Politische Studien 407 mit dem Schwerpunktthema - Hanns

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U1_PolitischeStudien407
31.05.2006
10:59 Uhr
Seite U1
57. Jahrgang • Mai/Junl 2006 • ISSN 0032-3462 • € 4,50
POLITISCHE
STUDIEN407
Zweimonatszeitschrift
für
Politik
und
Zeitgeschehen
Schwerpunktthema:
Auf dem Weg zu
einem aufgeklärten
Patriotismus?
Die Bedeutung nationaler
Identität zu Beginn des
21. Jahrhunderts
Mit Beiträgen von
Christoph Böhr, Jürgen Henkel,
Hansrudolf Kamer, Hagen Schulze,
Hans-Peter Schwarz und
Hans-Ulrich Wehler
Dieter Frey
Politische Studien-Zeitgespräch
zum Thema „Die psychologische
Seite der Innovation“
Werner Gumpel
Die „sanften Revolutionen“ und
die Lage in Zentralasien
Manfred Mols
Lateinamerika – Hinterhof der USA
oder „global player“?
01-04_Innentit_Impr_Inhalt
12.05.2006
8:26 Uhr
Seite 1
57. Jahrgang • Mai/Juni 2006 • ISSN 0032-3462 • € 4,50
POLITISCHE
STUDIEN407
Zweimonatszeitschrift
für
Politik
und
Zeitgeschehen
Schwerpunktthema:
Auf dem Weg zu
einem aufgeklärten
Patriotismus?
Die Bedeutung nationaler
Identität zu Beginn des
21. Jahrhunderts
Mit Beiträgen von
Christoph Böhr, Jürgen Henkel,
Hansrudolf Kamer, Hagen Schulze,
Hans-Peter Schwarz und
Hans-Ulrich Wehler
Dieter Frey
Politische Studien-Zeitgespräch
zum Thema „Die psychologische
Seite der Innovation“
Werner Gumpel
Die „sanften Revolutionen“ und
die Lage in Zentralasien
Manfred Mols
Lateinamerika – Hinterhof der USA
oder „global player“?
01-04_Innentit_Impr_Inhalt
12.05.2006
8:26 Uhr
Seite 2
Hanns
Seidel
Stiftung
Herausgeber:
Hanns-Seidel-Stiftung e.V.
Vorsitzender: Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair,
Staatsminister a.D.
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sind im Abonnement nicht enthalten.
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mindestens 8 Wochen vor Ablauf des Abonnements vorliegen, ansonsten verlängert sich der
Bezug um weitere 12 Monate.
01-04_Innentit_Impr_Inhalt
12.05.2006
8:26 Uhr
Seite 3
Inhalt
Hans Zehetmair
Dieter Frey
Editorial
Identitätsstiftung in einer
entgrenzten Welt ...........................
5
Politische Studien-Zeitgespräch
zum Thema „Die psychologische
Seite der Innovation“ ....................
9
Schwerpunktthema: Auf dem Weg zu einem
aufgeklärten Patriotismus?
Die Bedeutung nationaler Identität
zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Philipp W. Hildmann Einführung..................................... 19
Hans-Ulrich Wehler
Ein aufgeklärter Patriotismus – Über
die Identitäten der Deutschen und
die Gefahr neuer Subkulturen ....... 21
Hans-Peter Schwarz
Auf dem Weg zu einem aufgeklärten
Patriotismus?.................................. 26
Christoph Böhr
Patriotismus, Multikulturalismus,
Nationalismus: Welchen Weg
gehen die Deutschen?.................... 32
Hansrudolf Kamer
Nationale Triebkräfte in der globalisierten Welt – Unterschiedliche
Spielformen eines erstarkenden
Patriotismus ................................... 39
Hagen Schulze
Was ist deutsche Identität?............ 50
Jürgen Henkel
Ein Zwischenruf zum Thema
Leitkultur ....................................... 58
01-04_Innentit_Impr_Inhalt
17.05.2006
10:05 Uhr
Seite 4
Werner Gumpel
Die „sanften Revolutionen“ und
die Lage in Zentralasien ................ 61
Manfred Mols
Lateinamerika – Hinterhof der USA
oder „global player“? ..................... 70
Im Dialog
....................................................... 80
Das aktuelle Buch
....................................................... 84
Buchbesprechungen
....................................................... 86
Ankündigungen
....................................................... 94
Ausschreibung
Förderpreis Politische Publizistik .. 95
Autorenverzeichnis
....................................................... 96
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Editorial
Identitätsstiftung in einer
entgrenzten Welt
Hans Zehetmair
Zu Beginn seiner Rede zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Wiener
Burgtheaters berichtete der junge Kölner Schriftsteller Navid Kermani von
seinem originellen Versuch, sich bewusst zu machen, wie sich Europa in
den vergangenen fünf Jahrzehnten
entwickelt hat. Er habe in seinen digitalen Routenplaner als Ausgangspunkt
einer fiktiven Reise zunächst das Nordkap im Norden Norwegens eingegeben,
als Fahrtziel anschließend Tarifa, die
südlichste Stadt Spaniens. Innerhalb
weniger Sekunden sei das Ergebnis auf
dem Bildschirm erschienen: Man fahre
zunächst 700 Meter auf einer örtlichen
Straße geradeaus, dann zwei Mal links
auf die E 69, nach weiteren 5930,20
Kilometern abermals links auf die
Avenida Mirador de los Ríos, dieser
folgend erreiche man nach 600 Metern
Tarifa. Die geschätzte Reisedauer betrage 7 Tage, 3 Stunden, 57 Minuten.
Grenzkontrollen werden nirgendwo
vermerkt.
Eine Reise quer durch unseren Kontinent über so geschichtsträchtige Orte
wie Stockholm, Kopenhagen, Ham-
burg, Brüssel, Paris, Madrid ohne die
Notwendigkeit eines Passes – eindrücklicher könnte man die grandiose Erfolgsgeschichte des Nachkriegseuropa
in der Tat kaum illustrieren. Eines
Europa ohne Grenzen inmitten der viel
zitierten globalisierten Welt, die dem
Reisenden – seine Zugehörigkeit zur
„Western Community“ vorausgesetzt –
ihrerseits ihre Grenzen nurmehr durch
eine kaum spürbare Verringerung seiner Reisegeschwindigkeit in den beliebig austauschbaren Airport-Lounges
der Welt zur Kenntnis bringt. Willkommen in der entgrenzten Welt am
Anfang des 21. Jahrhunderts!
So chancenreich, begrüßenswert und
vor allem irreversibel diese Entwicklung ist, sie birgt in sich eine wahre Fülle von Unwägbarkeiten und Unsicherheiten, die bei vielen unserer Zeitgenossen das unbehagliche Gefühl eines
zunehmend unbehausten Daseins in
der Welt aufkeimen lassen. Flexibilität,
Mobilität und Globalisierung mögen in
den Ohren des einen wie helle Zukunftsfanfaren klingen. Der andere vernimmt bei diesen Schlagworten nur
Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006
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das „Chanson triste“ drohender Heimatlosigkeit in den öden Weiten globaler Nivellierung. Letzteres nur als realitätsferne Abwehrhaltung zukunftsscheuer Reaktionäre abzutun, wird der
Sache dabei keinesfalls gerecht. Es ergibt sich schon aus der anthropologischen Feststellung, dass es sich beim
Menschen um ein
(„zoon politikon“) handelt, was vom
Stichwortgeber Aristoteles im Sinne
von gemeinschaftsbildendes, soziales
Lebewesen gemeint war. In diese Richtung weist ebenfalls die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des Zweiten
Vatikanischen Konzils, die explizit darauf hinweist, dass der Mensch als ein
seiner innersten Natur nach soziales
Lebewesen ohne Beziehung zu den anderen weder leben noch seine Gaben
zur Geltung bringen kann. Das Sein des
Menschen in der konkreten Gesellschaft mit institutionalisierten und
durch Sanktionen geregelten Beziehungen, mit identitätsstiftenden gemeinsamen Werten, Zwecken und Interessen ist also weit mehr als ein Relikt
aus dem 19. Jahrhundert der Nationalstaaten und nationalen Identitäten. Es
ist Voraussetzung und Chance seiner
Entfaltung auch und gerade im Blick
auf sein Dasein in einer zunehmend
grenzenlosen Welt.
Die daraus zu ziehenden Konsequenzen liegen auf der Hand. Je mehr sich
der Markt der Möglichkeiten und Probleme ausdifferenziert und globalisiert,
desto mehr muss die Fähigkeit des Einzelnen gestärkt werden, den eigenen
Standort in seiner Gesellschaft und in
seiner Kultur überhaupt wahrzunehmen und zu definieren. Bei diesem Unterfangen sind zweifelsohne auch Politik und politische Stiftungen gefordert.
Und die allerorten unternommenen
Hans Zehetmair
Anstrengungen, zur Identitätsstiftung
in einer entgrenzten Welt beizutragen
sowie sich seiner eigenen Identität wieder zu vergewissern, sind ja inzwischen
unübersehbar. Die Suche nach Identitätsparametern im Zuge der inflationär
geführten Wertedebatten ist hier ebenso Signal wie die neu belebte Arbeit an
den verschiedenen Grundsatzprogrammen und die quer durch die Parteienlandschaft geführte Diskussion um die
Frage nach der Bedeutung nationaler
Identität zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Da die vorliegende Ausgabe der
„Politischen Studien“ gerade letzterer
einen ausführlichen Schwerpunkt widmet, hierzu noch einige Schlaglichter.
Seit nunmehr knapp sechs Jahren führen wir in Deutschland in immer wiederkehrenden Wellen eine so genannte Leitkultur-Debatte. Sie stellt den
vorläufigen Kulminationspunkt einer
Entwicklung dar, die Mitte der 1970erJahre ihren Ausgang genommen hat,
als das geschichtsmüde Ausruhen Westdeutschlands auf hohen industriellen
Wachstumsraten und zunehmendem
Massenwohlstand brüchig zu werden
begann. Seitdem stehen Unruhe, Identitätszweifel und Orientierungsverlust
wieder vermehrt auf der durch die Wiedervereinigung zusätzlich verschärften
Tagesordnung unserer Republik. Sie verunsichern eine Gesellschaft, die sich,
den Schlaf der Seligen noch im Auge,
zudem mit den berechtigten Anforderungen anderer Nationen konfrontiert
sieht, die den selbstreferenziellen Somnambulismus der größten Wirtschaftsmacht in Europa angesichts wachsender internationaler Herausforderungen
nicht länger hinzunehmen gewillt
sind. In solchen Zeiten wächst naturgemäß das Bedürfnis nach kollektiver
Identität, nach einer Selbstverständi-
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Editorial: Identitätsstiftung in einer entgrenzten Welt
gung unserer Gesellschaft über gemeinsame Grundlagen und ein Mindestmaß
an gemeinsamen Orientierungen.
Da dieser Meinungsbildungsprozess
nach wie vor zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt hat, und in der
Frage, was denn konkret hier zu Lande
unter einer Leitkultur zu verstehen sein
sollte, kein Konsens besteht, ist eine Intensivierung der Debatte unumgänglich. Zielführend scheint mir hier, getreu der Losung der Renaissance-Humanisten, nicht auf Friedrich Merz und
seine zugespitzte Forderung im Deutschen Bundestag vom 25. Oktober
2000 nach einer „deutschen Leitkultur“ zu rekurrieren, sondern ad fontes
zu gehen. Und das heißt in diesem Fall
zu Bassam Tibi, der in seinem Buch
„Europa ohne Identität“ bereits 1998
den weiter gefassten Begriff einer „europäischen Leitkultur“ geprägt hat, worunter er einen Wertekonsens verstanden wissen will, der auf den Werten der
„kulturellen Moderne“ (Jürgen Habermas) basiert. Zu diesen zählt er den
Vorrang der Vernunft vor religiöser Offenbarung, eine Demokratie, die auf
der Trennung von Religion und Politik
basiert, sowie Pluralismus und Toleranz. Eine ähnliche Stoßrichtung verfolgt neben anderen Bundestagspräsident Norbert Lammert, der im Kontext
des Streits um die dänischen Mohammed-Karikaturen konstatierte, dass die
„bestenfalls gut gemeinte, aber bei genauerem Hinsehen gedankenlose“ Vorstellung von Multikulturalität inzwischen an ihr „offensichtliches Ende“
gekommen sei. Seiner Ansicht nach
könne Multikulturalität nicht bedeuten, dass in einer Gesellschaft alles
gleichzeitig und damit nichts mehr
wirklich gelte, sondern in Konfliktsituationen müsse klar entschieden wer-
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den, was Geltung beanspruchen könne
und was nicht. Dabei gehe das, was für
die in Deutschland grundlegende Kultur prägend sei, weit über nationale
Grenzen hinaus, weshalb er es für angemessen halte, von einer „europäischen Leitkultur“ zu sprechen.
Unbenommen von dieser europäischen Dimension bleibt die Frage, was
denn heute unter „deutsch“ verstanden werden soll. Ohne an dieser Stelle
eine umfassende Antwort geben zu
können, empfiehlt sich hier ebenfalls
der Weg zu den Quellen. Denn in Ansätzen schon an der Wende zum 9.
Jahrhundert, verstärkt dann im hohen
Mittelalter, wurde „deutsch“ als Identifizierungsbegriff der Lese- und Schreibkundigen im Gegensatz zu den als undeutsch empfundenen Lateinern und
Franzosen verwandt. In dieser Bedeutung erhielt das Wort seinen wirklich
dauerhaften und meines Erachtens
auch heute uneingeschränkt anschlussfähigen Inhalt als Sprach- und Kulturbegriff. Dies zieht sich wie ein roter
Faden von Walther von der Vogelweide über die Humanisten und Martin
Luther bis Gottfried Wilhelm Leibniz
und erreichte um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Qualität mit dem
Aufstieg eines deutschen Bildungsbürgertums, dessen Ausläufer, so rudimentär sie inzwischen sein mögen, bis in
die Gegenwart reichen. Eine verstärkte
Anbindung der aktuell geführten Debatten an das Selbstverständnis der
Deutschen als „Sprach- und Kulturnation“ (Thomas Nipperdey) vor der
Preisgabe des zivilisatorischen Urvertrauens 1933/45 verspricht heute maßgeblich zur Definition einer genuin
deutschen Identität in den Grenzen
der heutigen Bundesrepublik beizutragen.
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Das im Jahr der Wiedervereinigung geäußerte Diktum Hagen Schulzes, keine
Zukunft ohne Geschichte, hat im Jahr
2006 nichts an Bedeutung verloren,
und Deutschland hat sich zweifellos
den dunklen Kapiteln seiner Vergangenheit intensiv gestellt. Zu Beginn unseres Jahrhunderts ist das Verständnis
deutscher Geschichte weder von nationalistischem Hochgefühl und nationaler Hybris geprägt, wie so oft im 19.
und 20. Jahrhundert, noch von Katastrophenangst zerklüftet, die nach dem
Bruch der Zeit des Nationalsozialismus
nahe lag. Das Bild der deutschen Geschichte ist europäischer geworden, zugleich differenzierter, vielseitiger und
pluralistischer. Es ist auf dem Weg, im
globalen Zusammenhang neu und erfrischend unverkrampft konstruiert zu
Hans Zehetmair
werden und uns einen wertvollen Beitrag zur Identitätsstiftung in einer entgrenzten Welt zu leisten. Dass dies
nicht allein eine innerdeutsche Sichtweise ist, dafür darf hier zum Abschluss
die ungarische Generalkonsulin Mária
Baranyi zitiert werden, die vor kurzem
in unserer Stiftung darauf hingewiesen
hat, dass Deutschland auch schon zu
Zeiten seiner Teilung in ihrer Heimat
stets als „einheitliche Kulturnation“
wahrgenommen worden sei. Sie betonte die Hochschätzung der Ungarn für
die erfolgreiche deutsche Vergangenheitsbewältigung und schloss mit den
zuversichtlichen und mutmachenden
Worten: „Eine Nation, ein Land, ein
Volk, das mit seiner Geschichte so verantwortungsvoll umgeht, ist für die
Zukunft gewappnet!“
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Politische Studien-Zeitgespräch
mit Prof. Dr. Dieter Frey zum
Thema „Die psychologische
Seite der Innovation“
Prof. Dr. Dieter Frey ist Ordinarius für Sozialpsychologie am Department Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München und Akademischer Leiter der Bayerischen Elite-Akademie.
Prof. Frey sieht einen Schwerpunkt seiner Arbeit darin, Theorie
und Praxis zu verbinden und einen Transfer zwischen Universität
und Wirtschaft zu fördern. U.a. erforscht er das Entscheidungsverhalten in Gruppen, neue Kulturen zur Erhöhung von Kreativität und Motivation, Bedingungen für Innovation und untersucht
die Entstehung und Veränderung von Einstellungen und Wertesystemen. Er arbeitet mit zahlreichen internationalen Unternehmen zusammen.
Politische Studien: Mit dem Innovationsbegriff sind meist technische und
wirtschaftliche Errungenschaften gemeint. Sie plädieren für eine erweiterte
Sicht, in der psychologische, soziale
und gesellschaftliche Prozesse berücksichtigt werden. Warum?
Dieter Frey: Technische und wirtschaftliche Errungenschaften werden
von Menschen gemacht; meistens sind
diese Errungenschaften nur möglich
durch das Zusammenwirken vieler
kleiner und großer „Zahnräder“ und
„Zahnrädchen“. Diese haben letztlich
immer mit Menschen und deren Synergie zu tun. Das bedeutet, dass es darauf ankommt, das Potenzial von Köpfen und Herzen so zu aktivieren, dass
Synergieeffekte entstehen. Es ist letztlich wie bei einem Orchester, in dem
der Dirigent viele Solisten zusammenbringen muss, um zu einem großen
Ganzen zu kommen. Bei Innovationen
geht es sowohl um die Entstehung neuer Informationen durch Kreativität als
auch um die Umsetzung von Innovationen im weitesten Sinne, um die
Marktfähigkeit eines Produkts, einer
Maschine usw. zu erreichen. Dies geschieht nicht zufällig, sondern hier
muss eine Vielzahl von Menschen zusammenwirken. Folglich spielen die
Führungskultur und die Unternehmenskultur eine ganz zentrale Rolle.
Haben Menschen Handlungsspielräume? Läuft die Teamarbeit so, dass heterogene Talente mit homogenen
Spielregeln so zusammenarbeiten, dass
Höchstleistungen entstehen? Besteht
ein Austausch der betroffenen Abteilungen, zum Beispiel von Vertrieb,
Marketing, Produktion und Entwicklung? Hier muss die Führung die Sensitivität haben, Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, aus unterschiedlichen Disziplinen, dazu noch
schwierige, oft dickköpfige Persönlich-
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keiten, so unter einen Hut zu bringen,
dass sie etwas Großes hervorbringen.
Es geht weiterhin insgesamt um gesellschaftliche Prozesse wie z.B. dem, Erfinder als „Heroes of Society“ zu sehen,
der Gesellschaft bewusst zu machen,
wie wichtig Erfindungen sind, da letztlich unser Lebensstandard überwiegend davon abhängt, dass es Innovationen gibt. Wichtig ist deshalb, dass
der Innovationsbegriff sich nicht nur
auf technische und wirtschaftliche
Dinge bezieht, sondern auch auf Innovationen unserer Institutionen wie
Schulen, Kindergärten, Universitäten,
Firmen. Also: Wie können wir Strukturen, Kulturen in diesen Institutionen
schaffen, sodass Kreativität, Innovationsbereitschaft, aber auch die Akzeptanz von Innovationen gefördert werden? Und hier ist der Psychologe der
Experte für diese Dinge.
Politische Studien: Wenn wir an die Innovation und Kreativität von Betrieben
denken: Worum geht es dort konkret?
Dieter Frey: Konkret geht es bei Innovationen in Betrieben um vier Dinge:
um innovationsförderliche Führung,
um eine innovationsförderliche Unternehmenskultur, um innovationsförderliche Techniken, Methoden und
Institutionen sowie um eine positive
mentale Grundhaltung.
1. Zunächst geht es um ein richtiges
Führungsverhalten, welches Kreativität
und Innovation fördert. Sicherlich
kann man sagen, dass Menschen unabhängig vom Führungsverhalten intrinsisch motiviert sein sollten (d.h.,
die Motivation muss von innen kommen). De facto ist es jedoch so, das wissen wir schon von der Schule, dass ein
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Politische Studien-Zeitgespräch
begeisternder Englischlehrer das Interesse an Englisch wecken oder verstärken kann und ein unsympathischer
Englischlehrer sehr oft auch das Interesse an Englisch tötet. Ähnlich ist es
natürlich auch beim Führungsverhalten. Dabei gibt es nur wenige Grundprinzipien, die berücksichtigt werden
müssen, um intrinsische Motivation zu
erhalten oder zu aktivieren. Man muss
ein Höchstmaß an Transparenz erreichen durch Information und Kommunikation, man muss Sinn vermitteln
(wer Leistung fordert, muss Sinn bieten
und nichts hat Bestand, was nicht gut
begründet werden kann), man muss
klare Ziele vereinbaren, man sollte
Handlungsspielräume geben statt zu
vieler Detailvorgaben und Detailkontrolle. Es geht darum, ein gutes Betriebsklima zu schaffen, Wertschätzung
und Fairness zu transportieren und
gleichzeitig dort, wo man Defizite sieht,
konstruktiv zu korrigieren. Man kann
Innovationen nicht verordnen, man
kann auch nicht über Indoktrination
Kreativität und Innovation erzeugen.
Man kann aber die Sehnsüchte von
Menschen nach Sinn, Wertschätzung,
Transparenz und Handlungsspielräumen über Selbstwirksamkeit und Selbstverwirklichung, Fairness, Wertschätzung usw. erkennen und das Führungsverhalten so verändern, dass diese
Sehnsüchte am Arbeitsplatz nicht unterdrückt, sondern aktiviert werden. Es
geht um das Grundprinzip Wertschöpfung durch Wertschätzung oder Innovation durch ein Höchstmaß an Autonomie und Partizipation. Das Führungsverhalten sollte den Menschen
ermöglichen, intrinsische Motivation
und Herzblut zu entwickeln, denn nur
dort, wo Herzblut vorhanden ist, wird
man sich engagieren und für Verbesserungen einstehen.
09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt
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Politische Studien-Zeitgespräch
In vielen Spitzenunternehmen der
deutschen Wirtschaft ist längst erkannt
worden, dass Professionalität im Führungsverhalten mit der Philosophie
„Tough on the issue, soft on the person“ (also hartnäckig und klar in den
Erwartungen, den Spielregeln und den
Standards, aber fair und human im
Umgang) der Führungsstil ist, der am
ehesten zu intrinsischer Motivation,
Kreativität und Innovation anregt.
Meine Hoffnung ist, dass wir hier von
vielen deutschen Unternehmen, die
sich weltweit auch mit ihrem Führungsverhalten durchgesetzt haben,
lernen können, sodass viele Führungskräfte in ganz anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Kindergärten,
Schulen, Hochschulen und Verbänden
ähnliches Führungsverhalten zeigen.
Wir müssen in den Universitäten hier
weiter zulegen, sodass die Studierenden, egal ob sie Maschinenbauer, Chemiker, Lehrer oder Betriebswirte werden, in professionellem Führungsverhalten ausgebildet werden, denn wir
wissen sehr genau, dass falsches Führungsverhalten jegliche Motivation,
Kreativität und damit Innovation tötet.
2. Weiterhin geht es um so genannte
Center-of-Excellence-Kulturen, die substanziell für Innovationen sind. Konkret ist das eine Kundenorientierungskultur, also das Erkennen von zukünftigen Markt- und Kundenwünschen.
Wer an den Kunden und dem Markt
vorbeiplant, wird kaum Chancen haben. Weiterhin geht es um eine Benchmarkkultur, was bedeutet, sich insgesamt mit den Besten der Welt zu vergleichen. Dies meint nicht, die Besten
zu kopieren, denn man sollte seinen eigenen Weg gehen, aber es ist wichtig zu
wissen, was die Besten machen. Es geht
gleichzeitig um eine Problemlösekul-
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tur, die Probleme mit Lösungen verbindet. Anstatt zu jammern und zu klagen, sollten sich die Menschen über
Lösungen und Lösungsmöglichkeiten
unterhalten. Es geht um eine Fehlerkultur, also einerseits darum, dass Fehler gemacht werden dürfen (wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht),
ohne dafür „geköpft“ zu werden. Gleichzeitig geht es darum, dass aus Fehlern
gelernt wird, indem die Ursachen der
Fehler professionell aufgedeckt werden: Hier spielt das Stellen der fünf
Warum-Fragen (wie bei Toyota) eine
wichtige Rolle, um „in den Eisberg
reinzukommen“ und zukünftige Fehler
zu vermeiden, d.h. man braucht eine
Kultur, in der Fehler gemacht werden
dürfen, in der Risiko eingegangen werden darf und in der jeweils aus Fehlentwicklungen gelernt wird.
