine Schuldigkeit noch keineswegs getan hat und dies trotz fortschreitender Globalisierung, lässt sich noch an anderen Phänomenen ablesen. Die Entwicklung hin auf eine neue Weltordnung – den Begriff hatte der erste Präsident Bush im Zusammenhang mit der Einigung im UNO-Sicherheitsrat über das Eingreifen im Golfkrieg geprägt – ist deutlich schwächer geworden. Als Utopie lebt sie zwar auf der europäischen Linken und bei vielen Nichtregierungsorganisationen in kräftiger Form weiter, die weiterhin global und mit globalen Themen großflächig regulieren wollen. Die Wurzeln dieser Bewegung reichen zurück in die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als die neue Weltordnung der Menschheit endlich Frieden, Stabilität und Toleranz versprach – das war die Vorstellung vom Ende der Geschichte.5 Sie prägte die eher unbeholfenen Reaktionen in Europa auf die Jugoslawienkriege und war dann bei der breiten Ablehnung des Irakkriegs spürbar. Doch inzwischen ist die Geschichte mehr präsent denn je. Ein Realismus breitet sich aus und auf der Weltbühne ist wieder verstärkt die ungeschminkte Wahrung nationaler Interessen zu beobachten. Ein Abgleich dieser Interes- 39-49_Kamer 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 42 42 sen ist zurzeit das eigentliche Thema der Weltpolitik. Ausgangspunkt sind die Globalisierung und die Reaktionen darauf. Wer geglaubt hatte, dass der Nationalstaat klassischer Prägung von den starken Globalisierungstendenzen unterhöhlt und mit der Zeit weggespült würde, hat inzwischen genügend Anlass, seine Erwartungen zu revidieren. Verschiedene Indikatoren zeigen, dass der Nationalstaat nicht nur beträchtliche Widerstandskräfte entwickelt hat, sondern, über längere Zeiträume betrachtet, sogar stärker geworden ist. Man kann etwa auf die Staatsquote in europäischen Staaten verweisen – sie liegt heute in Westeuropa durchschnittlich bei ungefähr 50%. Eine Reduktion ist, trotz Rhetorik einiger Reformprotagonisten und wirtschaftlicher Sachzwänge, nicht in Sicht. Im Übrigen auch nicht in den Vereinigten Staaten, die zwar zahlenmäßig und gesellschaftspolitisch in einer weit komfortableren Lage sind als viele europäische Staaten. Doch die Anti-Staatsrhetorik in Amerika deckt sich nicht mit den Realitäten expandierender Staatsausgaben. Vor hundert Jahren, als ebenfalls eine Globalisierungswelle im Gang war, betrug die Staatsquote durchschnittlich nur etwa 10%. „Wenn die Bundesregierung zu existieren aufhörte, würden die gewöhnlichen Bürger den Unterschied in ihrem täglichen Leben während längerer Zeit gar nicht bemerken.“6 Der dies, nur leicht ironisch, sagte, war der amerikanische Präsident Calvin Coolidge in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, in einem Amerika, das sich selbst genügte und wenig über die Grenzen blickte. Die große Depression, der Zweite Welt- Hansrudolf Kamer krieg und der kalte Krieg zwangen dann die Amerikaner, die Rolle des Staates neu zu suchen, festzulegen und sein Selbstverständnis ziemlich drastisch zu verändern. Das geschah dann auch gründlich. Während Präsident Roosevelt noch davon sprach7, der Staat müsse sicherstellen, dass seine Bürger sich ungestört dem „pursuit of happiness“ widmen können, so ist inzwischen das Wörtchen „pursuit“ fallen gelassen worden. Heute ist ganz klar die vorherrschende Auffassung, dass der Staat für die Erlangung eines Status von Glückseligkeit seiner Bürger verantwortlich sei und dies auch bewerkstelligen könne – Glück im Sinne von Sicherheit und materiellem Wohlbefinden. Sicherheit und Wohlstand für alle, garantiert durch den Staat. Das ist inzwischen gewöhnliches Anspruchsdenken, das durch die politischen Parteien und diverse Interessenorganisationen gefördert wird. So drängt sich der Schluss auf, dass der Nationalstaat eher stärker als schwächer geworden ist. Es zeigt sich auf jeden Fall, dass er keineswegs am Ende und ein supranationales Europa keine Alternative ist. Der Wohlfahrtsstaat, obwohl vielfach überfordert, hat heute vor allem in Westeuropa Mechanismen entwickelt, die den weltweiten Strukturwandel abbremsen und abfedern und die bestehende Ordnung stärken. Und das spielt sich auf der Ebene der Nationalstaaten ab, obwohl es natürlich Bemühungen vor allem der Sozialdemokraten gibt, die gleichen Mechanismen auf die europäische Ebene zu verlagern. Doch diese Anstrengungen sind gewissermassen subsidiär und bisher wenig erfolgreich. 39-49_Kamer 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 43 Nationale Triebkräfte in der globalisierten Welt Zum Zweck der kurzfristigen Besitzstandswahrung werden Wohlstandsverluste und andere Verzerrungen – etwa die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland und Frankreich – in Kauf genommen. Die Etatisierung der westeuropäischen Welt ist zwar nicht als Antwort auf die weltweite Verflechtung „erfunden“ worden, sondern hat aus anderem Antrieb und in einem eigenen Rhythmus stattgefunden. Das jüngste Wahlresultat in Deutschland macht im Besonderen klar, dass dieser starke Staat nicht nur nicht ans Abdanken denkt, sondern vielmehr in einer Abwehrstellung verharrt, an der Reformangriffe abprallen. 5. Globalisierung positiv Grundsätzlich werden dennoch die Auswirkungen der wirtschaftlichen und technischen Globalisierung als positiv empfunden, wenn sie als solche erkannt werden: eine Schwemme von Konsumgütern, erleichtertes Reisen überall hin, finanzielle Dienstleistungen in Sekundenschnelle. Das alles hat viele praktische Vorteile gebracht und den allgemeinen Wohlstand – nicht nur denjenigen bereits reicher Individuen und Staaten auf Kosten anderer – erhöht. Das Bild der sich öffnenden „Armutsschere“ ist falsch, denn es suggeriert, dass es den „Armen“ immer schlechter geht. Die Daten stützen diese These nicht. Armut ist ein sehr relatives Konzept. Eine schwedische Studie hat zum Beispiel nachgewiesen, dass nach der amerikanischen Definition von Armut ungefähr 40% aller schwedischen Haushalte in die Kategorie „low income households“ fallen würden,8 in Schweden jedoch nicht. Die Globalisierung führt nicht zu all- 43 gemeiner Verarmung. Man will nur ihre Vorteile mit jenen einer nationalen und lokalen Verankerung kombinieren, die Nachteile jedoch bekämpfen. Auch wird man wohl die Fehler beim „Abwürgen“ der letzten Globalisierung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die Nationalstaaten hohe Handelsbarrieren errichteten, sich zunehmend gegeneinander abschotteten und in eine allgemeine Verarmung trieben, nicht mehr begehen. Der starke Nationalstaat hat ganz gut gelernt, mit der Globalisierung zu leben. Alt ist das Nationalbewusstsein, auf dem dieser Staat baut, allerdings nicht. In den meisten Ländern Europas entwickelte sich das Nationalgefühl im heutigen Sinn erst als Folge der Erschütterungen durch die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege. Um die Existenz der eigenen Nation zu begründen, ging man im 19. Jahrhundert daran, nationale Identitäten zu stiften. Das gelang auch in großem Ausmaß, zum großen Teil natürlich in Wechselwirkung mit anderen Nationen. 6. Verankerung in geschichtlichen Mythen Geschichtliche Mythen spielten bei der Bildung dieser Identitäten eine große Rolle. Die Mittel sind bekannt. Große Augenblicke in der Vergangenheit, Siege und Niederlagen, wurden beschworen – mit Hilfe von Jubiläen, Lehrplänen, Gedenkfeiern jeder Art –, und die Nation kehrte zu den Ursprüngen ihrer Existenz als Gemeinschaft zurück.9 Die 39-49_Kamer 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 44 44 Jubiläen und Gedenkfeiern, angefangen mit den Nationalfeiertagen, die sich im Laufe des Jahrhunderts stark vermehrten, oder auch nur der Geschichtsunterricht, der sich durch die Verbreitung des Schulwesens bis in die abgelegensten Dörfer ausdehnte, stärkten das Zusammengehörigkeitsgefühl ganz wesentlich. Der Kult der Geschichte und der Kult der Nation bleiben auch heute miteinander verbunden. In den französischen Schulen wird bereits auf der untersten Stufe in der Grundschule mitgeteilt, dass es Frankreich immer gegeben hat und immer geben wird. Der Sinn seiner Geschichte liege in der Dauer begründet und diese Dauer lehre, dass sie Schicksal und Zukunftsgarantie sei. Auch diese Leidenschaft der Kontinuität, im Falle Frankreichs besonders sichtbar, ist allen europäischen Nationen gemeinsam. Sie äußert sich vor allem in der Vorliebe für Ursprungserzählungen, die sich der Sage, des Wunderbaren oder des Mythos bedienen und die oft in eine unbestimmte Zeit verlagert sind.10 Der Begriff der Gemeinschaft bezeichnet sowohl die Schicksalsgemeinschaft, ein Erbe aus vergangenen, zusammen verbrachten Jahrhunderten, durch die hindurch man Ruhm und Leid teilte, aber auch das Bewusstsein absoluter Einzigartigkeit, als sei die Nation seit jeher in ihren Erfolgen wie in ihren Prüfungen eine einmalige Legitimität zuteil geworden. Ein derartiger Gemeinschaftsbegriff findet sich als Grundlage der historischen Mythologien vieler europäischer Nationen und natürlich auch Amerikas als europäischem Ableger wieder. Hansrudolf Kamer 7. Die EU zurück zu „kleinen Schritten“ Spät ist klar geworden, dass man mit dem Verfassungsvertrag der EU nicht etwa einen neuen Mythos schuf, sondern an etwas Verwurzeltem rüttelte. Nachdem zuerst eine einfache Revision des Vertrages von Nizza zur Verfassung hochstilisiert wurde, kam bald einmal die Erkenntnis, dass das für das Projekt gefährlich werden könnte. Man musste abwiegeln. „Die Franzosen bleiben Franzosen, die Polen bleiben Polen, und so weiter.“ Der dies locker verkündete, war der damalige deutsche Außenminister Fischer. Er versuchte in Paris, eine skeptische französische Zuhörerschaft von seiner, wie er sagte, kopernikanischen Wende in Sachen europäische Integration zu überzeugen.11 Es war, insofern hatte Fischer sicher Recht, tatsächlich ein Neuansatz, dass die EU-Mitgliedstaaten versuchten, bei der fortschreitenden Integration Europas die Methode einer Verfassungsdiskussion anzuwenden, statt nur eine routinemäßige Revision des Vertrages von Nizza vorzunehmen. Bisher hatte man sich vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet vorgetastet und offen gelassen, ob man auf diesem Weg schließlich auch bei einem politischen Gebilde ähnlich den Vereinigten Staaten von Europa landen würde. Die Anhänger der neuartigen Verfassungsstrategie machten damals geltend, das Voranschreiten in kleinen Schritten habe seine Schuldigkeit getan und sei nicht mehr zweckgemäß. Die Union lasse sich auf diese Weise nicht mehr weiterentwickeln. Die Crux war, wie sich zeigte, dass einige Mitgliedstaaten unsicher waren und es wohl noch sind, wie – vielleicht sogar 39-49_Kamer 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 45 Nationale Triebkräfte in der globalisierten Welt ob – sie die Union weiterentwickeln wollen. Neu war das zwar nicht; man hatte in der Vergangenheit dafür Konzepte wie „Kerneuropa“ oder „Europa à la carte“ entworfen und von einer „Avantgarde“ gesprochen, gemeint waren gewöhnlich die sechs Gründerstaaten, die die Einigung vorantreiben würden. Doch französisches Misstrauen war nicht ausgeräumt, die Deutschen hätten insgeheim die Absicht, via Europäische Union den Nationalstaat zurückzudrängen und ihn auf den Schutthaufen der Geschichte zu werfen. Fischer antwortete auf diese Skepsis damals mit klaren Worten: Nach der Wiedervereinigung seien die Deutschen im eigenen Nationalstaat „angekommen“, fühlten sich dort wohl und verankert und brauchten deshalb kein ÜberEuropa mehr. Die Nationalstaaten seien die Grundlage für alles Weitere, einen europäischen Kontinentalstaat werde es nicht geben. Doch wozu dann eine Verfassung? Die Botschaft wurde gehört, allein der Glaube fehlte. Was Fischer bestätigte, um eine verfehlte Politik zu retten, legte eine Entwicklung bloß, die das Ende der Verfassungsbemühungen brachte. Selbstverständlich gibt es „Wenn und Aber“. Wenn der britische Premierminister Blair aus innenpolitischer Bedrängnis nicht eine Volksabstimmung über den Vertrag verkündet hätte (die nie stattgefunden hat), wäre auch der französische Präsident Chirac nicht auf den Gedanken gekommen. Andere Sünden der Vergangenheit wirkten mit. Die Aktion der 14 gegen Österreich zeigte aller Welt, dass feierlich eingegangene rechtliche Verpflichtungen von Fall zu Fall eher wenig bedeuten. 45 Wenn eine politische Elite – in diesem Fall eine sozialdemokratische, ergänzt durch Präsident Chirac – plötzlich der Hafer sticht, beruft sie sich auf „Werte“, beschließt ein Umgehungsmanöver und die EU handelt plötzlich als ein Verein freier Mitgliedstaaten. Ähnlich beim Euro-Stabilitätspakt, der politischer Opportunität geopfert wurde. Diese politische Verhaltensweise ist nicht europäisch, sondern nur europaweit verbreitet, in ihrer Essenz aber eindeutig nationalistisch. 8. Gegen Veränderungen Beim manchmal quijotisch anmutendem Widerstand gegen den internationalen wirtschaftlichen Wettbewerb vereinen sich konservative Befürchtungen über einen Verlust an staatlicher Souveränität und kultureller Autonomie mit sozialdemokratischen Ängsten über ein Zerrinnen staatlicher Regulierungsmittel und -gewalt in der nationalen Wirtschaft. Im kontinentalen Europa hat die Diskussion darüber eine klassenkämpferische Note. Es ist die alte Linke, die sich auf den Primat der Politik beruft und die unerwünschten Liberalisierungsimpulse der grenzüberschreitenden Wirtschaftskonkurrenz abbremsen, wenn nicht negieren möchte und nach staatlichen Gegenmaßnahmen ruft. Sie argumentiert dabei nationalistisch und war damit zumindest in Deutschland erstaunlich erfolgreich. In Frankreich ist der politische Primat durch die starke Zentralisierung der Macht besser abgesichert. Im Deutschland der Großen Koalition mit seinem nur schwach artikulierten Liberalismus und in den nordeuropäischen Wohl- 39-49_Kamer 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 46 46 fahrtsstaaten mit ihren starken Regulierungstraditionen hat die nationale Politik stärkeres und retardierendes Gewicht. In Russland wie auch in Osteuropa stellt sich das Problem in ganz anderer, eher frühkapitalistischer Form. Im Rest der Welt, in Asien, Afrika und Südamerika, wäre es wohl vermessen, vom Primat der Wirtschaft zu sprechen. Asien ist nicht der Ort, wo supranationale Gedanken sprießen. Bestätigt hat sich auf dem ganzen Feld, dass es kein einziges und einzigartiges Modell einer politischen und wirtschaftlichen Ordnung gibt, weder ein globales, asiatisches oder westliches, noch ein europäisches, sondern dass Amerika, Japan, Deutschland und Frankreich, aber auch Großbritannien, um nur sie zu nennen, alle ziemlich unterschiedliche Sitten und Gebräuche pflegen und eine sehr eigene nationale Auffassung etwa über die Rolle des Marktes hegen. Aber auch das zur Abgrenzung von Amerika propagierte europäische Sozialmodell existiert nur in den Köpfen von Intellektuellen. Die Realität ist viel bunter – was sich ja allein an den so unterschiedlichen Größenordnungen von Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit in Europa ablesen lässt. Nationale Tugenden und Laster bestimmen jedenfalls auch in unserer „neuen“ Zeit sehr weitgehend, wie sich Völker und Individuen verhalten. 9. Patriotismus und seine Spielformen Einem Briten oder Franzosen käme es kaum in den Sinn, dem Begriff „Patriotismus“ das Adjektiv „aufgeklärt“ hinzuzufügen. Dass mit seinem National- Hansrudolf Kamer gefühl, selbst in patriotischer Überhöhung, etwas nicht in Ordnung sein könnte und eines qualifizierenden Beiwortes bedarf, ist ihm fremd. Deutsche Geschichte natürlich, die Erfahrung, dass der schließlich verwirklichte Traum vom Nationalstaat in Niederlagen, Zusammenbrüchen und Verbrechen endete, ist für die deutsche Empfindung in diesem Zusammenhang verantwortlich. Dennoch ist es wohl keine Frage, dass die Deutschen eine nationale Identität gefunden und sich, wie der damalige Außenminister Fischer erklärte, darin gut eingerichtet haben. Während vor wenigen Jahren der frühere Bundeskanzler Kohl von der Notwendigkeit sprach, sein wiedervereinigtes Land müsse in die westlichen Strukturen fest „eingebettet“ werden und deshalb die Einigung Europas vorantrieb, wo er konnte, so ist dieser spezifisch deutsche Enthusiasmus wohl erlahmt. Kohls Motiv damals war eine Beschwichtigung Frankreichs und Großbritanniens, die vor der Vereinigung Deutschlands einigen Argwohn geäußert hatten. Nun aber ist diese Einbettung organisatorisch erfolgt und die Außenpolitik der Nachfolgeregierung, der rotgrünen Koalition, zeigte zumindest rhetorisch eine gegenüber Amerika emanzipatorische Qualität und versuchte im europäischen Rahmen, vermehrt deutsche Interessen durchzusetzen. Einbettung war ganz klar nicht gleichzusetzen mit „westlichem Patriotismus“. Ein „aufgeklärter Patriotismus“ dagegen ist in Deutschland wohl bereits Realität. Aufgeklärt heißt in diesem Fall wohl, dass von einem aufopfernden Patriotismus in Deutschland keine Rede sein kann, sondern dass eine gewisse Restskepsis gegenüber dem „Vaterland“ vorhanden geblieben ist. 39-49_Kamer 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 47 Nationale Triebkräfte in der globalisierten Welt Anderswo, in den „neuen“ Mitgliedsländern der EU, herrscht eine andere Stimmungslage. Ohne die einigende und mobilisierende Kraft des Nationalismus in den osteuropäischen Ländern wäre die Befreiung vom Kommunismus kaum möglich gewesen.12 Nationale Selbstbestimmung und der Wechsel von der leninistischen Klassenkampfideologie (die ja internationalistisch war) zu einem nationalen Grundkonsens waren die Voraussetzungen dafür, dass die Transformation politisch möglich wurde. Auch heute kann die Idee der Nation im Kampf gegen fremde Herrschaft oder einen Angriff ein gemeinsames Ziel vorgeben, das zum Handeln motiviert und anderes in den Hintergrund drängt. Eine Nation ist, wie der Klassiker Ernest Renan schrieb, eine tägliche Volksabstimmung, eine demokratische Willensgemeinschaft. Doch nicht nur, sie ist mehr als das, nämlich auch die „Kulmination einer langen Vergangenheit von Anstrengung, Opfer und Hingabe“13. Im Gegensatz zu einem „aufgeklärten“ steht der „ökonomische Patriotismus“, der von Washington bis Paris und anderswo zunehmend praktiziert wird. Er findet seinen Ausdruck in den Versuchen der polnischen und italienischen Regierung, Übernahmeofferten ausländischer Banken zu bekämpfen. Die französische Regierung will im Energiesektor die Italiener fern halten und die spanische Regierung die Deutschen. Die starke Verwässerung der so genannten Dienstleistungsdirektive, die die Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt hätte weiterbringen sollen, entspringt den gleichen Motiven. Die Folgen könnten für die Euro-Zone unangenehm werden, denn der Erfolg des Euro 47 hängt von der Mobilität der Arbeitskraft, der Produkte, Dienstleistungen und des Kapitals ab. Der ökonomische Patriotismus, diese Spielform der Politik, ist aber weder wirtschaftlich, noch patriotisch. Protektionismus – und um das geht es – ist reine Politik, spielt mit nationalen Symbolen und schadet der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Politik, die wirtschaftlich Nachteile bringt, ohne dafür kompensatorisch Vorteile aufzuweisen (bei der nationalen Sicherheit zum Beispiel), ist nicht patriotisch. Dass der italienische Wirtschaftsminister bereits erklärte, der neue Aufbau protektionistischer Barrieren erinnere an den August 191414, ist dann allerdings etwas weit hergeholt. Dennoch entfaltet der Nationalismus zur Zeit eine ungebrochene Kraft, zum Teil als Widerstand gegen die Globalisierung, und er ist politisch oft stärker als der Appell an das wirtschaftliche Selbstinteresse. Das betrifft nicht nur die europäischen Staaten. Der wachsende Handel und die engeren wirtschaftlichen Beziehungen zwischen China und Japan hat diese historisch verfeindeten Nationen nicht zu Freunden werden lassen. Und die wirtschaftliche Misere im Iran und der Widerstand gegen die Herrschaft der Theokratie hindert die meisten Iraner nicht daran, für ihr Land patriotische Gefühle zu hegen – so, dass sie sogar das Atomprogramm des Regimes unterstützen. Das 20. Jahrhundert mit seinen Ideologien und ideologischen Konflikten scheint zwar sein Ende gefunden zu haben und das neue Jahrhundert könnte eine Epoche einläuten, in der sich die Erdenbewohner wieder mehr über Religion und Kultur definieren. Was Ame- 39-49_Kamer 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 48 Hansrudolf Kamer 48 rika betrifft, so ist diese Entwicklung seit längerem absehbar. Weder sind die Vereinigten Staaten ein multikultureller Sumpf geworden, der sämtliche Einflüsse von außen aufsaugt und absorbiert, die kosmopolitische Variante, noch sind sie zu einem Imperium mutiert, das die ganze Welt nach seinem Muster umformen will. Die Rückkehr zum Nationalismus dagegen, die Besinnung auf die Elemente, die die nationale Identität Amerikas ausmachen, bestimmt den Gang der Dinge im begonnenen Jahrhundert immer mehr. Religion ist ein weiteres Stück im Puzzle. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist die Säkularisierung weltweit gebremst und zum Teil umgekehrt worden. Religionen sind wieder auf dem Vormarsch und machen ihren Einfluss auf die Politik geltend. Religion war meistens Teil einer nationalen Identität, und Amerika mit seiner christlichpolitischen Ausrichtung, die sich verstärken könnte, wird sich hier in den nächsten Jahren von Europa eher mehr unterscheiden als in der jüngsten Vergangenheit. Die Abschwächung der Säkularisierung bedeutet vermutlich, dass abstrakte, intellektuelle Utopien an Anziehungskraft verlieren. 10. Abschied von Utopien Dass in den Neunzigerjahren unter der Präsidentschaft Clintons die Globali- sierung mit Amerikanisierung gleichgesetzt wurde, war in dieser Phase wohl zutreffend. Doch die letzten Jahre zeigten, dass diese doch eher oberflächliche Amerikanisierung an Grenzen stößt und Gegenreaktionen auslöst, während die wirtschaftliche und technische Globalisierung weitergeht. Gleichzeitig ist die Verankerung in einem nationalen Bewusstsein weltweit stärker geworden. Was die Folgen davon sind, lässt sich noch kaum abschätzen. Ein Opfer könnte die Europäische Union sein in dem Sinne, dass die ehrgeizigsten Ziele bei den Bemühungen um eine Vertiefung der politischen Union aufgegeben werden müssen. Auseinander fallen wird sie dennoch nicht; sie wird mit der Kraft des Nationalismus leben lernen. Sie wird mit dem Nationalstaat regieren müssen oder gar nicht. Im antiamerikanischen Europa-Manifest von Derrida und Habermas war noch behauptet worden, Europa verkörpere ein „Regieren jenseits des Nationalstaats“15. Eine Rückkehr zu mehr Pragmatismus in der europäischen Politik, eine Absage an das utopische Denken, lassen einem aufgeklärten Patriotismus durchaus Raum. Dieser könnte sich dereinst wieder auf eine positivere nationale Identität stützen und wäre in dieser Sicht nur ein Schritt auf dem Weg zu einem normalen Patriotismus. Das Pendel schwingt zurück. Anmerkungen 1 2 Fußball ist Bundessache geworden, selbst in der Schweiz, die zusammen mit Österreich die Europameisterschaften 2008 organisieren und durchführen soll. Huntington, Samuel P.: Who are we? America’s Great Debate, London 2004. 3 Wenn die chinesische Führung in Schwierigkeiten gerät, appelliert sie an das Nationalgefühl ihrer Untertanen. Zuletzt gut sichtbar nach dem Zwischenfall mit dem amerikanischen Überwachungsflugzeug, das nach einem Zusammenstoß mit einem 39-49_Kamer 12.05.2006 8:32 Uhr Seite 49 Nationale Triebkräfte in der globalisierten Welt 4 5 6 7 8 9 10 chinesischen Abfangjäger am 1.4.2004 auf der Insel Hainan notlanden musste. Flacke, Monika (Hrsg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, München/Berlin 1998. Fukuyama, Francis: The End of History, New York 1992. Coolidge, Calvin, 30. Präsident der USA (1923–1929), zit. nach NZZ, 3.1.1998. Roosevelt, Franklin Delano: State of the Union Address. Jan. 3, 1936. Roosevelt behauptete, seine Administration habe in nur 34 Monaten ein neues Verhältnis zwischen Regierung und Volk geschaffen. Der New Deal diente nicht nur dazu, die Depression zu bewältigen, sondern etablierte die Bundesregierung in Washington als Quelle staatlicher Wohltaten, die ein breites Spektrum von Wählerkreisen bedienen konnten. Bergström, Fredrik/Gidehag, Robert: EU versus USA, Stockholm 2004. Flacke, M., Mythen der Nationen, S.19. Ebda., S. 21. 11 12 13 14 15 49 Besuch des deutschen Außenministers Fischer in Paris, vgl. NZZ, 17.6.2000. Schulze, Hagen: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 2004, S. 335–336. Renan, Ernest: Qu’est-ce qu’une nation et autres essais politiques, Lisieux 1997. Auf das Thema Deutschland war er 1882 noch einmal in seinem berühmten Vortrag an der Sorbonne „Qu’est-ce qu’une nation?“ eingegangen. Ausgelöst durch die Frage nach der Berechtigung der Annexion von Elsaß-Lothringen stellte er dem deutschen Nationsbegriff mit seiner Berufung auf Sprache und Abstammung mit der Metapher „l’existence de la nation est un plébiscite de tous les jours“ seine eigene Definition der Nation als demokratische Willensgemeinschaft gegenüber. Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Derrida, Jacques/Habermas, Jürgen: Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas, FAZ, 31.5.2003. 50-57_Schulze 12.05.2006 8:34 Uhr Seite 50 Was ist deutsche Identität? Hagen Schulze Wer am 22. März 1972 die Auseinandersetzungen des Deutschen Bundestags über die mit Polen und der Sowjetunion abgeschlossenen „Ostverträge“ der Regierung Brandt als Zuhörer verfolgte, der musste den Eindruck bekommen, in ein geschichtsphilosophisches Hauptseminar geraten zu sein. Im Mittelpunkt der Diskussion standen nicht der Austausch von Botschaftern oder die Normalisierung der westdeutschen Beziehungen zu Osteuropa, sondern die Zukunft und die Vergangenheit Deutschlands in Europa: Ging es, wie die christlich-demokratische Opposition forderte, um den Vorrang der deutschen Wiedervereinigung „in den Grenzen von 1937“, was freilich durch die Verträge ein Stück unwahrscheinlicher wurde, oder ging es, wie die sozialliberale Regierungskoalition wollte, in erster Linie um den Frieden und die Entspannung in ganz Europa, auch auf Kosten der deutschen Wiedervereinigungs-Hoffnung? Mit anderen Worten: Wollte man noch die Einheit der Nation, oder war dieses Thema überholt? Man redete von mehreren möglichen deutschen Zukünften und deshalb auch von mehreren deutschen Vergangenheiten. Vier ganz unterschiedliche Vorstellungen von der deutschen Geschichte beherrschten die Debatte. Der Oppositionssprecher Richard von Weizsäcker meinte, alle deutsche Politik müsse darauf gerichtet sein, den deutschen Nationalstaat wieder so herzustellen, wie ihn Bismarck 1871 gegründet habe. „Ich meine,“ so Weizsäcker, anknüpfend an Renans berühmtes Diktum, „Nation ist ein Inbegriff von gemeinsamer Vergangenheit und Zukunft, von Sprache und Kultur, von Bewusstsein und Wille, von Staat und Gebiet. Mit allen Fehlern, mit allen Irrtümern des Zeitgeistes und doch mit dem gemeinsamen Willen und Bewusstsein hat diesen unseren Nationsbegriff das Jahr 1871 geprägt. Von daher – und nur von daher – wissen wir Heutigen, dass wir uns als Deutsche fühlen. Das ist bisher durch nichts anderes ersetzt.“1 Der Widerspruch war vehement und kam aus allen Lagern. Ein Sprecher der SPD verwies auf den Unterschied zwischen Staat und Nation und erklärte, im Bismarck-Staat sei der größte Teil der deutschen Nation unterdrückt worden; wer sich auf deutsche Geschichte berufen wolle, um die Zukunft zu gestalten, müsse an die freiheitlichen Traditionen der Bauernkriege, der Aufklä- Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 50-57_Schulze 12.05.2006 8:34 Uhr Seite 51 Was ist deutsche Identität? rung, der Arbeiterbewegung und des Widerstands gegen Hitler anknüpfen.2 Mehrere süddeutsche Redner sahen sich in völlig anderen historischen Zusammenhängen: Deutschland sei eigentlich nichts anderes als ein Bündel aus vielen Staaten, Regionen und Städten, Preußen, Bayern, Württemberg, Sachsen-Coburg-Gotha, Hamburg und vielen anderen, die sich erst sehr spät in ihrer Geschichte und dann auch nur für kurze Zeit zu einem Nationalstaat zusammengeschlossen hätten.3 Der Sozialdemokrat Carlo Schmid schließlich nannte den deutschen Nationalstaat eine historisch gegebene, aber fast schon überwundene Form der Gemeinschaft, eine Vorstufe auf dem Weg zur Nation Europa. Welch eine sonderbare Debatte und keineswegs einmalig; Diskussionen über die Frage, was die deutsche Geschichte sei, finden sich immer wieder in deutschen Parlamentsprotokollen. In der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 ging es bei der Beratung der deutschen Reichsverfassung um die Grenzen des künftigen Nationalstaats und also um Fragen wie die, wie Welsch-Tirol oder Böhmen in einen solchen Staat passten, oder ob Polen nationale Rechte besäße, und zeitweise schienen die Zeitalter Barbarossas oder Karls IV. gegenwärtiger als das 19. Jahrhundert.4 Und als die Weimarer Nationalversammlung 1919 über Annahme oder Ablehnung des Versailler Vertrags zu entscheiden hatte, schieden sich die Geister zwischen den unbedingten Anhängern des Nationalstaats von 1871 und einer altpreußisch gesonnenen 51 Minderheit: Die einen waren für die Unterzeichnung des Versailler Vertrags, weil dann immerhin die Einheit des Deutschen Reichs bewahrt würde, die anderen plädierten für die Ablehnung der alliierten Friedensbedingungen und für den Rückzug hinter die Elbe; die Besetzung Westdeutschlands und die Zerschlagung des Reichs durch die Westmächte wollte man in Kauf nehmen. Wie jung doch der Bismarcksche Nationalstaat damals noch war: Die Bereitschaft, in der Stunde der nationalen Niederlage den deutschen Westen den Siegern zu überlassen und sich auf die alte Festung Preußen zurückzuziehen, reichte weit über das konservative Lager hinaus. Auch bei dieser Debatte ging es um die Bewertung historischer Vorbilder. War nicht der Freiheitskrieg gegen Frankreich 1813 und damit die Wiedergeburt der Nation von Tauroggen ausgegangen, dem äußersten östlichen Zipfel Preußens, und von dem Bündnis zwischen Preußen und Russland gegen den „Erbfeind“ im Westen? In einem langen und gelehrten Hin und Her verteidigten und verurteilten die Abgeordneten in der Weimarer Nationalversammlung 1919 die Handlungsweise des preußischen Generals Yorck, als habe dessen Gegner nicht Napoleon geheißen, sondern Marschall Foch.5 Wo Weichen für die Zukunft der deutschen Politik gestellt werden, da begibt man sich regelmäßig auf die Suche nach der deutschen Identität, und regelmäßig endet diese Suche nach langen und akademisch gefärbten Debatten im Ungewissen. Dass wir überhaupt über eine Geschichte der deutschen Nation reden, hat sich also durchaus nicht immer von selbst verstanden. Friedrich Schiller fragte 1796: „Deutschland? 50-57_Schulze 12.05.2006 8:34 Uhr Seite 52 52 Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden (...).“6 Und Metternich hielt die Behauptung, es gebe eine deutsche Nation, ganz einfach für einen „Mythos“ und einen „schlechten Roman“.7 Dergleichen Zweifel an der deutschen Identität wirken heute durchaus nicht veraltet, und so auch nicht die Zweifel an ihrem Inhalt. Der jüngste Historikerstreit zwiespältigen Angedenkens bestätigt dies ebenso wie die lange Auseinandersetzung in den 80er-Jahren darum, was in dem damals erst geplanten „Deutschen Historischen Museum“ in Berlin eigentlich ausgestellt werden sollte; auf dem Deutschen Historikertag in Trier 1986 konnte daher ein Redner einigen Beifall finden, der erklärte, was deutsche Geschichte sei, könne man doch heute gar nicht mehr sagen; man solle in Berlin lieber chinesische Geschichte ausstellen, da wisse man doch wenigstens, wovon die Rede sei. So weit ist es nicht gekommen, wovon wir uns heute im Zeughaus überzeugen können, aber die Orientierungsprobleme in der deutschen Geschichte sind nicht von ungefähr. Anders als beispielsweise in England oder Frankreich, wo sich bereits im Hochmittelalter Keimzellen zentraler Herrschaftsgewalt und damit Voraussetzungen moderner nationaler Staatsorganisation entwickelt haben, sind in Mitteleuropa zwei politische Strukturen zugleich entstanden, die oberhalb und unterhalb nationalstaatlicher Organisation standen. Da war einerseits das Heilige Römische Reich, dessen raison d’être auf universaler und transnationaler Herrschaft beruhte, und da war andererseits die kaum überschaubare Fülle der Territorialstaaten und Reichsstädte, deren Ei- Hagen Schulze genständigkeit und Selbstbewusstsein in dem Maße zunahmen, in dem das Reich im Laufe der frühen Neuzeit zu einem machtlosen, fast metaphysischen Gebilde verkümmerte. So kam es, dass Frankreich und England längst ihre historische Identität als moderne Staatsnationen gefunden hatten, während in Mitteleuropa noch entweder Reichsgeschichte geschrieben und wahrgenommen wurde – und die umfasste Italiener, Böhmen und Burgunder nicht weniger als Deutsche – oder aber Territorialgeschichte, also etwa die Geschichten Bayerns, Sachsens oder des Fürst-Bistums Salzburg. Eine deutsche Nationalgeschichte wurde eigentlich erst seit Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt, als Michael Ignaz Schmidt die „Geschichte der Deutschen“ schrieb. Das war gut tausend Jahre, nachdem Beda Venerabilis in einem englischen Kloster seine „Historia ecclesiastica gentis Anglorum“ geschrieben hatte, also die Kirchengeschichte des englischen Volkes, und gut sechshundert Jahre nach Guibert von Nogents „Gesta Dei per Francos“ – also die Geschichte der Taten, die Gott mit Hilfe des französischen Volkes vollbrachte. Dass die Franzosen oder die Engländer Gegenstände von Geschichtsschreibung sein konnten, war seit dem Mittelalter durchaus geläufig – die Umrisse einer deutschen Nation jedoch blieben noch Hunderte von Jahren undeutlich. Mit dem späten Erwachen einer deutschen Nationalbewegung aus den Umwälzungen der napoleonischen Epoche wuchs aber auch in der Mitte Europas das Bedürfnis nach Legitimation durch Nationalgeschichte. Da eine nationalstaatliche Kontinuität der Deutschen 50-57_Schulze 12.05.2006 8:34 Uhr Seite 53 Was ist deutsche Identität? schlechterdings nicht bestand, musste eine solche geschaffen werden. Da wurde beispielsweise Preußen zum jahrhundertealten Sachwalter deutscher Nationalgeschichte ernannt oder ein großer Bogen aus mythisch verklärten Vorgeschichten bis in die Gegenwart geschlagen, beginnend mit dem staufischen Mittelalter, mit dem Germanien des Tacitus oder mit der edlen Einfalt des klassischen Griechenland, wie Winckelmann oder Wilhelm von Humboldt es erträumten und umstandslos in die deutsche Gegenwart um 1800 transponierten. So entstanden viele deutsche Nationalgeschichten, zumindest so viele, wie es politische Zukunftserwartungen gab. Der norddeutsche Bildungsbürger fand sich in durchaus anderen historischen Kontinuitäten als der katholische Handwerker, die Geschichtsbilder des ostpreußischen Junkers hatten mit denen eines sozialdemokratischen Fabrikarbeiters kaum etwas gemeinsam, und zudem änderten sich die historischen Zusammenhänge und Schwerpunkte mit dem geografischen Standpunkt. Von Berlin aus ließ sich eine durchaus andere deutsche Geschichte schreiben als aus den Perspektiven Münchens, Frankfurts, Stuttgarts oder Wiens. Historische Daten, erinnerungswerte Ereignisse und Namen, Feste und Gedenktage – das alles war und blieb über Jahrhunderte verschieden. Die späte Geburt der deutschen Nation als bewusste politische Einheit hat verhindert, dass die vielen deutschen Geschichten in eine Geschichte zusammenwuchsen. Und zum Unheil Deutschlands war es Adolf Hitler, der als erster und letzter deutscher Staatsmann versuchte, die vielen deutschen Traditionen und Geschichtsbilder in 53 der politischen Wirklichkeit zusammenzuzwingen: Arminius und Barbarossa, Karl den Großen und Widukind, Friedrich den Großen und Prinz Eugen, Windischgraetz und Bismarck, alle die disparaten, auseinander strebenden, widerspruchsvollen Mythen des deutschen Nationalbewusstseins. Nur ein einziges Mal in der deutschen Geschichte wurden Träume und Wirklichkeit aller Deutscher zusammengebracht: im Albtraum des „Großdeutschen Reichs“. Und da das Großdeutsche Reich und der Ruin der deutschen Geschichte zusammengehörten, beschlossen die Deutschen nach 1945 ihren Austritt aus der Geschichte. In der sowjetischen Besatzungszone wurde die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte einstweilen mit der Spitzhacke geführt. Gutshäuser der vormals landbeherrschenden Adelselite wurden aus der Landschaft radiert, als habe es sie niemals gegeben, das Berliner Schloss, der Turm der Potsdamer Garnisonskirche als Denkmäler des „Preußischen Militarismus“ geschleift, Rauchs Statue Friedrichs des Großen von ihrem Platz auf dem Berliner Lindenforum entfernt, Dörfer und Städte umbenannt. Der neue deutsche sozialistische Staat sollte aus dem Nichts entstehen, die Unschuld der Deutschen Demokratischen Republik an der deutschen Geschichte bedurfte der Tabula rasa. Und der westliche Teil Deutschlands war nicht weniger vergangenheitsmüde. Die „deutsche Katastrophe“, die Friedrich Meinecke in seinem Essay von 1946 beklagte, bestand nicht allein im politischen und militärischen Geschehen der Zeit, sondern in erster Linie im Auseinanderfallen von Natio- 50-57_Schulze 12.05.2006 8:34 Uhr Seite 54 54 nalgeschichte und Sittlichkeit, von Macht und Geist. Der Traum des deutschen 19. Jahrhunderts von einer deutschen Nationalgeschichte hatte große Verheißungen für die Zukunft der deutschen Nation enthalten; die deutsche Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts war durch Niederlagen, Zusammenbrüche und Verbrechen verdunkelt. Der Schweizer Historiker Jakob Burckhardt hatte einst den „siegesdeutschen Anstrich“ der deutschen Historie ironisiert; mit der Auflösung dieses Anstrichs fiel die deutsche Geschichte auseinander. Wenn Alfred Heuss 1959 vom „Verlust der Geschichte“ sprach, dann meinte er nicht nur das Desinteresse der Deutschen an ihren historischen Wurzeln, sondern er beklagte auch, dass ein Zusammenhang deutscher Geschichte, der vom Mittelalter in die unmittelbare Gegenwart führte, nicht mehr erkennbar sei.8 Die Zukunft der Nation war zerbrochen, Nationalgeschichte daher sinnlos. Eine Zeit lang waren das hauptsächlich Probleme einer kleinen Expertenzunft; für die Bewohner Westdeutschlands schien es ein komfortabler Zustand, die Geschichte zu verdrängen, die Gegenwart mit ihren hohen industriellen Wachstumsraten und dem zunehmenden Massenwohlstand zu genießen und etwas erstaunt die übrige Welt zu betrachten, in der das Prinzip der nationalen Identität ungebrochen herrschte und seine politische Wirksamkeit Tag für Tag unter Beweis stellte. Aber dieser Zustand bekömmlichen inneren Wohlstandes und seliger außenpolitischer Verantwortungslosigkeit änderte sich seit den 80er-Jahren. Die problemlose Einbettung der Bundesrepublik Deutschland in ein stabiles Hagen Schulze Bündnissystem ging ebenso zu Ende wie der lange Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit. In solchen Zeiten wächst das Bedürfnis nach kollektiver Identität. Es hatte deswegen nichts mit „Nostalgiewelle“ oder reaktionärem Bewusstsein zu tun, wenn auf massive öffentliche Proteste hin der Geschichtsunterricht in die Schulen zurückkehrte, wenn historische Ausstellungen und Museen die Menschen in Massen anzogen, wenn die geschichtliche Sachbuchliteratur einen Aufschwung wie einst im 19. Jahrhundert nahm. Und Ähnliches fand auch in dem zweiten deutschen Staat statt. Auch die DDR hatte sich von ihrer ursprünglichen historischen Abstinenz gelöst, was vor allem daran deutlich wurde, dass die Geschichte Preußens als historisches Erbe der DDR entdeckt wurde. Eine – übrigens in vieler Hinsicht vorzügliche – Biografie Friedrichs II. aus der Feder von Ingrid Mittenzweig war in kürzester Zeit vergriffen, Clausewitz- und Schinkel-Gedenktage wurden als staatliche Feiern begangen, und auch der Alte Fritz ritt wieder Unter den Linden gen Osten, polnischen Berlin-Besuchern zum Ärgernis. Im Wettlauf um die deutsche nationale Identität durch Besetzung der Historie deutete sich eine Art von Konvergenzentwicklung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR an, und manch einer sah bereits in Ostdeutschland eine Art rotes Piemont heranreifen, das sich zunächst der Erbschaft der deutschen Geschichte bemächtigte, bevor es dann, solchermaßen historisch legitimiert, die deutsche Einheit unter den Auspizien von Hammer und Sichel vorantrieb. Aber dennoch blieben bis zur Vereinigung 1989 tief greifende Unterschiede bestehen. Westdeutsche wie ostdeutsche Schüler mussten im Laufe 50-57_Schulze 12.05.2006 8:34 Uhr Seite 55 Was ist deutsche Identität? ihrer Schulzeit jeweils etwa 250 historische Daten zur Kenntnis nehmen; mehr als die Hälfte dieser Daten war jedoch in Ost und West verschieden. Von einer in sich zusammenhängenden, langdauernden Kontinuität des nationalen Gemeinschaftsbewusstseins der Deutschen kann also keine Rede sein. Dennoch sind wir zweifellos ein Volk, das sich historisch wieder erkennt – allerdings nicht in einer Geschichte, sondern in mehreren. Da ist einmal, als die wahrscheinlich tiefste Schicht, die Selbstwahrnehmung der Deutschen als Kulturnation. Das gemeinsame Erbe der Erinnerung ist in Deutschland vor allem mit Dichtern und Denkern, Künstlern und Wissenschaftlern verbunden. Hier findet sich am ehesten ein Kanon von Namen und Werken, die den Wechsel von Ideologien und Regimes überdauert haben, von Bach bis Wagner, von Dr. Faustus bis Einstein, von Goethe bis Karl May. Wie sehr es sich bei solchen Namen um Ikonen des nationalen Gedächtnisses handelt, zeigt sich bereits darin, dass es kein Regime in Deutschland vermocht, ja nur versucht hat, diesen Kanon aufzubrechen oder neu zu besetzen; Nationalsozialisten wie Kommunisten habe sich lediglich bemüht, ihn jeweils neu zu interpretieren. Nicht zufällig war die Goethe-Gesellschaft die letzte gesamtdeutsche Vereinigung vor 1989. Gewiss verblasst dieses historische Band allmählich, wobei nicht so sehr die Kulturrevolution der Achtundsechziger als vielmehr die immer stärkere Einbindung Deutschlands in eine transatlantische Trivialkultur eine Rolle spielt; doch zeigt die kollektive Empörung gegen die Anmaßung von Ministerialbürokraten, das Volk mit neuen Rechtschreibregeln zu beglücken, 55 wie tief das Gemeinschaftsgefühl der Kultur- und Sprachnation noch verwurzelt ist. Wollen wir dagegen an staatlich-politischen Erinnerungen anknüpfen, bleibt uns in erster Linie die Erinnerung an das von Bismarck gegründete Deutsche Reich von 1871 bis 1945, das ja nicht nur Obrigkeitsstaat, sondern auch Nationalstaat war, und zwar der einzige Nationalstaat, den wir Deutschen vor 1990 gehabt haben. Es ist kein Zufall, dass die allmählich konvergierenden Geschichtsbilder in der DDR und der Bundesrepublik von beiden Seiten her auf Bismarck zuliefen – auf die in vielem bemerkenswerte Bismarck-Biografie des Marxisten Ernst Engelberg folgte die große Bismarck-Ausstellung in West-Berlin. Es war dieser deutsche Nationalstaat, an den die Bundesrepublik Deutschland ihre ‚raison d’être‘ knüpfte, wenn sie die Weiterexistenz Deutschlands „in den Grenzen von 1937“ postulierte, also jenes Staatsgebiets, das nach dem Versailler Vertrag und den darauf folgenden Volksabstimmungen zu Deutschland gehörte. Und jenseits der Mauer proklamierte man zwar seit 1974 eine „sozialistische Nation“ in einem „sozialistischen deutschen Staat“, aber stets mit dem Vorbehalt einer Wiedervereinigung, falls irgendwann in Westdeutschland sozialistische Zustände einkehrten. So definiert sich auch der zweite deutsche Nationalstaat, der mit dem 3. Oktober 1990 ins Leben getreten ist, unter Rückgriff auf den ersten deutschen Nationalstaat, wenn auch selten ausdrücklich. Das geschieht vielmehr in aller Regel völlig unbewusst; wie es sich ohne weiteres ergibt, wenn man die großdeutsche Alternative zum klein- 50-57_Schulze 12.05.2006 8:34 Uhr Seite 56 56 deutschen Bismarck-Reich ins Auge fasst – sie ist aus den deutschen Geschichtsbildern völlig verschwunden, Österreich ist trotz aller historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten aus der geschichtlichen Perspektive der Deutschen ausgewandert. Dass dennoch das Deutsche Reich zwischen 1871 und 1945 bei unserer heutigen historischen Identitätsbestimmung nur noch selten ausdrücklich als Referenz gilt, erklärt sich ohne weiteres aus seiner Erfolglosigkeit – das Kaiserreich endete in einer Kriegsniederlage und Revolution, die so anständige und erinnerungswerte Weimarer Republik scheiterte nicht zuletzt, weil sie in den Herzen ihrer Bürger keinen Platz fand und bis heute in erster Linie als Inbegriff von Unordnung und Bürgerkrieg im kollektiven Gedächtnis geblieben ist, als negative Hintergrundfolie zur Bonner und Berliner Republik. Mit dem so genannten Dritten Reich fuhr schließlich der erste deutsche Nationalstaat mit dem Kriegsende zur Hölle. Vor allem ist