Es sollte eine Streit- und Konfliktkultur
herrschen, bei der statt Harmonie und
Prof. Dieter Frey: „Es geht um das Grundprinzip
Wertschöpfung durch Wertschätzung oder Innovation durch ein Höchstmaß an Autonomie
und Partizipation.“
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homogenem Denken Konträres und
Querdenken erlaubt sind, denn nur dadurch kommt es zu Teamhöchstleistungen. Es geht um eine Fragekultur,
die mit Führen durch Fragen verbunden ist, die aber gleichzeitig auch
Fragen der Mitarbeiter zulässt. Sicherlich geht es auch um eine Kultur der
Zivilcourage, was bedeutet, dass Menschen den Mut haben, sich zu artikulieren, bezüglich Verbesserungen,
Doppelarbeit, Fehlerquellen usw., denn
das größte Problem deutscher Unternehmen besteht darin, dass es oftmals
gefährlich ist, negative Informationen
von unten nach oben zu tragen. Wenn
hier Arroganz von Ohnmacht bzw. Opferverhalten mit Arroganz von Macht
zusammen trifft, kann dies für das
Überleben eines Betriebes tödlich sein.
Viele der genannten Kulturen gehen
Hand in Hand mit dem, was Popper
mit seinem kritischen Rationalismus
gefordert hat. Nämlich, dass man
durch konstruktive Kritik und Ratio,
also durch das Argument, versucht,
Fehler auszumerzen und der „Wahrheit“ näher zu kommen. Dazu bedarf es
einer offenen Kultur, in der Menschen
atmen können und in der letztlich das
Argument zählt, statt der Devise ‚Ober
sticht Unter‘. Will man Innovationskulturen schaffen, so braucht man zwar
auf der einen Seite Hierarchie, aber entscheidend ist ebenso hierarchiefreie
Kommunikation, in der auch kritische
Punkte, insbesondere von unten nach
oben, genannt werden dürfen.
Viele Weltmarktführer in Deutschland,
die die Globalisierung nicht nur überlebt haben, sondern sich durch sie auch
weiter entwickelt haben, leben de facto
diese Center-of-Excellence-Kulturen,
und meine Hoffnung ist, dass ausgehend
Seite 12
Politische Studien-Zeitgespräch
von diesen erfolgreichen Firmen viele
andere Institutionen in unserer Gesellschaft wie Kindergärten, Schulen, Hochschulen, mittlere Betriebe, Verbände
und die Gesamtgesellschaft davon profitieren. Überspitzt könnte man also sagen, der Markt hat das eingefordert, was
viele Philosophen schon längst gefordert haben, nämlich eine offene Kultur,
in der Mündigkeit möglich ist und
Handlungsspielräume gegeben werden.
Denn nur in einer solchen Kultur sind
Kreativität und Innovation möglich.
3. Schließlich geht es um die Umsetzung ganz spezifischer Methoden und
Techniken, die man schnell erlernen
kann und die kontinuierliches Vorschlagswesen und Innovationen fördern. Dazu gehört erstens eine laufende Selbstreflexion im Sinne von „Was
lief gut?“, „Was lief nicht gut?“ und
„Wo muss ich mich selber verbessern?“. Zum Zweiten analog dazu die
Teamreflexion. Das Team fragt sich regelmäßig: „Was lief gut?, Was lief nicht
gut?, Warum?, Was könnte man nächstes Mal besser machen?“. Wenn Teams
die Fähigkeit haben, sowohl auf der
Sach- wie auf der Beziehungsebene eine entsprechende Reflexion zu betreiben, entwickeln sie sich kontinuierlich
weiter und haben die Chance, Hochleistungsteams zu werden und ständig
Innovationen zu generieren.
Wichtig ist die Institutionalisierung des
Ideen- und Innovationsmanagements,
d.h. dass dieses existiert, unabhängig
von spezifischen Personen bzw. aktuellen Projekten. Dabei sind alle Institutionen wie Innovationsteams, Qualitätszirkel und Kaizen-Projekte wichtige
Einrichtungen, die den Prozess von Innovationen vorantreiben. Dazu bedarf
es schließlich auch so genannter Um-
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Politische Studien-Zeitgespräch
setzungsbeauftragter oder auch Machtpromotoren für Innovationen, die die
Aufgabe haben, Defizite zu erkennen
und diese in Verbesserungen zu transportieren.
4. Wir brauchen in deutschen Institutionen auch eine positive mentale
Grundhaltung. Die diffuse Gemengelage, die unsere Bürger und die Menschen, die in unseren Institutionen arbeiten, haben, sollte, ähnlich wie in der
Physik, in einen negativen und einen
positiven Bereich differenziert werden.
Menschen, die zum Jammern, Wehklagen und der Betonung von Risiken neigen, sollten zunächst ermuntert werden, dies alles zu artikulieren. Also, wo
gibt es Defizite, Schwächen, Risiken,
Sorgen, Ängste? Dann ist es die Aufgabe der Führung, zur Reflexion aufzufordern. Wo gibt es Chancen, Vorteile,
Entwicklungsmöglichkeiten, Potenziale? Es ist verkehrt, über Indoktrination
und Appelle die Menschen zu einem
„think only positive“ oder „be optimistic“ bringen zu wollen. Entscheidend ist, die Koexistenz des Negativen
und Positiven zu bewahren und sich
durch das Negative nicht runterziehen
zu lassen, sondern sich auf das Positive
zu fokussieren und beim Negativen zu
unterscheiden, wo man Dinge verändern kann und wo nicht. Das zunächst
Nicht-Veränderbare sollte hingenommen werden, anstatt zu jammern und
zu klagen. Die veränderbaren negativen Dinge sind ja auch ein Anschub für
Innovationen. Die Konzentration auf
das Positive, verbunden mit der Konzentration auf veränderbare negative
Dinge mag, wenn es gut getrennt ist,
den Schub geben, den kontinuierlichen Verbesserungsprozess, manchmal
auch den Quantensprung, der Innovationen erzeugt. Verheerend ist immer
Seite 13
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nur die diffuse Gemengelage, die Menschen dazu bringt, in Lethargie zu verfallen bzw. zu verharren.
Wir plädieren also dafür, dass die Multiplikatoren der Gesellschaft, egal ob
sie in den Kindergärten, Schulen,
Hochschulen, Betrieben oder Verbänden tätig sind, zur Klärung im Kopf beitragen, also klar trennen zwischen negativen und positiven Bereichen, um
anschließend durch eine Fokussierung
auf den positiven Bereich Dinge zu bewegen, ohne dass das Negative tabuisiert wird. Die veränderbaren negativen Dinge können gleichzeitig parallel
die Triebfeder der Veränderung sein.
Politische Studien: An Ideen fehlt es
nicht – bei den Patentanmeldungen
liegt Deutschland weltweit an vierter
Stelle. Deutschland ist innovationsstark.
Wo sehen Sie dennoch Reformbedarf?
Dieter Frey: Wir sind gut, wir sind akzeptabel, was die Kreativität betrifft,
aber wir sind mit Sicherheit nicht gut
in der Umsetzung. Nach wie vor kann
man sagen, dass unsere Menschen
hochkreativ sind, aber die Ideen werden zu wenig abgerufen, weder in den
Kindergärten, noch in den Schulen,
Universitäten oder Firmen. Hier gilt der
Spruch „Keiner weiß so viel wie alle“.
Dabei gibt es ja viele positive Beispiele
von Firmen, die ein hervorragend funktionierendes Vorschlagswesen, Ideenoder Innovationsmanagement haben,
was letztlich nichts anderes bedeutet,
als die konkreten Verbesserungsvorschläge, die in den Köpfen der Menschen sind, herauszukitzeln, zum Beispiel durch richtiges Fragenstellen
(Porsche bildet seine Führungskräfte
intensiv aus im richtigen Fragenstellen), diese Ideen zu bündeln und dann
09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt
12.05.2006
8:28 Uhr
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umzusetzen. Wir müssten also unsere
Führungskräfte, auch unsere Lehrer und
Kindergärtnerinnen, viel stärker ausbilden im richtigen Fragenstellen. Statt
Kinder, Schüler, Studierende und Mitarbeiter zu belehren, geht es darum, Interesse zu wecken und Fragen zu stellen,
die mit der Lebenswelt zu tun haben.
Dann kann man sehr viele neue kreative Ideen aus den Köpfen herauskitzeln.
Der andere Punkt ist, dass Deutschland
in mehreren Dingen schlecht in der
Umsetzung ist. Oft werden die Ideen,
die Firmen haben, zum Beispiel Prozessoptimierung, nicht umgesetzt, was
teilweise am falschen Führungsverhalten liegt. Die Menschen werden im
Vorfeld nicht einbezogen. Bedenken
werden wenig geäußert, Freiräume
kaum gegeben, sodass nachher, wenn
die Entscheidung von oben vorgegeben wird, natürlich die Implementierung defizitär ist. Jeder macht dann
das, was er machen will und man
spricht mit unterschiedlichen Stimmen. Besser wäre eine Unterscheidung
zwischen vor und nach der Entscheidung: Vor der Entscheidung gibt man
den Menschen Freiräume. Sie sollen
unterschiedliche Entscheidungsalternativen produzieren, diese mit Pro und
Contra diskutieren, ihre Skepsis äußern
können. Dann wird eine Entscheidung
getroffen und von der Führungskraft
begründet, unter Einbeziehung der Betroffenen. Dann kann man in der Umsetzung auch Loyalität und Solidarität
erwarten. Diese Art von Partizipationskultur ist in Deutschland aber defizitär,
was insgesamt damit zu tun hat, dass
hier überwiegend schlecht geführt
wird. Dies liegt auch daran, dass in den
Schulen und Hochschulen zu wenig
Gewicht auf professionelle Menschenführung gelegt wird.
Seite 14
Politische Studien-Zeitgespräch
Die andere Seite der mangelnden Implementierung besteht darin, dass wir
in den Schulen und Hochschulen zu
wenig Praxisbeispiele vermitteln, wie
Ideen in Produkte transformiert werden können. Hier haben uns andere
Länder vieles voraus. Notwendig wäre,
dass flächendeckend in den Schulen
und Hochschulen Menschen lernen,
wie man eine Idee in ein Produkt transportiert, welche Stolpersteine dabei vorkommen, wie man einen Businessplan
formuliert. Wir müssen in den Universitäten neben der Vermittlung von
Wissen stärker Handlungskompetenzen und praktisches Arbeiten (etwa in
Form von Projektarbeit) betonen.
Last but not least haben wir durchaus
auch einen Reformbedarf in den Firmen. Zu oft hat man das Gefühl, dass
die Zusammenarbeit zwischen Firmen,
Universitäten und Patentämtern defizitär ist. Firmen, insbesondere auch
Mittelstandsunternehmen, müssten viel
stärker ihre Berührungsängste den
Hochschulen gegenüber abbauen. Und
umgekehrt genauso. Idealerweise stelle
ich mir vor, dass wir mit drei „Börsen“
arbeiten, nämlich
• einer Wissenschaftsbörse bzw. Knowhow-Börse, in der die Wissenschaftler verstärkt transparent machen,
welches Know-how sie haben,
• Firmen, die verstärkt Problembörsen
etablieren und dort verdeutlichen
müssten, für welche Probleme und
Fragestellungen sie Know-how suchen bzw. benötigen und
• schließlich Vermittler, die beide Seiten zusammen bringen.
Es ist ein Jammer, wie viele Ideen, auch
in den Universitäten, brach liegen, weil
die Vernetzung nach draußen zu gering
09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt
12.05.2006
8:28 Uhr
Politische Studien-Zeitgespräch
ist, weil sowohl bei Professoren wie bei
Studenten ein Defizit bei der Umsetzung von Ideen in Produkte besteht.
Wir müssen diese „Elfenbeintürme“ sowohl von Seiten der Firmen wie der
Universitäten reduzieren. Und genau
dieses Thema müsste laufend Gegenstand von Diskussionen und Foren in
Universitäten und Firmen sein. Ebenso
müssten Best-Practice-Beispiele in den
Medien veröffentlicht werden.
Hinzu kommt noch ein weiterer Punkt:
Wir haben oft sehr kreative Köpfe in
den Firmen, die gute Ideen haben, die
aber unentdeckt vor sich hin schlummern. Die Vorgesetzten in den Vorständen, oft hervorragende Juristen
oder Finanzfachleute, haben oft nicht
die Sensibilität einzuschätzen, ob etwas
innovationsträchtig ist oder nicht.
Manchmal wünschte ich mir, dass die
Entscheider in den Firmen nicht nur
nach kurzfristigem Profitdenken orientiert sind, sondern langfristig, und dass
das Topmanagement mehr Verständnis
über Recht und Betriebswirtschaft hinaus hat. Wir brauchen in unseren
Führungsetagen in Zukunft weniger Juristen und Betriebswirte und etwas
mehr Naturwissenschaftler, die mehr
Verständnis für ihr Produkt haben.
Es gibt aber noch ein weiteres Problem
in den Firmen: Wir haben hier teilweise schon kreative Erfinder, die aber ihre Ideen innerhalb der Organisation
nicht umsetzen können, weil sie nicht
zur augenblicklichen Kernkompetenz
der Firma passen. Hier müsste eigentlich das Konzept von Intrapreneuring
ein stärkeres Gewicht haben, d.h., dass
der Kreative sich zusammen mit einem
Team innerhalb eines Unternehmens
selbstständig macht, quasi eine Tochtergesellschaft bildet, an der er teilwei-
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15
se beteiligt ist. Die eigene Gesellschaft
bleibt die Muttergesellschaft und ist
zur Hälfte beteiligt. Man würde dann
schauen, inwieweit bestimmte Ideen,
die der Initiator, der Kreative, hat, zu
einem marktfertigen Produkt transportiert werden können. Das wäre für alle
Beteiligten, sowohl für die Kreativen als
auch für die Muttergesellschaft wie für
die Gesellschaft, ein Vorteil und könnte ein großes Potenzial an neuen Arbeitskräften schaffen. Das Konzept des
Intrapreneuring wird in Deutschland
viel zu wenig forciert. Hier ist noch sehr
viel Potenzial vorhanden.
Wo müssten in diesem Prozess von Innovationen die Universitäten zulegen?
Die Hochschulen spielen für mich eine
ganz zentrale Rolle. Ich sehe eigentlich
drei Bereiche:
• Eine flächendeckende Ausbildung in
professioneller Menschenführung.
Innovationen haben sehr viel mit
Menschenführung zu tun. Menschen
sollten ihre Arbeiten so tun können,
dass sie dabei Herzblut empfinden.
Das ist, entsprechend der BMW-Philosophie, Wertschöpfung durch Wertschätzung. Dazu ist es natürlich notwendig, dass man schon Studierende
dahingehend ausbildet, wie man mit
Menschen umgeht, wie man zuhört,
wie man motiviert, Konflikte reguliert usw. Es ist zu spät, wenn man
dies alles erst in den Firmen lernen
will bzw. muss. Diese Inhalte können
in einem Studium Generale schon an
den Hochschulen vermittelt werden.
• Es ist doch verheerend, wie elfenbeinturmähnlich die Lehrstühle an
den Universitäten organisiert sind.
Wir brauchen schon im Studium viel
mehr interdisziplinäres Denken. Es
müsste doch möglich sein, viel mehr
09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt
17.05.2006
10:10 Uhr
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als bisher Lehrveranstaltungen anzubieten, in denen die Disziplinen
mehrerer Fächer zusammenarbeiten.
Dies wird beispielsweise im Rahmen
der Bayerischen Eliteakademie schon
umgesetzt, wo etwa BWLer Techniktage besuchen und unsere Techniker BWL lernen.
• Weiterhin müssten wir an den Universitäten, in einem Studium Generale, Grundkenntnisse über Innovationen vermitteln: die Geschichte der
wichtigsten Erfindungen, die Geschichte von Misserfolgen bei Erfindern, Wissen und Handlungskompetenzen über förderliche und hinderliche Bedingungen von Innovationen. All dies ist für unser rohstoffarmes Land so fundamental; davon
hängt unsere Zukunft ab. Schon in
den Universitäten müsste der Grundstock dafür gelegt werden, und mit etwas Phantasie ist dieses auch leistbar.
Die Universität ist die Institution, die das
Wissen für morgen transportieren muss.
Politische Studien: Wir verzeichnen
einen Innovationsstau im Bereich der
Sozial- und Gesellschaftspolitik. Welche gesellschaftlichen Innovationen
sind in Ihren Augen in den nächsten
Jahren dringend in Gang zu bringen?
Dieter Frey: Die Bevölkerung sieht,
dass sich etwas bewegen muss. Wir wissen aber von der Innovationsforschung, dass sich nur etwas bewegt,
wenn Menschen erkennen, dass Veränderungsdefizite vorhanden sind, diese aber auch überwunden werden können. Beides scheint mir im Moment
gut gegeben. Dazu betrachten die Menschen die Große Koalition jetzt auch als
Chance, um mit vereinten Kräften
Quantensprünge zu erreichen. Funda-
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Politische Studien-Zeitgespräch
mental geht es darum, ein Bewusstsein
zu schaffen, dass wir in Deutschland
oder gar Europa zwei Grundwerte verteidigen müssen, nämlich die sozioökologische Marktwirtschaft und unsere Demokratie und dass wir auch in
Zeiten der Globalisierung weder amerikanische noch chinesische Verhältnisse haben wollen. Somit stellt sich die
Frage, was können und müssen wir
dringend tun, um unter Wahrung dieser Grundwerte, die Deutschland und
Europa prägen, innovativ sein zu können? Und hier geht es zunächst mal
um Bildung. Wir werden unseren Lebensstandard nicht erhalten können,
wenn wir 10–20% Analphabeten haben. Diese werden das Analphabetentum auch in die nächste Generation
weitergeben, und mit einer schlechten
Ausbildung kommt man nicht weiter.
Bildung hat deshalb oberste Priorität.
Das bedeutet eine völlige Reformierung
von Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Betrieben. Die Kindergärten
müssen technikfreundlicher werden,
Fremdsprachen vermitteln dürfen, ohne das Grundsystem von Kindergärten
zu verändern. Die Schulen müssen lebensnaher ausbilden, mehr Neugierde
wecken und natürlich auch technikfreundlicher werden. Die Hochschulen
müssen den Menschen stärker vermitteln, wie Ideen auch in Produkte transformiert werden können, ohne zu praxeologisch zu werden. Letztlich erreichen wir dies aber nur durch eine
schonungslose Ist-Analyse, durch Diskussionen über den Soll-Zustand und
Visionen darüber, wie unsere Gesellschaft der Zukunft aussehen soll.
Mit welchen möglichen Szenarien erreichen wir das? Hier wäre es wünschenswert, dass die Universitäten, die
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Politische Studien-Zeitgespräch
Intellektuellen, einen viel größeren
Beitrag leisten. Im Kern hat vieles mit
einer Entbürokratisierung und Deregulierung zu tun. Viel zu sehr sind wir
geprägt von Juristen und Ausnahmefällen. Dinge zu vereinfachen heißt sowohl neue Ungerechtigkeiten zu schaffen als auch andere zu vermeiden, aber
es wäre auf jeden Fall für die Menschen
transparenter. Es geht um die Vermittlung von Sinn (warum und wieso), um
Transparenz und dass Menschen mitgestalten können.
Politische Studien: Jede Innovation
verursacht Verlierer. Welche Empfehlungen der Fairnessforschung könnten
Fehlentwicklungen und Sozialkosten
mindern helfen?
Dieter Frey: Es gibt bekannterweise
vier Arten von Fairness: Ergebnisfairness, prozedurale Fairness mit Voice,
informationale Fairness und interaktionale Fairness.
• Ergebnisfairness besagt, dass Menschen erwarten, dass ihre Inputs mit
den Outputs korrespondieren. Wir
haben aber das Problem, dass Menschen ihren In- und Output unterschätzen und dass die Ressourcen immer knapper werden. Folglich ist
Politik auch ein Management von
Enttäuschungen.
• Der nächste Punkt ist prozedurale
Fairness: Die Politik und die Multiplikatoren der Gesellschaft müssen
die Prozedur der Veränderungen viel
transparenter machen. Nicht nur,
dass die Veränderungen auch von
den Opfern als fair betrachtet werden
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17
können, sondern auch die Kriterien
müssen transparent gemacht werden
und man muss die Menschen möglichst einbeziehen, sie müssen eine
Stimme (Voice) haben.
• Der dritte Aspekt ist informationale
Fairness: Ganz zentral ist, den Menschen die negativen Daten zu bringen. Sie müssen Planungssicherheit
haben. Dort, wo nur rosarot geschildert wird und man nur die Vorteile
aufzeigt, nicht aber die Nachteile,
wird man die Menschen verlieren.
Man muss also immer zweiseitig informieren, damit ist man auch glaubwürdiger.
• Schließlich geht es darum, interaktionale Fairness zu erreichen, also
mehr Austausch von Politik und
Verwaltung und Institutionen, dort,
wo man die Leute durch Netzwerke
erreicht, sodass Menschen sehen, es
ist interaktionale Fairness vorhanden.
Je höher das Vertrauen in einen Staat
ist, und dieses entsteht durch die genannten vier Fairnessarten, umso eher
sind Menschen auch bereit, Opfer zu
bringen. Schon Nietzsche sagte, Menschen sind bereit, nahezu alles zu ertragen, wenn sie nur wissen, warum.
Und wie ein Chirurg muss man in der
Politik oft von der Notwendigkeit überzeugen, dass Einschnitte gemacht werden müssen, um die Zukunft zu bewahren. Manchmal tut es weh, aber es
ist die einzige Chance, damit es gut
wird und bleibt.
Politische Studien: Herr Professor Frey,
wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Prof. Dr. Siegfried Höfling, Referent für Technologie
und Zukunftsfragen der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der HannsSeidel-Stiftung e.V., München.
09-18_Zeitgespr_Schwerpunkt
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8:28 Uhr
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Schwerpunktthema
Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus?
Die Bedeutung nationaler Identität
zu Beginn des 21. Jahrhunderts
19-20_Einführung
12.05.2006
8:28 Uhr
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Einführung
Philipp W. Hildmann
Verfemte Begriffe melden sich zurück,
wenn die Zeit sie braucht. Dazu gehört
in unseren Tagen offenkundig der Patriotismus-Begriff, der quer durch die
bundesrepublikanische Parteienlandschaft eine ungeahnte Renaissance erlebt. Im Gefolge der 68er-Bewegung
stigmatisiert, oftmals simplifizierend
mit Nationalismus gleichgesetzt und
als rechtsextrem oder zumindest reaktionär diskreditiert, sind derzeit allerorten tastende Versuche zu beobachten, das totgesagte Wort wieder positiv
zu konnotieren und mit konkreten Inhalten zu füllen.
Als Mitauslöser für diese Entwicklung
gelten die Widersprüche, welche die
politisch-kulturelle Situation der Gesellschafts- und Staatenwelt zu Beginn
des 21. Jahrhunderts kennzeichnen.1
Während auf der einen Seite infolge der
Auflösung der Sowjetunion und ihres
hegemonialen Paktsystems in Mittelost- und Osteuropa eine Auferstehung
des Nationalen zu verzeichnen ist, beobachten wir auf der anderen Seite des
Spektrums eine zunehmende Globalisierung politisch-ökonomischer Problemlagen, wachsende internationale
Verflechtungen, den Ausbau supranationaler politischer Kompetenzen und
in der Folge einen zunehmenden Funk-
tionsverlust des klassischen Nationalstaats. Diese divergierenden Prozesse,
einhergehend mit Wahlerfolgen regionalistischer, separatistischer und populistischer Parteien im Osten wie im
Westen Europas, erzeugen neue Unsicherheiten hinsichtlich der alten Überlegungen nach dem Verhältnis von
Partikularismus und Universalismus,
von Nationalismus und Patriotismus
und bündeln sich in der existenziellen
Frage: Was hält unsere Gesellschaft eigentlich noch zusammen, was stiftet
jenseits der Rechtsordnung Zusammengehörigkeit und Gemeinwohlbezogenheit?
Im Unterschied zu unseren Nachbarn,
die sich ganz selbstverständlich mit ihrem Land, seiner Geschichte, seinen
Traditionen, seiner Kultur identifizieren, tun wir uns in Deutschland angesichts unserer gebrochenen jüngsten
Vergangenheit schwer mit diesem Thema. So zeigen die Reaktionen auf den
nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten geäußerten Satz Horst Köhlers
„Ich liebe unser Land“, dass der Umgang mit der Vaterlandsliebe, denn
nichts anderes heißt diese neulateinische Bildung ja in deutscher Übersetzung, bei uns keineswegs unverkrampft
ist. Bezweifelte ein Teil der Bevölke-
Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006
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Philipp W. Hildmann
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rung, dass ein Mitglied der deutschen
Führungselite einen solchen Satz überhaupt sagen dürfe, fand ihn eine Mehrheit doch richtig und erfreulich. Zustimmung wurde spürbar, dass Empfindungen wie Liebe, Zuneigung und
Sympathie, die Menschen üblicherweise an ihre Heimat, an ihre Region, an
ihr kulturelles Lebensumfeld und darüber hinaus auch an ihre Muttersprache
und ihr Vaterland binden, vom Bundespräsidenten in neuer Unbefangenheit artikuliert wurden.