da der Geschichtsfelsen Nationalsozialismus, der eine positive Identifizierung mit der jüngeren deutschen Geschichte nicht erlaubt und in den Augen vieler Betrachter seine Schatten auch über frühere Epochen der deutschen Geschichte wirft. Und dennoch, so paradox es klingt: Gerade die Katastrophe des Nationalsozialismus gehört zu den Erinnerungen, die die Deutschen zusammenhalten, und zwar in hohem Maße. Hier sitzt uns unsere Geschichte wirkungsmächtig im Nacken und fordert unsere Anteilnahme, vom problematischen Historikerstreit über die Wirkung von Büchern wie im Fall Goldhagen oder Götz Aly bis hin zur Umbenennung von Straßen oder zur Planung von Mahn- Hagen Schulze malen. Zur geschichtlichen Identitätsfindung der Deutschen gehört eben nicht nur Zustimmungsfähiges, und die Stimmen, die fordern, Schluss mit der Erinnerung an diesen Teil unserer Vergangenheit zu machen, unterschätzen die traumatische Kraft der Erinnerung an die Verbrechen, die von Deutschen und im Namen der Deutschen geschehen sind. Der Versuch, hier auszusteigen, ist mit Sicherheit zum Scheitern verurteilt, wie jeder weiß, der sich längere Zeit im Ausland aufgehalten hat; denn was uns Kontinuität verschafft, ist ja nicht nur unsere eigene Geschichte, sondern auch der Blick unserer Nachbarn auf unsere Vergangenheit. Auch gemeinsame Verantwortung vereint. Im Übrigen darf man nicht annehmen, nationale Kontinuität werde in erster Linie vom Bewusstsein und der Kenntnis historischer Zusammenhänge genährt. Wer danach in der Bevölkerung sucht, der wird enttäuscht werden – mit der Wirksamkeit der Historiker und ihrer Produkte in der Öffentlichkeit ist es nicht weit her. Der Blick auf die gemeinsame Vergangenheit wird vielmehr in aller Regel von Trümmern und Bruchstücken einstiger, oft längst untergegangener kollektiver Erfahrungen bestimmt. Da sind Denkmäler und Mahnmäler, die das gemeinsame Bewusstsein auf bedeutende Ereignisse oder Personen lenken sollen, aber auch andere Monumente oder Gebäude, die unabsichtlich in diese Aufgabe hinein gewachsen sind, wie beispielsweise der Berliner Reichstag, die Frankfurter Paulskirche oder die Wartburg. Da gibt es Gedenkfeiern und historische Daten – 3. Oktober, 17. Juni, 20. Juli –, historische Gestalten wie Luther, Bismarck, Napoleon oder Rosa Luxemburg, Albert 50-57_Schulze 12.05.2006 8:34 Uhr Seite 57 Was ist deutsche Identität? Einstein oder Faust, symbolische Erscheinungen wie „made in Germany“ und die D-Mark nostalgischen Gedenkens, der Volkswagen-Käfer und die Bundesliga, Grimms Märchen und die 65 Bände Karl May, die Völkerschlacht, Weihnachten, der deutsche Wald, Willy Brandts Kniefall in Warschau oder der Bamberger Reiter. In welchem Maße das Fernsehen daran beteiligt ist, dergleichen Bilder hervorzubringen und sie im kollektiven Bewusstsein zu befestigen, wissen wir noch nicht. Die Zahl solcher Identifikationsknoten, auch „Erinnerungsorte“ genannt, ist außerordentlich groß: alles Kristallisationskerne des kollektiven Gedächtnisses, von ganz unterschiedlichem Gewicht, sehr unterschiedlich bewertet, vieles furchtbar trivial, anderes kaum noch erinnert, dem Zugriff der Sinnstifter und Manipulateure preisgegeben und dennoch ein Netz von materiellen und immateriellen Erinnerungsorten, das das nationale Bewusstsein in einem ungenau bestimmbaren, aber sehr pro- 57 funden Sinne zusammenhält. Wir haben erst damit angefangen, in Deutschland eine solche Topografie des gemeinsamen kulturellen Bewusstseins zu entwickeln, wie dies in Frankreich von Pierre Nora mit seinen „Lieux de mémoire“, wenn auch auf anderen Voraussetzungen beruhend, bereits geschehen ist. Wahrscheinlich werden wir damit der Antwort auf die Frage näher kommen, worin die Kontinuität des deutschen Volkes tatsächlich besteht. Die gemeinsamen Erinnerungen, die unser Volk zusammenhalten, sind also durchaus widersprüchlich; wir haben nicht nur eine Geschichte, sondern wir haben mehrere Geschichten, die nebeneinander herlaufen, sich in den Köpfen der Menschen überlagern und bei verschiedenen Anlässen unterschiedlich hervortreten. So sind wir Deutschen im Vergleich mit unseren Nachbarn, wenn das Bewusstsein der nationalen Identität in Frage steht, ärmer und reicher zugleich. Anmerkungen 1 2 3 4 5 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 6. Wahlperiode. Stenografische Berichte Bd. 79, S. 9837 C. Eppler, Erhard, in: Ebd., S.9842 B-9843 A. Franz-Joseph Strauß (CSU), darin ausdrücklich unterstützt durch Horst Ehmke (SPD), in: Ebd., S. 9867 C-9870 C. Vgl. Schulze, Hagen: Der Weg zum Nationalstaat, München 1985, S. 91f. Vgl. Schulze, Hagen: Der Oststaat-Plan 6 7 8 1919, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 18 (1970), S. 123–163. Schmid, Erich/Suphan, Bernhard (Hrsg.): Goethe und Schiller: Xenien 1796, Weimar 1893, S. 14. Fürst Metternich, R./Klinckowstroem, A. (Hrsg.): Aus Metternichs nachgelassenen Papieren. Bd.1, Wien 1880, S. 254. Vgl. Heuss, Anton: Verlust der Geschichte, Göttingen 1959. 58-60_Henkel 12.05.2006 8:35 Uhr Seite 58 Ein Zwischenruf zum Thema Leitkultur Jürgen Henkel Mit der jahrelangen Tabuisierung des Begriffes einer „Leitkultur“ und der Debatte darüber hat sich die deutsche Linke ein neuerliches Mal einer für das Selbstverständnis und die Identität der Deutschen als Nation genauso selbstverständlichen wie legitimen Diskussion verweigert. Man fühlt sich an die Entscheidungen über die Westintegration und die Wiedervereinigung erinnert. Dabei gehört es zu den natürlichen und wesenhaften Lebensäußerungen eines Volkes, sich über die eigene Selbstwahrnehmung und die Koordinaten, in denen sich das politische, gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Leben abspielt, Gedanken zu machen, religiöse Grundprägungen desselben fest zu halten und das Wünschenswerte als Konsens zu markieren. Sonst setzt sich die Gesellschaft als solche selbst beliebigem Pluralismus oder einem brutalen Sozialdarwinismus aus, bis nur noch der Laute, Reiche oder Starke Chancen auf Durchsetzung seiner Meinung hat. Eine Debatte über die als allgemeinverbindlich erachteten Werte in einer Gesellschaft besitzt nicht in erster Linie eine ausgrenzende, sondern eine identitätsstiftende Funktion. Sie stärkt den loyalen und demokratischen Bürgern den Rücken und weist Extremisten von Links und Rechts in die Schranken. Eine wertelose Gesellschaft ist zahnlos im Kampf gegen ideologisch militante und gewaltbereite Außenseiter mit fehlendem Rechtsbewusstsein. Und dies nicht wegen eines horror vacui fehlender ethischer Vorgaben, sondern weil eine Gesellschaft ohne Grundüberzeugungen ihren Mitgliedern keine positive Identität anbieten kann. Aus dem bejahenden wie kritischen, grundsätzlich aber loyalen demokratischen Bürger einer freien Zivilgesellschaft wird dann der leicht zu manipulierende Massenmensch, dessen Wertegefüge von Werbung, Trends und Moden abhängt und dessen Menschenbild nur noch vom Marktwert oder dem vermeintlichen Bedrohungspotenzial der Mitmenschen bestimmt wird. Die notorisch Betroffenen und die passionierten Gralshüter gesellschaftlicher Beliebigkeit suggerierten lange Zeit in breit angelegten Medienkampagnen aus Ignoranz oder mutwillig, mit dem Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 58-60_Henkel 12.05.2006 8:35 Uhr Seite 59 Ein Zwischenruf zum Thema Leitkultur Begriff der „Leitkultur“ werde von den Unionsparteien eine ausgrenzende Absicht verfolgt. Diese Argumentation gehört in die Mottenkiste internationalistischer Ideologie bei Teilen des politischen Spektrums. Deren Vertreter verkennen, verabscheuen oder bekämpfen aus teilweise legitimer, aber einseitiger Befangenheit oder aus ideologischer Verbohrtheit bis heute jede Ontologie der Nation in politischer wie praktischer Hinsicht. Sie tabuisieren die entsprechende Debatte und überlassen gerade dadurch die Füllung und Bestimmung des Begriffs der Nation der extremen Rechten mit ihren aggressiven, simplifizierenden und menschenverachtenden Parolen. Ob ehrliche Furcht vor rechtsextremen Entwicklungen in der Gesellschaft die Kritik am Begriff der „Leitkultur“ motiviert, oder nicht doch die recht willkommene Chance beim Schopf gepackt wird, die Unionsparteien in vordergründigen wahltaktischen Manövern in die Nähe des Rechtsextremismus zu rücken, sei dahingestellt. Die Diskussion um die damaligen Österreich-Sanktionen der EU angesichts der ÖVP-FPÖKoalition mit Wolfgang Schüssel als Bundeskanzler haben bei der deutschen Linken bereits ein ungeahntes Maß an Heuchelei offenbart. Manche Krokodilsträne der Betroffenheit von Politikern, deren Partei schamlos auf Länderebene mit der PDS, der Nachfolgerin der Schießbefehlpartei SED, koaliert oder koaliert hat, scheint deshalb deplatziert und in ihrem moralischen Gewicht wenig aussagekräftig. Dabei sind die Rahmendaten der Gesellschaftsdebatte und des von der Union ins Spiel gebrachten Begriffes der deutschen oder europäischen „Leitkul- 59 tur“ doch eindeutig. „Deutsche Leitkultur“ bedeutet in erster Linie, den Werten des im Grundgesetz verankerten Grundrechtskataloges verpflichtet zu sein. Diesem Bekenntnis zu den grundlegenden Menschenrechten, die in Deutschland heute garantiert sind und Verfassungsrang haben, wird sich kein vernünftiger, rechtmäßig hier lebender Ausländer verweigern. Kulturell bedeutet es, die europäische Kultur und das diese Kultur prägende Christentum mit seinen moralischen Ansprüchen und dem Toleranz- und Vergebungsgedanken zu respektieren. Das fällt freilich gläubigen Moslems oft leichter als manchen „Kunst- und Kulturschaffenden“ in Deutschland, wo jede Insektenart mehr Schutz genießt als der christliche Glaube, der in jeder nur erdenklichen Form heute diffamiert, besudelt und mit dem kabarettistischen Schmutzkübel übergossen werden darf, und wo öffentliche Blasphemie an der Tagesordnung ist. Dass manche der zwischen 1998 und 2005 Regierenden ihr eigenes individuelles Handeln nicht mehr als unvollkommen und in Verantwortung vor Gott rechenschaftspflichtig erkannten, zeigte das peinliche Trauerspiel bei der Vereidigung der Bundesregierungen von Kanzler Schröder, als etliche Kabinettsmitglieder auf die Formel „so wahr mir Gott helfe“ verzichteten, darunter ausgerechnet Bundesumweltminister Trittin, dem die Sorge um Gottes Schöpfung anvertraut ist. Von solchen Politikern ist bei dieser so grundlegenden Frage wie der nach einer positiven Identität eines Volkes und einer stabilen Werteordnung nicht mehr zu erwarten als die Tabuisierung inhaltlich unerwünschter Begriffe und Debatten. Ernsthafte und „politisch 58-60_Henkel 12.05.2006 8:35 Uhr Seite 60 60 unkorrekte“ Beiträge zur Wertediskussion fernab der „just for fun“-Parolen der Spät-68er wurden ohnehin lange mit der Faschismuskeule beantwortet und abgewehrt. Zwischen Schickimicki und infantiler Spaßgesellschaft, „daily soap“ und einer Prolokultur à la Helge Schneider war es über viele Jahre schwer, Wertedebatten zu führen oder gar die Wahrheitsfrage zu stellen. Im Zeitalter gesellschaftlicher und wertemäßiger Beliebigkeit waren Wahrheit und Werte konservativ-autoritärer Schnee von gestern. Immer noch ist es weitgehend nur noch tabu, gegen Homoehen und Abtreibung zu sein. Diese Tendenzen der letzten 20 Jahre kamen erst mit der großen Aufmerksamkeit für Papst Johannes Paul II. in den letzten Jahren seiner Amtszeit und dem großen Abschied der Welt von ihm sowie dem zunehmend erkennbar fundamentalistischen und gewaltbereiten Islam zu ihrem vorläufigen Abschluss. „Deutsche Leitkultur“ bedeutet aber auch, um den reichen Schatz unseres Kulturerbes zu wissen, ihn wahrzunehmen, zu kennen und zu akzeptieren. Das schließt zum Beispiel die großen jüdischen Literaten und Künstler, die Deutschland hervorbrachte, mit ein. Die positive Vielfalt deutscher Leitkultur, die sich der Menschenwürde, der Toleranz und der friedlichen und in rechtlichen Strukturen gesicherten Organisation des Zusammenlebens verschrieben hat, zielt auf Freiheit und die rechtlich gesicherte Existenz des Einzelnen auf der Basis gemeinsamer Grundwerte und des christlichen Glau- Jürgen Henkel bens als Erlösungsmodell und Wertekanon. Darin unterscheidet sich die deutsche Leitkultur von totalitären oder fundamentalistischen Systemen, unabhängig der Couleur. Auch der bewusste Verzicht auf die Todesstrafe, die Tatsache, dass Frauen nicht der Schleier vorgeschrieben wird, junge Mädchen nicht zwangsbeschnitten werden und Hochzeiten nicht im Kindesalter vermittelt und geschlossen werden, zählt zur deutschen Leitkultur. Politisch positiv formuliert bedeutet es die gewaltfreie Organisation des Zusammenlebens als Demokratie mit Gruppen, Verbänden, Parteien und freien Wahlen und die wichtige Tatsache, dass auch die Freiheit Andersdenkender geschützt ist. Wer sich als Inländer oder Ausländer durch sein Handeln außerhalb solcher Rahmenkoordinaten bewegt oder stellt, der missachtet die deutsche Leitkultur, das Grundgesetz, die gemeinsame Rechtskultur und die religiösen, sozialen und kulturellen Traditionen, die unser Land und seine Kultur prägen. Ein starker Rechtsstaat und eine in ihren Grundfesten sicher verankerte Gesellschaft brauchen eine solche Selbstvergewisserung und Selbstsicherheit über ihre eigenen Grundlagen, als Motiv eigener Identität und als Nationalethos nach innen und als Selbstbestimmung nach außen, damit die Menschen, die hier leben, eine Orientierung über den gesellschaftlichen Konsens haben und die Quellen, aus denen er sich speist. 61-69_Gumpel 12.05.2006 8:36 Uhr Seite 61 Die „sanften Revolutionen“ und die Lage in Zentralasien Werner Gumpel Die „sanften Revolutionen“ in Georgien und in der Ukraine haben die russische Regierung zutiefst verunsichert. Bereits nach der „Rosen-Revolution“ in Georgien, noch mehr aber als die „Revolution in Orange“ in der Ukraine folgte, wurde in der russischen Presse auf die Befürchtungen der politischen Kreise hingewiesen, dass auch in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken sich Ähnliches ereignen könne. Präsident Putin strebt bekanntermaßen eine weit gehende politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit der ehemaligen Sowjetrepubliken an, um den russischen Einfluss in der Region zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Nachdem Georgien und die Ukraine vorerst „ausgefallen“ sind, konzentriert sich das russische Interesse vor allem auf die zentralasiatischen Staaten. Diese stellen nicht nur den östlichen „Vorhof“ der russischen Förderation dar und haben deswegen immense geopolitische und militärische Bedeutung, sondern sind wegen ihrer Rohstoffressourcen von großem wirtschaftlichem Interesse. Gleiches gilt für Aserbaidshan. Auch die Vereinigten Staaten von Amerika streben aus geostrategischen und ökonomischen Gründen nach Einfluss in der Region. Turkmenistan grenzt im Süden an den Iran und Afghanistan, Kirgistan an China, Usbekistan an Afghanistan, Tadschikistan an China und Afghanistan. Turkmenistan verfügt über die viertgrößten Gasvorkommen der Welt und über Erdöl, Usbekistan gehört zu den zehn wichtigsten Goldproduzenten der Welt, es verfügt über große Vorkommen an Uran, dessen Hauptabnehmer die USA sind, und über Erdöl- und Kupfervorkommen.1 In der Baumwollproduktion steht es in der Welt an fünfter Stelle. Die USA haben den Afghanistan-Konflikt genutzt, um in Kirgistan und in Usbekistan mit der Zustimmung der dortigen Regierungen je eine militärische Basis zu errichten. Diese wurden nicht nur als Transitpunkte für den militärischen Einsatz in Afghanistan betrachtet, sondern ermöglichten auch eine Überwachung von Teilen des russischen und des chinesischen sowie des gesamten zentralasiatischen Luftraums. Nach der Niederschlagung des Versuchs einer „sanften Revolution“ in Andishan hat Usbekistan den mit den USA abgeschlossenen Vertrag im Juli 2005 einseitig gekündigt und den Abzug des amerikanischen Militärs binnen 180 Tagen gefordert und dies auch durchgesetzt. Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 61-69_Gumpel 12.05.2006 8:36 Uhr Seite 62 62 Kirgistan hat den Einsatz von AWACSAufklärern untersagt. Für die USA stellt dies einen herben Rückschlag dar. Zu Zentralasien wird zumeist auch Kasachstan gezählt. Dieses Land ist wegen seines großen Erdöl-Reichtums und seiner Lage am Kaspischen Meer sowohl russisches als auch amerikanisches Interessengebiet. Die Erdölproduktion liegt derzeit bei ca. 60 Mill. Tonnen im Jahr und soll bis 2010 auf über 120 Mill., bis 2015 auf 180 Mill. Tonnen ansteigen. Die USA unterhalten zwar keine Militärbasen in Kasachstan, amerikanische Kapitalgeber haben aber seit dem Ende der Sowjetunion in dessen Erdölindustrie erhebliche Summen investiert und damit Einfluss gewonnen. Kasachstan ist aber auch ein bedeutender Produzent von Uran, von dem allein im Jahr 2005 mehr als 4.360 Tonnen gefördert wurden.2 Für die russische Seite ist neben den Bodenschätzen des Landes der in Kasachstan gelegene russische Weltraumflughafen Baikonur von eminenter militärischer Bedeutung. Er manifestiert fundamentales russisches Interesse an der Region. Kasachstans Lage am Kaspischen Meer erhöht die Bedeutung des Landes als Konkurrent Russlands bei der Ausbeutung der dortigen Erdölvorkommen. Dritter Akteur ist die Volksrepublik China, die kasachisches Erdöl zur Deckung ihres steigenden Energiebedarfs über eine 962 km lange Rohrleitung importiert und künftig auch 40 Mrd. kWh Elektrizität über eine speziell errichtete Leitung beziehen will.3 Auch in Kasachstan bekommt allerdings das nach außen stabile System Risse. Die Furcht vor einer „sanften Revolution“ Werner Gumpel führt auch hier zu einer zunehmenden Unterdrückung der Opposition, wobei vor Morden an führenden Oppositionspolitikern nicht zurückgeschreckt wird.4 Vorausgegangen war dem erwähnten usbekischen Beschluss über die Ausweisung der Amerikaner eine Konferenz der „Organisation von Shanghai“ Anfang Juli 2005 in der kasachischen Hauptstadt Astana. Dieser Organisation gehören neben Russland und China auch Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan und Tadshikistan an. In einem einstimmig gefassten Beschluss wurden die USA aufgefordert, den Zeitpunkt der Schließung ihrer Stützpunkte in Zentralasien bekannt zu geben. Während Usbekistan sofort ein Ultimatum aussprach, will Kirgistan die Anwesenheit der Amerikaner bis zu einer endgültigen Regelung in Afghanistan weiter gestatten. In Tadshikistan unterhalten die Amerikaner keinen Stützpunkt, ihnen wurden jedoch Überflugrechte eingeräumt. Die Möglichkeit einer „sanften Revolution“ wird für dieses Land von Experten allerdings als gering eingeschätzt.5 Aus ökonomischer Sicht bedeutet der Abzug der Amerikaner für Usbekistan einen Verlust, denn sie haben für die Benutzung des Flughafens von Chanabad jährlich 15 Mill. Dollar bezahlt. Das ist allerdings erheblich weniger als Kirgistan erhält, dem für die Nutzung der Ganci Air Base 50 Mill. Dollar zufließen. Diesen Betrag wollen die Kirgisen auf 200 Mill. Dollar erhöht haben.6 Ganci soll die wichtigste amerikanische Basis in Zentralasien werden. In beiden Basen sind bzw. waren jeweils 1000 amerikanische Soldaten stationiert. Nachdem die Kirgisen zu einer erweiterten Kooperation bereit sind, will Wa- 61-69_Gumpel 12.05.2006 8:36 Uhr Seite 63 Die „sanften Revolutionen“ und die Lage in Zentralasien shington seine Zahlungen verdoppeln und zusätzlich einen zinsfreien Kredit in Höhe von 200 Mill. Dollar gewähren. Neuerdings hat die amerikanische Regierung auch den turkmenischen Diktator Saparmurat Nijasov zum Bundesgenossen gewonnen, denn auch in Turkmenistan, das bisher auf Neutralität bestanden hat, wird auf dem ehemaligen sowjetischen strategischen Flughafen Mary-2 ein amerikanischer Stützpunkt errichtet, der als Ersatz für Chanabad dienen soll. Ein weiterer amerikanischer Flughafen wird nahe der turkmenischen Stadt Kuschka eingerichtet. Turkmenistan hat gemeinsame Grenzen sowohl mit Afghanistan als auch mit dem Iran und ist deswegen für die USA von besonderer strategischer Bedeutung. Der Beschluss von Astana scheint daher, ausgenommen Usbekistan, ohne größere Folgen zu bleiben. Die usbekische Reaktion hat sich relativ früh angekündigt. Bereits nach der „Rosen-Revolution“ in Georgien hatten sich die Beziehungen zu den USA verschlechtert. Der usbekische Diktator Karimov, zunächst ein Freund der USA, befürchtete, dass ihm das gleiche Schicksal widerfahren könnte wie dem georgischen Staatschef Shewardnadse. In der Tat sind die USA an einem Regimewechsel in Usbekistan interessiert, um dort eine prowestliche Regierung dauerhaft zu installieren. Als dann im Mai 2005 in Andishan ein Volksaufstand stattfand, der blutig niedergeschlagen wurde und dem, laut einer Meldung der russischen Zeitung „Izvestija“, mindestens 831 Menschen zum Opfer fielen, glaubte Karimov in seinen Befürchtungen bestätigt zu sein. Sowohl er als auch russische Kreise waren davon überzeugt, dass hier „ausländische Kräfte“, gemeint waren die 63 USA, ihre Hände im Spiel hatten. Nur kurze Zeit vorher war ja auch der kirgisische Präsident gestürzt und durch einen „Demokraten“ ersetzt worden. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass Usbekistan zu den ärmsten Ländern der Region gehört, mit einer Geburtenrate von 2,6%. Derzeit hat es 24,5 Mill. Einwohner. Die Menschen auf dem Land müssen mit 5–10 Dollar im Monat auskommen, in den Städten übersteigt das Einkommen nur selten 100 Dollar. Die Baumwollplantagen gelten als Orte der Sklavenhalterei.7 Besonders angespannt ist die Lage im Fergana-Becken, wo mehr als ein Drittel der usbekischen Bevölkerung lebt und wo es schon zu Beginn der Neunzigerjahre wegen des niedrigen Lebensstandards zu Unruhen gekommen ist. Gerade dort aber hat man das höchste Bevölkerungswachstum. Die Bauern erhoffen sich eine Verbesserung ihrer Lage durch eine Bodenreform, doch sie gibt es bisher nicht einmal in Ansätzen. Usbekistan hat daher ein handfestes soziales Problem, das sich politisch instrumentalisieren lässt, das jedoch auch hausgemachte Unruhen nicht unwahrscheinlich erscheinen lässt. Präsident Karimov hat daher aus purem Selbsterhaltungstrieb die Fronten gewechselt und ist wieder zu einem Verbündeten Moskaus geworden. Dies war zweifellos eine große Niederlage für die USA. Während Taschkent in den letzten Jahren jegliche militärische Zusammenarbeit mit Moskau abgelehnt hatte, hat es am 25. November 2005 einen weit reichenden Bündnisvertrag mit Russland unterzeichnet und ist jetzt sogar zu einer Kooperation im Bereich der kosmischen Kriegführung bereit.8 Usbekistan ist Mitglied des Luftverteidigungssystems der GUS. Die russische 61-69_Gumpel 12.05.2006 8:36 Uhr Seite 64 64 Regierung hat nach dem Wechsel sofort die Modernisierung seiner dort stationierten Raketenabwehrsysteme und des Systems der elektronischen Luftüberwachung angekündigt, das die Entdeckung feindlicher Flugzeuge schon lange bevor sie sich der russischen Grenze nähern, ermöglicht. Außerdem, und das verärgert die USA ebenso sehr, wurde die gemeinsame Erschließung von Kohlewasserstoffen auf dem Territorium Usbekistans beschlossen. Mit diesen Zugeständnissen sind Herrn Karimov von Moskau die Sünden der Vergangenheit vergeben. Die politische Lage im Lande wird nach den russischen Vorstellungen „stabilisiert“. Auch in den anderen zentralasiatischen Republiken stärkt Russland seinen Einfluss. Im Rahmen des „Vertrags über kollektive Sicherheit“9 baut Russland seine im Oktober 2003 eröffnete militärische Basis im kirgisischen Kant aus – „auf ewig“, wie der Oberbefehlshaber der russischen Luftstreitkräfte, General Michailov, betonte. Personalbestand und Flugtechnik sollen auf das Zweieinhalbfache wachsen. Die russische Luftwaffe wird außerdem kirgisische Kampfflieger ausbilden.10 Russland baut damit ein Gegengewicht zur amerikanischen Präsenz auf. Russland nutzt aber auch die wirtschaftliche Abhängigkeit der zentralasiatischen Staaten vom russischen Markt sowie von der Nutzung des russischen Rohrleitungssystems, um seinen Einfluss auf die Region erneut aufzubauen. Das geschah u.a. durch die Auflösung der ohnehin wenig effizienten Zentralasiatischen Wirtschaftsgemeinschaft (ab 2001 in Zentralasiatische Kooperationsorganisation umbenannt) und deren Eingliederung in die Werner Gumpel von Russland dominierte Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft. Die Zentralasiatische Wirtschaftsgemeinschaft war im Jahr 1994 von Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan gegründet worden, um die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlangte Unabhängigkeit von Russland zu stärken. 1998 trat auch Tadshikistan der Gemeinschaft bei, während Turkmenistan der Organisation fern blieb.11 Das Bemühen, sich von Russland zu lösen, blieb aber illusorisch, da die wirtschaftliche Verflechtung noch aus Sowjetzeiten groß war und außerdem eine Abhängigkeit von russischen Energielieferungen (Kirgistan) bzw. von der Nutzung des russischen Rohrleitungsnetzes (Kasachstan) besteht. In Hinblick auf den Abtransport seines Erdgases ist auch Turkmenistan bisher völlig vom russischen System abhängig.12 Dies ist der Grund, weswegen der turkmenische Präsident einen intensiveren Streit mit Russland um die Staatsangehörigkeit von in Turkmenistan lebenden Russen nicht eskalieren ließ und die Kooperation mit Russland der Konfrontation vorzog. Dennoch strebt das Land auch weiterhin nach Unabhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht und plant deswegen eine eigene Rohrleitung, die nach Afghanistan und weiter nach Pakistan und Indien führen soll, eine weitere soll Erdgastransporte nach Iran ermöglichen.13 Mit Letzterem vereinbarte Turkmenistan eine engere Kooperation im Bereich von Erdöl und Erdgas, insbesondere bei der Erschließung der Ressourcen des Kaspischen Meeres.14 Damit öffnet es neue Märkte, die den Absatz des Erdgases ohne Einfluss Moskaus ermöglichen. Wie bei allen in der nachsowjetischen Zeit gegründeten Wirtschaftsorgani- 61-69_Gumpel 12.05.2006 8:36 Uhr Seite 65 Die „sanften Revolutionen“ und die Lage in Zentralasien sationen traten auch bei der Zentralasiatischen Wirtschaftsgemeinschaft schon bald Risse auf. Kasachstan schloss sich bereits 1995 einer Zollunion, der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft, an, die von Russland und Bjelarus gegründet worden war. Ein Jahr später folgte Kirgistan. Diese Länder verfolgten daher aus dem wirtschaftlichen Zwang heraus eine Politik der Doppelmitgliedschaft. Nur Usbekistan verharrte auf seiner Unabhängigkeit, eine Politik, die es bis zu den revolutionären Ereignissen von Andishan durchhielt und die den USA zustatten kam. Im Januar 2006 schloss sich jedoch auch dieses Land der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft an und gewährte in einem Sondervertrag dem russischen Gasmonopolisten „Gasprom“ auf der Grundlage einer Teilung der Produktion den Zugriff auf seine größten Gasvorkommen. Die russische Presse sprach von einem „eurasischen Triumpf“. Die Vermarktung des geförderten Gases wurde allein der Gasprom zugesprochen, die im Gegenzug 1,5 Mrd. Dollar in die usbekische Gaswirtschaft investiert.15 Ein weiterer Unruhefaktor in der Region sind die Animositäten zwischen den verschiedenen zentralasiatischen Staaten, die schon mehrmals fast kriegerische Dimensionen angenommen haben. So wurde im August 2004 die Grenze zwischen Usbekistan und Kasachstan zeitweise geschlossen. Im März 2005 schloss Usbekistan die Grenze zum benachbarten Kirgistan, was sich nach den Unruhen in Andishan wiederholte. Dies geschah auch schon in der Vergangenheit, wenn in Usbekistan Unruhen stattfanden. An der usbekisch-turkmenischen Grenze wurde zeitweise Militär konzentriert. Eine mi- 65 litärische Auseinandersetzung stand kurz bevor. Auch die Grenzen zu Kasachstan und Tadshikistan wurden mehrmals geschlossen.16 Kirgistan streitet mit Usbekistan um eine im Ferganatal gelegene Enklave, in der annähernd zwölf Mill. Menschen leben. Sie war nach dem Zerfall der Sowjetunion zwischen Kirgistan, Usbekistan und Tadshikistan aufgeteilt worden.17 Hinzu kommt die Gefahr, die die Führer der zentralasiatischen Republiken in einem aggressiven Islamismus sehen, der in Zentralasien im vergangenen Jahrzehnt eine starke Wiederbelebung erfahren hat. Zwar werden die Moscheen in den meisten dieser Länder vom Staat kontrolliert und bedürfen für ihre Tätigkeit staatlicher Genehmigung, doch wird immer wieder von Infiltration von islamischen Extremisten berichtet, deren Ziel eine islamische Revolution ist. Aus diesem Grund steht auch die Zusammenarbeit der Staaten mit den USA und Russland unter dem Zeichen einer Bekämpfung des Terrorismus. Dieser ist in allen zentralasiatischen Staaten oft eine willkommene Begründung für die Anwendung repressiver Maßnahmen gegen oppositionelle Kräfte. Zu diesen gehört auch die „Islamische Bewegung von Usbekistan“ (IBU), der durch den Afghanistan-Krieg der USA zunächst der Boden entzogen wurde, die sich aber bald wieder erholt hat. Daneben strebt eine „Hizb ut-Tahir genannte islamistische Gruppe, deren Ziel ein globales Kalifat ist, nach der Macht. Beide Gruppierungen sind bewaffnet und machen immer wieder durch Überfälle, Terrorakte und Entführungen von sich reden. Die IBU, die sich auch „Islamische Partei Turkestans“ nennt, sieht als ihr Endziel die Schaffung eines muslimischen 61-69_Gumpel 12.05.2006 8:36 Uhr Seite 66 66 Staates, der ganz Turkestan, also alle Turkstaaten Zentralasiens, einschließlich des chinesischen Westturkestans, umfasst. Kristallisationspunkt der islamischen Bewegung ist in erster Linie das Fergana-Becken, wo sich Usbekistan, Tadshikistan und Kirgistan treffen. Eine politisch und wirtschaftlich am Boden liegende Region.18 Die politische Instabilität in der Region wird zudem erhöht durch ethnische Konflikte in den einzelnen Ländern, durch Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Clans und die erwähnten Konfliktsituationen zwischen den zentralasiatischen Ländern. Politische Stabilität ist aber von fundamentaler Bedeutung, da ohne sie die verschiedenen Rohrleitungsprojekte nicht dauerhaft verwirklicht werden können, die China und andere asiatische Staaten wie Pakistan und Indien mit Energie versorgen und die durch eine Ausweitung der Produktionskapazitäten in Zentralasien und Russland verfügbar gemacht wird. Sie bedeutet eine Entlastung des Weltenergiemarktes, steigt doch insbesondere der Energieverbrauch Chinas unablässig. Allein im Zeitraum von 1990 bis 200319 vergrößerte er sich von 110 auf 275 Mill. Tonnen. Insofern sind auch die USA an Stabilität in der Region interessiert, wobei sich ihr Interesse mit dem der Russischen Föderation und der zentralasiatischen Staaten trifft, wenn es gilt, die Rohrleitungsroute nach Pakistan und Indien durch Afghanistan zu lenken, damit der Iran von diesen Märkten fern gehalten wird. Die amerikanische Besetzung Afghanistans soll diesen Weg sichern helfen. Da Russland beabsichtigt, das Schwergewicht seiner künftigen Gasförderung auf neu zu entwickelnde Vorkommen Werner Gumpel in Ostsibirien, der Republik Sacha (Jakutien) und das Schelfgebiet im Osten zu legen, bei Verringerung der Förderung im europäischen Teil des Landes (insbesondere im Wolga-Ural-Gebiet und Nordkaukasus), ist es an einem funktionierenden und störungsfreien Transportsystem interessiert, das den Abtransport des geförderten Erdgases und Erdöls sowohl für die Deckung des Binnen- als auch des Exportbedarfs sichert.20 Dies schließt auch eine Vernetzung mit den grenzüberschreitenden Rohrleitungen ein. Es geht aber nicht allein um die Sicherung des Exports der Energieträger. Vielmehr bewirken die neuen Rohrleitungen, da sie weitgehend bisher unerschlossenes Territorium queren, auch einen wichtigen Entwicklungsfaktor. Dazu gehört, dass Siedlungsgebiete gasifiziert werden, die potenzielle Entwicklungschancen vorweisen, wodurch u.A. neue Industrialisierungsprojekte realisiert und Arbeitsplätze geschaffen werden können. „Gasprom“ will bis Ende 2008 35 Mrd. Rubel in die Gasifizierung vor allem der Regionen Sibiriens investieren.21 Damit wird der russische Eigenbedarf an Gas erheblich zunehmen. Auch dies ist ein Grund, weswegen Russland seinen Einfluss auf die gastragenden zentralasiatischen Republiken wieder herstellen will. Bereits im Jahr 2006 beabsichtigt Russland 9 Mrd. cbm von Usbekistan und 30 Mrd. cbm von Turkmenistan zu kaufen. Die Bezüge von Turkmenistan sollen bis 2007/2008 auf 70–80 Mrd. cbm ansteigen,22 von denen allerdings ein großer Teil mit kräftigem Preisaufschlag an die Ukraine und nach Westeuropa weiterverkauft wird. Geopolitische Interessen sind im Spiel, wenn durch diese Entwicklung die für den 61-69_Gumpel 12.05.2006 8:36 Uhr Seite 67 Die „sanften Revolutionen“ und die Lage in Zentralasien Gas- bzw. Erdöltransport erforderliche Infrastruktur entwickelt wird, die nicht nur der Versorgung des Binnenmarktes dient, sondern auch einen unabhängigen Zugang zu den internationalen Märkten garantieren soll.23 Daran sind auch Turkmenistan und Kasachstan interessiert, die beispielsweise für die Vermarktung ihres Erdöls einen Anschluss ihres Rohrleitungsnetzes an die im Mai 2005 in Betrieb genommene BakuTbilisi-Ceyhan-Rohrleitung (BTC) anstreben, um damit einen nicht durch russisches Gebiet führenden Zugang zum europäischen Markt und darüber hinaus zum Weltmarkt zu erlangen.24 Ein zentralasiatischer Staat, der bisher als relativ stabil galt, ist Tadshikistan, obwohl auch dieses Land nicht zuletzt wegen seiner mit der herrschenden Armut verbundenen sozialen Probleme, aber auch wegen eines Nord-Südkonflikts, im Jahr 1992 einen Bürgerkrieg auszuhalten hatte. Derzeit gibt es dort keine Anzeichen für eine Entwicklung, wie sie in Georgien oder der Ukraine oder Usbekistan und Kirgistan stattgefunden hat. Doch auch dort herrscht eine handfeste Diktatur mit Unterdrückung der Menschenrechte. Die Verfassung des Landes wurde speziell geändert, um dem derzeitigen Präsidenten Emomail Rahmonov die Möglichkeit zu geben, bis zum Jahr 2020 im Amt zu bleiben. Die sechs hauptsächlichen politischen Parteien sind schwach und finden in der Bevölkerung keinen Widerhall. Die Regierung tut alles, um die Opposition unter Druck zu setzen. Gleiches geschieht in Hinblick auf unabhängige Medien und religiöse Gruppierungen. Der Boden für eine Revolution ist also zweifellos gegeben, doch haben Präsident und Regierung die Entwicklung fest in der Hand. Nach 67 den Ereignissen in Georgien, der Ukraine, Kirgistan und Usbekistan verstärken sie den Druck auf potenzielle oppositionelle Kräfte. Die USA allerdings stützen Rahmonov, wie der freundschaftliche Besuch von Verteidigungsminister Rumsfeld Ende Juli 2005 gezeigt hat. Als Dank für die Gewährung von Überflugrechten versprach Rumsfeld einen vermehrten Beistand der USA bei der Bekämpfung des Terrorismus – wie immer man diesen definieren mag. Die politische Lage in den zentralasiatischen Republiken ist daher in großem Maße von den geopolitischen Interessen der großen „Player“ in der Region abhängig. Es sind dies Russland, das seine alte Stellung in der Region verteidigt bzw. wiederherzustellen versucht und sich einer Einkreisung der USA entgegenstellt, es sind die USA, die in der Region Fuß fassen und von dort ihren Einfluss in Asien ausbauen wollen und es ist die Volksrepublik China, die dieses Streben der USA mit großem Misstrauen sieht und amerikanische Stützpunkte an ihrer Nordwestgrenze verhindern will. Russland und China, die jahrelang verfeindet waren, sind sich im Gegensatz dazu auf Grund ihrer diesbezüglichen gemeinsamen Interessen näher gerückt. Das gemeinsame Manöver von Ende August 2005 ist Ausdruck dessen. Es war das größte gemeinsame Manöver in der Geschichte der russisch-chinesischen Beziehungen, doch der Chef des russischen Generalstabs, Jurij Balujevski, hat bereits verkündet, dass in Zukunft noch größere gemeinsame Aktionen möglich seien.25 Präsident Putin hat in diesem Zusammenhang die große Bedeutung der chinesisch-russischen militärischen Kooperation unterstrichen und zusätz- 61-69_Gumpel 12.05.2006 8:36 Uhr Seite 68 68 lich auf das Interesse Russlands an Ölund Gaslieferungen nach China sowie durch China in Drittländer verwiesen. Dem darf kein amerikanisches Hindernis entgegenstehen. Die Diktaturen in den zentralasiatischen Staaten garantieren Stabilität im russischen und chinesischen Sinne und werden deswegen unterstützt. Russland zeigt durch die Verbesserung seiner Beziehungen mit China den USA zudem, dass es, wenn es um die Verteidigung seiner Interessen in Zentralasien geht, über einen starken Verbündeten verfügt. Bleibt die Frage, ob die gegen die USA erhobenen Vorwürfe in Hinblick auf die Förderung „friedlicher Revolutionen“ und die Aufwiegelung oppositioneller Kräfte in den Nachfolgestaaten der UdSSR zur Erweiterung ihrer Einflusssphäre gerechtfertigt sind. Als eindeutig kann gelten, dass oppositionelle Kreise von den USA finanziell unterstützt werden. Diese bedienen sich hierbei vor allem sogenannter NGOs (Non Governmental Organisations). Eine der bedeutendsten ist die SorosFoundation, die seit 1989 über eine Milliarde Dollar in den postsowjetischen Raum gepumpt haben soll. In Georgien und in der Ukraine trug dies, wie ein Bericht des Osteuropa-Instituts München zeigt, nicht unwesentlich zum Gelingen des revolutionären Umsturzes bei. Nach Usbekistan flossen allein aus dieser Stiftung 22 Mill. Dollar „zur Stärkung der Demokratie und der Menschenrechte“. Dass auch andere westliche Staaten die oppositionellen Bewegungen finanziell und organisatorisch unterstützen, ist kein Geheimnis. Im August 2005 gelangte eine Video-Aufzeichnung an die Öffentlichkeit, die ein Treffen von Oppositionsführern aus Aserbaidshan mit anschei- Werner Gumpel nend georgischen Partnern in Tbilisi in den letzten Tagen des Juli dokumentiert.26 Das auch im Fernsehen präsentierte Video gibt angeblich u.a. Auskunft darüber, dass die aserbaidshanische Opposition finanzielle Hilfe vom „Nationalen Institut für Demokratie“ der USA erhalten hat, mit dem Ziel, auch in Aserbaidshan eine Revolution herbeizuführen. Hierzu sollten zwei aserbaidshanische Vertrauensleute ein spezielles Training durch amerikanische Experten in Polen erhalten. Zudem wurden angeblich Anweisungen dafür gegeben, wie eine Revolution zu provozieren sei. Die Potentaten der noch nicht betroffenen Nachfolgestaaten der UdSSR fürchten also mit Recht einen Demokratie-Export der USA und damit um den Fortbestand der eigenen Herrschaft. Das Ergebnis ist, dass die in diesen Ländern tätigen NGOs entweder verboten oder aber in ihrem Aktionsradius stark eingeschränkt werden. So wurden im Februar und März 2006 in Usbekistan praktisch alle ausländischen und ausländisch unterstützten NGOs verboten.27 Das führt dann nicht zu der vom Westen angestrebten Einführung von mehr Demokratie, sondern zu mehr Unterdrückung und zum wieder stärkeren Zusammenrücken mit Moskau, das um seine Dominanz in dieser Region fürchtet. Aber auch die Volksrepublik China fürchtet, dass durch einen Regimewechsel in den zentralasiatischen Staaten die Versorgung mit Energieträgern über die neu errichteten Rohrleitungen nach Kasachstan, Turkmenistan, Iran und Russland gefährdet sein könnte. Allein aus Kasachstan wird sie in wenigen Jahren 20–25% ihrer Erdölimporte beziehen. Sie beobachtet daher arg- 61-69_Gumpel 12.05.2006 8:36 Uhr Seite 69 Die „sanften Revolutionen“ und die Lage in Zentralasien wöhnisch alle entsprechenden Entwicklungen. Die Einflussmöglichkeiten des Westens sinken und die politische Opposition verliert den Rest ihrer bisher geringen Möglichkeiten, demokratische Zustände herbeizuführen. Inso- 69 fern sind die westlichen Bemühungen zu einem Bumerang geworden und haben den westlichen Interessen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nicht nur nicht genutzt, sondern geschadet. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Allein in den beiden neu erschlossenen Goldvorkommen von Koklatas und Daugystau werden jährlich 70–75 Tonnen Gold gefördert, mit steigender Tendenz. Die Uranförderung des berg-metallurgischen Kombinats von Navoi beläuft sich auf jährlich 1500 Tonnen; vgl. Zentralno-Aziatskie Novosti (www.centran.ru) 30.1.2006. Einzelheiten über die zentralasiatischen Staaten siehe Gumppenberg von, Marie-Carin/Steinbach, Udo (Hrsg.): Zentralasien, Geschichte, Politik, Wirtschaft. Ein Lexikon, München 2004. Radio Free Europe/Radio Liberty (www. rferl.net), 25.2.2006. www.newsru.com, 22.8.2006; www.rferl. net, 19.11.2005; ein im August 2005 abgeschlossener Vertrag sieht zunächst die Lieferung von 20 Mill. Tonnen Erdöl vor. Außerdem hat die Staatliche Chinesische Erdölgesellschaft für 4,18 Mrd. Dollar die in Kanada registrierte Petrokasachstan gekauft. Zur Rolle Chinas in der Region siehe Engdahl, F. William: China lays down gauntlet in energy war, in: Asia Times, 21.12.2005. Vgl. hierzu: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.3.2006. www.regionalanalysis.org, 21.4.2005. Nezavisimaja Gazeta (www.ng.ru), 20.2.2006. Izvestija, 16.5.2005. www.Lenta.ru 26.2.2006. Dieser Vertrag wurde im Mai 1992 von Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan unterzeichnet und als „die Formierung eines neuen militärisch-politischen Blockes“ bezeichnet. „Sein vereinendes Merkmal ist die Loyalität zu Moskau.“; vgl. Moskovskie Novosti, 25.4.1993. Usbekistan hat den Vertrag 1999 gekündigt und sich der Gruppierung GUAM (Georgien, Ukraine, Aserbaidshan, Moldowa) angeschlossen, die damit zur „GUUAM“ wurde. 2005 hat es diese wieder verlassen. www.izvestia.ru, 15.2.2006. Vgl. hierzu: Osteuropa-Institut München, Zentralasien: Die Auflösung der zentralasiatischen Kooperationsorganisation ma- 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 nifestiert die Dominanz Russlands als Wirtschaftspartner, Oktober 2005. Zur politischen und wirtschaftlichen Lage Turkmenistans und zum „großen Spiel um Gas“ siehe Kunze, Thomas: Russlands Hinterhof: Turkmenistan – Selbstzerstörung durch Autokratie, in: KAS/Auslandsinformationen, 22. Jg., Heft 2/2006, S. 75ff., insbes. S. 90ff. Hierzu ausführlich: Turkmenistan: A Pipeline in the Pipeline, Radio Free Europa/Radio Liberty: www.rferl.net, 14.2.2006. www.rferl.net, 2.11.2005. www.izvestia.ru, 25.1.2006. www.centran.ru, 28.8.2004; www.Lenta.ru, 22.3.2005. Moskauer Deutsche Zeitung online, 1.10.2004. Radio Free Europe Radio Liberty (www. rferl.net), 10.2.2006. Vgl. Eder, L.V.: Sovremennoe sostojanie i prognoz razvitija neftjanogo rynka Kitaja, in: Eko – Vserossiiskij Ekonomiceskij shurnal, Nr.2/2005, S. 164. Vgl. Korbushajev, A.G.: Infrastruktura transporta nefti i gaza v Rossii: Prioritetnye napravlenija razvitija, in: Eko – Vjerossiiskij Ekonomiceskij shurnal, Nr.4/ 2005, S. 141. www. lenta.ru, 5.3.2006. www.rferl.org, 20.2.2006. Vgl. hierzu Korbushajev, A.G.: Infrastruktura transporta nefti i gaza v Rossii: Prioritetnye napravlenija razvitija, in: Eko, Nr.4/2005, S. 150f. Die BTC führt vom aserbaidshanischen Hafen Baku durch Georgien zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan. Izvestija, 10.8.2005. Izvestija, 9.8.2005. Es handelt sich vorwiegend um amerikanische oder amerikanisch, aber auch britisch unterstützte Organisationen wie „Freedom House“, „Eurasia“, das Institut „Offene Gesellschaft“ (Soros-Fonds), „Internews“, das „Institut für Kriegs- und Friedensforschung“, örtliche NGOs u.A.; vgl. Nezavisimaja Gazeta (www.ng.ru), 7.3.2006. 70-79_Mols 12.05.2006 8:37 Uhr Seite 70 Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“? Manfred Mols 1. Einführung In neuesten Überlegungen des Auswärtigen Amtes in Berlin wird massiv auf Lateinamerika als Globalisierungspartner Europas und Deutschlands hingewiesen. „Europa (...) betrachtet die Region zunehmend als politischen Partner für eine gemeinsame Gestaltung der Globalisierung“. Und: „Lateinamerika gehört zwar nicht zu den bedeutendsten weltpolitischen Regionen. Dennoch ist es als Partner für global governance wichtig.“1 Sieht man von dem gleitenden Widerspruch in solchen Feststellungen ab: Ist der hervorgehobene Rang Lateinamerikas reines Wunschdenken? Oder versucht man, den Lateinamerikanern bzw. ihren in Berlin ansässigen Botschaften zumindest verbal ein Stück jener „strategischen Partnerschaft“ anzubieten, von der seit einigen Jahren immer wieder die Rede ist? Ist denn Lateinamerika tatsächlich ein aktueller oder zumindest potenzieller Globalisierungspartner? Meine Fragen deuten eine kritische Haltung an, die ich umso mehr einzunehmen geneigt bin, je intensiver ich mich in den letzten Jahren mit Ost- und Südostasien beschäftigen konnte. Ich bin nicht der einzige, der Skepsis anmeldet. Fast alle, die wir uns seit Jahren mit Lateinamerika beschäftigen, hatten lange Zeit das Länder-Konglomerat südlich des Rio Grande als eine Region der Zukunft angesehen, die in einer letztlich absehbaren Zeit als Partner zumindest des Westens heranreifen würde. Heute müssen wir uns von unserem jüngeren Kollegen Peter Thiery die Frage gefallen lassen: „Wohin steuert Lateinamerika? – oder besser: Wohin wird es gesteuert?