Dabei ist die Suche nach einer inhaltlichen Präzisierung der Rede von einem
aufgeklärten Patriotismus in scharfer
Abgrenzung zu einem exklusiven Nationalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine intellektuelle Schattenfechterei oder rein wahltaktisches Kalkül, sondern sie ist angesichts der
bedenklichen Erosion der bürgerschaftlichen Fundamente des deutschen Gemeinwesens und der anstehenden Veränderungen in unserer Umbruchzeit dringend geboten. Darüber
hinaus sollten wir Leitbegriffe wie Heimat, Nation und Vaterlandsliebe nicht
den Falschen überlassen. Als dem 1938
aus Deutschland vertriebenen Historiker Fritz Stern vor kurzem der Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung verliehen wurde, warnte er zu
Recht vor der „Gefahr eines unbehaus-
ten Nationalgefühls“ und wies zugleich
darauf hin, dass ein nationales Bewusstsein von fundamentaler Bedeutung für eine Gesellschaft sei, denn
kein Staat könne ohne die loyale Unterstützung seiner Bürger existieren.
Nicht zuletzt aus diesen Gründen hatte die Akademie für Politik und Zeitgeschehen im Dezember 2005 in Berlin
unter der Leitfrage „Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus?“ die
beiden Historiker Hans-Ulrich Wehler
und Hans-Peter Schwarz zu einem Gespräch über die Bedeutung nationaler
Identität zu Beginn des 21. Jahrhunderts geladen. Die dort gehaltenen
Referate wurden für den Druck nun
mit weiteren Aufsätzen flankiert. So
schreibt Christoph Böhr aus der Sicht
des christdemokratischen Politikers,
Hansrudolf Kamer blickt von Zürich,
Hagen Schulze von London und Jürgen
Henkel von Bukarest aus auf die Situation in Deutschland.
Nicht „des Zopftums neueste Phase“
(Heinrich Heine) einzuläuten, sondern
in positiver Weise zu einer Präzisierung
der notwendigen Debatte um einen
aufgeklärten Patriotismus im Rahmen
einer europäischen Leitkultur beizutragen, ist das erklärte Ziel der im folgenden Schwerpunkt versammelten
Beiträge.
Anmerkung
1
Vgl. Kronenberg, Volker: Patriotismus
heute – eine ernsthafte Debatte über Gemeinsinn in Deutschland tut Not, in: Politische Studien 400 (2005), S.82–92; so-
wie grundlegend Kronenberg, Volker: Patriotismus in Deutschland. Perspektiven
für eine weltoffene Nation, Wiesbaden
2005.
21-25_Wehler
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Ein aufgeklärter Patriotismus –
Über die Identitäten der
Deutschen und die Gefahr
neuer Subkulturen*
Hans-Ulrich Wehler
Die deutsche Identität und die Frage,
ob wir eine deutsche Leitkultur brauchen, lösen in jüngster Zeit intensive
Debatten aus. Leider kommt es in der
Auseinandersetzung darüber manchmal zur Vermischung der Begriffe Nationalismus und Patriotismus. Dabei
muss man beide scharf auseinander
halten: Im Gegensatz zum Patriotismus
ist der Nationalismus eine gefährliche
Vorstellung, die abgewirtschaftet hat.
In der Vorstellung, die wir uns vom Nationalismus machen, hat es in den letzten 20 Jahren einen Paradigmenwechsel gegeben. Die ältere Lehre beruhte
darauf, dass seit der Völkerwanderung
keimartig die Entwicklung zur Nation
angelegt gewesen sei, sich allmählich
entfaltet habe und im Nationalstaat zu
voller Blüte gekommen sei. Bis in die
Achtzigerjahre hinein herrschte diese
Denkfigur vor. Dem lag ein fast schon
marxsches Verständnis zu Grunde: Die
Nation als Basis treibe allmählich ein
Ideensystem hervor, das Nationalbewusstsein oder, in der Sprache der
internationalen Geschichts- und So-
zialwissenschaft heute den Nationalismus.
Die neue Debatte seit den frühen Achtzigerjahren wendet sich von dieser
biologistischen Evolutionslehre scharf
ab und betont, dass es sich bei Nationalismus und Nation um Phänomene der Neuzeit handelt, die höchstens
300 Jahre alt sind. Nachdem es jahrtausendelang Loyalitätsbindungen an
den Familienclan, die Polis, den örtlichen Adligen oder die Heimatstadt
gegeben hat, kommt es zu einer plötzlichen Änderung: Der Nationalismus
entwickelt sich als Antwort auf eine
Umbruchsituation, die Herrschaftssysteme erschüttert und Weltbilder erodieren lässt.
In der puritanischen Revolution wird
erstmals die Vorstellung eines neuen
auserwählten Volkes mit der britischen
Insel als gelobtem Land und der historischen Mission formuliert, der Welt als
Vorbild zu dienen. In den transatlantischen Kolonien wird dieses Gedankengut, das die ausgewanderten Puritaner
Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006
21-25_Wehler
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mitgebracht haben, zu einem verbindlichen Konsens. Das gelobte Land ist
der neue Kontinent, die Eingeborenen
sind die Kinder des Satans, die man vernichten darf. Die vereinigten Kolonien
verstehen sich als „the first new Nation“. Und dieses puritanische Commonwealth formuliert für sich eine
weltgeschichtliche Mission. Dort entsteht ein geistiges Klima, dessen Auswirkungen man heute noch in den Reden des jüngeren Bush verfolgen kann.
Wahn vom auserwählten Volk
In Deutschland erleben wir als politische Erschütterung den Verfall der
rund 1700 Herrschaftsgebiete unter
dem Andrang Napoleons. Auch wirtschaftlich verändert sich Grundlegendes. In dieser Situation ergreift eine
Gruppe von Intellektuellen die neue säkulare Religion und verkündet sie den
Deutschsprachigen. Diese frühe Nationalbewegung besteht aus nicht mehr
als 1000 bis 1200 Intellektuellen. Nachdem die Adligen die Gefahr für ihre Privilegien erkannt haben, kommt es zu
einer Repressionsphase; nach der gescheiterten Revolution von 1848 folgt
eine zweite Welle der Unterdrückung.
Das italienische Beispiel der nationalen Einigung zeigt aber, dass ein Erfolg
möglich ist, und inspiriert die deutsche
Nationalbewegung neu.
Bismarck hat die Nationalliberalen von
1848 gehasst, aber er sagt schon 1858:
„Preußische Politik kann man nur
noch mit Hilfe der nationalen Bewegung machen.“ Erst nach dem Sieg
über Frankreich 1871 beginnt in meinen Augen der wirkliche Prozess der
Bildung einer kleindeutschen Nation.
Man kann ihn juristisch, administrativ
Hans-Ulrich Wehler
und in der Indoktrination bis hin zu
den Lehrplänen der Schulen verfolgen.
Im Ersten Weltkrieg wird er enorm beschleunigt. Der Schock der Niederlage
von 1918, die als Knechtung erlebte Erfahrung des Versailler Vertrages laden
den Nationalismus in einer traumatischen und ressentimentgeladenen
Form auf. Am Ende der Weimarer Republik kann Hitler den radikalen Nationalismus mobilisieren und Millionen von Wählern gewinnen. Auch später bedient er immer wieder aufs Neue
dieses tief gekränkte Nationalgefühl.
Das Fatale am Nationalsozialismus ist,
dass er den kulturellen Auserwähltheitsglauben des deutschen Bildungsbürgertums unterwandert mit der Vorstellung der auserwählten Rasse.
1945 war die totale Niederlage nicht zu
leugnen, und damit war der deutsche
Nationalismus an sein historisches Ende gekommen. Nur am Narrensaum
der deutschen Politik gab es danach
noch Versuche, das zu leugnen. Aber
im Grunde genommen hat der Nationalismus seine legitimierende und
integrierende Kraft verloren. Keine politische Weichenstellung in der Bundesrepublik ist unter alten nationalpolitischen Gesichtspunkten erfolgt. Das
große Erfolgserlebnis der politischen
Kultur der Bundesrepublik ist, dass sie
auch in der außergewöhnlichen Phase
der Wiedervereinigung und danach
ohne die Mobilisierung von Nationalismus ausgekommen ist.
Man kann am deutschen Beispiel lernen, dass der Nationalismus auf dreifache Weise gescheitert ist. Er hat die
ursprüngliche Verheißung, die Nationsgenossen zusammenzuführen, dementiert durch ständige Exklusionen
21-25_Wehler
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Ein aufgeklärter Patriotismus
von ungewollten Bevölkerungsteilen.
Das zweite Versprechen, die friedliche
Koexistenz der Nationalstaaten, wurde
durch blutige Nationalkriege widerlegt.
Und er hat den Anspruch auf Exportfähigkeit verloren, denn in Asien und
Afrika erweist sich der „Transfer-Nationalismus“ als Fehlschlag. Die Deutschen sollten die Überwindung des Nationalismus als Gewinn betrachten,
nichts spricht dafür, freiwillig die Rückkehr zu versuchen. Auch der sehr
schmerzliche Prozess, sich über rund
20 Jahre hinweg der nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen, ist
nicht etwa eine Schwächung. Ich halte
das für einen Erfolg, der mit zum Identitätsbewusstsein der Deutschen gehören sollte.
Engagement der Patrioten
Patriotismus ist etwas völlig anderes als
Nationalismus. Er scheint mir die natürliche Reaktion auf Umwelt, Heimat,
Region, in der man groß wird, zu sein.
Das hat nichts mit dem Anspruch des
Nationalismus zu tun. Patriotismus
wurde in Deutschland zunächst im
Zeitalter der Aufklärung aufgegriffen
und umgesetzt etwa in den „Patriotischen Gesellschaften“ von Hamburg
oder Lüneburg. Es waren in der Regel
Bildungsbürger, die ihre unmittelbare
Umgebung, ihre Heimatstadt fördern
wollten. Da wurde Geld gesammelt, sozialpolitische Aktivitäten fanden statt,
Zeitungen wurden gegründet. Sich für
seine Umgebung, seine Mitmenschen
einzusetzen, war die ursprüngliche
Vorstellung von Patriotismus, die Kant
und andere geteilt haben.
Und natürlich kann man in der Bundesrepublik von Patriotismus sprechen
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und sich darauf beziehen. Im Gegensatz zur Erfindung der Nation, die kein
naturwüchsiges Produkt ist, sondern
nach einer berühmten Formulierung
durch den Nationalismus erst geschaffen wird, ist der Patriotismus etwas, was
man in der Familie, in der Schule, in
der ganzen Sozialisation aufnimmt.
Damit identifiziert man sich schon
durch das Medium der Sprache. Im
Hinblick auf das Großwerden in einem
solchen Gefühl sehe ich überhaupt keinen Unterschied zwischen der Bundesrepublik und den anderen westeuropäischen Ländern. Dieser Begriff ist
auch nicht so belastet wie der Nationalismus mit seinen Auserwähltheitsvorstellungen und der Exklusion derer, die
man nicht gerne in der Nation hat. Ein
Plädoyer für einen aufgeklärten Patriotismus ist vertretenswert.
Kommen wir noch einmal zurück auf
unser Identitätsbewusstsein. Bei der
Debatte über die eigene Identität hat
sich herausgeschält, dass wir in der Regel mehrere Identitäten haben. Nehmen wir als Beispiel einen Kölner
Handwerksmeister von 1914: Er ist
Rheinländer, Katholik, Kolpingsohn,
fühlt sich als Rheinpreuße, ist durch
die Zeit im Kaiserreich auch deutschnational und glaubt, man müsse gegen
den russischen Überfall das Vaterland
verteidigen. In seinem Inneren hat er
mehrere Identitäten.
Heute bestehen der Unterschied und
Gewinn zur damaligen Situation darin,
dass die nationale Komponente der
Identität verdrängt und ganz stark zurückgetreten ist. An ihre Stelle ist eben
ein aufgeklärter Patriotismus getreten.
Ich glaube auch, dass zu ihm ein Gefühl von europäischer Identität gehört,
das in großen Teilen schon existiert.
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Wenn man mit Studenten aus Polen,
den baltischen Ländern oder Süditalien
diskutiert, gibt es eine Summe von Gemeinsamkeiten, auf die man sich
schnell einigen kann. Die gibt es, weil
wir einem Kulturkreis angehören, in
dem bestimmte vereinheitlichende
Wirkungen gegeben sind. Dazu zählt
auch das Christentum. Auf Grund unserer historischen Prägung gibt es eine
Summe von Gemeinsamkeiten, die ein
jetzt schon in den EU-Ländern weit
verbreitetes europäisches Identitätsgefühl begründen, als Teil unserer multiplen Identität. Dieses Gefühl ist ausbaufähig. Die Tatsache, dass viele Menschen in den Referenden zum EUVertrag mit Nein gestimmt haben,
spricht nicht dagegen. Im Kern waren
dies Stimmen gegen eine überzogene
Expansion der EU, die mit dem Beitritt
der Türkei noch vorangetrieben würde.
Die Deutschen haben nach dem Kollaps von 1945 auf die Europapolitik gesetzt, nirgendwo sind die Menschen so
europabegeistert gewesen wie bei uns,
weil hier ein Vakuum entstanden war.
Diese anfängliche Begeisterung hat
nachgelassen, was auch ein Generationenphänomen ist. Aber es gibt längst
eine dem Nationalismus überlegene
Programmatik: Die Funktionsfähigkeit
des Verfassungsstaats, die Bewahrung
des Rechtsstaats und auch der Sozialstaat, selbst wenn er jetzt umgebaut
werden muss, bestimmen die Identität
der Bürger im Alltag und nicht die Erinnerung an nationale Größe und Vergangenheit. Präsent bei uns ist auch,
was wir als europäisches Unikat genießen, ein System aus Werten, Verhaltensweisen, Vorstellungen, Konventionen. Nicht zuletzt ist den Deutschen
der Abschied vom Nationalismus
durch einen außerordentlich erfolgrei-
Hans-Ulrich Wehler
chen Föderalismus erleichtert worden.
Es gibt also starke bindende und integrierende Kräfte, die ein selbstbewusstes Identitätsgefühl ohne Rückgriff auf
Nationalismus ermöglichen.
Dies zu vertreten und es auch den nach
Deutschland kommenden Migranten
zu vermitteln ist für ein großes Einwanderungsland wie die Bundesrepublik völlig legitim. Man findet nicht einen Amerikaner, der bereit wäre, gegenüber den Millionen von Latinos
darauf zu verzichten, dass amerikanische Verfassungspolitik und das kulturelle Erbe von Shakespeare bis Updike
Teil der eigenen Leitkultur sind. Von
den „Neuen“ erwartet man, dass sie
diese absorbieren. Das amerikanische
Gemeinwesen ist bisher auch ganz erfolgreich damit gewesen. Dasselbe findet man in anderen Nationen. Insofern
fand ich die Forderung von Friedrich
Merz nach einer deutschen Leitkultur
banal. Aber sie kommt natürlich unter
Beschuss, wenn ein Hegemonieanspruch darin stecken sollte.
Nur ist der mit dem eigentlichen Anliegen nicht verbunden. Es geht um Integration. Die hat in Deutschland auf
verblüffend erfolgreiche Weise stattgefunden: Zwischen 1945 und 2000 kommen 14 Millionen deutscher Flüchtlinge und Vertriebene in diesen schmalen
Landstreifen der alten Bundesrepublik.
Nur zwei Jahrzehnte vorher hat Hans
Grimm noch den Roman „Volk ohne
Raum“ geschrieben! Seit den Sechzigerjahren kommen sieben Millionen Ausländer. Auch die werden, obwohl sie nicht den sprachlichen und
kulturellen Hintergrund haben, den
die Vertriebenen mitbringen, im Grunde genommen erstaunlich gut integriert.
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Ein aufgeklärter Patriotismus
Werte und kulturelles Erbe
Heute aber müssen wir uns neuen Problemen stellen und verhindern, dass es
in städtischen Problemvierteln zu einer
Subkultur kommt. Es gibt auch ein Versagen des Einwanderungslandes, das
nicht rechtzeitig gesehen hat: Wir importieren nicht einfach nur Arbeitskräfte. Wenn wir uns nicht mit kostspieligen Programmen um Integration
bemühen, kann ein Subproletariat entstehen, das sich in die deutsche Gesellschaft nicht mehr eingliedern lässt. Der
frühzeitige Spracherwerb, der jetzt in
einigen Bundesländern gefördert und
verlangt wird, ist der erste Schritt. Man
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muss den Menschen darüber hinaus
klar machen, dass ein Land wie die Bundesrepublik nicht auf eine leitende Kultur verzichten kann.
Die kann und darf sich nicht auf den
Verfassungspatriotismus reduzieren. Es
geht um mehr: um die Stellung von
Mann und Frau, die Vertrautheit mit
dem kulturellen Erbe. Dazu muss man
stehen und dafür kämpfen und sich
nicht beleidigt zurückziehen, wenn Gegenwind kommt. Es gibt ein schönes
Wort von Max Weber – eigentlich
stammt es von Hegel – „Es werden große Dinge nur geschaffen, wenn sie mit
Leidenschaft betrieben werden.“
Anmerkung
* Der Text beruht auf einer Rede bei einer Diskussionsveranstaltung der Konrad-Adenauerund der Hanns-Seidel-Stiftung am 15.12.2005 in Berlin.
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Auf dem Weg zu einem
aufgeklärten Patriotismus?
Hans-Peter Schwarz
Patriotismus heißt zu Deutsch Vaterlandsliebe. Das ist weniger als die Extremform des Nationalismus, aber mehr
als bloß emotionale Sympathie für das
Land, in dem man geboren und aufgewachsen ist oder dem man sich als Einwanderer verbunden fühlt. Der Begriff
beinhaltet auch die Bereitschaft, eigene
Interessen dem Wohl des Vaterlands
unterzuordnen, ihm notfalls selbstlos
zu dienen und Opfer zu bringen. Dem
liegt zumeist die Erwartung zu Grunde,
dass ein Gemeinwesen, dem es gut
geht, auch dem einzelnen Bürger am
meisten nützt. Etwas überhöht formuliert könnte man sagen: Im Patriotismus befindet sich der individuelle Eigennutz auf dem Weg zur sittlichen
Idee.
Der Blick auf die heutige Wirklichkeit
zeigt allerdings, dass sich der Patriotismus oft auf recht unterschiedliche politische Einheiten richtet. Man muss
kurz darauf eingehen, weil mancherorts eine Neigung besteht, gewisse subnationale oder übernationale Patriotismen gegen den Patriotismus im Nationalstaat auszuspielen.
Wir alle kennen den Lokalpatriotismus, die oft naive Liebe zu der größeren oder kleineren Stadt, in der man
aufgewachsen ist. In Deutschland ist
der Lokalpatriotismus besonders auffällig, wenn die jeweilige Großstadt auf
Grund einer Laune der Geschichte ein
kleines Bundesland ist – Bremer Lokalpatriotismus, Hamburger Lokalpatriotismus, Berliner Lokalpatriotismus.
Doch was bewirkt der Lokalpatriotismus? Ich fürchte: wenig. Die Zeit,
in der die Kommunen Gemeinwesen
waren, von denen starke Impulse ausgehen konnten, ist lange vorbei. Es
fehlen sowohl die Mittel wie die Zuständigkeiten zu weitreichender Gestaltung.
Daneben beobachten wir den Regionalpatriotismus. Zumeist decken sich
die Regionen durchaus nicht mit den
Ländergrenzen. Regionen sind in unserem Gefühlshaushalt durchaus „in“.
Wer beispielsweise beobachtet, mit
welchem Stolz man in diesen Wochen
in Nürnberg und anderswo in Franken
zur Kenntnis nimmt, wie eine fränkische Mannschaft auf die Kapitäns-
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brücke des Bundeswirtschaftsministeriums geklettert ist, weiß, was fränkischer Regionalpatriotismus ist. Doch in
Deutschland ist der Regionalpatriotismus eher eine folkloristische Größe.
Deutschland unterscheidet sich darin,
das sei unterstrichen, von einer Reihe
anderer Länder der EU. Spanien hat es
mit dem Autonomiestreben der Basken
und Katalanen zu tun, England hat sein
Schottlandproblem, Belgien leidet chronisch unter dem Gegensatz von Flamen und Wallonen, Frankreich unter
dem Aufbegehren der Korsen. Politisierter Regionalismus tickt wie eine
Bombe im Gebälk bestimmter europäischer Nationalstaaten. Hier zu Lande
aber nicht.
Wir kennen auch den deutschen Länderpatriotismus, den die Staatskanzleien nach Kräften zu pflegen bemüht
sind. In Bayern, im Saarland, auch in
Sachsen ist das relativ erfolgreich, in
dem Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen nicht besonders. Wenn Länder
nach dem Willen der Parteien fusionieren sollen, wie vor einiger Zeit Berlin
und Brandenburg, bekunden die Bürger allerdings Skepsis. Zu viele interne
Interessen stehen dabei auf dem Spiel.
Aber das traditionalistische Widerstreben erlaubt es noch nicht, von einem
sehr lebendigem Länderpatriotismus
zu sprechen.
Seit gut einem Vierteljahrhundert ertönt auch das Plädoyer für einen europäischen Patriotismus, der sich mit den
Europäischen Gemeinschaften in ihrer
jeweiligen Form verbinden soll. Eine
Europa-Hymne, eine Europa-Fahne, deren Sterne sich kontinuierlich vermehren wie einstmals die Sterne im Sternenbanner der USA, sollen dazu beitragen. Und dieser oder jener Historiker
27
fühlt sich wie ein Heinrich Treitschke
des frühen 21. Jahrhunderts, indem er
seine Aufgabe darin sieht, der Europäischen Union ein teleologisches Geschichtsbewusstsein zu schaffen. Zweifellos verfügt die EU über ungleich
größere Machtpotenziale als die zuvor
genannten Bezugsebenen von Patriotismus. Doch die Konkurrenz der Patriotismen von 25 Nationalstaaten ist
noch überstark.
Zwischen diesen genannten Patriotismen, die in den meisten EU-Staaten
ziemlich dünnblütig sind und kaum
etwas bewegen, liegt nämlich der altetablierte Patriotismus der jeweiligen Nationalstaaten. Sieht man von erwähnten
Ländern mit evidenten Regionalproblemen ab, so ist er die einzige Erscheinungsform des Patriotismus, die heute
wirklich etwas bewegen kann und über
die es sich ernsthaft zu reden lohnt.
Dass auch die nationalstaatlichen Patriotismen historisch wechselhafte Phänomene sind, die entstehen, die ihre
Blütezeit haben, oft auch ihre gemeingefährliche Narrenphase, und die sich
früher oder später wieder verflüchtigen, wissen wir alle. Dennoch ist eines
nicht zu bestreiten: Der Demokratische
Nationalstaat konstituiert heute, im
Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts,
immer noch unsere vorrangige politische Wirklichkeit, dies trotz Globalisierung, trotz Verpflichtung auf die Regeln der Völkergemeinschaft und trotz
der Einwirkungsmöglichkeiten und Ansprüche der Europäischen Union. Wer
vom Patriotismus spricht, sollte also
rasch die Sphäre der Gefühligkeit verlassen. Er sollte von der Realität der gewachsenen Nationalstaaten sprechen
und fragen, ob sie nicht eines Minimums von Patriotismus bedürfen.
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Das prinzipielle Festhalten am demokratischen Nationalstaat ist nämlich
nicht nur eine empirische Tatsache, die
sich in den meisten EU-Ländern beobachten lässt – so auch in Spanien,
Großbritannien, Belgien und Frankreich, die allesamt kritischere oder weniger kritische Regionalprobleme haben. Prinzipielles Festhalten an den
etablierten Staaten ist vor allem geboten, weil diese Staaten Demokratien
sind und Demokratien bleiben wollen.
Nur im demokratischen Verfassungsstaat ist jene Form der Demokratie
möglich, die wir für zeitgemäß halten,
also Verantwortlichkeit der Regierungen, mehr oder weniger effektive Kontrolle der Herrschenden durch eine Tag
und Nacht wachsame veröffentlichte
Meinung und, dies ganz entscheidend,
die Möglichkeit der Bürger, ihre abgewetzten Regierungen abzuwählen oder
sie wenigstens in eine große Koalition
zu zwingen. Wer über den heutigen
Patriotismus diskutieren will, muss somit weiterhin über den Patriotismus in
den real existierenden Nationalstaaten
Europas sprechen.
So sehr es also zutrifft, dass sich moderner europäischer Patriotismus in
erster Linie auf den Nationalstaat richtet, so zutreffend ist es zugleich, dass
dieser Patriotismus überall starken Erosionstendenzen ausgesetzt ist, dies
nicht nur in Deutschland.
Als Alexis de Tocqueville in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts die
Vereinigten Staaten entdeckte und als
eine Demokratie freier Bürger bewundern lernte, hat er geschrieben: „Nun
vermag in der Welt einzig die Vaterlandsliebe oder die Religion die Gesamtheit der Bürger im Streben nach
einem gleichen Ziel für längere Zeit zu
Hans-Peter Schwarz
einigen“1. Dass im westlichen Europa
von den politischen Bindekräften der
Religion nicht mehr viel übrig geblieben ist, ist allbekannt. Doch auch der
Patriotismus kann höchsten noch als
Schwund- oder Schrumpfpatriotismus
bezeichnet werden. Das gilt für die
meisten Staaten im heutigen Westeuropa, ganz besonders, wir wissen es, für
Deutschland.
Bevor man sich also Gedanken darüber
macht, ob ein „aufgeklärter Patriotismus“ in den post-modernen Demokratien Westeuropas wieder zur lebendigen Vaterlandsliebe führen könnte,
sollte man deshalb einen realistischen
Blick auf den heutigen Schrumpfpatriotismus werfen.
Solange sich die gegenwärtigen Erosionstendenzen noch nicht so stark bemerkbar machten wie heute, hat sich
der traditionelle Patriotismus in den
Demokratien Europas als ein mixtum
compositum manifestiert. Neben vielem anderem ließ er drei Elemente erkennen: er war Wirtschaftspatriotismus, er war Kulturpatriotismus, er war
Staatspatriotismus und ist dank des Zusammenfallens dieser drei Elemente
zur politischen Kraft geworden.
Nehmen wir Deutschland und die Bundesrepublik. Die Zeithistoriker und eine aufmerksame Öffentlichkeit sind
sich weitgehend darüber einig, dass unter den Elementen des Patriotismus, die
das politische und moralische Debakel
des Dritten Reiches überlebt haben, der
Wirtschaftspatriotismus am stärksten
war. Stolz auf das Wirtschaftswunder,
auf die Überlegenheit der eigenen Exportwirtschaft, Stolz auf das ungebremste Wachstum, Stolz auf die harte
D-Mark, mit Mitleid gemischte Verach-
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Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus?
tung für die ökonomische Zurückgebliebenheit der DDR – das stand mit im
Zentrum des bundesdeutschen Identitätsbewusstseins.
Die seither stattgefundenen Veränderungen können deshalb auch den heutigen Schrumpfpatriotismus teilweise
erklären. Das stetige Wachstum und die
ökonomisch-technische Überlegenheit
sind dahin. Der Sog der Globalisierung erschüttert den Industriestandort Deutschland. Und sehr wichtige
Steuerungsinstrumente sind inzwischen
auf die nur noch schwer beeinflussbaren Brüsseler Institutionen übertragen
worden.
Dass sich die Wirtschaft zu großen Teilen auf die neue Lage eingestellt hat,
einstellen musste, versteht sich von
selbst. Man kann nur mit einem gewissen Zynismus konstatieren, wie dieselben Politiker, die ihre Autopiloten auf
das Programm ständiger Vertiefung
und ständiger Erweiterung der EU eingestellt hatten, Krokodilstränen darüber vergießen, wenn sich die Unternehmen gezwungen sehen, ihre Produktionsstandorte irgendwohin in den
großen europäischen Binnenmarkt zu
verlagern und es dem teilweise entkernten eigenen Staat überlassen, für
die Arbeitslosen zu sorgen und mit den
Steuerverlusten fertig zu werden.
Demgegenüber war der Kulturpatriotismus in der Bundesrepublik stets recht
schwach ausgeprägt. Die Übersteigerungen in den vorhergehenden Narrenphasen des deutschen Nationalismus ließen es vernünftigerweise
geboten erscheinen, das erneuerte
Deutschland auf die übernationalen
Werte der westlichen Zivilisation zu
gründen. Wichtig und rühmenswert
29
schien nicht, was die Deutschen von
den Nachbarn kulturell unterschied,
sondern das mit anderen Gemeinsame.
Seit den 80er-Jahren wurde das zeitweilig durch den Multikulturalismus
verstärkt. Dieser ist zwar stark rückläufig, nachdem auch die deutsche Gesellschaft erschreckt erkannt hat, wie
schwierig es ist, Einwanderer aus fremden Kulturkreisen zu integrieren. Doch
die heutigen Deutschen tun sich weiterhin schwer damit, ihre eigene Sprache, ihre eigene Literatur, ihre eigene
Geschichte, kurz, das weit verzweigte
Wurzelwerk deutscher Kultur in seiner
unverwechselbaren Eigenart überhaupt
noch wahrzunehmen, geschweige denn,
darauf stolz zu sein. Die Gründe dafür
kennen wir.
Schließlich der Staatspatriotismus. Die
vorhergehenden Exzesse des Machtstaats, die autoritäre und totalitäre Vorgeschichte der Bundesrepublik, die Teilung Deutschlands, auch der Blick auf
die DDR und den Ostblock hatten zur
Folge, dass die Bundesrepublik das ausgeformt hat, was Dolf Sternberger den
Verfassungspatriotismus nennt. Nach
vielen, durchaus begründeten Besorgnissen in der bundesdeutschen Frühphase war man stolz darauf, funktionierende demokratische Institutionen
entwickelt zu haben. Das verband sich
mit der Überzeugung, auch außenpolitisch endlich zur Vernunft gekommen
zu sein. Verfassungspatriotismus und
Westbindung fielen mehr oder weniger zusammen.
Doch auch dieses Element hat sich abgeschwächt. Ich nenne nur die Zweifel
daran, ob der lange Zeit hochgerühmte Föderalismus gegenwärtig nicht eine
der gefährlichsten Reformbremsen bil-
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det. Verfassungspatriotismus lässt sich
auch schlecht kultivieren, wenn die politischen Eliten kontinuierlich daran
arbeiten, immer weitere verfassungsrechtliche Zuständigkeiten an die Brüsseler Oligarchien zu übertragen. Der
Staat des Grundgesetzes wird zunehmend ausgehöhlt, wobei die dafür Verantwortlichen ängstlich bestrebt sind,
die Europäisierung weiter Bereiche
doch um Gottes willen nicht dem
Volkssouverän zur Entscheidung anheim zu stellen. Natürlich bemerken
das die Staatsbürger. Sie fühlen sich
fremdbestimmt und von den eigenen
Eliten im Stich gelassen. Der Verfassungspatriotismus wird zwar noch offiziell zelebriert, doch die Wirklichkeit
der EU-Regulierung bewirkt auf zahlreichen Feldern, dass sich dieser Patriotismus nur noch auf ein partiell entkerntes Grundgesetz und partiell entkernte Länderverfassungen bezieht.
Soweit knapp formuliert der Befund.
Wie sollte demgegenüber ein „aufgeklärter Patriotismus“ umschrieben werden.
Was ist unter „aufgeklärt“ zu verstehen?
„Aufgeklärter Patriotismus“ könnte
sich an einer Maxime der Aufklärung
orientieren: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“,
anders formuliert: „Beobachte die Wirklichkeit so, wie sie ist, und scheue dich
nicht, daraus kritische Schlussfolgerungen zu ziehen“! Welche Schlussfolgerungen wären dies? Ich nenne nur sehr
verkürzt deren drei.
Erstens lässt sich der Verfassungspatriotismus nicht wiederbeleben, wenn
die politischen Eliten und die öffentliche Meinung nicht deutlich und
nimmermüde betonen, dass der Verfassungsstaat des Grundgesetzes auf
Hans-Peter Schwarz
Dauer gestellt sein muss. Anders formuliert: Unsere Autoritäten müssten
einer inzwischen desorientierten Öffentlichkeit wieder und wieder ins Bewusstsein rufen: Vorrang hat die Demokratie des Grundgesetzes, in zweiter
Linie kommt Europa. Aufgeklärter Patriotismus ist entschlossen, dem eigenen demokratischen Staat den Vorrang
zu geben. Aufgeklärte und mündige
Bürger, aber auch deren politische Repräsentanten, sollten es sich drei Mal
überlegen, wie weitgehend sie sich in
die Obhut internationaler Bürokratien
und Oligarchien begeben wollen, die
weder verlässlich kontrollierbar noch
abwählbar sind. Natürlich kann und
soll man gleichzeitig beides sein: gut
deutsch und gut europäisch. Aber die
Reihenfolge muss doch stimmen, sonst
verflüchtigt sich neben vielem anderem auch der Verfassungspatriotismus.
Zweitens sollte der aufgeklärte Patriotismus bei der Schule ansetzen, so wie
das einstmals die gute alte Aufklärung
getan hat. Solange es im Unterricht
wichtiger erscheint (ich pointiere jetzt
etwas), die Schüler in unermüdlicher
Belehrung und mit vielen symbolischen Akten darauf abzurichten, in der
Verteilung des Mülls auf gelbe, grüne,
blaue und schwarze Mülltonnen eine
der vorrangigen Bürgerpflichten zu sehen oder vorrangig ihre technischen
Fertigkeiten zu verstärken (so wichtig
diese auch sind), statt sie für den Wert
der deutschen Sprache, die deutsche
Literatur in ihrer großen Vielfalt und
die unverkürzte deutsche Geschichte
nachhaltig und positiv zu interessieren
– solange wird es beim Schwundpatriotismus bleiben.
Drittens sollte ein aufgeklärter Patriotismus erkennen, bekennen und auch
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Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus?
gesetzgeberisch zu realisieren suchen,
dass der Verfassungsstaat, somit auch
der Verfassungspatriotismus, auf vorpolitischen Einstellungen und Werten
beruht: Familie und Familiensolidarität, bürgerliche Tugenden wie Gesetzestreue, Fleiß, Fairness, Sorgfalt beim
Umgang mit öffentlichen Gütern, Ehrlichkeit, auch Religiosität oder zumindest Sinn für die überstaatlichen kulturellen Werte des Abendlands, das Jahrhundert der Aufklärung dabei nicht zu
vergessen.
Aufgeklärter Patriotismus ist somit
auch der geschworene Gegner eines
finsteren, fanatischen Obskurantismus, der sich bereits im Innern der
europäischen Zivilgesellschaften eingenistet hat und diesen in den kommenden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts auch von außen her zu schaffen
machen wird. Patrioten wissen nicht
nur zu präzisieren, was sie dem Gemeinwohl für dienlich halten. Sie
wagen auch zu sagen, was sie nicht
wollen.
Anmerkung
1
31
Über die Demokratie in Amerika, I, Kap. 5, Zürich 1987, S.136.
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Patriotismus, Multikulturalismus, Nationalismus: Welchen
Weg gehen die Deutschen?
Christoph Böhr
Die Frage lässt aufhorchen: Auf dem
Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus? Gibt es einen Patriotismus, der
nicht aufgeklärt ist? Bedeutet die Tatsache, erst auf dem Weg zu sein, dass wir
das erwünschte Ziel noch nicht erreicht haben? Sind wir Deutschen
immer noch unterwegs, gar auf der
Suche?
Es lässt sich nicht verhehlen, dass wir
Deutschen unsere eigene Rolle und die
in der Welt noch nicht gefunden haben. Einige denken vielleicht, dass wir
wieder einmal hinterherhinken bei der
Klärung unseres Selbstverständnisses
als Nation, wie das schon im 19. Jahrhundert war. Doch wir können uns
rechtfertigen: Die vereinigte Bundesrepublik besteht erst seit 16 Jahren. Erst
seit dieser Zeit genießen alle Deutschen
einen umfassenden Grundrechtsschutz, ein demokratisches Regierungsund Verwaltungssystem, eingebunden
in ein vereintes Europa. Zum ersten
Mal ist Berlin eine ungeteilte, freie und
demokratische Stadt, in der braune und
rote Horden weder auf der Straße noch
in einem Scheinparlament die Messer
wetzen.
Man könnte lakonisch anmerken, wir
Deutschen haben es geradeso noch
einmal geschafft, kurz vor der Jahrtausendwende unsere Nation zu formen. Die Ungarn und Polen haben uns
dabei ebenso geholfen wie die Franzosen, Amerikaner, Briten und Russen.
Sie wollten, so einfach ist es am Ende,
ein unaufgeregtes Land in der Mitte
Europas, ein Land ohne Sonderwege,
berechenbar in seinen Empfindungen
und Handlungsweisen.
Was aber ist ein normales Land? Für die
Franzosen ist ihre Grande Nation einzigartig. Die Amerikaner stehen – meist –
parteiübergreifend hinter ihrem Präsidenten und ihrer Fahne. Die Polen sind
stolz auf den 3. Mai, als 1791 dort die
erste Verfassung Europas in Kraft trat,
die zweite auf der Welt nach den Vereinigten Staaten. Unser Feiertag ist der
3. Oktober und bezieht sich auf ein Ereignis, welches zweihundert Jahre nach
der Inkraftsetzung der polnischen Ver-
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Patriotismus, Multikulturalismus, Nationalismus
fassung stattfand. Unsere Nation feiert
den 3. Oktober 1990 als Geburtsstunde
eines Landes, das in dieser Größe und
Lage nie zuvor so bestand.
Man meint, Deutschland habe nun einen glücklichen äußeren Abschluss seiner Identitätssuche gefunden. Unsere
Nachbarn sind weitgehend zufrieden.
Helmut Kohl hat die kleinen, mittelund osteuropäischen Länder nie aus
dem Auge und dem Herzen verloren.
Und Angela Merkel steht ganz in der
Kontinuität dieses Denkens. Wir pflegen gute Kontakte zu allen Nachbarn,
ganz besonders zu den kleineren Staaten und zu Frankreich. Wir können
stolz sein auf das Erreichte. Sind wir
also ein normales Land?
Die Frage zu stellen heißt, sie zu beantworten. Wenn wir fühlen, dass wir stolz
sein können auf das Erreichte, dann
sind wir ein normales Land. Genauso
wie die Franzosen und Polen stolz sein
können – und diese beiden Völker sicherlich ganz besonders –, dürfen auch
wir zufrieden sein mit der Entwicklung
unseres Landes. Gleichzeitig sind wir
voller Demut. Wir wissen, dass wir das
Geschenk der Einheit Deutschlands
nicht nur selber erkämpft, sondern
auch von anderen empfangen haben.
Das Jahr 1990 war das Geschenk Europas und der Großmächte an Deutschland. Helmut Kohl hat dieses Geschenk
stellvertretend für uns alle entgegen genommen und im Gegenzug Normalität
zugesichert: die Anerkennung der Ostgrenzen ebenso wie die Einbindung in
die NATO und eine gemeinsame europäische Währung. Inzwischen verteidigt unser Land Demokratie und Frauenrechte in Afghanistan, verhindert Piraterie und Drogenschmuggel am Horn
33
von Afrika und bemüht sich um den
Aufbau im Kosovo. Gleichzeitig ist aber
auch deutlich, dass sich Deutschland
nicht überall militärisch verpflichten
kann. Deshalb schied eine Teilnahme
am Irak-Feldzug von vornherein aus –
was man aber nicht, wie Gerhard
Schröder als einziger Regierungschef es
tat, auf einem Marktplatz (in Goslar)
im Wahlkampf verkünden sollte. Überhaupt hat die Außenpolitik Schröders
uns eine gefährliche Ferne zu den Vereinigten Staaten beschert. Jetzt wird
der Scherbenhaufen zusammengekehrt.
Die Welt ist erfreut über eine neue Verbindlichkeit, die Deutschland nun wieder ausstrahlt; die Welt ist erleichtert,
weil Deutschland wieder berechenbar
geworden ist.
Gleichzeitig fürchten wir uns selbst vor
diesem Zustand eines unbeschwerten
Verhältnisses zum Heimatland. Normalität ist eingekehrt, aber Patriotismus fehlt. Wir Deutschen scheinen uns
dem Patriotismus ganz entziehen zu
wollen, weil wir gesehen haben, dass
Heimatliebe schrecklich missbraucht
werden kann. Die Spannung, in der
sich der Patriot bewähren muss, bewegt
sich zwischen den Polen von Nationalismus und Multikulturalismus.
Doch die Deutschen tun sich noch
schwer, in und mit Spannungen zu leben; sie wollen lieber Spannungen auflösen. Das Bedürfnis nach Harmonie
ist hoch. Der Wunsch nach Gleichheit
wird dem Streben nach Freiheit oft vorgezogen. Umverteilung soll alle Probleme lösen. Nach dem Staat und seiner
Zuständigkeit wird allenthalben gerufen, seltener nur nach den Menschen
und ihrer Verantwortung. Hier sind
sich rechte Nationalisten und linke
Multikulturalisten einig. Sie berufen
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sich auf Denker, die einen irdischen
Weg zur Auflösung aus der vermeintlich unerträglichen Spannung weisen,
weil sie es nicht ertragen, dass die Welt
zwischen Schwarz und Weiß noch unendlich viele Grautöne kennt. Karl
Marx ist dafür ein Beispiel. Mit seiner
Beschreibung der unerträglichen Zustände der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert hat er ohne Zweifel einen
wichtigen Beitrag auch in der politischen Auseinandersetzung geleistet.
Doch seine politische Theorie des Sozialismus zeigt, dass aus einer nachvollziehbaren Zustandsbeschreibung
auch falsche Schlussfolgerungen gezogen werden können.
Marx bezeichnet die notwendigen Spannungen in der Gesellschaft lapidar als
unauflöslichen Widerspruch. Die Spannung wird bei ihm zum Widerspruch.
Marx schreibt: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft
in Widerspruch mit den vorhandenen
Produktionsverhältnissen oder, was
nur ein juristischer Ausdruck dafür ist,
mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt
hatten. Aus Entwicklungsformen der
Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt
dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der
ganze ungeheure Überbau langsamer
und rascher um.“ Die Ergebnisse sind
bekannt.
Bis heute finden wir den tiefen
Wunsch mancher Deutscher nach
Gleichheit und Gleichmacherei: Wettbewerb unter den Bundesländern? Abgelehnt! Unterschiedliche Schulsysteme in Deutschland? Zurückgewiesen
Christoph Böhr
mit Hinweis auf die Kinder, die nach
einem Umzug umlernen müssen. Die
Hinweise der PISA-Studien, dass Kinder
in Bayern, Baden-Württemberg und
Sachsen mit dem gegliederten Schulwesen besser auf das Leben vorbereitet
werden als dies in den Einheitsschulen
in Brandenburg und Berlin geschieht?
Verdrängt! Wie schön hört sich die Vereinheitlichung im modischen Kampfbegriff der „Bürgerversicherung“ an. Eine Versicherung für alle Bürger, eine
Schule für alle Schüler, ein Kinderhort
für alle Kinder, eine Gesamthochschule für alle Studenten, eine Einheitsgewerkschaft für alle Arbeitnehmer! Nur
in einem eher dumpfen Bauchgefühl
scheinen viele zu ahnen, dass Ludwig
Erhards Politik, Wohlstand für alle zu
schaffen, das Ergebnis einer Wettbewerbsordnung ist. Mit dem Herzen
sind wir lieber Kollektivisten. Jedes Jahr
lesen Tausende von Studenten die
Theorie der Gerechtigkeit von John
Rawls, aber eine deutsche Taschenbuchausgabe der „Verfassung der Freiheit“ von Friedrich August von Hayek
fehlt.
Ausgangspunkt der Ausführungen von
Hayek ist wie bei Locke, Smith und
Kant die persönliche Freiheit. Um sie
und alle ihre Werte zu verwirklichen,
erweise sich eine freie, also offene Gesellschaft als notwendig. Herzstück der
freien Gesellschaft sei die sich selbst bildende oder spontane Ordnung. Eine
spontane Ordnung sei zweckgebunden
und nur insoweit zu überwachen, als
die Regelmäßigkeit im Verhalten ihrer
Glieder überprüfbar und vom Staat
zwangsweise durchsetzbar ist. Die Einzelheiten der spontanen Ordnung seien jedoch infolge der Komplexität der
Interaktionsfolgen nicht bestimmbar.
Das ist einleuchtend: Wenn man zu-
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Patriotismus, Multikulturalismus, Nationalismus
lässt, dass Menschen ihr Leben selbst
gestalten, sind wir erstaunt, auf welche
Gedanken sie kommen und was alles
an Schönem und Sinnvollem entsteht.
Doch wir Deutschen haben uns daran
gewöhnt, all das Schöne und Sinnvolle
still zu genießen und mit dem Finger
auf das zu zeigen, was ungewollt aus
dem Ruder läuft, wo sich also eine
spontane Ordnung eingestellt hat, die
wir missbilligen. Bis hierhin ist das
noch nicht verwerflich. Die Opposition, die Medien, der Rechnungshof und
viele andere haben die Aufgabe, auf
Missstände aufmerksam zu machen.
Wir müssen diese Missstände ernst
nehmen. Aber diese Missstände sind
kein Grund, bei jeder Gelegenheit die
ganze Ordnung zum Teufel zu wünschen. Es ist unverantwortlich, wenn
Tausende Arbeitsplätze in ertragreichen
Unternehmen vernichtet werden – aber
deswegen hat die Soziale Marktwirtschaft doch nicht versagt. Es muss uns
eher Ansporn sein, die Rahmenbedingungen für neue, zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen. Wir sollten
mehr selber in die Hand nehmen und
weniger auf andere warten. Solange wir
das nicht schaffen, fehlt unserem Patriotismus das Herz.
Aufgeklärter Patriotismus zeichnet sich
dadurch aus, dass wir die Normalität,
die Deutschland inzwischen nach außen hin ausstrahlt, uns auch im Inneren angewöhnen. Wir sollten von uns
selbst verlangen, dass unser Zusammenleben zu Spannungen führt, die
wir nicht nur ertragen müssen, sondern die wir als Antrieb für die Entwicklung unserer Gesellschaft brauchen. Ein totalitärer Staat erstarrt. Er
gleicht einem kurzgeschorenen Rasen
im Vorgarten. Alles ist millimetergenau
35
im Gleichmaß, unterschiedslos einheitlich. Unser System von Wettbewerb, Rechtstaat und Sozialer Marktwirtschaft, unsere offene Ordnung ist
dagegen eine Frühlingswiese mit vielen
tausend wild wachsenden Blumen, die
in allen Farben blühen. Es ist eine Wiese, in der manche Blumen zwar im
Schatten anderer stehen, aber alle sich
entwickeln dürfen. Keine läuft Gefahr,
abgemäht zu werden, nur weil sie anders ist. Wir freuen uns über diese vielfältige und bunte Wiese – doch verteidigen wir sie auch noch, wenn das
Licht der Fernsehkameras auf jene
Stängel fällt, die einen Teil des Lebens
im Schatten verbringen? Können wir es
ertragen, dass nicht alle gleich sind und
dass nicht alle gleich sein müssen?
Oder ertragen wir das nicht und meinen, alle sollen dem gleichen Hort, der
gleichen Schule, der gleichen Versicherung angehören und ungefähr das Gleiche verdienen?
Wenn man davon ausgeht, dass alle
Menschen nicht nur vor dem Gesetz
gleich sind, sondern auch in ihrer Persönlichkeit, dann nehmen wir das
auch von allen Völkern an. Wenn alle
Völker gleich sind und es unerheblich
ist, ob man Franzose ist oder Chinese,
Brasilianer oder Australier, dann spürt
man in der Tat keine besondere Beziehung zum eigenen Volk und wertet die
eigene Schicksalsgemeinschaft zu einem kollektiven Versicherungssystem
ab. Das ist der Kerngedanke des Multikulturalismus.
Erstaunlich nur, dass all jene, die uns so
gleich erscheinen, daran gar kein Interesse haben. Franzosen sind stolz auf
Frankreich, Chinesen sind stolz auf
China, Brasilianer sind stolz auf Brasilien und Australier auf Australien. Nir-
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gendwo hört man von einem Wunsch,
nur gleich sein zu wollen. Eher hört
man, die Deutschen sollten sich nicht
verstecken. Einigen Asiaten ist es schon
ganz peinlich, wenn sie Deutsche über
Deutschland reden hören. Ein Studentenmagazin hat Anfang 2006 darüber
berichtet, was man bei einem Auslandsstudium in China beachten soll.
Hier fand sich ausdrücklich die Warnung, nicht schlecht über das eigene
Land zu sprechen. Das würde Chinesen
nicht nur verunsichern, sie würden sogar die Verbindung zu einer solchen
Person meiden. Haben unsere deutschen Studenten am Ende schlechtere
Berufsaussichten in der Welt, weil wir
ihnen nicht beigebracht haben, ihr
Land zu lieben?
Wer sein Land liebt, hat doch deshalb
keine Vorbehalte gegenüber anderen.
Diese Einsicht ist längst noch nicht Gemeingut. Dabei ist es so einfach. Wer eine Frau heiratet, weil er sie liebt, verachtet deswegen doch nicht andere
Frauen. Aber eines muss jeder mitbringen, der einen anderen Menschen lieben lernt: Nur wer mit sich selbst im
Reinen ist, kann anderen unbedingtes
Vertrauen entgegenbringen. Nur wer
fest in seinem eigenen Glauben steht,
kann nachvollziehen und mit Verständnis begegnen, was andere Gläubige bewegt – ob es Christen, Juden oder
Muslime sind. Nur wer sein Land liebt,
kann die Heimatliebe anderer nachempfinden und den Schmerz einer Vertreibung mitfühlen. Ohne Liebe gibt es
keine Treue. Hass entsteht dort, wo zu
wenig oder nicht mehr geliebt wird.