“2 Die seit langem abgesagte Dependenztheorie hat nichts weniger als die Fremdbestimmtheit Lateinamerikas thematisiert. Dann kamen im Zuge von Redemokratisierung, marktwirtschaftlicher Öffnung auch zum Weltmarkt, eines Profilgewinns der Organisation Amerikanischer Staaten und des Aufhörens des gerade auch in Lateinamerika beinahe allenthalben spürbaren Ost- Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 70-79_Mols 12.05.2006 8:37 Uhr Seite 71 Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“? West-Konflikts andere Perspektiven auf, die in manchem an die „essentials“ der früheren Modernisierungstheorien anzuknüpfen versuchten und die gut in das ökonomistische Weltbild unserer Zeit zu passen schienen. Inzwischen sind Zweifel aufgekommen. Für die Politik wird von einer Krise der Institutionen, ja von eindeutigen Demokratiekrisen gesprochen.3 Lateinamerikanische Autoren bezeichnen Ecuador, Bolivien, Mexiko, Kolumbien, Argentinien, Peru und Venezuela als „democracias volátiles“ – also als etwas, dessen demokratische Zukunft offen, also nicht gesichert bleibt.4 Ökonomen, da Konjunktur orientierter argumentierend als Politologen (besonders, wenn diese gewohnt sind, momentane Veränderungen in Trends langfristiger Entwicklung) einzuordnen, kritisieren etwas verhaltener, aber unter dem Strich nicht minder eindeutig.5 Das politische wie das ökonomische Lateinamerika der Gegenwart ist – von Ausnahmen wie eventuell Chile und Grenzsituationen wie Brasilien und auch noch Costa Rica abgesehen – ein fragiles, anfälliges, vulnerables Gebilde, dessen Schicksal schwer prognostizierbar ist. Hängt dies mit der traditionellen Rolle Lateinamerikas als Hinterhof der Vereinigten Staaten zusammen, mit einem oft gerade im großkaribischen Raum recht rüde auftretenden US-Imperialismus, mit der Ablösung der Ideale des „Befreiers“ Simón Bolívars durch einen von Washington inaugurierten Panamerikanismus? Oder um es ein wenig sanfter in der Sprache Norman A. Baileys6 auszudrücken: mit einem überkommenen „Patron-Klientelverhältnis“? Manches, vielleicht immer noch zu vieles, aus diesem panamerikanischen Le- 71 gat ist geblieben. Und doch lässt sich die Hinterhofthese nicht mehr pauschal durchhalten. Eine zentrale doppelte Interpretationsrichtung der letzten Jahre hieß, Lateinamerika habe unter dem Fehlen einer artikulierten Lateinamerika-Politik der USA genauso zu leiden wie unter seinem Abdrängen in eine hemisphärisch-regionale Nebenrolle eines „benign neglect“. Der Chilene Arturo Valenzuela, während der Clinton-Administration ein hochrangiger Berater im „National Security Council“, hat unter der Überschrift „Beyond Benign Neglect“7 Differenzierungen einzufügen versucht: Als Präsident Bush Jr. bei seiner Amtsübernahme im Jahre 2001 erklärt habe, die Westliche Hemisphäre werde die höchste Priorität in der Außenpolitik Washingtons einnehmen, sei dies in weiten Kreisen des lateinischen Amerika begrüßt worden. Doch dann habe man in Washington in nicht wenigen Fällen ungeschickt reagiert, die inzwischen erreichten positiven Interventionsmöglichkeiten der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) übersehen, die Stabilisierungskräfte der sich einstellenden Handelsliberalisierung einfach überschätzt, sei sorglos mit Normen und Spielregeln umgegangen und habe offenbar auch nicht begriffen, dass die Wende zu elektoralen Regimen für sich noch nicht die Lebensfähigkeit von Demokratie absichere. Der Venezolaner Franklin Molina hat hier noch härter geurteilt: Die Vereinigten Staaten praktizierten inzwischen eine Politik des „aislamiento intervencionista“,8 d.h. eine Politik, die in der Überbetonung nationaler Sicherheitsinteressen je nach Sachstand unilateral, multilateral, in Formen kooperativer Eingebundenheit und dann wieder isolationistisch vorgehe. 70-79_Mols 12.05.2006 8:37 Uhr Seite 72 72 Aber wie immer man im Detail das Verhältnis Washington – Lateinamerika und seine künftige Entwicklung beurteilen mag: Die USA bleiben für jede realiter voraussehbare Zeit die politisch, ökonomisch, entwicklungspolitisch und wohl auch kulturell wirkungsvollste Kraft in der Westlichen Hemisphäre. Eine unberechenbare, mit Attributen von Willkür ausgestattete US-Außenpolitik, US-Wirtschafts- und Finanzpolitik usw. muss in Lateinamerika notgedrungen Unverständnis und negative Erschütterungen hervorrufen, Skepsis, Ablehnung, einen versteckten oder sogar offenen Antiamerikanismus – und dabei Schaden anrichten. Andreas Boeckh hat dies etwas vornehmer ausgedrückt: „Die lateinamerikanische Perzeption der USA war und ist durch eine Mischung von Abgrenzung und Bewunderung geprägt, während umgekehrt die USA Lateinamerika traditionell und z.T. noch bis heute mit Geringschätzung und einem gehörigen Maß an Unkenntnis begegnen.“9 Wie immer wir daher über unser Thema „Hinterhof oder ‚global player‘“ nachdenken, wir können dabei weder auf die Lateinamerika-Sicht Washingtons noch auf die Washington-Sicht der Lateinamerikaner verzichten. Beide Einstellungen entstammen zum Teil einem die Gegenwart betreffenden historischen Gedächtnis, zum anderen Teil aktuellen Profilen der internationalen Politik, die weder die USA noch die lateinamerikanischen Staaten konstant halten können. Die lateinamerikanische Sicht ihrer Beziehungen zu den USA ist stark von der Erfahrung geprägt, einer sich fast immer durchsetzenden Hegemonialmacht ausgeliefert zu sein. Die US-Sicht Lateinamerikas hängt, eigentlich schon seit 200 Jahren, sehr stark mit über Lateiname- Manfred Mols rika weit hinausgehenden weltpolitischen Entwicklungen zusammen, die umso mehr in Washington zählen mussten, je eindeutiger die USA in eine weltpolitische Rolle hinein wuchsen. Ich will dies in vier Abschnitten illustrieren und damit zu zentralen Aussagen in der Behandlung des Themas kommen. 2. Die traditionelle internationale Sicht der USA Die traditionelle internationale Sicht der Vereinigten Staaten von Amerika, zurückgehend auf die No Transfer-Resolution von 1811, liest sich so: ‚Unsere nationalen Interessen heißen‘ – und zwar in der folgenden Rangordnung, die sich offenkundig bis heute nicht geändert hat (und durch den internationalen, massiv auf die USA gerichteten Terrorismus der letzten Jahre eher noch einen erneuten Auftrieb erhielt) – „security, tranquility and commerce“.10 Um dies zu erreichen, bedurfte und bedarf es eines unmittelbaren geopolitischen Umfeldes, das man unter Kontrolle hat. Hier wird sogleich die Frage auftauchen, warum die Alternative nicht auch Kooperation und Partnerschaft hätte heißen können. Man kann mit einer Gegenfrage kommen: Ist eine Nation, die vom Glauben an die eigene „manifest destiny“ erfüllt war und es wohl immer noch ist, befähigt zu einer echten, von ihr selbst gewollten Partnerschaft? Es kommt noch ein weiterer und gewichtigerer Gedanke hinzu, der ebenfalls bei Boeckh auftaucht: Im 19. Jahrhundert und noch bis ins 20. Jahrhundert waren viele lateinamerikanische Staaten „failed states“11 – und damit zu einer eigenständigen Politik der Stabilität nach innen und außen kaum 70-79_Mols 12.05.2006 8:37 Uhr Seite 73 Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“? in der Lage.12 Der Ausspruch des Außenministers Olney aus dem Jahre 1895 sollte daher für Jahrzehnte die Handlungsmaxime gegenüber Lateinamerika werden: „Today the United States is practically sovereign on this continent, and its fiat is law upon the subjects to which it confines its interposition (...).“13 Solche Positionen sind heute nicht mehr durchzuhalten. Was immer an politischen und sozioökonomischen Mängeln in Lateinamerika zu konstatieren ist, das Rubrum „failed states“ passt nicht mehr angesichts von Modernisierungsleistungen und substanziellen politischen wie ökonomischen Transformationen in fast allen Staaten und Gesellschaften des Subkontinents. Dies wird letztlich auch in Washington so gesehen. Dass Lateinamerika seit Jahren in einer von den USA ausgehenden Periode des „benign neglect“ leben muss, hängt damit zusammen, dass die Trias „security, tranquility and commerce“ durch andere und von den USA so gut wie nicht mehr beeinflussbare Bedrohungspotenziale bzw. Handlungsverpflichtungen relativiert wird. Der Aufstieg Asiens, vor allem Chinas und damit auch die Chance des Übergangs von einem amerikanischen zu einem asiatisch-pazifischen oder gar chinesischen Jahrhundert beschäftigt mehr und mehr die amerikanischen und überhaupt die westlichen Eliten.14 Das Europa der Europäischen Union agiert auf der internationalen Bühne immer selbstständiger. Und die USA sind tatsächlich längst einem „clash of civilizations“, vor allem mit der islamischen Welt, ausgesetzt, der auch dann nicht mehr geleugnet werden kann, wenn man Huntingtons analytisch-historische Trennschärfe hinterfragt. Die 73 politischen Probleme des Nahen Ostens einschließlich der Frage der Zukunft der westlichen Energieversorgung wird noch lange auch auf der Tagesordnung der amerikanischen Politik stehen. Ungewissheit und damit höchste Aufmerksamkeit einfordernd begleiten aus US-amerikanischer wie übrigens auch aus der Sicht des Europas der Union den Wiederaufstieg Russlands (das in diesem Jahr 2006 sogar die G8-Präsidentschaft übernimmt) und die zunehmende internationale Mündigkeit Indiens. Die Konsequenzen für Lateinamerika liegen auf der Hand: Wenn nicht morgen schon in Mexiko oder vielleicht in Zentralamerika oder in Venezuela Anarchie und Chaos ausbrechen, wird Lateinamerika nicht mehr ein weiteres Mal in die Situation ausgesprochen prioritärer Beachtung durch Washington kommen. Ein sich in verschiedenen Abschattierungen abspielendes „benign neglect“ wird zu bleibenden Verhaltensprofilen Washingtons gegenüber den südlichen Nachbarn gehören. 3. Lateinamerikas Emanzipationsversuche gegenüber den USA Hat denn Lateinamerika nach dem Scheitern des Projektes „Simon Bolivar“ nie versucht, aus dem Hegemonieschatten der Vereinigten Staaten herauszukommen? Es hat es versucht und versucht es immer noch, wenn auch die diesbezüglichen Engagements und Interessen in den lateinamerikanischen Ländern verschieden sind. Ich nenne einige Beispiele: Zu den kulturell eindrucksvollsten Dokumenten der lateinamerikanischen Emanzipation von Washington gehört z.B. das berühmt gewordene Essay des Uruguayers José 70-79_Mols 12.05.2006 8:37 Uhr Seite 74 74 Henrique Rodó mit dem Titel „Ariel“15, in welchem eine lateinamerikanische kulturelle Überlegenheit gegenüber dem nordamerikanischen Materialismus gepredigt wird. „Ariel“ hat zu einer ganzen Denkrichtung geführt, „Arielismo“ genannt. Ein anderes prominentes Beipiel bietet der Peruaner José Carlos Mariátegui,16 der nach dem Ersten Weltkrieg in seinen gescheit geschriebenen „Siete Ensayos“ auf die von außen mitverschuldeten Probleme Lateinamerikas mit Hilfe marxistischer Analyseraster verwies. Ohne einen groben Fehler zu machen, lässt sich sagen, dass ein erheblicher Teil der lateinamerikanischen politischen und gesellschaftlichen Ideengeschichte und übrigens auch der philosophischen Schriften Emanzipationsliteratur ist, bei der es um die Selbstfindung des Subkontinents geht.17 Auch auf politischem Gebiet war Lateinamerika immer wieder wach. An der Schnittstelle von Ökonomie und Politik baute der erste Generalsekretär der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika CEPAL18, der legendäre Argentinier Raul Prebisch, in seinem „Manifiesto Latinoamericano“ eine Position auf, die auf nichts weniger als eine Reform des internationalen ökonomischen Systems bei einer sich gleichzeitig abspielenden lateinamerikanischen Integration hinauslief. Eine solche Schnittstelle ergab sich 1975 durch die Gründung des lateinamerikanischen Wirtschaftssystems SELA19 erneut. Es ging darum, für das gesamte Lateinamerika20 im damals stattfindenden Nord-Süddialog einen verbindlichen Sprecher aufzubauen. Man glaubte auch, bei einer lateinamerikanischen OAS ohne die USA auszukommen, nachdem es schon in den 30er-Jahren, vor allem durch Argentinien, innerhalb des sich allmählich entwickelnden Inter- Manfred Mols Amerikanischen Systems zu Versuchen gekommen war, zu einem gleichberechtigteren Interessenaustausch mit den Vereinigten Staaten zu gelangen. In diesen Kontext gehört auch der „Konsens von Viña del Mar“ im Jahre 1969 und die CECLA21-Gründung, deren Ziel innerlateinamerikanische Koordination hieß. In den Großversuch einer lateinamerikanischen Emanzipation gehört selbstverständlich die Kubanische Revolution, der Aufstand der Sandinisten in Nicaragua bzw. der Zentralamerika-Konflikt der 80er-Jahre überhaupt. Heute wird man auf Venezuelas Chavez verweisen, auf seine Absprachen mit Bolivien und mit Kuba, auf die Sympathien, die ihm in nicht wenigen lateinamerikanischen Ländern entgegengebracht werden, auf die neopopulistischen und antiimperialistischen Trends im Cono Sur und anderswo. 4. Lateinamerikas Handlungsalternativen Man betont häufig in den Analysen zu Lateinamerikas internationaler Stellung, dass die Implosion der Sowjetunion und damit das Ende des OstWest-Konfliktes eine für Lateinamerika signifikante Chance zu einer früher nicht gekannten Handlungsfreiheit bedeutet. Daran ist sicher einiges richtig, aber es ist dies nur die halbe Wahrheit. Die Europäer und auch einige Länder des Pazifischen Asien sind schon lange vor 1990 auf Lateinamerika zugegangen, die Europäer massiv und konstruktiv in ihrer Unterstützung der vielfältigen lateinamerikanischen Integrationsprozesse, sehr demonstrativ auch anlässlich des Zentralamerika-Konfliktes; die Asiaten über die Bewegung der 70-79_Mols 12.05.2006 8:37 Uhr Seite 75 Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“? Blockfreien einerseits und über das sich schrittweise vollziehende japanische Engagement in einigen lateinamerikanischen Ländern andererseits. Die heutigen Bindungen Europas an Lateinamerika haben sehr viel mit der inzwischen etwas verbrämten früheren Kolonisierung des Subkontinentes durch Spanien und Portugal zu tun und auch mit der Einbindung der Anfang des 19. Jahrhunderts unabhängig gewordenen Länder in die Aufmerksamkeits- und Interessensphären Englands und – dies mit einer sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vollziehenden Phasenverschiebung – Deutschlands. „Asien-Pazifik“ bedeutet in den Ländern südlich des Rio Grande immer mehr neben Japan vor allem Chinas sehr intensiv gewordenes Lateinamerika-Engagement.22 Man kommt daher nicht um die Feststellung herum, dass Lateinamerika seit Jahren Optionen hatte, für die die Regierungen in ihren Entscheidungen frei waren, also unbeeinflusst von jeder klientelistischen Bevormundung. Das gilt eindeutig für die Einrichtung eines auf französische Initiative gestarteten biregionalen Dialogs auf höchster politischer Ebene unter dem Namen Europäisch-Lateinamerikanischer Gipfel, der zum ersten Mal im Juni 1999 in Rio de Janeiro zusammentrat und inzwischen in die vierte Runde geht.23 Ebenso interventionslos von außen blieben die europäisch-lateinamerikanischen Parlamentariertreffen und schließlich das von Singapur und Chile inaugurierte Ministertreffen FEALAC.24 Ob beide Seiten die mit FOCALAE gebotenen Chancen des neu eröffneten inter-regionalen und trans-pazifischen Dialogs zur Diversifizierung ihrer politischen und ökonomischen Beziehungen auch voll zu nutzen wussten, steht als Frage auf einem anderen Blatt.25 75 5. Nochmals zur Frage des Globalisierungspartners Wenn also die Hinterhof-Interpretation Lateinamerikas kaum noch zu halten ist (Kolumbien gehört zu den Ausnahmen, die die Regel bestätigen), ist damit schon verbürgt, dass Lateinamerika in eine vordere Reihe des imaginären internationalen Systems gerückt ist, und zwar als „global player“? Die pauschale Antwort heißt eindeutig Nein, muss aber etwas genauer erläutert werden. Der immer mehr Anhänger findende Präsident Hugo Chavez von Venezuela, dessen linker Populismus auch in anderen lateinamerikanischen Ländern auf Sympathien stößt (Bolivien, Peru, natürlich Kuba, etwas weniger offen im Argentinien Präsident Kirchners und im Brasilien des Präsidenten „Lula“), zeigt eindeutig, dass Lateinamerika ordnungspolitisch noch lange nicht zur Ruhe bzw. einer intern wie extern akzeptablen Selbstfindung gekommen ist. Doch weder Chavez noch sein Venezuela könnte man als „global players“ bezeichnen. Ein Element der Unruhe, dazu noch ein, wegen seiner Öleinnahmen ressourcenkräftiges, wird als solches zur Kenntnis genommen, nicht aber als Partner im internationalen Spiel behandelt. Argentinien hat sich wieder gefangen, ist aber aus seinen traditionalen strukturellen Problemen nicht hinausgekommen. Über Mexiko kann man angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen schon deshalb nicht viel sagen, weil die in der Regierung befindliche PAN26, die alte Revolutionspartei PRI27 und der Linksabweichler PRD einigermaßen gleiche Wahlchancen haben, was allerdings im Falle eines Sieges von PRI und 70-79_Mols 12.05.2006 8:37 Uhr Seite 76 76 vor allem PRD28 bedeuten könnte, dass sich das Land, trotz seiner Zugehörigkeit zur nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA29, wieder etwas stärker in Richtung Lateinamerika bewegen würde. Das einzige Land, das nicht nur jetzt, sondern schon seit einer geraumen Zeit in den Status eines „global player“ hineinwächst, dürfte Brasilien sein. Brasiliens globaler Anspruch ist mehr als 100 Jahre alt und geht im Wesentlichen auf seinen damaligen Außenminister Rio Branco zurück. Stefan Schirm30 hat in einem dicht geschriebenen Aufsatz die bedenkenswerten und die nicht ganz so positiven Führungsindikatoren Brasiliens aufgelistet. Zu den Führungselementen zählen die Rolle des Landes auf der Ministerkonferenz im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO von Cancún im Jahre 2003 und die dort eingenommene prominente Haltung in der „Gruppe der 20“, seine Aktivitäten in internationalen Friedensaktionen der UN und im Rahmen der OAS, seine Bemühungen, zu einem „gerechteren internationalen Handelssystem“ zu kommen, die auf gleiche Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten drängenden Versuche zu einer maßgeblichen Mitsprache in den nordamerikanischen Plänen zur Schaffung eines Free Trade Agreement of the Americas FTAA, schließlich auch erfolgreiche internationale Vermittleraktivitäten in Paraguay, Venezuela und Bolivien. Hinzu kommen immer mehr ausgebaute Wirtschaftsbeziehungen zu Europa, China und allmählich auch Indien. Doch bleiben bei all dem auch Grenzen und Einschränkungen. Brasiliens Nachbarn respektieren das politische und ökonomische Gewicht des Landes, stehen aber einer regionalen brasilianischen Führungsrolle reserviert bis ablehnend gegenüber. Es zeig- Manfred Mols te sich dies besonders deutlich in der Haltung Argentiniens und übrigens auch Mexikos, sich für einen dauerhaften Sitz Brasiliens im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einzusetzen. Die von Brasilien inaugurierte Gründung einer Comunidad Sudamericana de Naciones ist bisher ergebnislos geblieben. Ob es gelingt, gegen die bis vor kurzem von Bush favorisierte FTAA eine South American Free Trade Organisation (SAFTA) ins Leben zu rufen, die im Wesentlichen aus einer Fusion der Mitglieder von Mercosur und Andenunion bestehen würde, ist deshalb ungewiss, weil sich Brasilien seiner Mitspieler nicht sicher sein kann. Außerdem – das hat Schirm gut herausgearbeitet – zeigt Brasilien völkerrechtliche wie ideologische Beklemmungen, wenn es um die Vertiefung von jedweder Integration und Kooperation geht. Wo die nationale Souveränität alleinige Richtschnur im außenpolitischen und internationalen Verhalten bleibt, sind verbindlichere Einbindungen in partielle Fusionsprozesse mit anderen schlicht unmöglich. Gilbert Calcagnotto hat in einem Beitrag mit der Überschrift „Die Rolle Brasiliens im Kampf mit den USA und die Vormachtstellung in Südamerika“31 Brasilien ein Land auf „tönernen Füßen“ genannt. Maßgeblicher Indikator sei die im Weltmaßstab mehr als prekäre Situation der sozialen Ungleichheit, die es in dieser drastischen Evidenz weder in Argentinien noch in Paraguay noch in Uruguay gebe.32 Dass hier eine permanente Bedrohung des innenpolitischen Friedens Brasiliens besteht, die das Land gleichzeitig enorm schwächt und ihm damit auch kein international überzeugendes Erscheinungsbild gibt, ist augenscheinlich. Ob eine eingreifende soziale Korrektur unter den vor- 70-79_Mols 12.05.2006 8:37 Uhr Seite 77 Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“? herrschenden Bedingungen von ökonomischer Globalisierung und NeoLiberalismus möglich wäre, sei fairerweise deshalb ausdrücklich dahingestellt, weil sich deutliche Tendenzen sozialer Verzerrung auch in den, den gleichen Rahmenbedingungen ausgesetzten großen Industrieländern zeigen, z.B. in Deutschland, in Großbritannien und in den USA. Bleibt der Hinweis auf Chile. Chile ist in vielerlei Hinsicht das entwickeltste lateinamerikanische Land. „Good Governance“ ist besser erreicht als anderswo, die Demokratie ist intakt, die Wirtschaftsordnung stabil und die Wirtschaft selbst auf einem guten Kurs. Das Land hat Dank einer arbeitsfähigen Diplomatie einen Diversifizierungsgrad seiner auswärtigen politischen wie wirtschaftlichen Interessen erreicht, um den ihn die lateinamerikanischen Nachbarn beneiden müssen. Dennoch wäre es etwas künstlich, Chile als „global player“ zu bezeichnen. Von seiner Bevölkerungs- und Wirtschaftsgröße her ist das Land zu klein, um das für einen „global player“ notwendige Gewicht aufzubringen. Unterschlagen werden soll gleichwohl nicht, dass Chile – gegen anderweitige Präferenzvorstellungen der USA – mit José Miguel Insulza (dem ehemaligen Außenminister) den amtierenden Generalsekretär der OAS stellt. Insulza ist seit langem eine intellektuell überzeugende Symbolfigur für die Emanzipation Lateinamerikas. Es sollte deutlich geworden sein, dass Lateinamerika zum gegenwärtigen Zeitpunkt und bis auf weiteres kein strategischer Partner im weltweiten Globalisierungsspiel sein kann. Globalisierung ist – entgegen landläufigen Hinweisen auf enorm gesteigerte wirtschaftliche Interdependenzen und alle gängigen 77 Zeitvorstellungen überholende kommunikativen Vernetzungen – ein multidimensionales Geschehen,33 das eine UNESCO-Forschergruppe um den bedeutenden Brasilianer Helio Jaguaribe de Mattos auf die Formel einer „planetarischen Zivilisation“ gebracht hat, welche dabei sei, die Nachfolge der „späten Westlichen Zivilisation“ anzutreten.34 Zu einer Zivilisation gehören politische und wirtschaftliche Ordnungsmuster, artikulierte Sozialstrukturen, ein normativer und auch ideologischer Überbau, Kultur und Wissenschaft im weitesten Sinne des Wortes, technologische Eigenqualitäten einschließlich Forschung und Entwicklung, vor allem auch „soft power“ in jener konzeptuellen Einkreisung, wie uns dies vor Jahren Joseph Nye vorzustellen wusste. Das bedeutet das Aufkommen eines paradigmatischen Ranges und einer entsprechenden Attraktion für andere, nicht zuletzt ein aus seiner jeweiligen historischen Epoche definierbarer Modernisierungsgrad, der die Ausstrahlung von „soft power“ rechtfertigen kann. Von all diesen Qualitäten ist Lateinamerika sehr weit entfernt.35 Die politischen Systeme seiner Länder müssen um Mindeststandards von „governance“ kämpfen. Die lateinamerikanische Wirtschaft – das haben die Krisen der letzten Jahre und eigentlich Jahrzehnte gezeigt – bleibt extrem verwundbar und in der Menge seiner konkreten wirtschaftlichen Outputs eher vormodern als modern. Die Investitionen für Forschung und Entwicklungen können nicht im Ansatz mit entsprechenden Ausgaben in ausgewählten ost-, südost- und südasiatischen Ländern mithalten, von einer ausstrahlenden „soft power“ ist ange- 70-79_Mols 12.05.2006 8:37 Uhr Seite 78 Manfred Mols 78 sichts der meist extrem verzerrten Sozialsysteme, die das Prädikat „ungerechte Gesellschaften“ rechtfertigen, im internationalen Feld nichts zu spüren. Es hat in den vergangenen Jahren im Kreis um Wolf Grabendorff und Riordan Roett ins Operative gehende Überlegungen zur Bildung eines Atlantischen Dreiecks,36 bestehend aus Europa, den USA und Lateinamerika gegeben. Hätte man dieses Thema unter dem Vorzeichen einer breit gefassten Globalisierung diskutiert, wäre man auf die Grenzen einer entsprechenden transatlantischen Partnerschaft gestoßen. Lateinamerika ist kein „rule ma- ker“ im weltweiten Globalisierungsprozess, sondern ein „rule taker“. Dem Bolivianer Felipe Mansilla ist Recht zu geben, wenn er meint, dass Globalisierung in Lateinamerika überwiegend als Bedrohung empfunden werde, sodass die Suche nach einer eigenen und bleibenden Identität Vorrang habe.37 Womit wir bei der alten Abgrenzungsphilosophie der Lateinamerikaner wieder angekommen wären, der Suche nach dem „ser americano“ und der nationalen Kultur.38 Wäre Lateinamerika anders zu interpretieren, wenn es gerade heutzutage weniger fragmentiert wirkte? Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Arbeitspapier Auswärtiges Amt/Berlin 2005. Thiery, Peter: Zwischen good governance, Populismus und Institutionenkollaps, in: Brennpunkt Lateinamerika 22 vom 15.11.2005. Maihold, Günther/Husar, Jörg: Demokratiekrisen in Lateinamerika. Bolivien und Venezuela als Testfälle für das demokratische Engagement der internationalen Gemeinschaft, SWP-Aktuell, Juni 2005. Molina, Franklin: Estados Unidos y la Doctrina Bush en Política Exterior. Visión desde America Latina, in: Rev. Ven. de Econ. y Ciencias Sociales 9/3 2003, 59– 71. Vgl. Sangmeister, Hartmut: Gulliver und die Zwerge: Asymmetrien und Interdependenzen der Wirtschaftsbeziehungen in den beiden Amerikas, Lateinamerika Analysen 11 vom 11. Juni 2005. Bailey, Norman A.: Latin America in World Politics, New York 1967. Valenzuela, Arturo: Beyond Benign Neglect. Washington and Latin America, in: Current History vom Februar 2005, 58– 76. Molina, F., Estados Unidos, 62. Boeckh, Andreas: Lateinamerika und die USA: Muster wechselseitiger Wahrnehmung in einer symmetrischen Partner- 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 schaft, Lateinamerika-Analysen 11 (Juni 2005), 87–106. Text bei Bailey, N.A., Latin America, 183. Boeckh, A., Lateinamerika, 96. Ausnahmen waren hier zeitweilig Chile und vor allem Brasilien, das einen reibungslosen Übergang von einer Kolonie zu einer geordneten und handlungsfähigen Staatlichkeit kannte. Bailey, A., Lateinamerika, 183. Schon klassisch: Borthwick, Mark: Pacific Century. The Emergence of Modern Pacific Asia, Boulder/Col. U.A. 1992. In der deutschen Ausgabe hg. von Ette, Ottmar, Mainz 1994 (span. Original 1902). Mariátegui, José Carlos: Siete Ensayos de interpretación de la realidad peruana, Lima 1928. Vgl. etwa Roig, Arturo Andrés: Teoria y Práctica del Pensamiento Latinoamericano, México 1981; Faust, Jörg/Mols, Manfred/Wagner, Christoph (Hrsg.): Ideengeber und Entwicklungsprozesse in Lateinamerika, Mainz 1999; Zea, Leopoldo (coord.): América Latina en sus ideas, México 1996. CEPAL = Comisión Económica para America Latina. (Heute … yel Caribe). SELA = Sistema Económico Latinoamericano mit Sitz in Caracas. Auch das castristische Cuba machte mit! 70-79_Mols 12.05.2006 8:37 Uhr Seite 79 Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“? 21 22 23 24 25 26 27 28 29 CECLA = Comisión Especial de Coordinación Latinoamericana. Einzelheiten zu diesen Entwicklungen bei Mols, Manfred: Integration und Kooperation in zwei Kontinenten. Das Streben nach Einheit in Lateinamerika und in Südostasien, Stuttgart 1996, bes. Teil 2. Vgl. Xu Chicheng u.a.: Latin America en 2004-2005, Peking, March 1, 2005 (Bureau of International Cooperation/Institute of Latin American Studies). Vgl. Boomgarden, Georg: Aussichten auf den Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, Lateinamerikas und der Karibik am 28./29. Juni 1999 in Rio de Janeiro, in: Lateinamerika. Analysen-Daten-Dokumentation Nr. 15 (1998), 54–62. FEALAC = Forum for East Asia Latin America Cooperation. Vgl. Mols, Manfred: Latin America and East Asia. Between Bilaterism and Interregionalism, in: Jörg Faust/Manfred Mols/ Won-ho Kim (eds.), Latin America and East Asia – Attempts at Diversification. New Patterns of Power, Interest and Cooperation, Münster/New Brunswick/ London 2005, 196–311. PAN = Partido Acción Nacional. PRI = Partido Revolucionario Institucional. PRD = Partido Revolucionario Democrático. NAFTA = North American Free Trade Agreement. 30 31 32 33 34 35 36 37 38 79 Schirm, Stefan A.: Führungsindikatoren und Erklärungsvariablen für die neue internationale Politik Brasiliens, in: Lateinamerika Analysen Nr.11 vom Juni 2005, 107–130. Calcagnotto, Gilberto: Die Rolle Brasiliens im Kampf mit den USA um die Vormachtstellung in Südamerika, in: Nadja Gmelch u.a. (Hrsg.), Freihandel in den Amerikas. Entwicklung und Perspektiven gegenwärtiger Integrationsprojekte, München 2005, 263–289. Daten: Ebd. 272. Zu einer breiteren Definition von Globalisierung vgl. Mols, Manfred: Bemerkungen zur Globalisierung in Lateinamerika und in Ostasien, in: Wulfdieter Zippel (Hrsg.), Die Beziehungen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten, Baden-Baden 2002, 45–76. Vgl. Jaguaribe, Helio: Un Estudio crítico de la Historia, México 2001 und 2002 (2 Bände), hier bes. Bd.II, Kapitel XVI–XIX. Vgl. Mols, Manfred/ Öhlschläger, Rainer (Hrsg.): Lateinamerika in der Globalisierung, Frankfurt am Main 2003. Vgl. Grabendorff, Wolf/ Roett, Riordan (Hrsg.): Lateinamerika – Westeuropa – Vereinigte Staaten: Ein Atlantisches Dreieck?, Baden-Baden 1985. Mansilla, Felipe, H.C.: Tradición autoritaria y modernización imitativa, La Paz 1997. Vgl. Oddone, Juan A.: Regionalismo y nacionalismo, in: L. Zea, America Latina, 201–238. 80-83_Im_Dialog 12.05.2006 8:41 Uhr Seite 80 Im Dialog Der Beitrag von Stefan Jakob Wimmer im Heft 405 der Politischen Studien mit dem Titel „Gibt es eine ‚islamische Gefahr‘ für die Kultur Europas?“ hat ein großes Echo bei unserer Leserschaft hervorgerufen und wurde kontrovers diskutiert. Stellvertretend drucken wir hier zwei Expertenmeinungen ab. Prof. Dr. Arnulf Baring, Berlin, hat in seinem Artikel „Europäismus als Selbsttäuschung“ in der FAZ vom 29. März 2006 Stefan J. Wimmers Beitrag lobend hervorgehoben und zustimmend zitiert: immer wieder zu erlebender Gewalt äußern.‘“ (S.9) „(...) Das Januar/Februar Heft der Politischen Studien fragt nach den Grenzen Europas und in diesem Zusammenhang auch, ob es eine islamische Gefahr für die europäische Kultur gebe. Kenntnisreich und einfühlsam schildert Stefan Jakob Wimmer zunächst das Selbstverständnis des Islams als Religion, weist seine versöhnlichen und friedfertigen Züge nach. Doch dann fährt er fort: ‚Das bisher Gesagte könnte den Eindruck erwecken, als bestünde gar kein Grund zur Besorgnis, als könne von einer Gefahr keine Rede sein. Der Blick auf aktuelle Realitäten belehrt uns freilich sehr drastisch eines Schlimmeren. Von Muslimen selbst wird oft allzu schmerzlich empfunden, dass die Forderung ‚Es sei kein Zwang in der Religion‘ zu den am häufigsten und heftigsten missachteten Koranstellen gehört. An Stelle eines Lebens in Fülle ist die Wirklichkeit sehr viel eher von Beschränkungen, von Eingrenzungen und Abgrenzungen bestimmt. Tatsächlich ist das Verhältnis islamischer Gesellschaften gegenüber dem so genannten Westen heute in erschreckendem Maße von Abgrenzung und Konfrontation geprägt, die sich auch in „Stefan Wimmer versucht, ein seiner Ansicht nach verzerrtes Bild des Islam hier zu Lande zurechtzurücken, Fehlentwicklungen aufzuzeigen und die aus ihnen resultierende Bedrohung von der ‚eigentlich friedliche(n) Natur des Islam‘ zu unterscheiden. Seine Ausführungen enthalten jedoch entscheidende Fehldeutungen islamischer Begriffe und Phänomene, ignorieren oder verharmlosen wesentliche Probleme und gelangen somit zu durchaus anfechtbaren Folgerungen. Dr. Eva D. Plickert, München, schickte uns folgenden kritischen Leserbrief: Die korrekte Übersetzung des arabischen Worts Islam mit ‚Hingabe‘ oder ‚Unterwerfung‘ bestreitet Wimmer und erklärt, Islam bedeute ‚Frieden‘. Diese von Islam-Apologeten oft gehörte, irreführende Behauptung stützt Wimmer mit einer Ableitung des Worts Islam aus der Wurzel des Worts salâm, d.h. ‚Frieden‘, ‚Heil‘. Nicht alle aus den Wurzelkonsonanten s, l, m gebildeten Wörter haben jedoch die gleiche Bedeutung. Wimmers Übersetzung ist nicht haltbar und weckt den Verdacht, er traue Nicht-Muslimen nicht zu, in einem arabischen Wörterbuch nachzuschlagen. Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 80-83_Im_Dialog 12.05.2006 8:41 Uhr Seite 81 Im Dialog Islam bedeutet also, sich dem Willen Allahs und der islamischen Lebensordnung gemäß dem Koran und der Sunna, dem Vorbild des Propheten Mohammed, zu unterwerfen. Frieden ist dort, wo der Islam herrscht, nämlich im Dar-al-Islam. Als Ganzheitssystem, das Temporalia und Spiritualia nicht trennt, umfasst der Islam Religion, Politik, Recht, Kultur und das gesamte Leben der Menschen. Der Einzelne ist der Umma, der Gemeinschaft der Muslime, untergeordnet und besitzt nicht den Status eines Individuums. Von diesem quasi-totalitären Anspruch des islamischen Systems und seinem Gegensatz zum säkularen, demokratischen Rechtsstaat mit seinen Grund- und Menschenrechten erfahren wir von Wimmer leider nichts. Kaum überzeugen kann auch Wimmers Interpretation des Dschihad, d.h. ‚Anstrengung‘. Während im Koran der Begriff Dschihad ganz entscheidend im Sinne des Kampfs gegen ‚Ungläubige‘ auftritt (z.B. Sure 9, 5 und 123), wie es den Glaubensforderungen Mohammeds entspricht, verharmlost Wimmer den Dschihad als Bemühen um eine bessere Welt durch soziales Engagement oder Umweltschutz und lässt die Bedeutung von Kampf und Krieg nur als Dschihad gegen ‚das Böse‘ oder im Verteidigungsfall zu. Wenngleich Mohammed auch Angriffe abzuwehren hatte, ist doch unverkennbar, dass die ‚Ungläubigen‘ ‚um Allahs willen‘ (Sure 4, 74 und 76 u.a.) grundsätzlich aggressiv zu bekämpfen sind. ‚So kämpfen sie (die Muslime) auf dem Pfade Gottes; sie töten und werden getötet‘ (Sure 9, 111). Die Weigerung, sich dem Islam zu unterwerfen, ist ‚das Böse‘, das bekämpft werden muss, um das Paradies zu erlangen. Der Bezug auf Al- 81 lah/Gott legt den Begriff ‚Heiliger Krieg‘ durchaus nahe, weshalb Wimmers Hinweis, dieser sei erst von christlichen Kreuzfahrern eingeführt worden, als Ablenkungsversuch erscheint. Zwar gesteht Wimmer zu, Mohammed habe auch Gewalt praktiziert und Kriege geführt, was ihn ‚aus christlicher Perspektive‘ – eine typische Relativierung Wimmers – und im Vergleich mit Jesus disqualifiziere. Aus muslimischer Sicht habe jedoch Mohammed wie ihm vorausgegangene streitbare Propheten (Moses, Elias, Josua und David) notwendigerweise für seinen Glauben kämpfen müssen, um das Prophetentum zu vollenden. Ohne festen ethischen Standpunkt und in ständigem Perspektivenwechsel rechtfertigt Wimmer damit die fundamentale Aggressivität Mohammeds. Der Friedenslehre Jesu stellt Wimmer den Islam als eine ‚realistischere Theologie‘ gegenüber, die verlange, dass gegen die für ‚das Böse‘ in der Welt verantwortlichen ‚Täter‘, mit denen nur die ‚Ungläubigen‘ (kafir) gemeint sein können, mit Gewalt vorzugehen sei. Dass Juden und Christen zu dulden sind, wenn sie als untergeordnete Dhimmis Tribut entrichten, ist aus solcher Sicht wohl als besondere Großzügigkeit zu begrüßen. Mit dem Koranfragment ‚Es sei kein Zwang im Glauben‘ (Sure 2, 256) insinuiert Wimmer, es gelte Glaubensfreiheit im Islam. Damit ist jedoch tatsächlich gemeint, der islamische Glauben sei dem Menschen von Geburt an gleichsam naturgemäß. Gegen Religionsfreiheit sprechen nur zu deutlich die zahlreichen Koranstellen, die den Kampf gegen ‚Ungläubige‘ fordern, und der Umstand, dass Apostasie, der Abfall vom Islam, als schweres Verbrechen verfolgt werden muss. 80-83_Im_Dialog 12.05.2006 8:41 Uhr Seite 82 82 Völlig ignoriert wird bei Wimmers Betrachtung dessen, was islamisch sei, die ausdrücklich im Koran geforderte Gewalt gegen Frauen (Sure 4, 34), wenn sie sich ‚widerspenstig‘ verhalten. Entsprechend sind auch die in islamischen Staaten praktizierte Unterdrückung und rechtliche Benachteiligung der Frauen, ‚Ehren‘morde z.B. bei Ehebruch und andere drakonische Strafen gemäß der Scharia kein Thema. Die Frage, ob der Islam gefährlich sei, beantwortet Wimmer wie gewohnt ambivalent. Terror, Fanatismus, Sympathie mit Gewalt gegen den Westen und Antisemitismus werden zwar durchaus angeprangert, jedoch als Fehlentwicklungen bezeichnet. Die Verbrechen von Terroristen pervertierten ihre Religion, wie dies – wiederum relativierend – in allen Religionen vorkomme. Die Ursachen werden mit dem Verlust der früheren kulturellen und zivilisatorischen Überlegenheit durch – aus der Sicht der Muslime – ‚heilsgeschichtlich überholte Kulturen‘ wie das Christentum sowie die kolonialistische Ausbeutung und Überfremdung durch die westliche Kultur erklärt, die als Bedrohung empfunden würden. Daraus folge eine Rückbesinnung auf die ‚höchsten Werte‘ der eigenen Religion, die zu einem ‚befreienden Überlegenheitsgefühl‘ führe. Diese mit Sympathie für die Sicht der Muslime geführte Argumentation resultiert in der Feststellung, der Islam könne durchaus die Lösung für die Muslime sein, wenn er nur nicht durch ‚Fundamentalismus entstellt und verderbt würde‘. Letzteres verkennt, dass dem orthodoxen Islam mit seinem allumfassenden Anspruch durchaus fundamentalistische Tendenzen inhärent sind, die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus dem- Im Dialog nach ‚keinen Erkenntniswert‘ (Tilman Nagel) besitzt. Zweifellos gibt es auch in Europa viele Muslime, die dem Absolutheitsanspruch des Islam nicht folgen. Insofern ist Wimmer zuzustimmen, dass pauschale Verurteilungen in der Tat nicht gerechtfertigt sind. Friedfertig sind jene Muslime jedoch kaum, weil sie ihre Religion so leben, ‚wie sie gemeint ist‘, sondern weil sie die aggressiven Forderungen Mohammeds aus innerer Ablehnung oder welchen Motiven auch immer nicht umsetzen wollen oder können. Gewiss ist der Islam kein Monolith, leider finden sich jedoch bei Wimmer keine Hinweise auf seine verschiedenen Ausformungen, z.B. auf das Alevitentum. Der Forderung nach Unterstützung der ‚positiven Strömungen‘ ist zuzustimmen, wenn damit moderate, friedfertige und mit unseren Werten kompatible Tendenzen gemeint sind. Jedoch davon ausgehend, wie Wimmer es verlangt, das heftige Drängen der Türkei in die Europäische Union als einen ‚friedlichen Anschluss an Europa‘ und als ‚einmaliges Geschenk der Geschichte‘ zu begrüßen geht an den realen Motiven der Türkei völlig vorbei und würde die Aufnahmefähigkeit der EU vollends überfordern. Ein EU-Beitritt der Türkei, die ihren rasch wachsenden, arbeitslosen Bevölkerungsüberschuss nach Europa leiten will und als größter Schuldner des IWF auf Subventionen aus Brüssel spekuliert, würde für die EU und insbesondere Deutschland fatale Folgen zeitigen. Nach einem Beitritt werden infolge der zu gewährenden Freizügigkeit eine Einwanderung von über 10 Millionen Türken nach Deutschland und jährliche Beitrittshilfen der 80-83_Im_Dialog 12.05.2006 8:41 Uhr Seite 83 Im Dialog EU von bis zu 28 Milliarden Euro erwartet, von denen unser hoch verschuldeter Staat rund 20% zu zahlen hätte. Wahrlich ein Danaergeschenk!“ Dr. Stefan Jakob Wimmer Ph.D., München, erwidert: „Gegen Ende ihrer Kommentierung meines Beitrags spricht sich Frau Plickert gegen pauschale Verurteilungen von Muslimen aus und unterstützt meine Forderung nach einem Bündnis mit ‚positiven Strömungen‘, welche den Islam als friedliche und mit den Werten einer modernen, pluralistischen und freien Gesellschaft konformen Religion vertreten. Zuvor bemüht sie sich ausführlich, dabei leider nicht immer sachlich und mit zuweilen apodiktisch (‚damit ist jedoch tatsächlich gemeint ...‘) eingeführten Positionen, den Nachweis zu führen, dass es solche Muslime im Grunde nicht geben könne, jedenfalls nicht, solange sie in Treue an den Quellen ihrer Religion, dem Koran und der Überlieferung des Propheten Muhammad festhielten. Es ist angesichts der erschreckend verbreiteten Fehlentwicklungen in islamischen Gesellschaften, der Wucht islamistischen (nicht: islamischen – der Unterscheidung kommt ein essenziel- 83 ler Erkenntniswert zu!) Terrors und der eben darauf konzentrierten Außenwahrnehmung unsererseits tatsächlich immer noch möglich und beklagenswert verbreitet, die ganze Breite und Vielfalt muslimischer Stimmen zu den Fragen, die uns alle bedrängen und beunruhigen, zu ignorieren und auf eingefahrenen, plakativen und scheinbar eindeutig charakteristischen Stereotypen (Islam = Unterwerfung, Heiliger Krieg, Ungläubige, Ehrenmorde) zu insistieren. Die Verfasser des aktuell verbreiteten ‚Muslimischen Manifests‘ (Mustafa Akyol und Zeyno Baran; über Internet-Recherche bequem einzusehen), von ganz unterschiedlichen Beiträgen, die in der Neuerscheinung von ‚Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion‘, herausgegeben von Katajun Amirpur und Luwig Amann (Herder Freiburg 2006) gesammelt werden, und zahlreiche weitere muslimische Stimmen bei uns, in der Türkei und in anderen Ländern belegen eindrucksvoll, dass Islam sehr viel mehr sein kann, als wir gewohnt (oder bereit?) sind, zur Kenntnis zu nehmen. Bei aller gebotenen Vorsicht vor den Gefahren einer globalen und lokalen Konfrontation meine ich, dieses Zugeständnis sind wir der Achtung der Würde auch muslimischer Menschen schuldig.“ 84-85_Das_aktuelle_Buch 12.05.2006 8:43 Uhr Seite 84 Das aktuelle Buch Schirrmacher, Frank: Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft. München: Karl Blessing Verlag, 2006, 185 Seiten, € 16,00. Apokalyptische Szenarien vom drohenden Niedergang unserer Gesellschaft haben Konjunktur. Sie kleiden sich allerdings häufig nicht in so wohlgesetzte Rede wie das hier anzuzeigende Buch. Es stammt aus der Feder des Mitherausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dr. Frank Schirrmacher, der sich nach seinem streitbaren Aufruf zum „Methusalem-Komplott“ nun mit einer weiteren Monografie in der Debatte zur Bevölkerungsentwicklung zu Wort gemeldet hat. Sie trägt den Titel „Minimum“ – und der Name ist Programm. Drehen sich die insgesamt sechs Kapitel unterschiedlicher Länge im Kern doch alle um das Menetekel einer Verkümmerung unserer sozialen Beziehungen auf ein „Minimum“ und die darob aufbrechenden Urfragen einer Gesellschaft: Wie entsteht Vertrauen? Auf wen kann man im Ernstfall bauen? Wer hilft wem, wann, wie lange und warum? In gut journalistischer Manier wählt Schirrmacher zu Beginn einen effektvollen Aufhänger, der ihm im Folgenden immer wieder als Vergleichsfolie dienen wird: die Tragödie vom Donner-Pass. Auf seinem Weg nach Kalifornien war 1846/47 ein Treck von 81 Siedlern sechs Monate lang bei knapper werdenden Vorräten durch Schneestürme in der Sierra Nevada fest gehalten worden. 