Deshalb hat Patriotismus auch nichts
mit Nationalismus zu tun. Nationalismus entsteht dort, wo die Liebe zur
Heimat ersetzt wird durch den Hass auf
Christoph Böhr
andere. Die Nationalsozialisten haben
ihr Land nicht geliebt! Sie kannten nur
den Hass: auf ihre Gegner, andere Rassen und fremde Länder. Deshalb haben
sie Millionen eigener Bürger sowie die
Bürger anderer Staaten ermordet, und
deshalb haben sie Tausende Städte zerstört und, als der Krieg verloren war,
kein Erbarmen mit ihrem eigenen Volk
gehabt, sondern Deutschland vernichten wollen. Mit dem Fremdenhass ging
der Selbsthass am Ende Hand in Hand.
Das ist der große Unterschied: Der Patriot liebt sein Land, der Nationalist
liebt nichts, sondern hasst andere und
der Multikulturalist liebt alles und
nichts. Die Geisteshaltungen des Nationalisten wie die des Multikulturalisten unterscheiden sich tief greifend
von der Heimatliebe eines Patrioten.
Die Ähnlichkeit beider Geisteshaltungen, nämlich die des Nationalismus
wie die des Multikulturalismus, ist
nicht weiter verwunderlich: Wer nicht
liebt, weil er nicht lieben kann, ist begeistert von Führern, die ebenso wenig
lieben, wie man selbst (nicht) zu lieben
vermag. Wer nicht liebt, versteht die
vielen Schattierungen des Lebens nicht.
Wer nicht liebt, kann seine Meinungen
tauschen wie seine Unterwäsche: Gestern ganz rechts, heute ganz links – ein
Wechsel der Fronten ist dann nichts
Ungewöhnliches.
Der christliche Glaube, auf dem unsere
Verfassung, unser Staat, unsere Kultur
und unsere Ethik gründen, ist eine Verkündung der Liebe. Wären wir doch
nur so mutig und stellten die Liebe in
den Mittelpunkt unseres Handelns. Die
Menschenliebe ist für einen Christen
und natürlich auch für einen christlichen Politiker, der alles entscheidende
Beweggrund seines Handelns. Die Hei-
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Patriotismus, Multikulturalismus, Nationalismus
matliebe ist der Ausgang allen Strebens.
Die Elternliebe ist der Ursprung allen
Fühlens und Denkens. Und die Gottesliebe ist der Quell aller Zufriedenheit.
Die Liebe steht im Mittelpunkt des
christlichen Glaubens und es ist nicht
verwunderlich, dass er von den Ideologen des 20. Jahrhunderts entweder verschmäht oder missbraucht wurde.
37
noch begeistert, mit Trier die älteste
Stadt Deutschlands kennen zu lernen?
Kennen unsere Schüler das Obere Mittelrheintal und den Limes, die beide
zum Weltkulturerbe zählen? Sind wir
uns der Schönheit des Ahrtals bewusst
und kennen wir die Sagen um die Loreley? Warum spielt St. Kastor in Koblenz eine so wichtige Rolle in der europäischen Geschichte? Woher kommt
die Mainzer Fassenacht? Wieso ist Kaiserslautern heute ein moderner Wissenschaftsstandort? Wer kämpfte um
die Festung Ehrenbreitstein in Koblenz? All das können unsere Schüler
lernen. Sie surfen im weltweiten Netz,
aber sie sollten ebenso wissen, was vor
ihrer Haustüre liegt und geschieht. Das
macht uns nämlich unverwechselbar.
Ein Patriot schämt sich der Liebe zu
seinem Land nicht, im Gegenteil: Er
ist stolz darauf. Er zeigt diese Liebe. Genauso wenig wie der Glaube nur ein
inneres Gefühl bleiben kann, wird
man seine Heimatliebe nicht zu verbergen suchen. Seinem Land zu dienen, schwört der Minister. Treu gegenüber seinem Land zu sein, verspricht
der Beamte. Und alle anderen? Überlassen wir den Patriotismus den Staatsdienern und werden selbst zu seinen
Gefolgsleuten nur anlässlich einer Fußball-Weltmeisterschaft? Das wäre der
falsche Weg. Wenn wir in den Schulen
unsere Kinder auf das Leben in der Welt
der Globalisierung vorbereiten wollen,
müssen wir sie Geborgenheit spüren
lassen und ihnen Heimat geben. Nur
wer irgendwo zu Hause ist, kann in die
Fremde gehen und dort berichten, von
wo er kommt. Nur er kann Fremde zu
sich nach Hause einladen. Nur wer
seine Heimat liebt, vermag andere zu
verstehen, die ihre Heimat ebenfalls
lieben. Doch um dieses Gefühl zu haben, muss man seine Heimat erstmal
kennen.
In diesem Sinne verstanden ist ein aufgeklärter Patriotismus mehr als nur
Verfassungspatriotismus. Das Grundgesetz gibt Staat und Gesellschaft einen
Ordnungsrahmen – und es ist, da es
eine Fülle von Schlussfolgerungen aus
den bitteren Erfahrungen des Nationalsozialismus zieht, genuin deutsch.
Unsere Verfassung ist eine notwendige,
aber keine hinreichende Bedingung zur
Verteidigung des Bewahrenswerten.
Die Verfassung als unser Leittext muss
gelebt werden – dieses Leben ist unsere
Kultur. Sie gründet in einem Menschenbild, nämlich dem christlicheneuropäischen, das sich von denen
anderer Kulturen maßgeblich unterscheidet.
Deshalb habe ich vorgeschlagen, dass
in rheinland-pfälzischen Schulen Heimattage stattfinden. Wer verbindet
noch etwas mit dem Hambacher Fest,
das in der Pfalz stattfand? Wer weiß um
die Bedeutung, die Worms und sein
Dom früher gespielt haben? Wer ist
Patriotismus ist keine Gefühlsduselei.
Johannes Paul II. verwies auf den „moralischen Wert des Patriotismus“: So
wie Mutter und Vater einem Kind
Leben und Lebenssinn schenken, so
schenkt das Vaterland seinen Bürgern
ein Vermächtnis, das für den Bestand
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des Ganzen, der Gemeinschaft, lebenswichtig ist. In unserem Kulturkreis ist
es vor allem Zivilität, die den Maßstab
für das Gelingen von Gesellschaft bereitstellt. Wie eine Gesellschaft sich
selbst verstehen will, prägt ihr Verhältnis von Bildung und Erziehung, beeinflusst Kunst und Wissenschaft, begründet den Stolz der Bürger und weist
politischen Entscheidungen die Richtung. Das ist die Leitkultur der Gesellschaft, die geistige Heimat, die das umgreift, was wert ist, von Generation zu
Generation weitergegeben zu werden.
Die geistige Heimat ist für einen Menschen genauso wichtig wie seine landsmannschaftliche Herkunft oder das
ihm ans Herz gewachsene Land seiner
Kindheit.
Niemand wird in Deutschland zu einer
nationalen Identität gezwungen, anders als in der Türkei oder im Iran. Gerade das macht unsere Identität aber
aus. Wir sind ein offenes und freizügiges Land. Patriotismus bedeutet aber
auch, keine Toleranz gegenüber Intoleranz. Ganz sicher ist es diese Erkenntnis, die uns nicht abhanden kommen
darf, um notwendige politische Entscheidungen zu treffen: dass wir die
Zwangsheirat von Minderjährigen ver-
Christoph Böhr
hindern, indem wir das Nachzugsalter
von ausländischen Familienangehörigen verändern; dass wir bei einem
Beitritt der Türkei zur Europäischen
Union zurückhaltend sind, solange
dort Schriftsteller wie Orhan Pamuk
verfolgt werden, weil sie den Völkermord in Armenien ansprechen; dass
wir ein Kopftuchverbot in Schulen
durchsetzen, um unseren Kindern die
Gleichberechtigung der Frauen vorzuleben; dass wir von unseren Gästen, die
Deutsche werden wollen, zunächst zum
Beispiel wissen möchten, ob sie Homosexuelle als minderwertige Kranke ansehen; dass wir Friedenstruppen ausbilden, die in Afghanistan und anderswo
dafür sorgen, dass Mädchen eine Schulbildung erhalten, statt von mordenden
Horden vergewaltigt zu werden.
Unser Patriotismus ist am Ende keine
Ausgrenzung, sondern eine Einladung:
teilzuhaben an den aus unserer Geschichte erwachsenen, maßgebenden
Grundsätzen der Menschlichkeit, des
Lebens, Denkens, Fühlens und Handelns. Leitkultur fordert aber auch etwas – von Ausländern die Annahme
dieser Grundsätze und von uns selbst,
dass wir sie selbstbewusst und mutig
leben.
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Nationale Triebkräfte in der
globalisierten Welt –
Unterschiedliche Spielformen
eines erstarkenden Patriotismus
Hansrudolf Kamer
1. Einführung
Das jüngste Filmepos „Tal der Wölfe“
mit amerikanischen Bösewichten und
türkischen Helden bestätigt die „unmoderne“ Erscheinung, dass der Durst
nach nationaler Ehre und Größe keineswegs erloschen und die Gefühle dafür sehr verbreitet sind. Türkischer Nationalismus, nicht islamische Verbrüderung oder gar islamistischer Eifer, ist
die Botschaft des Films und er prägt die
Reaktion der Türken auf den Streifen.
Fußballspiele lösen vergleichbare emotionale Erschütterungen aus und haben Weiterungen bis in die hohe Politik. Die Olympischen Spiele und Fußballweltmeisterschaften sind zu einem
großen Fest nationalistischer Selbstbespiegelung geworden, mit Beteiligung
der Politik auch auf höchster Rangstufe.1 Bemerkenswert, dass alle diese
Phänomene im Unterhaltungsbereich
spielen und Gefühle ansprechen. Sie
sind wohl Ersatzhandlungen. Doch
damit nicht genug. Auf ganz anderer
Ebene sind das jüngste Fiasko bei der
Ratifizierung des europäischen Verfassungsvertrags und die Handlungsweise
vieler Mitgliedstaaten der EU zwei von
mehreren Indizien, dass Nationalismus
in Europa wieder im Kommen ist.
2. Der Einfluss der Medien
In dem von den Medien dominierten
Informationszeitalter scheint es dem
Nationalismus jedenfalls besser zu gehen denn je; die Medien verstärken seine Botschaft ungemein, direkt und indirekt. Sie sind in der Regel national
ausgerichtet und interpretieren das
Geschehen durch eine nationale Brille.
Internationalismus oder Supranationalismus haben kein Medium. Nationalismus meint eine „nationale Einstellung“ und „nationales Handeln“ in der
Politik, während „nationale Identität“
das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer
Nation oder einem Nationalstaat bedeutet, worauf der Patriotismus aufbaut, der ein starkes Engagement für
das „Vaterland“ beinhaltet. Dass alle
Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006
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diese Begriffe zurzeit intensiver diskutiert werden, ist Ausdruck ihrer Relevanz und ihrer Stärke, eine Entwicklung, die sich im Übrigen seit Jahren
abzeichnet. Dass die Verankerung in
einer nationalen Identität ein reales
Bedürfnis befriedigt, steht wohl außer
Frage, eher schon, ob das mehr oder
weniger als früher der Fall ist.
Ein Rückfall ins 19. Jahrhundert, wie
das besorgte Internationalisten befürchten, steht allerdings kaum bevor.
Jener Teil des Patriotismus, der Opferbereitschaft für das Vaterland beinhaltet, ist nicht unbedingt stärker geworden. Und die Gründe für die Ablehnung des Verfassungsvertrags der
Europäischen Union waren vielschichtig, eine Mischung aus innenpolitischen Taktiken und anderen Elementen, die mit der europäischen Einigung
an sich wenig zu tun hatten. Auch die
Folgen dieser Ablehnung werden sich
kaum mit der Situation vergleichen lassen, wie sie vor 150 Jahren in Europa
herrschte. Es handelte sich um eine auf
jeden Fall nicht ganz unerwartete Entscheidung. Wenn und so lange sich die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union über das eigentliche Ziel ihrer Einigungsbestrebungen nicht einigen können, werden die „Vaterländer“, wie sie
de Gaulle genannt hat, weiterhin die
entscheidende Rolle spielen und werden Bemühungen, eine europäische
Identität aktiv zu stiften, stets den Makel einer etwas bemühten Public-Relations-Aktion haben, die Unzulänglichkeiten überspielen muss. Die EU wird
sich durch konkrete Leistung definieren müssen. Nur so könnten sich immer mehr Bürger mit ihr identifizieren,
und nur so entstünde eine europäische
Identität, die den Nationalismus überlagern könnte.
Hansrudolf Kamer
3. Multikulturalismus im
Rückgang
Das Phänomen einer Rückbesinnung
auf die eigene Nation und die Suche
nach nationaler Identität sind jedoch
real und nicht auf Europa beschränkt.
In Amerika ist der Trend zum Multikulturalismus bereits vor einigen Jahren an seinem Ende angekommen und
die Rückkehr, eine sicher modifizierte
Rückkehr zur Vorstellung des „melting
pot“, ist zu beobachten. Der Schmelztiegel war immer mit einer starken Betonung eines amerikanischen Nationalgefühls verbunden. Entsprechend ist
eine neue Hervorhebung der anglo-protestantischen Kultur 2 festzustellen, des
Ankers des amerikanischen Staatswesens, der die traditionell kontingentierte Einwanderungspolitik ergänzt. Auch
in Zeiten der Hochblüte des Multikulturalismus oder auch des Kosmopolitismus standen amerikanisches Nationalbewusstsein und Patriotismus nie in Frage. Selbst der inneramerikanische Protest
gegen den Vietnamkrieg war oder argumentierte unverhohlen patriotisch.
Der wirtschaftliche Aufschwung in
China ist von deutlichen nationalistischen Erscheinungen begleitet und
auch vom Gefühl getragen, dass den
Chinesen künftig eine wichtige Rolle
auf der Weltbühne zusteht. Dieses
Selbstbewusstsein ist nicht nur bei der
kommunistischen Führungsspitze zu
beobachten, sondern lässt sich auch
aus anderen Reaktionen ablesen.3 Neben der Hebung des allgemeinen
Wohlstands ist der Nationalismus für
die chinesische Führungsspitze die eigentliche Legitimation ihrer Herrschaft.
Deutschland ist vielleicht noch immer
– auch mehr als 15 Jahre nach der Ver-
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Nationale Triebkräfte in der globalisierten Welt
einigung – ein Sonderfall. Vielleicht,
denn Zeichen für Ermüdungserscheinungen mehren sich. Es war in der gesamten Nachkriegszeit nicht so ganz
klar, ob der offizielle Anti-Nationalismus oder wie immer man das Phänomen nennen will, sich nur auf die politische Führung beschränkte. Als die
Vereinigung der beiden Teile Deutschlands oder vielmehr der beiden deutschen Staaten kam, brach sich jedenfalls ein recht tief reichendes Nationalgefühl sofort Bahn, das ja schon vorher
vorhanden gewesen sein musste. Dennoch: Im Vorwort zum bemerkenswerten Werk über Mythen der Nationen4,
das neun Jahre später herauskam, wird
zustimmend und fast entschuldigend
Thomas Mann zitiert, der in seiner Rede „Von Deutscher Republik“ den
Kosmopolitismus gepriesen und die
Deutschen zur Beschäftigung mit den
Kulturen der Nachbarländer aufgefordert hat. Inzwischen ist die Entwicklung weit über diese Ermahnung, die
zwar aufrichtig gemeint ist und sachlich richtig bleibt, hinweg gegangen.
Das deutsche Nationalgefühl ist unstreitig und stärker als früher eine politische Tatsache geworden. Das hat Weiterungen. Es ist Deutschland und die
neue Mehrheitspartei, die CDU/CSU,
die sich zum Beispiel gegen einen Beitritt der Türkei zur EU sperrt und dies
mit einem wachsendem Echo und
wohl auch zunehmender Zustimmung
in der Bevölkerung.
Die Türkei ist für Deutschland kein
Nachbar, den Thomas Mann gemeint
hat, sondern viel mehr: Sie ist in
Deutschland selber mit einem wachsenden Bevölkerungssegment präsent.
Die rot-grüne Bundesregierung, die
von 1998 bis 2005 im Amt war, ließ
sich dadurch bekanntlich zu wahltakti-
41
schen Überlegungen verleiten. Die Auseinandersetzung über den Beitritt der
Türkei ist aber auch Ausdruck der Rückbesinnung auf „eigene Werte“. Die Diskussionen über „Leitkultur“ und andere Begriffe signalisieren auch hier eine
Wende.
4. Schwache Weltordnung –
starker Nationalstaat
Größere Zusammenhänge sind leicht
zu erkennen. Die Feststellung, dass der
Nationalstaat seine Schuldigkeit noch
keineswegs getan hat und dies trotz
fortschreitender Globalisierung, lässt
sich noch an anderen Phänomenen ablesen. Die Entwicklung hin auf eine
neue Weltordnung – den Begriff hatte
der erste Präsident Bush im Zusammenhang mit der Einigung im UNO-Sicherheitsrat über das Eingreifen im
Golfkrieg geprägt – ist deutlich schwächer geworden. Als Utopie lebt sie zwar
auf der europäischen Linken und bei
vielen Nichtregierungsorganisationen
in kräftiger Form weiter, die weiterhin
global und mit globalen Themen großflächig regulieren wollen. Die Wurzeln
dieser Bewegung reichen zurück in die
Zeit nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion, als die neue Weltordnung der Menschheit endlich Frieden,
Stabilität und Toleranz versprach – das
war die Vorstellung vom Ende der Geschichte.5 Sie prägte die eher unbeholfenen Reaktionen in Europa auf die Jugoslawienkriege und war dann bei der
breiten Ablehnung des Irakkriegs spürbar. Doch inzwischen ist die Geschichte mehr präsent denn je. Ein Realismus
breitet sich aus und auf der Weltbühne
ist wieder verstärkt die ungeschminkte
Wahrung nationaler Interessen zu beobachten. Ein Abgleich dieser Interes-
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sen ist zurzeit das eigentliche Thema
der Weltpolitik.
Ausgangspunkt sind die Globalisierung
und die Reaktionen darauf. Wer geglaubt hatte, dass der Nationalstaat
klassischer Prägung von den starken
Globalisierungstendenzen unterhöhlt
und mit der Zeit weggespült würde, hat
inzwischen genügend Anlass, seine Erwartungen zu revidieren. Verschiedene
Indikatoren zeigen, dass der Nationalstaat nicht nur beträchtliche Widerstandskräfte entwickelt hat, sondern,
über längere Zeiträume betrachtet, sogar stärker geworden ist. Man kann etwa auf die Staatsquote in europäischen
Staaten verweisen – sie liegt heute in
Westeuropa durchschnittlich bei ungefähr 50%. Eine Reduktion ist, trotz Rhetorik einiger Reformprotagonisten und
wirtschaftlicher Sachzwänge, nicht in
Sicht. Im Übrigen auch nicht in den
Vereinigten Staaten, die zwar zahlenmäßig und gesellschaftspolitisch in einer weit komfortableren Lage sind als
viele europäische Staaten. Doch die
Anti-Staatsrhetorik in Amerika deckt
sich nicht mit den Realitäten expandierender Staatsausgaben.
Vor hundert Jahren, als ebenfalls eine
Globalisierungswelle im Gang war, betrug die Staatsquote durchschnittlich
nur etwa 10%. „Wenn die Bundesregierung zu existieren aufhörte, würden die gewöhnlichen Bürger den Unterschied in ihrem täglichen Leben
während längerer Zeit gar nicht bemerken.“6 Der dies, nur leicht ironisch, sagte, war der amerikanische Präsident
Calvin Coolidge in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, in einem Amerika, das sich selbst genügte
und wenig über die Grenzen blickte.
Die große Depression, der Zweite Welt-
Hansrudolf Kamer
krieg und der kalte Krieg zwangen dann
die Amerikaner, die Rolle des Staates
neu zu suchen, festzulegen und sein
Selbstverständnis ziemlich drastisch zu
verändern. Das geschah dann auch
gründlich.
Während Präsident Roosevelt noch davon sprach7, der Staat müsse sicherstellen, dass seine Bürger sich ungestört
dem „pursuit of happiness“ widmen
können, so ist inzwischen das Wörtchen „pursuit“ fallen gelassen worden.
Heute ist ganz klar die vorherrschende
Auffassung, dass der Staat für die Erlangung eines Status von Glückseligkeit seiner Bürger verantwortlich sei
und dies auch bewerkstelligen könne –
Glück im Sinne von Sicherheit und
materiellem Wohlbefinden. Sicherheit
und Wohlstand für alle, garantiert
durch den Staat. Das ist inzwischen
gewöhnliches Anspruchsdenken, das
durch die politischen Parteien und diverse Interessenorganisationen gefördert wird.
So drängt sich der Schluss auf, dass der
Nationalstaat eher stärker als schwächer geworden ist. Es zeigt sich auf jeden Fall, dass er keineswegs am Ende
und ein supranationales Europa keine
Alternative ist. Der Wohlfahrtsstaat,
obwohl vielfach überfordert, hat heute
vor allem in Westeuropa Mechanismen
entwickelt, die den weltweiten Strukturwandel abbremsen und abfedern
und die bestehende Ordnung stärken.
Und das spielt sich auf der Ebene der
Nationalstaaten ab, obwohl es natürlich Bemühungen vor allem der Sozialdemokraten gibt, die gleichen Mechanismen auf die europäische Ebene zu
verlagern. Doch diese Anstrengungen
sind gewissermassen subsidiär und bisher wenig erfolgreich.
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Nationale Triebkräfte in der globalisierten Welt
Zum Zweck der kurzfristigen Besitzstandswahrung werden Wohlstandsverluste und andere Verzerrungen
– etwa die hohe Arbeitslosigkeit in
Deutschland und Frankreich – in Kauf
genommen. Die Etatisierung der westeuropäischen Welt ist zwar nicht als
Antwort auf die weltweite Verflechtung
„erfunden“ worden, sondern hat aus
anderem Antrieb und in einem eigenen Rhythmus stattgefunden. Das
jüngste Wahlresultat in Deutschland
macht im Besonderen klar, dass dieser
starke Staat nicht nur nicht ans Abdanken denkt, sondern vielmehr in einer
Abwehrstellung verharrt, an der Reformangriffe abprallen.
5. Globalisierung positiv
Grundsätzlich werden dennoch die Auswirkungen der wirtschaftlichen und
technischen Globalisierung als positiv
empfunden, wenn sie als solche erkannt werden: eine Schwemme von
Konsumgütern, erleichtertes Reisen
überall hin, finanzielle Dienstleistungen in Sekundenschnelle. Das alles hat
viele praktische Vorteile gebracht und
den allgemeinen Wohlstand – nicht
nur denjenigen bereits reicher Individuen und Staaten auf Kosten anderer –
erhöht. Das Bild der sich öffnenden
„Armutsschere“ ist falsch, denn es suggeriert, dass es den „Armen“ immer
schlechter geht. Die Daten stützen
diese These nicht. Armut ist ein sehr
relatives Konzept. Eine schwedische
Studie hat zum Beispiel nachgewiesen,
dass nach der amerikanischen Definition von Armut ungefähr 40% aller
schwedischen Haushalte in die Kategorie „low income households“ fallen
würden,8 in Schweden jedoch nicht.
Die Globalisierung führt nicht zu all-
43
gemeiner Verarmung. Man will nur
ihre Vorteile mit jenen einer nationalen und lokalen Verankerung kombinieren, die Nachteile jedoch bekämpfen.
Auch wird man wohl die Fehler beim
„Abwürgen“ der letzten Globalisierung in der Zeit nach dem Ersten
Weltkrieg, als die Nationalstaaten hohe Handelsbarrieren errichteten, sich
zunehmend gegeneinander abschotteten und in eine allgemeine Verarmung trieben, nicht mehr begehen. Der starke Nationalstaat hat ganz
gut gelernt, mit der Globalisierung zu
leben.
Alt ist das Nationalbewusstsein, auf
dem dieser Staat baut, allerdings nicht.
In den meisten Ländern Europas entwickelte sich das Nationalgefühl im
heutigen Sinn erst als Folge der Erschütterungen durch die Französische
Revolution und die napoleonischen
Kriege. Um die Existenz der eigenen
Nation zu begründen, ging man im
19. Jahrhundert daran, nationale Identitäten zu stiften. Das gelang auch in
großem Ausmaß, zum großen Teil natürlich in Wechselwirkung mit anderen Nationen.