50% starben. Bei näherer Betrachtung stellte sich rückblickend heraus, dass es nicht die starken, unabhängigen Einzelkämpfer waren, welche die größten Überlebenschancen hatten. Entscheidend für das Durchkommen war einzig und allein, ob die betreffende Person in einer Familie gereist war oder nicht: je größer die Familie, desto größer die Überlebenswahrscheinlichkeit des Einzelnen. Dieses „biologische“ Erklärungsmuster von der „Überlebensfabrik Familie“ überträgt Schirrmacher nun auf unsere von der „Krise des Sozialstaats“ und der „Implosion der Familien“ geplagte Gegenwart. Und seine daraus gewonnene Erkenntnis überrascht nicht. Kaum ein Mitglied unserer Gemeinschaft wäre am Donner-Pass unter den sicheren Gewinnern gewesen. Selbst wenn wir allerorten spüren, dass auch heute „unbekanntes Terrain“ vor uns liegt, reisen wir überwiegend allein. Im Deutschland des Jahres 2006, dessen Geburtenrate mit durchschnittlich 1,3 Kindern je Frau die niedrigste Europas ist, strebt die „Urgewalt“ Familie dem absoluten „Minimum“ zu. Die damit in Gang gesetzte Abwärtsspirale im sozialen Gefüge unseres Landes ist so beunruhigend wie bekannt. Als einen der gravierendsten Punkte nennt Schirrmacher hier den Ausfall der Familie als „stärkste Sozialisierungsmaschinerie“, als Kern allen Zusammenhalts, als Keimzelle des Altruismus, was eine radikal unter ökonomischen Vorzeichen stehende Umwertung aller Werte nach sich ziehen werde. Die Gesellschaft habe es versäumt, der „Investition Kind“ in der öffentlichen Wahrnehmung mit dem „sozialen Kapital“, das Kinder schaffen, einen positiven „Wert“ entgegenzusetzen, obwohl dieser auf Grund des Gesetzes von Angebot und Nachfrage in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sprunghaft steigen werde. Nicht nur, weil diese Kinder dann als unter 20-Jährige einer zu diesem Zeitpunkt faktisch halbierten Bevölkerungsgruppe angehören, sondern weil sie in einer schrumpfenden Gesellschaft schlicht eine mit Geld nicht mehr aufzuwiegende Größe darstellen werden. Denn was erwartet uns, wenn der Verteilungskampf auf Grund der Rationierung sozialer Zuwendungen nicht in der Sierra Nevada des 19. Jahrhunderts, sondern morgen in unserer Mitte ausbricht? Was, wenn der Staat in absehbarer Zukunft seine Hilfsversprechen nicht mehr halten kann? Wer rettet dann wen, wenn es ernst wird? Auf einen Nenner gebracht, lautet Schirrmachers mit weiteren „Rollenspielen“, historischen Exempeln und sozialpsychologischen Untersuchungen unterfütterte Antwort: „Blut ist dicker als Wasser“. Jede Gesellschaft brauche, sofern sie fortbestehen wolle, einen bestimmten Anteil „verwandtschaftlichen Altruismus“. Im Ernstfall trage allein das familiäre Netz. Die massenmedial propagierte Illusion eines ökonomisch oder freundschaftlich motivierten Zusammenhalts, in der sich unsere „Single-Generation“ behaglich eingerichtet hat, werde im Angesicht heraufziehender Katastrophen zerplatzen und eine Freischar nar- Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 84-85_Das_aktuelle_Buch 17.05.2006 10:21 Uhr Das aktuelle Buch zisstischer Einzelkämpfer offenbaren, für die etwa ein Generationenvertrag keine Geltung mehr besitze. Ist das Vergehen unserer Minimum-Gemeinschaft also unvermeidbar? Der Autor verneint dies unter anderem mit einem Hinweis auf historische Analogien wie die zur „Schicksalsgemeinschaft“ (Helmut Schelsky) der Jahre 1945/49. Denn immer dann, wenn die Ressourcen schwänden und existenzielle Gerechtigkeit gefragt sei, so Schirrmacher, schlage die Stunde der Frauen. In ihnen sieht er die großen „Verwandtschaftsbewahrer“, die auch in scheinbar ausweglosen Situationen die Familien zusammen hielten, Netzwerke organisierten und „soziales Kapital“ akkumulierten, wo es verschwendet oder zerstört wurde. Alles, was einer schrumpfenden Gesellschaft fehlen werde – soziale Kompetenz, Einfühlung, Altruismus, Kooperation –, vereinten die Frauen auf sich, weshalb es nur ihnen gelingen könne, die schwindende Gemeinschaft zu stabilisieren. Sie seien, ähnlich den Frauen vom Donner-Pass, die „Überlebensmaschinen“ unserer Gemeinschaft. Eingedenk der landläufig unter dem Schlagwort „demografischer Wandel“ subsumierten hochkomplexen Gemengelage aus wirtschafts- und familienpolitischen Herausforderungen, Bevölkerungsentwicklung und zusehends überforderten sozialen Sicherungssystemen, vor denen unser Land heute steht, ist man spätestens an diesem Punkt denn doch versucht, hinter die femininen Lösungsvisionen Schirrmachers ein deutliches Fragezeichen zu setzen. Der weiblichen Bevölkerungshälfte – wahlweise Deutschlands, Mitteleuropas, Europas oder des „Westens“ – aus recht freimütig zusammengestellten evolutionsbiologischen Gründen en passant die Verantwortung für einen Ausweg aus der Seite 85 85 Malaise zuzuschieben, scheint doch reichlich gewagt. Zumal Schirrmacher sein in den ersten beiden Dritteln des Buches aufgestelltes „biologisches“ Erklärungsmuster im Verlauf des letzten Drittels selbst konterkariert. Prognostiziert er doch angesichts der anstehenden fundamentalen Ausdünnung der verwandtschaftlichen Netzwerke – in deren Verlauf in vielen Ländern Europas eine wachsende Zahl von Menschen in ihrer eigenen Generation wenige oder gar keine Blutsverwandte mehr haben wird – das Knüpfen „neuer Netze“ des sozialen Zusammenhalts durch weibliche Hand. Wer Schirrmachers wortmächtig unterfütterte Donner-Pass-Szenarien von der Fragilität rein ökonomischen oder freundschaftlichen Zusammenhalts im Angesicht hereinbrechender Katastrophen noch im Ohr hat, wird aber in diesen, aus nahe liegenden Gründen gerade nicht verwandtschaftlich fundierten Verbünden keine zukunftsfähigen Garanten der Haltbarkeit und Beständigkeit unserer Gesellschaft sehen wollen. So bleibt der Autor, anders als im Untertitel suggeriert, konkrete und tragfähige Vorschläge für das „Neuentstehen unserer Gemeinschaft“ schuldig. Bei aller Kritik im Detail bleibt dieses Buch dennoch lesenswert. Goldene Zügel machen ein Pferd nicht besser, aber wer „Minimum“ nicht als akademisches Werk, sondern als gesellschaftspolitisches Manifest liest, der darf, nicht zuletzt auf Grund Schirrmachers vorzüglicher Gabe, abstrakte Daten in spannende Geschichten zu übersetzen, die anregende Lektüre eines gut geschriebenen und warmen Plädoyers für die Familie als Nukleus der Gesellschaft erwarten. Das ist nicht viel, aber ein Anfang. Philipp W. Hildmann 86-93_Buchbesprechungen 12.05.2006 8:43 Uhr Seite 86 Buchbesprechungen Böckenförde, Stephan (Hrsg.): Chancen der deutschen Außenpolitik. Analysen – Perspektiven – Empfehlungen. Dresden: TUDpress, 2005, 214 Seiten, € 14,80. der Außenpolitik dar (Klaus Segbers). Und nach Wilfried von Bredow erscheint die Außenpolitik der letzten 15 Jahre insgesamt „in keinem schlechten Licht“. Wie kann die deutsche Außenpolitik unter der Regierung Schröder/Fischer bilanziert werden? Welche Perspektiven und vor allem welche Handlungsempfehlungen lassen sich daraus ableiten? Das sind die Fragen, die sich 24 renommierte Politikwissenschaftler im vorliegenden Band stellen. Antworten auf diese Fragen zu finden ist auch notwendig, da – wie der Herausgeber in seinem einleitenden Artikel ausführt – die deutsche Außenpolitik in einer dreifachen Krise steckt. Diese manifestiert sich auf globaler, europäischer und nationaler Ebene. Deshalb ist eine breite Diskussion über die Interessen, Ziele und Mittel der deutschen Außenpolitik erforderlich. Der Band soll in diesem Kontext als „Ideensteinbruch“ verstanden werden. Die Maxime der „wissenschaftlichen Politikberatung“ liegt den Autoren dabei zugrunde. Neben Aufsätzen zur Außenpolitik allgemein umfasst das Buch auch Beiträge zu speziellen außenpolitischen Bereichen oder mit regionalem Schwerpunkt. Der bundesrepublikanischen Außenpolitik werden dann auch eindeutige Empfehlungen gegeben: Die konzeptionellen Schwächen müssen erstens dringend ausgebessert werden. Dazu fordert Hanns W. Maull beispielsweise ein „Weißbuch zur deutschen Außenpolitik“, um die Interessen, Ziele und Mittel einer konsistenten Außenpolitik in einem breiten Umfang abzustecken. Deutschland muss seine Interessen also klarer definieren. Dies gilt für fast alle Bereiche. So ist eine gute Entwicklungspolitik auch immer eine Krisenpräventionspolitik (Dirk Messner) und kluge Energiepolitik auch immer Sicherheitspolitik (Friedemann Müller). Bei der Lektüre wird deutlich, dass in den Augen der meisten Autoren die Bundesrepublik in den letzten Jahren wenig richtig, aber viel falsch gemacht hat. Augenfällig ist der Hinweis auf die fehlende Gesamtkonzeption der deutschen Außenpolitik. Eine außenpolitische Strategie, die deutsche Interessen überhaupt erst definiert, war nicht vorhanden. Neben handwerklichen Fehlern wies die deutsche Außenpolitik der letzten Jahre unilaterale Züge auf. Einige der Beiträge sparen nicht mit scharfer Kritik. Die deutsche Außenpolitik sei „ziel- und ruderlos“ (Christian Hacke). Die rotgrüne Außenpolitik litt unter „Realitätsverlust“ und bewirkte einen Rückfall in „deutsche Nationalromantik“ (Helmut Hubel). „Das Deutschland, das die rot-grüne Regierung der Welt hinterlässt, ist eine absteigende Macht mit wachsenden Ambitionen.“ Die Entwicklungen deuten auf eine „machtpolitische Resozialisierung“ hin (Gunther Hellmann). Gerhard Schröder hat mit seiner „Megaphon-Diplomatie“ einen „auffälligen Bruch in der Kontinuität deutscher Außenpolitik nach 1945“ vollzogen (Frank Umbach). Diesen teilweise vernichtenden Urteilen stehen nur wenige positive Einschätzungen gegenüber. Das Verdienst der rot-grünen Regierung stelle beispielsweise die Normalisierung Zweitens ist es dringend notwendig, so die herrschende Meinung, dass Deutschland seine innenpolitischen Probleme zuerst lösen muss, um die Ressourcen für eine Außenpolitik zu generieren, die Deutschlands gewachsener Verantwortung gerecht wird. Für die Übernahme globaler Verantwortung fehlen Deutschland aber nicht nur die militärischen Fähigkeiten, sondern zunehmend auch die „soft power“, die sich aus multilateraler Vorgehensweise und internationalem Ansehen speisen. Deswegen schickt Reinhard Wolf Berlin „zurück auf Los“ und plädiert für eine Anknüpfung an den „vorsichtig-zurückhaltenden Multilateralismus der Bonner Republik“. Mehr Multilateralismus und weniger Alleingänge wie im Irak-Konflikt oder beim Streben nach einem Sitz im UN-Sicherheitsratssitz muss daher drittens die Devise sein. Die Erweiterung und Vertiefung der EU sowie die Stärkung der UN „bei gleichzeitig größerem deutschen Einfluss auf deren Entscheidungen“ sollte auch weiterhin angestrebt werden (Herfried Münkler). Denn dieser Einfluss, so Johannes Varwick, ist durch den deutschen Unilateralismus gesunken. Viele der Beiträge sind auf Grund der Kürze und des deklaratorischen Charakters impulsiv und offensiv. Dies war das Ziel des Bandes und das ist auch das Erfrischende daran. Aber manche der Beiträge gehen weit über ihr Thema hinaus und verlieren so an Prägnanz. Statt konkreter Handlungsempfehlungen stehen außerdem nicht selten Generalabrechnungen und noch zu vage Empfehlungen im Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 86-93_Buchbesprechungen 12.05.2006 8:43 Uhr Buchbesprechungen Seite 87 87 Vordergrund. Am Ende fühlt sich der Leser ein wenig allein gelassen. Zu viele Themen werden angesprochen und vieles wiederholt sich. Hier wäre ein abschließender Artikel des Herausgebers, der die Thesen bündelt und Perspektiven eröffnet, sicher hilfreich gewesen. Der Band ist ein lobenswerter Versuch, der in der Krise steckenden deutschen Außenpolitik mögliche Wege nach vorne aufzuzeigen. Bleibt zu hoffen, dass in diesem „Ideensteinbruch“ weitergearbeitet wird und auch in Deutschland eine breite und fruchtbare Diskussion zwischen dem außenpolitischen Establishment, der Politikwissenschaft und der Öffentlichkeit entsteht. Herbert Maier Gareis, Sven Bernhard: Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik. Eine Einführung. Opladen: Verlag Barbara Budrich, 2005, 268 Seiten, € 19,90. Diese Monografie des in Münster lehrenden Politologen Sven Bernhard Gareis sollte in jeder Einführungsveranstaltung zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik Pflichtlektüre sein. Das lobenswert übersichtlich gegliederte Werk führt Studenten so souverän wie kompakt in das Thema ein. Zweifellos wird es in seinen zwölf Kapiteln dem eigenen Anspruch gerecht, die Grundlagen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu erläutern und deren zentrale Handlungsfelder zu durchleuchten. Studienanfänger werden es dem Autor danken, dass er sich nur den ersten der beiden Appelle des folgenden friesischen Wahrspruchs zu Herzen nimmt: „Man muss die Menschen dort abholen, wo sie stehen, und dorthin rudern, wo sie nicht mehr stehen können.“ Routiniert werden in Teil A (Grundlagen) Begriffe definiert und zueinander in Beziehung gesetzt, wird systematisch der Entscheidungsapparat der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik vorgestellt. Danach skizziert Gareis die Grundzüge der bundesdeutschen auswärtigen Politik bis 1990. Diese Basis nutzt er, um die durch Wiedervereinigung und Ende des Ost-West-Konflikts veränderten Rahmenbedingungen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik zu erörtern. In Teil B (Ausgewählte Handlungsfelder) widmet sich der Autor dann der Rolle Deutschlands in der EU, der NATO und der UNO. Darüber hinaus thematisiert er in eigenen Kapiteln die schwierige Transformation der Bundeswehr von der statischen Verteidigungs- zur global tätigen Einsatzarmee sowie den Kampf gegen den internatio- nalen Terrorismus bzw. die deutsche Beteiligung daran. Teil C (Perspektiven) schließlich bietet Empfehlungen für die künftige Gestaltung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Das Lehrbuch ist klug konzipiert. Obwohl sich der Autor offensichtlich vorgenommen hat, jedes einzelne Kapitel so zu gestalten, dass die jeweiligen Ausführungen auch für sich genommen problemlos nachvollziehbar sind, kommt es kaum zu Redundanzen. Die thematisierten Aspekte, die sich gegenseitig gut ergänzen und zu einem gelungenen Gesamtbild zusammenfügen, bereitet Gareis stets schnörkellos und leicht verständlich auf – nicht selten mit Hilfe von Abbildungen und „Kästen“ (schade, dass ein entsprechendes Verzeichnis fehlt). Der interessierte Leser findet einige kommentierte Angaben zu weiterführender Literatur und viele einschlägige Internet-Adressen. Lässt das Buch also keine Wünsche offen? Beinahe. Zum einen hätte es an zwei Stellen etwas gestrafft werden können. Kapitel 5, das sich mit „Interessen“ beschäftigt, hätte man einsparen können, indem man dessen Kern in das der begrifflichen Klärung gewidmete Kapitel 1 integriert hätte. Dadurch wäre es auch möglich gewesen, den Begriff des Interesses mit einigen der dort kurz vorgestellten Theorien – auf die später zu selten Bezug genommen wird – in Verbindung zu bringen. Darauf aufbauend hätte dann der jeweilige Zusammenhang zwischen deutschen Interessen und der entsprechenden Politik im jeweiligen Handlungsfeld hergestellt werden können. Ähnliches gilt für Abschnitt 11 (Krisen- und Konfliktprävention): Wenn die zentralen Punkte an jeweils passender Stelle bereits früher eingeflossen wären, wäre dieses Kapitel überflüssig. Man hätte die Studenten folglich mit ein paar bedruckten Seiten weniger erfreuen können. Zum anderen wäre man dem Autor gewiss nicht böse, wenn er häufiger und weniger vorsichtig argumentiert und Position bezogen hätte. Zwar sind der angenehm unaufgeregte Tonfall und die Ausgewogenheit der analytisch angelegten Abschnitte grundsätzlich positiv zu bewerten. Gareis vermeidet Stellungnahmen auch nicht generell. Der Realisierung des im Vorwort benannten Ziels, zur „weiteren Beschäftigung und Diskussion anregen“ zu wollen, wäre es jedoch sicherlich zuträglich gewesen, noch öfter Thesen der Art zu formulieren, wie der Autor es in der Frage der EU-Mitgliedschaft der Türkei tut. Hier attestiert er der rot-grünen Bundesregierung, mit 86-93_Buchbesprechungen 12.05.2006 8:43 Uhr Seite 88 Buchbesprechungen 88 ihrer Position „die strategischen Erfordernisse der Zukunft“ zu berücksichtigen. Er warnt davor, einen möglicherweise „fatalen Fehler“ zu begehen und den „zweifellos mühevollen Prozess“ des Beitritts erst gar nicht ernsthaft zu beginnen (S. 113). Kritisch angemerkt werden muss, dass ein weiterer Korrekturgang nötig gewesen wäre. Dadurch hätten Wortwiederholungen und orthografische Fehler, vor allem bei Eigennamen – so wird z.B. Mitterrand konsequent falsch geschrieben –, vermieden werden können. Diese Hinweise sollen jedoch keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass das Buch eine sehr gute Basis für die Beschäftigung mit dem Thema bietet. Es steht außer Frage, dass es die Bedürfnisse der Zielgruppe (Studienanfänger und Lehrende) ausgezeichnet befriedigt. Christian Strobel Weidenfeld, Werner: Getrennte Wege? Die transatlantischen Beziehungen am Scheideweg. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, 2005, 206 Seiten, € 25,00. In seinem neuestem Buch „Rivalität der Partner. Die Zukunft der transatlantischen Beziehungen – die Chancen eines Neubeginns“ greift Werner Weidenfeld seine bereits Mitte der 90er-Jahre aufgestellte These vom „Kulturbruch mit Amerika“ auf. Hinter der heftigen öffentlichen Auseinandersetzung diesseits und jenseits des Atlantiks über das Für und Wider eines Irak-Krieges stehe eine immer größer wachsende Kluft über die künftige Ausgestaltung der internationalen Ordnung. Für ihn stehen die transatlantischen Beziehungen an einem Scheideweg: Entweder lassen Amerika und Europa zu, dass „die Rivalität der Partner“ zum „endgültigen Bruch“ führt, oder sie finden zu einem neuen „strategischen Realismus“, um gemeinsam das 21. Jahrhundert zu gestalten. Nach einem Exkurs in die historische Entwicklung der transatlantischen Beziehungen werden die Entwicklungen der USA nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der europäische Integrationsprozess auf dem Weg zur politischen Vollendung seit dem Vertrag von Maastricht beleuchtet. Vor diesem Hintergrund wird beschrieben, wie sich die transatlantische Gemeinschaft angesichts der weltpolitischen Veränderungen und neuer globaler Herausforderungen neu begründet. Abschließend erfolgt eine Bewertung ihrer Perspektiven. Wie kann dem Niedergang der transatlantischen Beziehungen nach der Irak-Krise Einhalt geboten werden? Nicht durch eine Rückkehr zur guten alten Zeit des Ost-West-Konflikts, die unwiderruflich vorüber ist, so der Befund Weidenfelds. Nachdem die Bedrohung der gemeinsamen Idee der Freiheit nicht mehr besteht, seien Amerika und Europa zur „historischen Normalität der Ambivalenz“ zurückgekehrt. Die Ursache der „transatlantischen Entfremdung“ macht er in der unterschiedlichen Wahrnehmung von Bedrohung und Risiko auf beiden Seiten des Atlantiks aus. Die wachsenden Differenzen seien mit dem 11. September offen zu Tage getreten. Während sich die USA existenziell bedroht sähen und alles täten, die eigene Sicherheit zu garantieren, ohne sich dabei im Geflecht multinationaler Institutionen verstricken zu lassen, wollten die Europäer „befrieden und nicht kämpfen“. Konflikte müssten multilateral eingehegt und militärische Macht nur als letztes Mittel auf der Grundlage eines legitimierenden Mandats des UN-Sicherheitsrates eingesetzt werden. Stehen wir einem Kampf unterschiedlicher Risiko-Kulturen – Mars contra Venus – gegenüber? Hinter der rissigen Fassade versteckt sich nach Auffassung von Weidenfeld eine feste Substanz. Aus der „Rivalität der Partner“ könne eine „neue Kooperation“ erwachsen. Beide wissen, dass sie „einander brauchen“. Beide wissen, dass es keine konkurrenzfähige Alternative zur transatlantischen Zusammenarbeit gibt. Amerika und Europa sind aufgerufen, sich eine „gemeinsame transatlantische Risiko-Kultur“ zu erarbeiten. Das zentrale Defizit der transatlantischen Partnerschaft macht Weidenfeld im Fehlen eines substanziellen Strategie-Dialogs zwischen beiden Seiten des Atlantiks aus. Künftig müsse es einen Ort der strategischen Verständigung über den Atlantik geben. Wie aktuell seine Forderung ist, unterstreicht die Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Washington am 12. Januar 2006, als sie dazu aufrief, die NATO zu einem Ort zu machen, „an dem sicherheitspolitische Diskussionen (...) zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und den europäischen Mitgliedstaaten geführt werden“ sollen. Amerika kann als einzig verbliebene Supermacht die großen Weltordnungsaufgaben des 21. Jahrhunderts nicht allein bewältigen. Weltordnung kann nicht von den USA allein kom- 86-93_Buchbesprechungen 12.05.2006 8:43 Uhr Buchbesprechungen Seite 89 89 men, sie kann nur aus der atlantischen Gemeinschaft insgesamt kommen. Die USA stehen vor der Aufgabe, wieder als eine institutionell eingebettete Führungsmacht zu handeln, die die notwendige politische Legitimation durch Zustimmung und aktive Unterstützung ihrer Freunde, Verbündeten und Partner für die Umgestaltung des globalen sicherheitspolitischen Umfeldes im Sinne eines liberalen Internationalismus mobilisieren kann. Und nur ein starkes, handlungsfähiges Europa kann der selbstbewusste, unerlässliche Partner der USA sein. Um Verantwortung auf der Weltbühne an der Seite der USA übernehmen zu können, ist Europa aufgerufen, seine Defizite bei den militärischen Fähigkeiten zu beseitigen und seine politische Uneinigkeit – „altes“ gegen „neues“ Europa – zu überwinden. Die Lehre des 20. Jahrhunderts lautet: Amerika und Europa können ihre Interessen gemeinsam viel besser fördern als im Alleingang. Sie eint gemeinsame Werte, Interessen und die Vision einer Welt im 21. Jahrhundert, die sich auf Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit gründet. Und beide verfügen über alle Mittel und Möglichkeiten, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts von der Stabilisierung der Lage im Irak bis hin zum weltweiten Kampf gegen den Dschihad-Terrorismus erfolgreich zu bewältigen. Gelingt es, einen „soliden Pragmatismus und strategischen Realismus“ zu verinnerlichen, so kann der Beginn des 21. Jahrhunderts eine „neue erfolgreiche Ära“ in den transatlantischen Beziehungen einläuten, so der versöhnliche Ausblick Weidenfelds. Die Krise um das Atomprogramm Irans könnte sich als Lackmustest für die auf einem neuen strategischen Realismus sich gründenden Transatlantizismus erweisen. Franz-Josef Meiers Biscop, Sven: The European Security Strategy. A Global Agenda for Positive Power. Burlington: Verlag Aldershot, 2005, 152 Seiten, £ 49,95. Bereits mit dem Untertitel „A Global Agenda for Positive Power“ zeigt Sven Biscop die Stoßrichtung an, in die eine zukünftige Umsetzung Europäischer Sicherheitsstrategie (ESS) weisen könnte und seiner Meinung nach auch sollte. In seiner durch klare Struktur und Gliederung gekennzeichneten Arbeit geht er zunächst auf die veränderte internationale Sicherheitslage seit dem Kalten Krieg ein, um daraus resultierend Schlussfolgerungen für „new approaches“ einer modernen europäischen Sicherheitspolitik abzuleiten (S. 1–14). Das immer wiederkehrende Schlagwort ist dabei die „comprehensive security“, die sich im Gegensatz zur amerikanischen Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) nicht nur auf den politisch-militärischen Sektor beschränkt, sondern durch umfassendes und globales Krisenmanagement gekennzeichnet ist. Auch der Zusammenhang zwischen Globalisierung und Entstehung von Terrorismus wird klar herausgearbeitet (S. 15–34). Trotz der globalen Dimension einer Europäischen Sicherheitsstrategie verweist der Autor auf die nach wie vor wichtige „Neighbourhood Policy“. In der Stabilität der Beziehungen zwischen der EU und ihren unmittelbaren Nachbarstaaten (z.B. Ukraine, Moldova, Belarus, Rumänien, Bulgarien, Balkanregion, südlicher Kaukasus), aber auch ihren „mediterranen Partnern“ (Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Marokko, Syrien, Tunesien, Türkei, Palästinenser) sieht er eine unabdingbare Voraussetzung für die Sicherheit in Europa. Für die erfolgreiche Stabilisierung des Mittleren Ostens hält er die Zusammenarbeit von Union und Vereinigten Staaten für erforderlich, wobei er auf die bereits vorhandenen – wenn auch nicht umgesetzten – Gemeinsamkeiten der beiden hinweist (S. 35–54). Im vierten Kapitel wird die Reform der UN angesprochen. Hier geht Biscop sowohl auf die nach dem Irak-Krieg entbrannte Debatte ein, wer wann unter welchen Umständen zum Gebrauch von Waffengewalt berechtigt ist, als auch auf mögliche zukünftige Konstellationen des Sicherheitsrates (S. 55–83). Im nächsten Abschnitt wird auf die „Sicherung der Kapazitäten“ eingegangen, die nach Biscop nicht allein die Erhöhung militärischer Potenziale, sondern vor allem auch eine dauerhafte und strukturierte Zusammenarbeit der einzelnen Organisationen (UN, NATO etc.) erfordert, um Kohärenz und Effizienz zu bewirken (S. 85–106). Ein wichtiger Faktor für diese dauerhafte Stabilisierung der internationalen Sicherungssysteme stellt dabei die Wiederbelebung der transatlantischen Beziehungen dar. Trotz der bestehenden Differenzen zwischen USA und EU, die Biscop einfühlsam, aber durchaus Amerika-kritisch herausarbeitet, plädiert er für eine Partnerschaft, die auf mehr als einer militärischen Verteidigungsbasis (NATO) beruht. Schließlich seien die USA wichtigster – wenn auch nicht einziger – Partner der EU, ein Verhältnis, das nicht allein auf wirtschaftlichen Faktoren beruhe, sondern vor allem auch auf gemeinsamen Wertvorstellungen basiere (S. 106– 127). 86-93_Buchbesprechungen 12.05.2006 8:43 Uhr Seite 90 Buchbesprechungen 90 Abschließend geht der Autor auf die „Securing Implementation“ ein (S. 129–136). Hier verweist er auf Kritikpunkte gegenüber der ESS, die zwar die langfristigen und übergeordneten Ziele der EU-Außenpolitik darlegt, in ihren konkreten Formulierungen aber schwammig bleibt. Dennoch hält er die Umsetzung der Sicherheitsstrategie enorm wichtig für die Glaubwürdigkeit der EU. So zeichnet Sven Biscop ein insgesamt positives, wenn auch nicht kritikfreies Bild der Europäischen Sicherheitsstrategie, die für ihn mehr ist als das, nämlich „a Global Agenda for Positive Power“. Sven Biscop legt mit dieser Arbeit eine ausführliche und breit gefächerte Analyse der Europäischen Sicherheitsstrategie vor und bringt gleichzeitig eigene Gedanken und Ansätze zur Weiterentwicklung europäischer Politik mit ein. Überzeugend legt er dar, dass im 21. Jahrhundert, in Zeiten von Globalisierung und internationalem Terrorismus, nur mehr eine multilaterale „comprehensive security“ für dauerhafte Stabilität und Sicherheit weltweit sorgen kann. Für die EU bedeutet dies, dass eine Ausweitung ihrer GASP auf den militärischen Sektor unabdingbar ist, ohne dabei die anderen Bereiche der Sicherheitspolitik zu vernachlässigen. Nur so kann die EU tatsächlich zu einem globalen Akteur werden, als den sie sich selbst in der ESS bezeichnet. Erste Voraussetzung dafür ist, dass die Mitgliedstaaten endlich lernen, mit einer einzigen Stimme zu sprechen, um als gemeinsame Kraft den USA ein gleichberechtigter Partner auf der internationalen Bühne zu werden. Trotz einiger berechtigter Kritikpunkte bewertet Biscop das Potenzial dieser „comprehensive strategy for EU external action“ optimistisch, die für ihn den Stellenwert einer „Global Agenda of Positive Power“ einnimmt. Die zukünftige Entwicklung der EU im Allgemeinen und der GASP im Besonderen wird zeigen, ob er Recht behält. Agnes von Bressensdorf Behrends, Jan C./Klimó von, Árpád/Poutrus, Patrice G. (Hrsg.): Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Studien zu Ost- und Westeuropa. Bonn: Dietz Verlag, 2005, 365 Seiten, € 36,00. Nicht erst seit dem transatlantischen Streit um den Irak-Krieg 2003 gibt es eine neue Welle eines polymorphen Antiamerikanismus. Misshandlungen von feindlichen Soldaten durch amerikanische GIs, Verschleppungen von Terrorverdächtigen verschiedener Nationen, das Foltern dieser in rechtsfreien Ländern und das Festhalten an der Todesstrafe sind Gründe dafür, dass die einst als „gutmütiger Hegemon“ (Josef Joffe) gefeierten USA in den Sog abgrundtiefer normativer und gesellschaftlicher Kritik von innen und außen geraten sind. Auf der anderen Seite ist es die pure Stärke des Hegemons, die naturgemäß Neider auf den Plan ruft, wie dies zumindest amerikanische Neokonservative behaupten. Der Zeitpunkt für die Publikation eines Buches über die Geschichte des Antiamerikanismus könnte auf Grund der Aktualität des Themas nicht besser gewählt sein. In 14 prägnanten Studien untersuchen junge Autoren aus den USA und aus Europa die verschiedenen Formen und Motivationen für einen kritischen Umgang mit der „neuen Welt“ in der Geschichte. Mit dem spanisch-amerikanischen Krieg (1898) betraten die Vereinigten Staaten die Bühne der Großmachtpolitik. Und erst mit der Wahrnehmung der außergewöhnlichen ökonomischen und politischen Macht der USA geriet die junge Nation in den Fokus der Evaluationen durch andere Mächte und Kulturen. Mit den Ambitionen Theodore Roosevelts übernahmen die USA eine wahrhaft globale Rolle. Seit mehr als einem Jahrhundert oszillieren mittlerweile weltweit die USA-Bilder zwischen hochgradiger Bewunderung und abgrundtiefem Hass. Der Antiamerikanismus wird auf verschiedenen Feldern ausgetragen. Jan Behrends zeigt, dass Amerikakritik oftmals eine nach außen gewandte Selbstkritik von Nationen darstellt. In seiner radikalen Form stellt der Antiamerikanismus nicht nur einen intellektuellen Diskurs, sondern eine „zielgerichtete Mobilisierungsideologie“ dar. Dies war vor allem im Kalten Krieg der Fall, als der Sozialismus eine eigene Identität lediglich über die Konstruktion von Feindbildern (vorübergehend) herzustellen vermochte. Der Antiamerikanismus dient aber auch als intellektuelle Plattform für eine allgemeine System- oder Gesellschaftskritik, die beispielsweise eine sehr weitgefasste Globalisierungskritik umfasst. Die bolschewistische Revolution in Russland im Jahr 1917 führte zur Entstehung eines alternativen antikapitalistischen Gesellschaftsentwurfs. Mit dem Begriff Antiamerikanismus ist deshalb definitorisch eine umfassende Gesellschaftskritik zu assoziieren, die die Errungenschaften des westlichen Liberalismus von sozialistischer Seite per se in Frage stellt. 86-93_Buchbesprechungen 12.05.2006 8:43 Uhr Buchbesprechungen Behrends zeigt in seinem Beitrag, wie Stalins Gefolgsleute versuchten, den Zusammenhalt der unterjochten Völker Südosteuropas mit Hilfe eines primitiven Antiamerikanismus herzustellen. In perfider Weise wurden die Werte der USA mit denen des faschistischen Deutschland gleichgesetzt und die Außenpolitik der Truman-Doktrin mit dem deutschen Expansionismus verglichen. Signifikant ist, dass die Sowjets mit Hilfe des Antiamerikanismus versuchten, die Westintegration von Nationen wie Deutschland und Österreich zu verhindern und diesen damit zu einer Propagandawaffe im realpolitischen Schlagabtausch des Kalten Krieges machten. Die offizielle antiamerikanistische Propaganda im Ostblock, aber auch in Italien und Frankreich stand in den Fünfzigerjahren meist in krudem Gegensatz zum Empfinden der Bevölkerung, welche den amerikanischen Lebensstil von der Jeans bis zum Rock’n Roll begeistert nachzuahmen versuchte. Die Kritik an den USA wird meist durch geschichtliche Beispiele fundiert, wie verschiedene Autoren verdeutlichen. Dabei werden historische Verfehlungen der US-Regierungen, die für diese in der Tat kein Ruhmesblatt darstellen, kontextentkoppelt und als zwangsläufiges Ergebnis des amerikanischen Politikprozesses gedeutet. Die Anklagen reichen vom Vorwurf der Indianerausrottung über die Sklaverei und den Rassismus, von Hiroshima bis zum US-Interventionismus in Vietnam. In der Gegenwart werden die Fehler der Bush-Administration wie im Irak von Globalisierungskritikern verschiedener Façon als systemimmanente Folge des globalkapitalistischen US-Expansionismus gewertet. Von besonderer Bedeutung ist der Antiamerikanismus für die Konstruktion einer „europäischen Identität“, wie Andrei S. Markovits verdeutlicht. Wie jede wachsende Gemeinschaft braucht auch Europa ein klares Gegenüber. Unlängst waren es Habermas, Rorty und Derrida, die in den europaweiten Demonstrationen gegen den Irak-Krieg die Geburt eines „neuen Europa“ sahen. Antiamerikanische Ressentiments spielen im europäischen Staatsbildungsprozess eine bedeutsame Rolle. Philipp Gassert weist zu Recht darauf hin, dass der Begriff Antiamerikanismus präzise definiert werden muss, soll er nicht zur Rechtfertigung jedweder tagespolitischer Kritik herhalten. Seite 91 91 Insgesamt beleuchten die Beiträge des Buches ein breites Spektrum an Ausprägungen des Antiamerikanismus. Gerade in den Zeiten, in denen die Bush-Administration ihren Krieg gegen den Terror mit selbstgerecht legitimierten Menschenrechtsverstößen exekutiert, ist es wichtig, eine klare Sicht zu behalten und tagespolitische von allgemeiner Gesellschaftskritik zu trennen. Denn die selbstreinigende Kraft im Falle politisch-moralischer Verfehlungen durch US-Administrationen kommt wie so oft wieder aus den USA selbst. Einige Beiträge des Buches weichen etwas stark vom Ursprungsprojekt des Buches ab und beleuchten mehr binnensoziologische Fragestellungen. Trotz dieses Kritikpunktes wird hier ein zentraler Beitrag zum Verständnis des komplexen transatlantischen Beziehungsgefüges in seiner Genealogie geliefert. Das Buch ist für Studenten gut lesbar, bietet aber auch Experten im Feld neueste Forschungserkenntnisse an. Christoph Rohde Falter, Jürgen W./Schoen Harald (Hrsg.): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005, 826 Seiten, € 49,90. Im Zuge der Bundestagswahl 2005 war die Unberechenbarkeit der Wähler in aller Munde. Das Ergebnis verblüffte – auch die Wahlforschung, die im Unterschied zur inflationär gewordenen Umfrageforschung auf die strikte Einhaltung qualitativer Standards achtet. Letztgenanntes belegen der renommierte Mainzer Wahlforscher Jürgen Falter, vielen durch seine Fernsehanalysen auch außerhalb der Wissenschaft ein Begriff, und Harald Schoen. Beide haben zusammen mit Autoren, die als Politikwissenschaftler an der Universität Mainz tätig waren oder sind, ein voluminöses Handbuch Wahlforschung verfasst. Generell hat sich die empirische Wahlforschung methodisch stark weiterentwickelt, sie zählt zu den in der Öffentlichkeit stark wahrgenommenen Bereichen der Politikwissenschaft. Diese Einschätzung bestätigt sich mit der Lektüre des Buches, das konzeptionell so hervorragend wie vielschichtig aufbereitet ist. Gleichwohl beschreitet das imposante Werk so viele Seitenwege, dass es dem Rezensenten wahrlich nicht leicht fällt, auf dem Hauptweg zu bleiben. 86-93_Buchbesprechungen 12.05.2006 8:43 Uhr Seite 92 Buchbesprechungen 92 Das Handbuch beginnt mit den Grundlagen und geht dabei aus demokratietheoretischer Sicht unter anderem auf Methodenprobleme der empirischen Wahlforschung ein. Danach folgen theoretische Ansätze in der empirischen Wahlforschung wie sozialpsychologische und ökonomische Erklärungsmuster. Besonders tief gehend und ergiebig ist das anschließende Kapitel, in dem sich Falter und Schoen mit Phänomenen wie der Wahl extremistischer Parteien auseinander setzen. Zudem wird der in der heutigen „Mediendemokratie“ relevante Zusammenhang zwischen Massenmedien und Wahlverhalten berücksichtigt und die Brücke zwischen Politik- und Kommunikationswissenschaft geschlagen. Daran schließen sich ausgewählte Gebiete der Wahlforschung an. Zu ihnen gehört die historische Wahlforschung, zu der Jürgen Falter selbst mit seinem Buch „Hitlers Wähler“ viel beitrug: Darin konnte er Seymour M. Lipsets These, der Mittelstand habe die NSDAP überproportional gewählt, empirisch widerlegen. Das Handbuch schließt mit Kritik und Entwicklungsperspektiven der empirischen Wahlforschung in Deutschland ab. Durch das Werk – mehr als eine Grundlage für weitere Forschungen – entsteht ein umfassendes Bild der Wahlforschung. Die Autoren zeigen beispielsweise, dass die Vorstellung, das Elektorat lasse sich in Stamm-, Nicht- und Wechselwähler unterteilen, antiquiert sei. Monokausale Erklärungen für Erscheinungen wie Wechsel- und Nichtwahl würden zu viel ausblenden. Ausdrücklich gelobt sei auch das wichtige Glossar, das die zentralen Begriffe erläutert. Offen bleibt, ob die Wahlforschung nicht auch neue experimentelle Wege beschreiten könnte, welche der zunehmenden Bedeutung des Faktors „Emotionalität“ Rechnung tragen. Vielleicht wird dieser noch zu wenig berücksichtigt. Das gilt auch für das Internet, das im Handbuch eindeutig zu kurz kommt. Florian Hartleb Klausen, Jytte: Europas muslimische Eliten. Wer sie sind und was sie wollen. Frankfurt/Main: Campus-Verlag, 2006, 306 Seiten, € 29,90. In Europa leben 15 Millionen Muslime. Der Islam ist damit die größte Minderheitenreligion auf dem Alten Kontinent. Mittlerweile gibt es im protestantischen Nordeuropa mehr Muslime als Katholiken sowie mehr Muslime als Protestanten im katholischen Südeuropa. Die Zahl der europäischen Muslime übersteigt die der europäischen Juden bei weitem. Aufgrund dieser numerischen Stärke und nicht zuletzt der inflationären Auseinandersetzung mit dem Islam seit dem 11. September 2001 ist der Islam in Europa zum Politikum geworden. Problematisch ist dabei, dass in der Regel nur über und nicht mit den Muslimen gesprochen wird. Jytte Klausen, Politikwissenschaftlerin an der Brandeis University in Boston, hat das geändert und über 300 muslimische Frauen und Männer – unter ihnen Politiker, Ärzte, Juristen und Unternehmer – aus Deutschland und fünf weiteren europäischen Staaten zu deren Sicht auf das gesellschaftliche Zusammenleben befragt. Die Ergebnisse sind in dem hier vorzustellenden Buch zusammengefasst. Wie schon im Untertitel anklingt, interessieren die gebürtige Dänin dabei insbesondere, wer diese neuen muslimischen Eliten Europas sind und was sie wollen. In Abgrenzung zu einem Huntingtonschen Kulturkampf vertritt sie dabei die These, dass „Muslime schlicht neue Interessengruppen und ein neues Wählerreservoir darstellen und dass die politischen Systeme in Europa sich als Folge dieser veränderten Prozesse der Repräsentation, Herausforderung und Kooptation ebenfalls verändern werden.“ Eine einseitige, womöglich einseitig positive Darstellung kann man Klausen dabei nicht unterstellen. Kritisch thematisiert sie die Vereinbarkeit des Islam mit westlichen Werten und weist auf die von Hasspredigern und Islamisten in Europa ausgehende Gefahr hin. Den „muslimischen Mainstream“ sieht sie jedoch besser von zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren repräsentiert, eben von jener neuen muslimischen Elite Europas. Eine dauerhafte Integration des Islam in Europa wird nach Ansicht Klausens daher neben den Problemlösungsfähigkeiten der Regierungen ganz entscheidend von der Beteiligung dieser muslimischen Eliten am Konfliktlösungsprozess abhängen. Im ersten Kapitel des Buches beschäftigt sich Klausen dementsprechend mit den von ihr untersuchten muslimischen Eliten, deren gesellschaftlicher Verortung und religiösen Überzeugungen. Die rege muslimische Verbandstätigkeit führt sie dabei auf die jahrelange Vernachlässigung muslimischer Interessen durch die Politik der Aufnahmeländer zurück. Aufschlussreich ist auch der von ihr hergestellte Zusammenhang zwischen dem Grad der Religiosität und der politischen Einordnung im Rechts-Links-Schema. Demnach schreibt der Großteil der Befragten der Religion zwar in Übereinstimmung mit konser- 86-93_Buchbesprechungen 12.05.2006 8:43 Uhr Buchbesprechungen vativen Strömungen in Europa eine wichtige Rolle in seinem Leben zu, jedoch ordnen sich fast alle Interviewten politisch links oder in der Mitte ein. Andererseits überrascht die dennoch unerwartet hohe Zahl von Muslimen, die christdemokratischen Parteien angehören und sich durch eine christliche Partei allemal besser vertreten sehen als durch eine weitestgehend säkularisierte. Im Weiteren stellt Klausen die Meinungen dieser Menschen zu zentralen politischen Streitfragen dar. Zum einen beschreibt sie dabei verschiedene Modelle zur Integration des Islam in Europa, wobei deutlich wird, dass der Großteil der muslimischen Elite in Europa – egal ob säkularer Moslem, Euro-Moslem oder neoorthodoxer Moslem – zur Integration bereit ist und den Islam für integrierbar erachtet. Andererseits weist Klausen aber auch auf Hürden zur Integration hin, welche die europäischen Aufnahmegesellschaften durch Islamophobie sowie die Diskriminierung der Muslime durch rechtsradikale Rhetorik und negative Medienberichterstattung aufbauen. Daran anschließend diskutiert sie an mehreren Beispielen die Versäumnisse europäischer Politik in Bezug auf die freie Religionsausübung der Muslime, hinterfragt die Grenzen staatlicher Neutralität in Glaubensfragen und thematisiert Seite 93 93 die Chancen eines interreligiösen Dialogs und multikultureller Konzepte. Wenngleich das Buch gerade in der zweiten Hälfte an mancher Stelle etwas geraffter hätte gehalten werden können, so ist es für eine wissenschaftliche Studie erfreulich gut lesbar und damit lesenswert. Klausen beansprucht zu keiner Zeit eine absolute Repräsentativität. Und doch liefern die von ihr geführten Interviews interessante Einblicke in eine muslimische Elite, die sich in Europa heimisch fühlt und sich gesellschaftlich und politisch engagiert, im Gegenzug aber Anerkennung und Achtung erwartet. Dass der Großteil der europäischen Muslime tatsächlich demokratiefähig und integrationswillig ist, wird dabei umso glaubhafter, da auch problembehaftete Themen behandelt werden und nicht unerwähnt bleibt, dass sich auch ein Mitglied der Hamas unter den Befragten befand. Wenngleich also noch teils gravierende Probleme bestehen und die Integration an mancher Stelle bislang nur mangelhaft erfolgt ist, so macht Jytte Klausen mit ihrem Buch dennoch Hoffnung, dass das Zusammenleben mit den europäischen Muslimen unter Einbeziehung derer Repräsentantinnen und Repräsentanten funktionieren kann. Ferdinand Mirbach 94-95_Ankuendigungen_Nachwuchs 12.05.2006 8:44 Uhr Seite 94 Ankündigungen Folgende Neuerscheinungen aus unseren Publikationsreihen können von Interessenten bei der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Lazarettstraße 33, 80636 München (Telefon: 089/1258-260/266) oder im Internet www.hss.de/publikationen.shtml bestellt werden: ● aktuelle analysen – Die Bundestagswahl 2005 – Neue Machtkonstellation trotz Stabilität der politischen Lager – Welchen Sozialstaat wollen wir? ● Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen – Aktive Bürgergesellschaft durch bundesweite Volksentscheide? Direkte Demokratie in der Diskussion – Die Zukunft der Demokratie – Politische Herausforderungen am Beginn des 21. Jahrhunderts – Nachhaltige Zukunftsstrategien für Bayern – Zum Stellenwert von Ökonomie, Ethik und Bürgerengagement ● Berichte und Studien – Islamistischer Terrorismus – Bestandsaufnahme und Bekämpfungsmöglichkeiten – Deutsche Sicherheitspolitik – Rückblick, Bilanz und Perspektiven Über den Buchhandel zu beziehen: ● Alois Glück/Bernhard Vogel/Hans Zehetmair (Hrsg.): Solidarische Leistungsgesellschaft – Eine Alternative zu Wohlfahrtsstaat und Ellbogengesellschaft. Freiburg: Verlag Herder, 2006. (ISBN-13: 978-3-451-23014-1) ● Hans Zehetmair (Hrsg.): Der Islam im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005. (ISBN 3-531-14797-8) Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006 94-95_Ankuendigungen_Nachwuchs 12.05.2006 8:44 Uhr Seite 95 Nachwuchsförderpreis für politische Publizistik Der Preis ist mit € 5.000,– dotiert, wobei der Preis in vier Einzelpreise zu € 2.500,–, € 1.500,– und zweimal je € 500,– aufgeteilt werden kann. Einzureichen sind Aufsätze zum Thema: Haben die Volksparteien Zukunft? Die Arbeit kann übergreifend oder exemplarisch angelegt sein. Bewerben können sich immatrikulierte Studierende oder Erstpromovierende an wissenschaftlichen Hochschulen mit von ihnen verfassten wissenschaftlichen Aufsätzen, die sich für eine Veröffentlichung in der von der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung herausgegebenen politisch-wissenschaftlichen Zeitschrift POLITISCHE STUDIEN eignen. Der Beitrag darf noch nicht veröffentlicht sein. Der Preis dient der Förderung von Nachwuchswissenschaftlern und Nachwuchswissenschaftlerinnen. Die Altersgrenze ist in der Regel 30 Jahre. Die Aufsätze müssen in deutscher Sprache abgefasst sein, einen klaren Themenbezug zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland aufweisen, den Anforderungen an eine wissenschaftliche Arbeit genügen, sich durch stilistische Klarheit auszeichnen und durch eigenständige Gedanken oder auch durch ungewöhnliche Gesichtspunkte ihrer Thematik Interesse erregen. Einsendeschluss ist der 2. November 2006 Die Arbeiten sollen einen Umfang von 25.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) nicht wesentlich überschreiten und sind jeweils als Manuskript und auf CD unter Angabe des Verfassernamens, seiner Anschrift, einer Immatrikulationsbescheinigung und eines Lebenslaufs, aus dem insbesondere der Bildungsgang hervorgehen soll, an die Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung zu senden. Rückfragen unter Tel. (0 89) 12 58-2 15 oder E-Mail: [email protected] Die Auswahl unter den eingereichten Arbeiten nimmt eine Jury vor, der prominente Wissenschaftler und Publizisten angehören. Die Hanns-Seidel-Stiftung, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, erwirbt mit der Auszeichnung der Arbeiten das Recht, diese in den POLITISCHEN STUDIEN honorarfrei zu veröffentlichen. Eine Pflicht zum Abdruck der ausgezeichneten Arbeiten entsteht für die HannsSeidel-Stiftung nicht. Die Preisverleihung findet im Frühjahr 2007 im Rahmen einer Feierstunde in unserem Münchner Konferenzzentrum statt. Hauptamtliche Mitarbeiter der Hanns-Seidel-Stiftung und Autoren der POLITISCHEN STUDIEN sind von der Teilnahme an dem Wettbewerb ausgeschlossen. 96_Autorenverzeichnis 17.05.2006 10:37 Uhr Seite 96 Autorenverzeichnis Böhr, Christoph, Dr. MdL Stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU Deutschlands, Trier Kamer, Hansrudolf, Dr. stv. Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, Zürich Frey, Dieter, Prof. Dr. Ordinarius für Sozialpsychologie am Department Psychologie der LudwigMaximilians-Universität München, Akademischer Leiter der Bayerischen Elite-Akademie Mols, Manfred, Prof. Dr. Politikwissenschaftler, Universität Mainz Gumpel, Werner, Prof. Dr. em. Lehrstuhl für Wirtschaft und Gesellschaft Südosteuropas, Ludwig-Maximilians-Universität München Henkel, Jürgen, Dr. Leiter der Vertretung der Hanns-Seidel-Stiftung in Bukarest, Rumänien Schulze, Hagen, Prof. Dr. Professur für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Direktor des Deutschen Historischen Instituts London Schwarz, Hans-Peter, Prof. Dr. Dr. h.c. Historiker, München/Gauting Wehler, Hans-Ulrich, Prof. Dr. Historiker, Bielefeld Hildmann, Philipp W., Dr. Referent für Werte, Normen und gesellschaftlichen Wandel der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der HannsSeidel-Stiftung e.V., München Zehetmair, Hans, Dr. h.c. mult Staatsminister a.D., Vorsitzender der HannsSeidel-Stiftung e.V., München