6. Verankerung in geschichtlichen Mythen
Geschichtliche Mythen spielten bei der
Bildung dieser Identitäten eine große
Rolle. Die Mittel sind bekannt. Große
Augenblicke in der Vergangenheit, Siege und Niederlagen, wurden beschworen – mit Hilfe von Jubiläen, Lehrplänen, Gedenkfeiern jeder Art –, und die
Nation kehrte zu den Ursprüngen ihrer
Existenz als Gemeinschaft zurück.9 Die
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Jubiläen und Gedenkfeiern, angefangen mit den Nationalfeiertagen, die
sich im Laufe des Jahrhunderts stark
vermehrten, oder auch nur der Geschichtsunterricht, der sich durch die
Verbreitung des Schulwesens bis in
die abgelegensten Dörfer ausdehnte,
stärkten das Zusammengehörigkeitsgefühl ganz wesentlich. Der Kult der
Geschichte und der Kult der Nation
bleiben auch heute miteinander verbunden.
In den französischen Schulen wird bereits auf der untersten Stufe in der
Grundschule mitgeteilt, dass es Frankreich immer gegeben hat und immer
geben wird. Der Sinn seiner Geschichte liege in der Dauer begründet und
diese Dauer lehre, dass sie Schicksal
und Zukunftsgarantie sei. Auch diese
Leidenschaft der Kontinuität, im Falle Frankreichs besonders sichtbar, ist
allen europäischen Nationen gemeinsam. Sie äußert sich vor allem in der
Vorliebe für Ursprungserzählungen,
die sich der Sage, des Wunderbaren
oder des Mythos bedienen und die oft
in eine unbestimmte Zeit verlagert
sind.10
Der Begriff der Gemeinschaft bezeichnet sowohl die Schicksalsgemeinschaft,
ein Erbe aus vergangenen, zusammen
verbrachten Jahrhunderten, durch die
hindurch man Ruhm und Leid teilte,
aber auch das Bewusstsein absoluter
Einzigartigkeit, als sei die Nation seit jeher in ihren Erfolgen wie in ihren Prüfungen eine einmalige Legitimität zuteil geworden. Ein derartiger Gemeinschaftsbegriff findet sich als Grundlage
der historischen Mythologien vieler europäischer Nationen und natürlich
auch Amerikas als europäischem Ableger wieder.
Hansrudolf Kamer
7. Die EU zurück zu „kleinen
Schritten“
Spät ist klar geworden, dass man mit
dem Verfassungsvertrag der EU nicht
etwa einen neuen Mythos schuf, sondern an etwas Verwurzeltem rüttelte.
Nachdem zuerst eine einfache Revision
des Vertrages von Nizza zur Verfassung
hochstilisiert wurde, kam bald einmal
die Erkenntnis, dass das für das Projekt
gefährlich werden könnte. Man musste abwiegeln. „Die Franzosen bleiben
Franzosen, die Polen bleiben Polen,
und so weiter.“ Der dies locker verkündete, war der damalige deutsche Außenminister Fischer. Er versuchte in Paris, eine skeptische französische Zuhörerschaft von seiner, wie er sagte,
kopernikanischen Wende in Sachen
europäische Integration zu überzeugen.11 Es war, insofern hatte Fischer
sicher Recht, tatsächlich ein Neuansatz, dass die EU-Mitgliedstaaten versuchten, bei der fortschreitenden Integration Europas die Methode einer Verfassungsdiskussion anzuwenden, statt
nur eine routinemäßige Revision des
Vertrages von Nizza vorzunehmen. Bisher hatte man sich vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet vorgetastet und
offen gelassen, ob man auf diesem Weg
schließlich auch bei einem politischen
Gebilde ähnlich den Vereinigten Staaten von Europa landen würde.
Die Anhänger der neuartigen Verfassungsstrategie machten damals geltend, das Voranschreiten in kleinen
Schritten habe seine Schuldigkeit getan und sei nicht mehr zweckgemäß.
Die Union lasse sich auf diese Weise
nicht mehr weiterentwickeln. Die Crux
war, wie sich zeigte, dass einige Mitgliedstaaten unsicher waren und es
wohl noch sind, wie – vielleicht sogar
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ob – sie die Union weiterentwickeln
wollen. Neu war das zwar nicht; man
hatte in der Vergangenheit dafür Konzepte wie „Kerneuropa“ oder „Europa
à la carte“ entworfen und von einer
„Avantgarde“ gesprochen, gemeint waren gewöhnlich die sechs Gründerstaaten, die die Einigung vorantreiben
würden.
Doch französisches Misstrauen war
nicht ausgeräumt, die Deutschen hätten insgeheim die Absicht, via Europäische Union den Nationalstaat zurückzudrängen und ihn auf den Schutthaufen der Geschichte zu werfen.
Fischer antwortete auf diese Skepsis damals mit klaren Worten: Nach der Wiedervereinigung seien die Deutschen im
eigenen Nationalstaat „angekommen“,
fühlten sich dort wohl und verankert
und brauchten deshalb kein ÜberEuropa mehr. Die Nationalstaaten seien die Grundlage für alles Weitere, einen europäischen Kontinentalstaat
werde es nicht geben. Doch wozu dann
eine Verfassung?
Die Botschaft wurde gehört, allein der
Glaube fehlte. Was Fischer bestätigte,
um eine verfehlte Politik zu retten, legte eine Entwicklung bloß, die das Ende
der Verfassungsbemühungen brachte.
Selbstverständlich gibt es „Wenn und
Aber“. Wenn der britische Premierminister Blair aus innenpolitischer Bedrängnis nicht eine Volksabstimmung
über den Vertrag verkündet hätte (die
nie stattgefunden hat), wäre auch der
französische Präsident Chirac nicht auf
den Gedanken gekommen. Andere
Sünden der Vergangenheit wirkten
mit. Die Aktion der 14 gegen Österreich
zeigte aller Welt, dass feierlich eingegangene rechtliche Verpflichtungen
von Fall zu Fall eher wenig bedeuten.
45
Wenn eine politische Elite – in diesem
Fall eine sozialdemokratische, ergänzt
durch Präsident Chirac – plötzlich der
Hafer sticht, beruft sie sich auf „Werte“,
beschließt ein Umgehungsmanöver
und die EU handelt plötzlich als ein
Verein freier Mitgliedstaaten. Ähnlich
beim Euro-Stabilitätspakt, der politischer Opportunität geopfert wurde.
Diese politische Verhaltensweise ist
nicht europäisch, sondern nur europaweit verbreitet, in ihrer Essenz aber eindeutig nationalistisch.
8. Gegen Veränderungen
Beim manchmal quijotisch anmutendem Widerstand gegen den internationalen wirtschaftlichen Wettbewerb
vereinen sich konservative Befürchtungen über einen Verlust an staatlicher
Souveränität und kultureller Autonomie mit sozialdemokratischen Ängsten
über ein Zerrinnen staatlicher Regulierungsmittel und -gewalt in der nationalen Wirtschaft. Im kontinentalen
Europa hat die Diskussion darüber eine
klassenkämpferische Note. Es ist die
alte Linke, die sich auf den Primat der
Politik beruft und die unerwünschten
Liberalisierungsimpulse der grenzüberschreitenden Wirtschaftskonkurrenz
abbremsen, wenn nicht negieren möchte und nach staatlichen Gegenmaßnahmen ruft. Sie argumentiert dabei
nationalistisch und war damit zumindest in Deutschland erstaunlich erfolgreich.
In Frankreich ist der politische Primat
durch die starke Zentralisierung der
Macht besser abgesichert. Im Deutschland der Großen Koalition mit seinem
nur schwach artikulierten Liberalismus
und in den nordeuropäischen Wohl-
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fahrtsstaaten mit ihren starken Regulierungstraditionen hat die nationale
Politik stärkeres und retardierendes Gewicht. In Russland wie auch in Osteuropa stellt sich das Problem in ganz anderer, eher frühkapitalistischer Form.
Im Rest der Welt, in Asien, Afrika und
Südamerika, wäre es wohl vermessen,
vom Primat der Wirtschaft zu sprechen. Asien ist nicht der Ort, wo supranationale Gedanken sprießen.
Bestätigt hat sich auf dem ganzen Feld,
dass es kein einziges und einzigartiges
Modell einer politischen und wirtschaftlichen Ordnung gibt, weder ein
globales, asiatisches oder westliches,
noch ein europäisches, sondern dass
Amerika, Japan, Deutschland und
Frankreich, aber auch Großbritannien,
um nur sie zu nennen, alle ziemlich
unterschiedliche Sitten und Gebräuche
pflegen und eine sehr eigene nationale
Auffassung etwa über die Rolle des
Marktes hegen. Aber auch das zur Abgrenzung von Amerika propagierte europäische Sozialmodell existiert nur in
den Köpfen von Intellektuellen. Die
Realität ist viel bunter – was sich ja allein an den so unterschiedlichen Größenordnungen von Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit in Europa ablesen lässt. Nationale Tugenden und
Laster bestimmen jedenfalls auch in
unserer „neuen“ Zeit sehr weitgehend,
wie sich Völker und Individuen verhalten.
9. Patriotismus und seine Spielformen
Einem Briten oder Franzosen käme es
kaum in den Sinn, dem Begriff „Patriotismus“ das Adjektiv „aufgeklärt“ hinzuzufügen. Dass mit seinem National-
Hansrudolf Kamer
gefühl, selbst in patriotischer Überhöhung, etwas nicht in Ordnung sein
könnte und eines qualifizierenden Beiwortes bedarf, ist ihm fremd. Deutsche
Geschichte natürlich, die Erfahrung,
dass der schließlich verwirklichte Traum
vom Nationalstaat in Niederlagen, Zusammenbrüchen und Verbrechen endete, ist für die deutsche Empfindung in
diesem Zusammenhang verantwortlich.
Dennoch ist es wohl keine Frage, dass
die Deutschen eine nationale Identität
gefunden und sich, wie der damalige
Außenminister Fischer erklärte, darin
gut eingerichtet haben. Während vor
wenigen Jahren der frühere Bundeskanzler Kohl von der Notwendigkeit
sprach, sein wiedervereinigtes Land
müsse in die westlichen Strukturen fest
„eingebettet“ werden und deshalb die
Einigung Europas vorantrieb, wo er
konnte, so ist dieser spezifisch deutsche
Enthusiasmus wohl erlahmt. Kohls
Motiv damals war eine Beschwichtigung Frankreichs und Großbritanniens, die vor der Vereinigung Deutschlands einigen Argwohn geäußert hatten. Nun aber ist diese Einbettung
organisatorisch erfolgt und die Außenpolitik der Nachfolgeregierung, der rotgrünen Koalition, zeigte zumindest
rhetorisch eine gegenüber Amerika
emanzipatorische Qualität und versuchte im europäischen Rahmen, vermehrt deutsche Interessen durchzusetzen. Einbettung war ganz klar nicht
gleichzusetzen mit „westlichem Patriotismus“. Ein „aufgeklärter Patriotismus“ dagegen ist in Deutschland wohl
bereits Realität. Aufgeklärt heißt in diesem Fall wohl, dass von einem aufopfernden Patriotismus in Deutschland
keine Rede sein kann, sondern dass eine
gewisse Restskepsis gegenüber dem
„Vaterland“ vorhanden geblieben ist.
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Anderswo, in den „neuen“ Mitgliedsländern der EU, herrscht eine andere
Stimmungslage. Ohne die einigende
und mobilisierende Kraft des Nationalismus in den osteuropäischen Ländern
wäre die Befreiung vom Kommunismus kaum möglich gewesen.12 Nationale Selbstbestimmung und der
Wechsel von der leninistischen Klassenkampfideologie (die ja internationalistisch war) zu einem nationalen
Grundkonsens waren die Voraussetzungen dafür, dass die Transformation
politisch möglich wurde. Auch heute
kann die Idee der Nation im Kampf gegen fremde Herrschaft oder einen Angriff ein gemeinsames Ziel vorgeben,
das zum Handeln motiviert und anderes in den Hintergrund drängt. Eine
Nation ist, wie der Klassiker Ernest
Renan schrieb, eine tägliche Volksabstimmung, eine demokratische Willensgemeinschaft. Doch nicht nur, sie
ist mehr als das, nämlich auch die
„Kulmination einer langen Vergangenheit von Anstrengung, Opfer und Hingabe“13.
Im Gegensatz zu einem „aufgeklärten“
steht der „ökonomische Patriotismus“,
der von Washington bis Paris und anderswo zunehmend praktiziert wird. Er
findet seinen Ausdruck in den Versuchen der polnischen und italienischen
Regierung, Übernahmeofferten ausländischer Banken zu bekämpfen. Die
französische Regierung will im Energiesektor die Italiener fern halten und
die spanische Regierung die Deutschen.
Die starke Verwässerung der so genannten Dienstleistungsdirektive, die
die Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt
hätte weiterbringen sollen, entspringt
den gleichen Motiven. Die Folgen
könnten für die Euro-Zone unangenehm werden, denn der Erfolg des Euro
47
hängt von der Mobilität der Arbeitskraft, der Produkte, Dienstleistungen
und des Kapitals ab.
Der ökonomische Patriotismus, diese
Spielform der Politik, ist aber weder
wirtschaftlich, noch patriotisch. Protektionismus – und um das geht es – ist
reine Politik, spielt mit nationalen
Symbolen und schadet der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Politik, die
wirtschaftlich Nachteile bringt, ohne
dafür kompensatorisch Vorteile aufzuweisen (bei der nationalen Sicherheit
zum Beispiel), ist nicht patriotisch.
Dass der italienische Wirtschaftsminister bereits erklärte, der neue Aufbau
protektionistischer Barrieren erinnere
an den August 191414, ist dann allerdings etwas weit hergeholt. Dennoch
entfaltet der Nationalismus zur Zeit eine ungebrochene Kraft, zum Teil als
Widerstand gegen die Globalisierung,
und er ist politisch oft stärker als der
Appell an das wirtschaftliche Selbstinteresse. Das betrifft nicht nur die europäischen Staaten. Der wachsende Handel und die engeren wirtschaftlichen
Beziehungen zwischen China und Japan hat diese historisch verfeindeten
Nationen nicht zu Freunden werden
lassen. Und die wirtschaftliche Misere
im Iran und der Widerstand gegen die
Herrschaft der Theokratie hindert die
meisten Iraner nicht daran, für ihr
Land patriotische Gefühle zu hegen –
so, dass sie sogar das Atomprogramm
des Regimes unterstützen.
Das 20. Jahrhundert mit seinen Ideologien und ideologischen Konflikten
scheint zwar sein Ende gefunden zu haben und das neue Jahrhundert könnte
eine Epoche einläuten, in der sich die
Erdenbewohner wieder mehr über Religion und Kultur definieren. Was Ame-
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rika betrifft, so ist diese Entwicklung
seit längerem absehbar. Weder sind die
Vereinigten Staaten ein multikultureller Sumpf geworden, der sämtliche Einflüsse von außen aufsaugt und absorbiert, die kosmopolitische Variante,
noch sind sie zu einem Imperium mutiert, das die ganze Welt nach seinem
Muster umformen will. Die Rückkehr
zum Nationalismus dagegen, die Besinnung auf die Elemente, die die nationale Identität Amerikas ausmachen,
bestimmt den Gang der Dinge im begonnenen Jahrhundert immer mehr.
Religion ist ein weiteres Stück im Puzzle. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist die Säkularisierung weltweit
gebremst und zum Teil umgekehrt worden. Religionen sind wieder auf dem
Vormarsch und machen ihren Einfluss
auf die Politik geltend. Religion war
meistens Teil einer nationalen Identität, und Amerika mit seiner christlichpolitischen Ausrichtung, die sich verstärken könnte, wird sich hier in den
nächsten Jahren von Europa eher mehr
unterscheiden als in der jüngsten Vergangenheit. Die Abschwächung der Säkularisierung bedeutet vermutlich, dass
abstrakte, intellektuelle Utopien an Anziehungskraft verlieren.
10. Abschied von Utopien
Dass in den Neunzigerjahren unter der
Präsidentschaft Clintons die Globali-
sierung mit Amerikanisierung gleichgesetzt wurde, war in dieser Phase
wohl zutreffend. Doch die letzten Jahre zeigten, dass diese doch eher oberflächliche Amerikanisierung an Grenzen stößt und Gegenreaktionen auslöst, während die wirtschaftliche und
technische Globalisierung weitergeht.
Gleichzeitig ist die Verankerung in einem nationalen Bewusstsein weltweit
stärker geworden. Was die Folgen davon sind, lässt sich noch kaum abschätzen. Ein Opfer könnte die Europäische Union sein in dem Sinne, dass
die ehrgeizigsten Ziele bei den Bemühungen um eine Vertiefung der
politischen Union aufgegeben werden
müssen. Auseinander fallen wird sie
dennoch nicht; sie wird mit der Kraft
des Nationalismus leben lernen. Sie
wird mit dem Nationalstaat regieren müssen oder gar nicht. Im antiamerikanischen Europa-Manifest von
Derrida und Habermas war noch
behauptet worden, Europa verkörpere
ein „Regieren jenseits des Nationalstaats“15.
Eine Rückkehr zu mehr Pragmatismus
in der europäischen Politik, eine Absage an das utopische Denken, lassen einem aufgeklärten Patriotismus durchaus Raum. Dieser könnte sich dereinst
wieder auf eine positivere nationale
Identität stützen und wäre in dieser
Sicht nur ein Schritt auf dem Weg zu einem normalen Patriotismus. Das Pendel schwingt zurück.
Anmerkungen
1
2
Fußball ist Bundessache geworden, selbst
in der Schweiz, die zusammen mit Österreich die Europameisterschaften 2008
organisieren und durchführen soll.
Huntington, Samuel P.: Who are we?
America’s Great Debate, London 2004.
3
Wenn die chinesische Führung in Schwierigkeiten gerät, appelliert sie an das Nationalgefühl ihrer Untertanen. Zuletzt gut
sichtbar nach dem Zwischenfall mit dem
amerikanischen Überwachungsflugzeug,
das nach einem Zusammenstoß mit einem
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Nationale Triebkräfte in der globalisierten Welt
4
5
6
7
8
9
10
chinesischen Abfangjäger am 1.4.2004
auf der Insel Hainan notlanden musste.
Flacke, Monika (Hrsg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, München/Berlin 1998.
Fukuyama, Francis: The End of History,
New York 1992.
Coolidge, Calvin, 30. Präsident der USA
(1923–1929), zit. nach NZZ, 3.1.1998.
Roosevelt, Franklin Delano: State of the
Union Address. Jan. 3, 1936. Roosevelt
behauptete, seine Administration habe in
nur 34 Monaten ein neues Verhältnis zwischen Regierung und Volk geschaffen.
Der New Deal diente nicht nur dazu, die
Depression zu bewältigen, sondern etablierte die Bundesregierung in Washington
als Quelle staatlicher Wohltaten, die ein
breites Spektrum von Wählerkreisen bedienen konnten.
Bergström, Fredrik/Gidehag, Robert: EU
versus USA, Stockholm 2004.
Flacke, M., Mythen der Nationen, S.19.
Ebda., S. 21.
11
12
13
14
15
49
Besuch des deutschen Außenministers
Fischer in Paris, vgl. NZZ, 17.6.2000.
Schulze, Hagen: Staat und Nation in
der europäischen Geschichte, München
2004, S. 335–336.
Renan, Ernest: Qu’est-ce qu’une nation
et autres essais politiques, Lisieux 1997.
Auf das Thema Deutschland war er 1882
noch einmal in seinem berühmten Vortrag an der Sorbonne „Qu’est-ce qu’une
nation?“ eingegangen. Ausgelöst durch
die Frage nach der Berechtigung der Annexion von Elsaß-Lothringen stellte er
dem deutschen Nationsbegriff mit seiner
Berufung auf Sprache und Abstammung
mit der Metapher „l’existence de la nation est un plébiscite de tous les jours“
seine eigene Definition der Nation als demokratische Willensgemeinschaft gegenüber.
Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Derrida, Jacques/Habermas, Jürgen: Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die
Wiedergeburt Europas, FAZ, 31.5.2003.
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Was ist deutsche Identität?
Hagen Schulze
Wer am 22. März 1972 die Auseinandersetzungen des Deutschen Bundestags über die mit Polen und der Sowjetunion abgeschlossenen „Ostverträge“ der Regierung Brandt als Zuhörer
verfolgte, der musste den Eindruck bekommen, in ein geschichtsphilosophisches Hauptseminar geraten zu sein.
Im Mittelpunkt der Diskussion standen
nicht der Austausch von Botschaftern
oder die Normalisierung der westdeutschen Beziehungen zu Osteuropa, sondern die Zukunft und die Vergangenheit Deutschlands in Europa: Ging es,
wie die christlich-demokratische Opposition forderte, um den Vorrang der
deutschen Wiedervereinigung „in den
Grenzen von 1937“, was freilich durch
die Verträge ein Stück unwahrscheinlicher wurde, oder ging es, wie die sozialliberale Regierungskoalition wollte, in erster Linie um den Frieden und
die Entspannung in ganz Europa, auch
auf Kosten der deutschen Wiedervereinigungs-Hoffnung? Mit anderen Worten: Wollte man noch die Einheit der
Nation, oder war dieses Thema überholt?
Man redete von mehreren möglichen
deutschen Zukünften und deshalb
auch von mehreren deutschen Vergangenheiten. Vier ganz unterschiedliche
Vorstellungen von der deutschen Geschichte beherrschten die Debatte. Der
Oppositionssprecher Richard von Weizsäcker meinte, alle deutsche Politik
müsse darauf gerichtet sein, den deutschen Nationalstaat wieder so herzustellen, wie ihn Bismarck 1871 gegründet habe. „Ich meine,“ so Weizsäcker,
anknüpfend an Renans berühmtes Diktum, „Nation ist ein Inbegriff von gemeinsamer Vergangenheit und Zukunft, von Sprache und Kultur, von Bewusstsein und Wille, von Staat und
Gebiet. Mit allen Fehlern, mit allen Irrtümern des Zeitgeistes und doch mit
dem gemeinsamen Willen und Bewusstsein hat diesen unseren Nationsbegriff das Jahr 1871 geprägt. Von daher – und nur von daher – wissen wir
Heutigen, dass wir uns als Deutsche
fühlen. Das ist bisher durch nichts anderes ersetzt.“1
Der Widerspruch war vehement und
kam aus allen Lagern. Ein Sprecher der
SPD verwies auf den Unterschied zwischen Staat und Nation und erklärte,
im Bismarck-Staat sei der größte Teil
der deutschen Nation unterdrückt worden; wer sich auf deutsche Geschichte
berufen wolle, um die Zukunft zu gestalten, müsse an die freiheitlichen Traditionen der Bauernkriege, der Aufklä-
Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006
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Was ist deutsche Identität?
rung, der Arbeiterbewegung und des
Widerstands gegen Hitler anknüpfen.2
Mehrere süddeutsche Redner sahen
sich in völlig anderen historischen Zusammenhängen: Deutschland sei eigentlich nichts anderes als ein Bündel
aus vielen Staaten, Regionen und Städten, Preußen, Bayern, Württemberg,
Sachsen-Coburg-Gotha, Hamburg und
vielen anderen, die sich erst sehr spät in
ihrer Geschichte und dann auch nur
für kurze Zeit zu einem Nationalstaat
zusammengeschlossen hätten.3
Der Sozialdemokrat Carlo Schmid
schließlich nannte den deutschen Nationalstaat eine historisch gegebene,
aber fast schon überwundene Form der
Gemeinschaft, eine Vorstufe auf dem
Weg zur Nation Europa.
Welch eine sonderbare Debatte und
keineswegs einmalig; Diskussionen
über die Frage, was die deutsche Geschichte sei, finden sich immer wieder
in deutschen Parlamentsprotokollen.
In der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 ging es bei der Beratung
der deutschen Reichsverfassung um die
Grenzen des künftigen Nationalstaats
und also um Fragen wie die, wie
Welsch-Tirol oder Böhmen in einen
solchen Staat passten, oder ob Polen
nationale Rechte besäße, und zeitweise
schienen die Zeitalter Barbarossas oder
Karls IV. gegenwärtiger als das 19. Jahrhundert.4
Und als die Weimarer Nationalversammlung 1919 über Annahme oder
Ablehnung des Versailler Vertrags zu
entscheiden hatte, schieden sich die
Geister zwischen den unbedingten Anhängern des Nationalstaats von 1871
und einer altpreußisch gesonnenen
51
Minderheit: Die einen waren für die
Unterzeichnung des Versailler Vertrags,
weil dann immerhin die Einheit des
Deutschen Reichs bewahrt würde, die
anderen plädierten für die Ablehnung
der alliierten Friedensbedingungen
und für den Rückzug hinter die Elbe;
die Besetzung Westdeutschlands und
die Zerschlagung des Reichs durch die
Westmächte wollte man in Kauf nehmen. Wie jung doch der Bismarcksche
Nationalstaat damals noch war: Die Bereitschaft, in der Stunde der nationalen
Niederlage den deutschen Westen den
Siegern zu überlassen und sich auf die
alte Festung Preußen zurückzuziehen,
reichte weit über das konservative Lager hinaus. Auch bei dieser Debatte
ging es um die Bewertung historischer
Vorbilder. War nicht der Freiheitskrieg
gegen Frankreich 1813 und damit die
Wiedergeburt der Nation von Tauroggen ausgegangen, dem äußersten östlichen Zipfel Preußens, und von dem
Bündnis zwischen Preußen und Russland gegen den „Erbfeind“ im Westen?
In einem langen und gelehrten Hin
und Her verteidigten und verurteilten
die Abgeordneten in der Weimarer
Nationalversammlung 1919 die Handlungsweise des preußischen Generals
Yorck, als habe dessen Gegner nicht Napoleon geheißen, sondern Marschall
Foch.5
Wo Weichen für die Zukunft der deutschen Politik gestellt werden, da begibt
man sich regelmäßig auf die Suche
nach der deutschen Identität, und regelmäßig endet diese Suche nach langen und akademisch gefärbten Debatten im Ungewissen. Dass wir überhaupt
über eine Geschichte der deutschen Nation reden, hat sich also durchaus nicht
immer von selbst verstanden. Friedrich
Schiller fragte 1796: „Deutschland?
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52
Aber wo liegt es? Ich weiß das Land
nicht zu finden (...).“6
Und Metternich hielt die Behauptung,
es gebe eine deutsche Nation, ganz einfach für einen „Mythos“ und einen
„schlechten Roman“.7 Dergleichen
Zweifel an der deutschen Identität wirken heute durchaus nicht veraltet, und
so auch nicht die Zweifel an ihrem Inhalt. Der jüngste Historikerstreit zwiespältigen Angedenkens bestätigt dies
ebenso wie die lange Auseinandersetzung in den 80er-Jahren darum, was in
dem damals erst geplanten „Deutschen
Historischen Museum“ in Berlin eigentlich ausgestellt werden sollte; auf
dem Deutschen Historikertag in Trier
1986 konnte daher ein Redner einigen
Beifall finden, der erklärte, was deutsche Geschichte sei, könne man doch
heute gar nicht mehr sagen; man solle
in Berlin lieber chinesische Geschichte
ausstellen, da wisse man doch wenigstens, wovon die Rede sei.
So weit ist es nicht gekommen, wovon
wir uns heute im Zeughaus überzeugen
können, aber die Orientierungsprobleme in der deutschen Geschichte sind
nicht von ungefähr. Anders als beispielsweise in England oder Frankreich,
wo sich bereits im Hochmittelalter
Keimzellen zentraler Herrschaftsgewalt
und damit Voraussetzungen moderner
nationaler Staatsorganisation entwickelt haben, sind in Mitteleuropa zwei
politische Strukturen zugleich entstanden, die oberhalb und unterhalb nationalstaatlicher Organisation standen.
Da war einerseits das Heilige Römische
Reich, dessen raison d’être auf universaler und transnationaler Herrschaft
beruhte, und da war andererseits die
kaum überschaubare Fülle der Territorialstaaten und Reichsstädte, deren Ei-
Hagen Schulze
genständigkeit und Selbstbewusstsein
in dem Maße zunahmen, in dem das
Reich im Laufe der frühen Neuzeit zu
einem machtlosen, fast metaphysischen Gebilde verkümmerte.
So kam es, dass Frankreich und England längst ihre historische Identität als
moderne Staatsnationen gefunden hatten, während in Mitteleuropa noch
entweder Reichsgeschichte geschrieben und wahrgenommen wurde – und
die umfasste Italiener, Böhmen und
Burgunder nicht weniger als Deutsche
– oder aber Territorialgeschichte, also
etwa die Geschichten Bayerns, Sachsens oder des Fürst-Bistums Salzburg.
Eine deutsche Nationalgeschichte wurde eigentlich erst seit Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt, als Michael Ignaz
Schmidt die „Geschichte der Deutschen“ schrieb. Das war gut tausend
Jahre, nachdem Beda Venerabilis in einem englischen Kloster seine „Historia
ecclesiastica gentis Anglorum“ geschrieben hatte, also die Kirchengeschichte des englischen Volkes, und
gut sechshundert Jahre nach Guibert
von Nogents „Gesta Dei per Francos“ –
also die Geschichte der Taten, die Gott
mit Hilfe des französischen Volkes vollbrachte. Dass die Franzosen oder die
Engländer Gegenstände von Geschichtsschreibung sein konnten, war
seit dem Mittelalter durchaus geläufig –
die Umrisse einer deutschen Nation
jedoch blieben noch Hunderte von
Jahren undeutlich.
Mit dem späten Erwachen einer deutschen Nationalbewegung aus den Umwälzungen der napoleonischen Epoche
wuchs aber auch in der Mitte Europas
das Bedürfnis nach Legitimation durch
Nationalgeschichte. Da eine nationalstaatliche Kontinuität der Deutschen
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schlechterdings nicht bestand, musste
eine solche geschaffen werden. Da wurde beispielsweise Preußen zum jahrhundertealten Sachwalter deutscher
Nationalgeschichte ernannt oder ein
großer Bogen aus mythisch verklärten
Vorgeschichten bis in die Gegenwart
geschlagen, beginnend mit dem staufischen Mittelalter, mit dem Germanien
des Tacitus oder mit der edlen Einfalt
des klassischen Griechenland, wie Winckelmann oder Wilhelm von Humboldt es erträumten und umstandslos
in die deutsche Gegenwart um 1800
transponierten. So entstanden viele
deutsche Nationalgeschichten, zumindest so viele, wie es politische Zukunftserwartungen gab. Der norddeutsche Bildungsbürger fand sich in
durchaus anderen historischen Kontinuitäten als der katholische Handwerker, die Geschichtsbilder des ostpreußischen Junkers hatten mit denen eines
sozialdemokratischen Fabrikarbeiters
kaum etwas gemeinsam, und zudem
änderten sich die historischen Zusammenhänge und Schwerpunkte mit dem
geografischen Standpunkt. Von Berlin
aus ließ sich eine durchaus andere
deutsche Geschichte schreiben als aus
den Perspektiven Münchens, Frankfurts, Stuttgarts oder Wiens. Historische Daten, erinnerungswerte Ereignisse und Namen, Feste und Gedenktage
– das alles war und blieb über Jahrhunderte verschieden.
Die späte Geburt der deutschen Nation
als bewusste politische Einheit hat verhindert, dass die vielen deutschen Geschichten in eine Geschichte zusammenwuchsen. Und zum Unheil
Deutschlands war es Adolf Hitler, der
als erster und letzter deutscher Staatsmann versuchte, die vielen deutschen
Traditionen und Geschichtsbilder in
53
der politischen Wirklichkeit zusammenzuzwingen: Arminius und Barbarossa, Karl den Großen und Widukind,
Friedrich den Großen und Prinz Eugen,
Windischgraetz und Bismarck, alle die
disparaten, auseinander strebenden,
widerspruchsvollen Mythen des deutschen Nationalbewusstseins. Nur ein
einziges Mal in der deutschen Geschichte wurden Träume und Wirklichkeit aller Deutscher zusammengebracht: im Albtraum des „Großdeutschen Reichs“.
Und da das Großdeutsche Reich und
der Ruin der deutschen Geschichte
zusammengehörten, beschlossen die
Deutschen nach 1945 ihren Austritt
aus der Geschichte. In der sowjetischen
Besatzungszone wurde die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte einstweilen mit der Spitzhacke
geführt. Gutshäuser der vormals landbeherrschenden Adelselite wurden aus
der Landschaft radiert, als habe es sie
niemals gegeben, das Berliner Schloss,
der Turm der Potsdamer Garnisonskirche als Denkmäler des „Preußischen
Militarismus“ geschleift, Rauchs Statue
Friedrichs des Großen von ihrem Platz
auf dem Berliner Lindenforum entfernt, Dörfer und Städte umbenannt.
Der neue deutsche sozialistische Staat
sollte aus dem Nichts entstehen, die
Unschuld der Deutschen Demokratischen Republik an der deutschen Geschichte bedurfte der Tabula rasa.
Und der westliche Teil Deutschlands
war nicht weniger vergangenheitsmüde. Die „deutsche Katastrophe“, die
Friedrich Meinecke in seinem Essay
von 1946 beklagte, bestand nicht allein im politischen und militärischen
Geschehen der Zeit, sondern in erster
Linie im Auseinanderfallen von Natio-
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nalgeschichte und Sittlichkeit, von
Macht und Geist. Der Traum des deutschen 19. Jahrhunderts von einer deutschen Nationalgeschichte hatte große
Verheißungen für die Zukunft der deutschen Nation enthalten; die deutsche
Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts war
durch Niederlagen, Zusammenbrüche
und Verbrechen verdunkelt. Der
Schweizer Historiker Jakob Burckhardt
hatte einst den „siegesdeutschen Anstrich“ der deutschen Historie ironisiert; mit der Auflösung dieses Anstrichs fiel die deutsche Geschichte auseinander. Wenn Alfred Heuss 1959
vom „Verlust der Geschichte“ sprach,
dann meinte er nicht nur das Desinteresse der Deutschen an ihren historischen Wurzeln, sondern er beklagte
auch, dass ein Zusammenhang deutscher Geschichte, der vom Mittelalter
in die unmittelbare Gegenwart führte,
nicht mehr erkennbar sei.8 Die Zukunft
der Nation war zerbrochen, Nationalgeschichte daher sinnlos.
Eine Zeit lang waren das hauptsächlich
Probleme einer kleinen Expertenzunft;
für die Bewohner Westdeutschlands
schien es ein komfortabler Zustand, die
Geschichte zu verdrängen, die Gegenwart mit ihren hohen industriellen
Wachstumsraten und dem zunehmenden Massenwohlstand zu genießen
und etwas erstaunt die übrige Welt zu
betrachten, in der das Prinzip der nationalen Identität ungebrochen herrschte und seine politische Wirksamkeit
Tag für Tag unter Beweis stellte.
Aber dieser Zustand bekömmlichen inneren Wohlstandes und seliger außenpolitischer Verantwortungslosigkeit
änderte sich seit den 80er-Jahren. Die
problemlose Einbettung der Bundesrepublik Deutschland in ein stabiles
Hagen Schulze
Bündnissystem ging ebenso zu Ende
wie der lange Wirtschaftsboom der
Nachkriegszeit. In solchen Zeiten
wächst das Bedürfnis nach kollektiver
Identität. Es hatte deswegen nichts mit
„Nostalgiewelle“ oder reaktionärem Bewusstsein zu tun, wenn auf massive öffentliche Proteste hin der Geschichtsunterricht in die Schulen zurückkehrte,
wenn historische Ausstellungen und
Museen die Menschen in Massen anzogen, wenn die geschichtliche Sachbuchliteratur einen Aufschwung wie
einst im 19. Jahrhundert nahm. Und
Ähnliches fand auch in dem zweiten
deutschen Staat statt. Auch die DDR
hatte sich von ihrer ursprünglichen
historischen Abstinenz gelöst, was vor
allem daran deutlich wurde, dass die
Geschichte Preußens als historisches
Erbe der DDR entdeckt wurde. Eine –
übrigens in vieler Hinsicht vorzügliche
– Biografie Friedrichs II. aus der Feder
von Ingrid Mittenzweig war in kürzester Zeit vergriffen, Clausewitz- und
Schinkel-Gedenktage wurden als staatliche Feiern begangen, und auch der
Alte Fritz ritt wieder Unter den Linden
gen Osten, polnischen Berlin-Besuchern zum Ärgernis. Im Wettlauf um
die deutsche nationale Identität durch
Besetzung der Historie deutete sich eine Art von Konvergenzentwicklung
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR an, und manch einer
sah bereits in Ostdeutschland eine Art
rotes Piemont heranreifen, das sich zunächst der Erbschaft der deutschen Geschichte bemächtigte, bevor es dann,
solchermaßen historisch legitimiert,
die deutsche Einheit unter den Auspizien von Hammer und Sichel vorantrieb. Aber dennoch blieben bis zur Vereinigung 1989 tief greifende Unterschiede bestehen. Westdeutsche wie
ostdeutsche Schüler mussten im Laufe
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ihrer Schulzeit jeweils etwa 250 historische Daten zur Kenntnis nehmen;
mehr als die Hälfte dieser Daten war jedoch in Ost und West verschieden.
Von einer in sich zusammenhängenden, langdauernden Kontinuität des
nationalen Gemeinschaftsbewusstseins
der Deutschen kann also keine Rede
sein. Dennoch sind wir zweifellos ein
Volk, das sich historisch wieder erkennt – allerdings nicht in einer Geschichte, sondern in mehreren. Da ist
einmal, als die wahrscheinlich tiefste
Schicht, die Selbstwahrnehmung der
Deutschen als Kulturnation. Das gemeinsame Erbe der Erinnerung ist in
Deutschland vor allem mit Dichtern
und Denkern, Künstlern und Wissenschaftlern verbunden. Hier findet sich
am ehesten ein Kanon von Namen und
Werken, die den Wechsel von Ideologien und Regimes überdauert haben,
von Bach bis Wagner, von Dr. Faustus
bis Einstein, von Goethe bis Karl May.
Wie sehr es sich bei solchen Namen um
Ikonen des nationalen Gedächtnisses
handelt, zeigt sich bereits darin, dass es
kein Regime in Deutschland vermocht,
ja nur versucht hat, diesen Kanon aufzubrechen oder neu zu besetzen; Nationalsozialisten wie Kommunisten habe sich lediglich bemüht, ihn jeweils
neu zu interpretieren. Nicht zufällig
war die Goethe-Gesellschaft die letzte
gesamtdeutsche Vereinigung vor 1989.
Gewiss verblasst dieses historische
Band allmählich, wobei nicht so sehr
die Kulturrevolution der Achtundsechziger als vielmehr die immer stärkere
Einbindung Deutschlands in eine
transatlantische Trivialkultur eine Rolle spielt; doch zeigt die kollektive Empörung gegen die Anmaßung von Ministerialbürokraten, das Volk mit neuen Rechtschreibregeln zu beglücken,
55
wie tief das Gemeinschaftsgefühl der
Kultur- und Sprachnation noch verwurzelt ist.
Wollen wir dagegen an staatlich-politischen Erinnerungen anknüpfen, bleibt
uns in erster Linie die Erinnerung an
das von Bismarck gegründete Deutsche
Reich von 1871 bis 1945, das ja nicht
nur Obrigkeitsstaat, sondern auch Nationalstaat war, und zwar der einzige
Nationalstaat, den wir Deutschen vor
1990 gehabt haben. Es ist kein Zufall,
dass die allmählich konvergierenden
Geschichtsbilder in der DDR und der
Bundesrepublik von beiden Seiten her
auf Bismarck zuliefen – auf die in vielem bemerkenswerte Bismarck-Biografie des Marxisten Ernst Engelberg folgte die große Bismarck-Ausstellung in
West-Berlin. Es war dieser deutsche Nationalstaat, an den die Bundesrepublik
Deutschland ihre ‚raison d’être‘ knüpfte, wenn sie die Weiterexistenz Deutschlands „in den Grenzen von 1937“ postulierte, also jenes Staatsgebiets, das
nach dem Versailler Vertrag und den
darauf folgenden Volksabstimmungen
zu Deutschland gehörte. Und jenseits
der Mauer proklamierte man zwar seit
1974 eine „sozialistische Nation“ in einem „sozialistischen deutschen Staat“,
aber stets mit dem Vorbehalt einer Wiedervereinigung, falls irgendwann in
Westdeutschland sozialistische Zustände einkehrten.
So definiert sich auch der zweite deutsche Nationalstaat, der mit dem 3. Oktober 1990 ins Leben getreten ist, unter
Rückgriff auf den ersten deutschen Nationalstaat, wenn auch selten ausdrücklich. Das geschieht vielmehr in
aller Regel völlig unbewusst; wie es sich
ohne weiteres ergibt, wenn man die
großdeutsche Alternative zum klein-
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deutschen Bismarck-Reich ins Auge
fasst – sie ist aus den deutschen Geschichtsbildern völlig verschwunden,
Österreich ist trotz aller historischen
und kulturellen Gemeinsamkeiten aus
der geschichtlichen Perspektive der
Deutschen ausgewandert. Dass dennoch das Deutsche Reich zwischen
1871 und 1945 bei unserer heutigen
historischen Identitätsbestimmung nur
noch selten ausdrücklich als Referenz
gilt, erklärt sich ohne weiteres aus seiner Erfolglosigkeit – das Kaiserreich endete in einer Kriegsniederlage und Revolution, die so anständige und erinnerungswerte Weimarer Republik
scheiterte nicht zuletzt, weil sie in den
Herzen ihrer Bürger keinen Platz fand
und bis heute in erster Linie als Inbegriff von Unordnung und Bürgerkrieg
im kollektiven Gedächtnis geblieben
ist, als negative Hintergrundfolie zur
Bonner und Berliner Republik. Mit
dem so genannten Dritten Reich fuhr
schließlich der erste deutsche Nationalstaat mit dem Kriegsende zur Hölle.
Vor allem ist da der Geschichtsfelsen
Nationalsozialismus, der eine positive
Identifizierung mit der jüngeren deutschen Geschichte nicht erlaubt und in
den Augen vieler Betrachter seine
Schatten auch über frühere Epochen
der deutschen Geschichte wirft.
Und dennoch, so paradox es klingt: Gerade die Katastrophe des Nationalsozialismus gehört zu den Erinnerungen,
die die Deutschen zusammenhalten,
und zwar in hohem Maße. Hier sitzt
uns unsere Geschichte wirkungsmächtig im Nacken und fordert unsere Anteilnahme, vom problematischen Historikerstreit über die Wirkung von Büchern wie im Fall Goldhagen oder Götz
Aly bis hin zur Umbenennung von
Straßen oder zur Planung von Mahn-
Hagen Schulze
malen. Zur geschichtlichen Identitätsfindung der Deutschen gehört eben
nicht nur Zustimmungsfähiges, und
die Stimmen, die fordern, Schluss mit
der Erinnerung an diesen Teil unserer
Vergangenheit zu machen, unterschätzen die traumatische Kraft der Erinnerung an die Verbrechen, die von Deutschen und im Namen der Deutschen
geschehen sind. Der Versuch, hier auszusteigen, ist mit Sicherheit zum Scheitern verurteilt, wie jeder weiß, der sich
längere Zeit im Ausland aufgehalten
hat; denn was uns Kontinuität verschafft, ist ja nicht nur unsere eigene
Geschichte, sondern auch der Blick unserer Nachbarn auf unsere Vergangenheit. Auch gemeinsame Verantwortung
vereint.
Im Übrigen darf man nicht annehmen,
nationale Kontinuität werde in erster
Linie vom Bewusstsein und der Kenntnis historischer Zusammenhänge genährt. Wer danach in der Bevölkerung
sucht, der wird enttäuscht werden –
mit der Wirksamkeit der Historiker und
ihrer Produkte in der Öffentlichkeit ist
es nicht weit her. Der Blick auf die gemeinsame Vergangenheit wird vielmehr in aller Regel von Trümmern und
Bruchstücken einstiger, oft längst untergegangener kollektiver Erfahrungen
bestimmt. Da sind Denkmäler und
Mahnmäler, die das gemeinsame Bewusstsein auf bedeutende Ereignisse
oder Personen lenken sollen, aber auch
andere Monumente oder Gebäude, die
unabsichtlich in diese Aufgabe hinein
gewachsen sind, wie beispielsweise der
Berliner Reichstag, die Frankfurter
Paulskirche oder die Wartburg. Da gibt
es Gedenkfeiern und historische Daten
– 3. Oktober, 17. Juni, 20. Juli –, historische Gestalten wie Luther, Bismarck,
Napoleon oder Rosa Luxemburg, Albert
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Was ist deutsche Identität?
Einstein oder Faust, symbolische Erscheinungen wie „made in Germany“
und die D-Mark nostalgischen Gedenkens, der Volkswagen-Käfer und die
Bundesliga, Grimms Märchen und die
65 Bände Karl May, die Völkerschlacht,
Weihnachten, der deutsche Wald, Willy Brandts Kniefall in Warschau oder
der Bamberger Reiter. In welchem Maße das Fernsehen daran beteiligt ist,
dergleichen Bilder hervorzubringen
und sie im kollektiven Bewusstsein zu
befestigen, wissen wir noch nicht. Die
Zahl solcher Identifikationsknoten,
auch „Erinnerungsorte“ genannt, ist
außerordentlich groß: alles Kristallisationskerne des kollektiven Gedächtnisses, von ganz unterschiedlichem Gewicht, sehr unterschiedlich bewertet,
vieles furchtbar trivial, anderes kaum
noch erinnert, dem Zugriff der Sinnstifter und Manipulateure preisgegeben
und dennoch ein Netz von materiellen
und immateriellen Erinnerungsorten,
das das nationale Bewusstsein in einem
ungenau bestimmbaren, aber sehr pro-
57
funden Sinne zusammenhält. Wir haben erst damit angefangen, in Deutschland eine solche Topografie des gemeinsamen kulturellen Bewusstseins zu entwickeln, wie dies in Frankreich von
Pierre Nora mit seinen „Lieux de mémoire“, wenn auch auf anderen Voraussetzungen beruhend, bereits geschehen
ist. Wahrscheinlich werden wir damit
der Antwort auf die Frage näher kommen, worin die Kontinuität des deutschen Volkes tatsächlich besteht.
Die gemeinsamen Erinnerungen, die
unser Volk zusammenhalten, sind also
durchaus widersprüchlich; wir haben
nicht nur eine Geschichte, sondern wir
haben mehrere Geschichten, die nebeneinander herlaufen, sich in den
Köpfen der Menschen überlagern und
bei verschiedenen Anlässen unterschiedlich hervortreten. So sind wir
Deutschen im Vergleich mit unseren
Nachbarn, wenn das Bewusstsein der
nationalen Identität in Frage steht, ärmer und reicher zugleich.
Anmerkungen
1
2
3
4
5
Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 6. Wahlperiode. Stenografische Berichte Bd. 79, S. 9837 C.
Eppler, Erhard, in: Ebd., S.9842 B-9843 A.
Franz-Joseph Strauß (CSU), darin ausdrücklich unterstützt durch Horst Ehmke (SPD), in: Ebd., S. 9867 C-9870 C.
Vgl. Schulze, Hagen: Der Weg zum Nationalstaat, München 1985, S. 91f.
Vgl. Schulze, Hagen: Der Oststaat-Plan
6
7
8
1919, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 18 (1970), S. 123–163.
Schmid, Erich/Suphan, Bernhard (Hrsg.):
Goethe und Schiller: Xenien 1796, Weimar 1893, S. 14.
Fürst Metternich, R./Klinckowstroem, A.
(Hrsg.): Aus Metternichs nachgelassenen
Papieren. Bd.1, Wien 1880, S. 254.
Vgl. Heuss, Anton: Verlust der Geschichte, Göttingen 1959.
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Ein Zwischenruf zum Thema
Leitkultur
Jürgen Henkel
Mit der jahrelangen Tabuisierung des
Begriffes einer „Leitkultur“ und der
Debatte darüber hat sich die deutsche
Linke ein neuerliches Mal einer für das
Selbstverständnis und die Identität der
Deutschen als Nation genauso selbstverständlichen wie legitimen Diskussion verweigert. Man fühlt sich an die
Entscheidungen über die Westintegration und die Wiedervereinigung
erinnert. Dabei gehört es zu den natürlichen und wesenhaften Lebensäußerungen eines Volkes, sich über die eigene Selbstwahrnehmung und die Koordinaten, in denen sich das politische,
gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Leben abspielt, Gedanken zu machen, religiöse Grundprägungen desselben fest zu halten und
das Wünschenswerte als Konsens zu
markieren. Sonst setzt sich die Gesellschaft als solche selbst beliebigem Pluralismus oder einem brutalen Sozialdarwinismus aus, bis nur noch der
Laute, Reiche oder Starke Chancen auf
Durchsetzung seiner Meinung hat.
Eine Debatte über die als allgemeinverbindlich erachteten Werte in einer Gesellschaft besitzt nicht in erster Linie
eine ausgrenzende, sondern eine identitätsstiftende Funktion. Sie stärkt den
loyalen und demokratischen Bürgern
den Rücken und weist Extremisten von
Links und Rechts in die Schranken.
Eine wertelose Gesellschaft ist zahnlos
im Kampf gegen ideologisch militante
und gewaltbereite Außenseiter mit fehlendem Rechtsbewusstsein. Und dies
nicht wegen eines horror vacui fehlender ethischer Vorgaben, sondern weil
eine Gesellschaft ohne Grundüberzeugungen ihren Mitgliedern keine positive Identität anbieten kann. Aus dem
bejahenden wie kritischen, grundsätzlich aber loyalen demokratischen Bürger einer freien Zivilgesellschaft wird
dann der leicht zu manipulierende Massenmensch, dessen Wertegefüge von
Werbung, Trends und Moden abhängt
und dessen Menschenbild nur noch
vom Marktwert oder dem vermeintlichen Bedrohungspotenzial der Mitmenschen bestimmt wird.
Die notorisch Betroffenen und die passionierten Gralshüter gesellschaftlicher
Beliebigkeit suggerierten lange Zeit in
breit angelegten Medienkampagnen
aus Ignoranz oder mutwillig, mit dem
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Ein Zwischenruf zum Thema Leitkultur
Begriff der „Leitkultur“ werde von den
Unionsparteien eine ausgrenzende Absicht verfolgt. Diese Argumentation
gehört in die Mottenkiste internationalistischer Ideologie bei Teilen des
politischen Spektrums. Deren Vertreter
verkennen, verabscheuen oder bekämpfen aus teilweise legitimer, aber einseitiger Befangenheit oder aus ideologischer Verbohrtheit bis heute jede Ontologie der Nation in politischer wie
praktischer Hinsicht. Sie tabuisieren
die entsprechende Debatte und überlassen gerade dadurch die Füllung und
Bestimmung des Begriffs der Nation
der extremen Rechten mit ihren aggressiven, simplifizierenden und menschenverachtenden Parolen.
Ob ehrliche Furcht vor rechtsextremen
Entwicklungen in der Gesellschaft die
Kritik am Begriff der „Leitkultur“ motiviert, oder nicht doch die recht willkommene Chance beim Schopf gepackt
wird, die Unionsparteien in vordergründigen wahltaktischen Manövern
in die Nähe des Rechtsextremismus zu
rücken, sei dahingestellt. Die Diskussion um die damaligen Österreich-Sanktionen der EU angesichts der ÖVP-FPÖKoalition mit Wolfgang Schüssel als
Bundeskanzler haben bei der deutschen Linken bereits ein ungeahntes
Maß an Heuchelei offenbart. Manche
Krokodilsträne der Betroffenheit von
Politikern, deren Partei schamlos auf
Länderebene mit der PDS, der Nachfolgerin der Schießbefehlpartei SED,
koaliert oder koaliert hat, scheint deshalb deplatziert und in ihrem moralischen Gewicht wenig aussagekräftig.
Dabei sind die Rahmendaten der Gesellschaftsdebatte und des von der Union ins Spiel gebrachten Begriffes der
deutschen oder europäischen „Leitkul-
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tur“ doch eindeutig. „Deutsche Leitkultur“ bedeutet in erster Linie, den
Werten des im Grundgesetz verankerten Grundrechtskataloges verpflichtet
zu sein. Diesem Bekenntnis zu den
grundlegenden Menschenrechten, die
in Deutschland heute garantiert sind
und Verfassungsrang haben, wird sich
kein vernünftiger, rechtmäßig hier lebender Ausländer verweigern. Kulturell
bedeutet es, die europäische Kultur und
das diese Kultur prägende Christentum
mit seinen moralischen Ansprüchen
und dem Toleranz- und Vergebungsgedanken zu respektieren. Das fällt freilich gläubigen Moslems oft leichter als
manchen „Kunst- und Kulturschaffenden“ in Deutschland, wo jede Insektenart mehr Schutz genießt als der
christliche Glaube, der in jeder nur erdenklichen Form heute diffamiert, besudelt und mit dem kabarettistischen
Schmutzkübel übergossen werden darf,
und wo öffentliche Blasphemie an der
Tagesordnung ist. Dass manche der
zwischen 1998 und 2005 Regierenden
ihr eigenes individuelles Handeln nicht
mehr als unvollkommen und in Verantwortung vor Gott rechenschaftspflichtig erkannten, zeigte das peinliche Trauerspiel bei der Vereidigung der
Bundesregierungen von Kanzler Schröder, als etliche Kabinettsmitglieder auf
die Formel „so wahr mir Gott helfe“
verzichteten, darunter ausgerechnet
Bundesumweltminister Trittin, dem
die Sorge um Gottes Schöpfung anvertraut ist.
Von solchen Politikern ist bei dieser so
grundlegenden Frage wie der nach einer positiven Identität eines Volkes
und einer stabilen Werteordnung nicht
mehr zu erwarten als die Tabuisierung
inhaltlich unerwünschter Begriffe und
Debatten. Ernsthafte und „politisch
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unkorrekte“ Beiträge zur Wertediskussion fernab der „just for fun“-Parolen
der Spät-68er wurden ohnehin lange
mit der Faschismuskeule beantwortet
und abgewehrt. Zwischen Schickimicki
und infantiler Spaßgesellschaft, „daily
soap“ und einer Prolokultur à la Helge
Schneider war es über viele Jahre
schwer, Wertedebatten zu führen oder
gar die Wahrheitsfrage zu stellen. Im
Zeitalter gesellschaftlicher und wertemäßiger Beliebigkeit waren Wahrheit und Werte konservativ-autoritärer
Schnee von gestern. Immer noch ist es
weitgehend nur noch tabu, gegen Homoehen und Abtreibung zu sein. Diese
Tendenzen der letzten 20 Jahre kamen
erst mit der großen Aufmerksamkeit für
Papst Johannes Paul II. in den letzten
Jahren seiner Amtszeit und dem großen Abschied der Welt von ihm sowie
dem zunehmend erkennbar fundamentalistischen und gewaltbereiten Islam zu ihrem vorläufigen Abschluss.
„Deutsche Leitkultur“ bedeutet aber
auch, um den reichen Schatz unseres
Kulturerbes zu wissen, ihn wahrzunehmen, zu kennen und zu akzeptieren.
Das schließt zum Beispiel die großen
jüdischen Literaten und Künstler, die
Deutschland hervorbrachte, mit ein.
Die positive Vielfalt deutscher Leitkultur, die sich der Menschenwürde, der
Toleranz und der friedlichen und in
rechtlichen Strukturen gesicherten Organisation des Zusammenlebens verschrieben hat, zielt auf Freiheit und die
rechtlich gesicherte Existenz des Einzelnen auf der Basis gemeinsamer
Grundwerte und des christlichen Glau-
Jürgen Henkel
bens als Erlösungsmodell und Wertekanon.
Darin unterscheidet sich die deutsche
Leitkultur von totalitären oder fundamentalistischen Systemen, unabhängig der Couleur. Auch der bewusste Verzicht auf die Todesstrafe, die Tatsache,
dass Frauen nicht der Schleier vorgeschrieben wird, junge Mädchen nicht
zwangsbeschnitten werden und Hochzeiten nicht im Kindesalter vermittelt
und geschlossen werden, zählt zur
deutschen Leitkultur. Politisch positiv
formuliert bedeutet es die gewaltfreie
Organisation des Zusammenlebens als
Demokratie mit Gruppen, Verbänden,
Parteien und freien Wahlen und die
wichtige Tatsache, dass auch die Freiheit Andersdenkender geschützt ist.
Wer sich als Inländer oder Ausländer
durch sein Handeln außerhalb solcher
Rahmenkoordinaten bewegt oder stellt,
der missachtet die deutsche Leitkultur, das Grundgesetz, die gemeinsame
Rechtskultur und die religiösen, sozialen und kulturellen Traditionen, die
unser Land und seine Kultur prägen.
Ein starker Rechtsstaat und eine in ihren Grundfesten sicher verankerte Gesellschaft brauchen eine solche Selbstvergewisserung und Selbstsicherheit
über ihre eigenen Grundlagen, als Motiv eigener Identität und als Nationalethos nach innen und als Selbstbestimmung nach außen, damit die Menschen, die hier leben, eine Orientierung
über den gesellschaftlichen Konsens
haben und die Quellen, aus denen er
sich speist.
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Die „sanften Revolutionen“
und die Lage in Zentralasien
Werner Gumpel
Die „sanften Revolutionen“ in Georgien und in der Ukraine haben die russische Regierung zutiefst verunsichert.
Bereits nach der „Rosen-Revolution“ in
Georgien, noch mehr aber als die „Revolution in Orange“ in der Ukraine
folgte, wurde in der russischen Presse
auf die Befürchtungen der politischen
Kreise hingewiesen, dass auch in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken sich
Ähnliches ereignen könne. Präsident
Putin strebt bekanntermaßen eine weit
gehende politische und wirtschaftliche
Zusammenarbeit der ehemaligen Sowjetrepubliken an, um den russischen
Einfluss in der Region zu bewahren bzw.
wiederherzustellen. Nachdem Georgien und die Ukraine vorerst „ausgefallen“ sind, konzentriert sich das russische Interesse vor allem auf die zentralasiatischen Staaten. Diese stellen
nicht nur den östlichen „Vorhof“ der
russischen Förderation dar und haben
deswegen immense geopolitische und
militärische Bedeutung, sondern sind
wegen ihrer Rohstoffressourcen von
großem wirtschaftlichem Interesse.
Gleiches gilt für Aserbaidshan.
Auch die Vereinigten Staaten von Amerika streben aus geostrategischen und
ökonomischen Gründen nach Einfluss
in der Region. Turkmenistan grenzt im
Süden an den Iran und Afghanistan,
Kirgistan an China, Usbekistan an Afghanistan, Tadschikistan an China und
Afghanistan. Turkmenistan verfügt
über die viertgrößten Gasvorkommen
der Welt und über Erdöl, Usbekistan
gehört zu den zehn wichtigsten Goldproduzenten der Welt, es verfügt über
große Vorkommen an Uran, dessen
Hauptabnehmer die USA sind, und
über Erdöl- und Kupfervorkommen.1
In der Baumwollproduktion steht es in
der Welt an fünfter Stelle. Die USA haben den Afghanistan-Konflikt genutzt,
um in Kirgistan und in Usbekistan mit
der Zustimmung der dortigen Regierungen je eine militärische Basis zu errichten. Diese wurden nicht nur als
Transitpunkte für den militärischen
Einsatz in Afghanistan betrachtet, sondern ermöglichten auch eine Überwachung von Teilen des russischen und
des chinesischen sowie des gesamten
zentralasiatischen Luftraums. Nach der
Niederschlagung des Versuchs einer
„sanften Revolution“ in Andishan hat
Usbekistan den mit den USA abgeschlossenen Vertrag im Juli 2005 einseitig gekündigt und den Abzug des amerikanischen Militärs binnen 180 Tagen
gefordert und dies auch durchgesetzt.
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Kirgistan hat den Einsatz von AWACSAufklärern untersagt. Für die USA stellt
dies einen herben Rückschlag dar.
Zu Zentralasien wird zumeist auch Kasachstan gezählt. Dieses Land ist wegen
seines großen Erdöl-Reichtums und seiner Lage am Kaspischen Meer sowohl
russisches als auch amerikanisches Interessengebiet. Die Erdölproduktion
liegt derzeit bei ca. 60 Mill. Tonnen im
Jahr und soll bis 2010 auf über 120
Mill., bis 2015 auf 180 Mill. Tonnen
ansteigen. Die USA unterhalten zwar
keine Militärbasen in Kasachstan, amerikanische Kapitalgeber haben aber seit
dem Ende der Sowjetunion in dessen
Erdölindustrie erhebliche Summen investiert und damit Einfluss gewonnen.
Kasachstan ist aber auch ein bedeutender Produzent von Uran, von dem allein im Jahr 2005 mehr als 4.360 Tonnen gefördert wurden.2
Für die russische Seite ist neben den Bodenschätzen des Landes der in Kasachstan gelegene russische Weltraumflughafen Baikonur von eminenter militärischer Bedeutung. Er manifestiert
fundamentales russisches Interesse an
der Region. Kasachstans Lage am Kaspischen Meer erhöht die Bedeutung
des Landes als Konkurrent Russlands
bei der Ausbeutung der dortigen Erdölvorkommen.
Dritter Akteur ist die Volksrepublik
China, die kasachisches Erdöl zur Deckung ihres steigenden Energiebedarfs
über eine 962 km lange Rohrleitung
importiert und künftig auch 40 Mrd.
kWh Elektrizität über eine speziell errichtete Leitung beziehen will.3 Auch
in Kasachstan bekommt allerdings das
nach außen stabile System Risse. Die
Furcht vor einer „sanften Revolution“
Werner Gumpel
führt auch hier zu einer zunehmenden
Unterdrückung der Opposition, wobei
vor Morden an führenden Oppositionspolitikern nicht zurückgeschreckt wird.4
Vorausgegangen war dem erwähnten
usbekischen Beschluss über die Ausweisung der Amerikaner eine Konferenz der „Organisation von Shanghai“
Anfang Juli 2005 in der kasachischen
Hauptstadt Astana. Dieser Organisation gehören neben Russland und China
auch Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan
und Tadshikistan an. In einem einstimmig gefassten Beschluss wurden
die USA aufgefordert, den Zeitpunkt
der Schließung ihrer Stützpunkte in
Zentralasien bekannt zu geben. Während Usbekistan sofort ein Ultimatum
aussprach, will Kirgistan die Anwesenheit der Amerikaner bis zu einer endgültigen Regelung in Afghanistan weiter gestatten. In Tadshikistan unterhalten die Amerikaner keinen Stützpunkt,
ihnen wurden jedoch Überflugrechte
eingeräumt. Die Möglichkeit einer
„sanften Revolution“ wird für dieses
Land von Experten allerdings als gering
eingeschätzt.5
Aus ökonomischer Sicht bedeutet der
Abzug der Amerikaner für Usbekistan
einen Verlust, denn sie haben für die
Benutzung des Flughafens von Chanabad jährlich 15 Mill. Dollar bezahlt.
Das ist allerdings erheblich weniger als
Kirgistan erhält, dem für die Nutzung
der Ganci Air Base 50 Mill. Dollar zufließen. Diesen Betrag wollen die Kirgisen auf 200 Mill. Dollar erhöht haben.6
Ganci soll die wichtigste amerikanische
Basis in Zentralasien werden. In beiden
Basen sind bzw. waren jeweils 1000
amerikanische Soldaten stationiert.
Nachdem die Kirgisen zu einer erweiterten Kooperation bereit sind, will Wa-
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Die „sanften Revolutionen“ und die Lage in Zentralasien
shington seine Zahlungen verdoppeln
und zusätzlich einen zinsfreien Kredit
in Höhe von 200 Mill. Dollar gewähren. Neuerdings hat die amerikanische
Regierung auch den turkmenischen
Diktator Saparmurat Nijasov zum Bundesgenossen gewonnen, denn auch in
Turkmenistan, das bisher auf Neutralität bestanden hat, wird auf dem ehemaligen sowjetischen strategischen
Flughafen Mary-2 ein amerikanischer
Stützpunkt errichtet, der als Ersatz für
Chanabad dienen soll. Ein weiterer
amerikanischer Flughafen wird nahe
der turkmenischen Stadt Kuschka eingerichtet. Turkmenistan hat gemeinsame Grenzen sowohl mit Afghanistan
als auch mit dem Iran und ist deswegen
für die USA von besonderer strategischer
Bedeutung. Der Beschluss von Astana
scheint daher, ausgenommen Usbekistan, ohne größere Folgen zu bleiben.
Die usbekische Reaktion hat sich relativ früh angekündigt. Bereits nach der
„Rosen-Revolution“ in Georgien hatten sich die Beziehungen zu den USA
verschlechtert. Der usbekische Diktator Karimov, zunächst ein Freund der
USA, befürchtete, dass ihm das gleiche
Schicksal widerfahren könnte wie dem
georgischen Staatschef Shewardnadse.
In der Tat sind die USA an einem Regimewechsel in Usbekistan interessiert,
um dort eine prowestliche Regierung
dauerhaft zu installieren. Als dann im
Mai 2005 in Andishan ein Volksaufstand stattfand, der blutig niedergeschlagen wurde und dem, laut einer
Meldung der russischen Zeitung „Izvestija“, mindestens 831 Menschen
zum Opfer fielen, glaubte Karimov in
seinen Befürchtungen bestätigt zu sein.
Sowohl er als auch russische Kreise waren davon überzeugt, dass hier „ausländische Kräfte“, gemeint waren die
63
USA, ihre Hände im Spiel hatten. Nur
kurze Zeit vorher war ja auch der kirgisische Präsident gestürzt und durch einen „Demokraten“ ersetzt worden. Es
sollte jedoch nicht übersehen werden,
dass Usbekistan zu den ärmsten Ländern der Region gehört, mit einer Geburtenrate von 2,6%. Derzeit hat es
24,5 Mill. Einwohner. Die Menschen
auf dem Land müssen mit 5–10 Dollar
im Monat auskommen, in den Städten
übersteigt das Einkommen nur selten
100 Dollar. Die Baumwollplantagen
gelten als Orte der Sklavenhalterei.7 Besonders angespannt ist die Lage im Fergana-Becken, wo mehr als ein Drittel
der usbekischen Bevölkerung lebt und
wo es schon zu Beginn der Neunzigerjahre wegen des niedrigen Lebensstandards zu Unruhen gekommen ist.
Gerade dort aber hat man das höchste
Bevölkerungswachstum. Die Bauern erhoffen sich eine Verbesserung ihrer Lage durch eine Bodenreform, doch sie
gibt es bisher nicht einmal in Ansätzen.
Usbekistan hat daher ein handfestes
soziales Problem, das sich politisch
instrumentalisieren lässt, das jedoch
auch hausgemachte Unruhen nicht
unwahrscheinlich erscheinen lässt.
Präsident Karimov hat daher aus purem
Selbsterhaltungstrieb die Fronten gewechselt und ist wieder zu einem Verbündeten Moskaus geworden. Dies war
zweifellos eine große Niederlage für die
USA. Während Taschkent in den letzten
Jahren jegliche militärische Zusammenarbeit mit Moskau abgelehnt hatte,
hat es am 25. November 2005 einen
weit reichenden Bündnisvertrag mit
Russland unterzeichnet und ist jetzt sogar zu einer Kooperation im Bereich der
kosmischen Kriegführung bereit.8 Usbekistan ist Mitglied des Luftverteidigungssystems der GUS. Die russische
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Regierung hat nach dem Wechsel sofort die Modernisierung seiner dort stationierten Raketenabwehrsysteme und
des Systems der elektronischen Luftüberwachung angekündigt, das die Entdeckung feindlicher Flugzeuge schon
lange bevor sie sich der russischen
Grenze nähern, ermöglicht. Außerdem,
und das verärgert die USA ebenso sehr,
wurde die gemeinsame Erschließung
von Kohlewasserstoffen auf dem Territorium Usbekistans beschlossen. Mit
diesen Zugeständnissen sind Herrn
Karimov von Moskau die Sünden der
Vergangenheit vergeben. Die politische
Lage im Lande wird nach den russischen Vorstellungen „stabilisiert“.
Auch in den anderen zentralasiatischen Republiken stärkt Russland seinen Einfluss. Im Rahmen des „Vertrags
über kollektive Sicherheit“9 baut Russland seine im Oktober 2003 eröffnete
militärische Basis im kirgisischen Kant
aus – „auf ewig“, wie der Oberbefehlshaber der russischen Luftstreitkräfte,
General Michailov, betonte. Personalbestand und Flugtechnik sollen auf das
Zweieinhalbfache wachsen. Die russische Luftwaffe wird außerdem kirgisische Kampfflieger ausbilden.10 Russland baut damit ein Gegengewicht zur
amerikanischen Präsenz auf.
Russland nutzt aber auch die wirtschaftliche Abhängigkeit der zentralasiatischen Staaten vom russischen
Markt sowie von der Nutzung des russischen Rohrleitungssystems, um seinen Einfluss auf die Region erneut aufzubauen. Das geschah u.a. durch die
Auflösung der ohnehin wenig effizienten Zentralasiatischen Wirtschaftsgemeinschaft (ab 2001 in Zentralasiatische Kooperationsorganisation umbenannt) und deren Eingliederung in die
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von Russland dominierte Eurasische
Wirtschaftsgemeinschaft. Die Zentralasiatische Wirtschaftsgemeinschaft war
im Jahr 1994 von Kasachstan, Kirgistan
und Usbekistan gegründet worden, um
die nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion erlangte Unabhängigkeit
von Russland zu stärken. 1998 trat
auch Tadshikistan der Gemeinschaft
bei, während Turkmenistan der Organisation fern blieb.11 Das Bemühen,
sich von Russland zu lösen, blieb aber
illusorisch, da die wirtschaftliche Verflechtung noch aus Sowjetzeiten groß
war und außerdem eine Abhängigkeit
von russischen Energielieferungen (Kirgistan) bzw. von der Nutzung des russischen Rohrleitungsnetzes (Kasachstan)
besteht. In Hinblick auf den Abtransport seines Erdgases ist auch Turkmenistan bisher völlig vom russischen
System abhängig.12 Dies ist der Grund,
weswegen der turkmenische Präsident
einen intensiveren Streit mit Russland
um die Staatsangehörigkeit von in
Turkmenistan lebenden Russen nicht
eskalieren ließ und die Kooperation mit
Russland der Konfrontation vorzog.
Dennoch strebt das Land auch weiterhin nach Unabhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht und plant deswegen eine eigene Rohrleitung, die
nach Afghanistan und weiter nach
Pakistan und Indien führen soll, eine
weitere soll Erdgastransporte nach Iran
ermöglichen.13 Mit Letzterem vereinbarte Turkmenistan eine engere Kooperation im Bereich von Erdöl und
Erdgas, insbesondere bei der Erschließung der Ressourcen des Kaspischen
Meeres.14 Damit öffnet es neue Märkte,
die den Absatz des Erdgases ohne Einfluss Moskaus ermöglichen.
Wie bei allen in der nachsowjetischen
Zeit gegründeten Wirtschaftsorgani-
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Die „sanften Revolutionen“ und die Lage in Zentralasien
sationen traten auch bei der Zentralasiatischen Wirtschaftsgemeinschaft
schon bald Risse auf. Kasachstan
schloss sich bereits 1995 einer Zollunion, der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft, an, die von Russland und
Bjelarus gegründet worden war. Ein
Jahr später folgte Kirgistan. Diese Länder verfolgten daher aus dem wirtschaftlichen Zwang heraus eine Politik
der Doppelmitgliedschaft. Nur Usbekistan verharrte auf seiner Unabhängigkeit, eine Politik, die es bis zu den revolutionären Ereignissen von Andishan durchhielt und die den USA
zustatten kam. Im Januar 2006 schloss
sich jedoch auch dieses Land der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft an
und gewährte in einem Sondervertrag dem russischen Gasmonopolisten
„Gasprom“ auf der Grundlage einer
Teilung der Produktion den Zugriff auf
seine größten Gasvorkommen. Die russische Presse sprach von einem „eurasischen Triumpf“. Die Vermarktung des
geförderten Gases wurde allein der Gasprom zugesprochen, die im Gegenzug
1,5 Mrd. Dollar in die usbekische Gaswirtschaft investiert.15
Ein weiterer Unruhefaktor in der Region sind die Animositäten zwischen den
verschiedenen zentralasiatischen Staaten, die schon mehrmals fast kriegerische Dimensionen angenommen haben. So wurde im August 2004 die
Grenze zwischen Usbekistan und Kasachstan zeitweise geschlossen. Im
März 2005 schloss Usbekistan die Grenze zum benachbarten Kirgistan, was
sich nach den Unruhen in Andishan
wiederholte. Dies geschah auch schon
in der Vergangenheit, wenn in Usbekistan Unruhen stattfanden. An der usbekisch-turkmenischen Grenze wurde
zeitweise Militär konzentriert. Eine mi-
65
litärische Auseinandersetzung stand
kurz bevor. Auch die Grenzen zu Kasachstan und Tadshikistan wurden
mehrmals geschlossen.16 Kirgistan streitet mit Usbekistan um eine im Ferganatal gelegene Enklave, in der annähernd zwölf Mill. Menschen leben. Sie
war nach dem Zerfall der Sowjetunion
zwischen Kirgistan, Usbekistan und
Tadshikistan aufgeteilt worden.17
Hinzu kommt die Gefahr, die die Führer der zentralasiatischen Republiken
in einem aggressiven Islamismus sehen, der in Zentralasien im vergangenen Jahrzehnt eine starke Wiederbelebung erfahren hat. Zwar werden die
Moscheen in den meisten dieser Länder vom Staat kontrolliert und bedürfen für ihre Tätigkeit staatlicher Genehmigung, doch wird immer wieder
von Infiltration von islamischen Extremisten berichtet, deren Ziel eine islamische Revolution ist. Aus diesem
Grund steht auch die Zusammenarbeit
der Staaten mit den USA und Russland
unter dem Zeichen einer Bekämpfung
des Terrorismus. Dieser ist in allen zentralasiatischen Staaten oft eine willkommene Begründung für die Anwendung repressiver Maßnahmen gegen
oppositionelle Kräfte. Zu diesen gehört
auch die „Islamische Bewegung von
Usbekistan“ (IBU), der durch den Afghanistan-Krieg der USA zunächst der
Boden entzogen wurde, die sich aber
bald wieder erholt hat. Daneben strebt
eine „Hizb ut-Tahir genannte islamistische Gruppe, deren Ziel ein globales
Kalifat ist, nach der Macht. Beide Gruppierungen sind bewaffnet und machen
immer wieder durch Überfälle, Terrorakte und Entführungen von sich reden.
Die IBU, die sich auch „Islamische Partei Turkestans“ nennt, sieht als ihr Endziel die Schaffung eines muslimischen
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Staates, der ganz Turkestan, also alle
Turkstaaten Zentralasiens, einschließlich des chinesischen Westturkestans,
umfasst. Kristallisationspunkt der islamischen Bewegung ist in erster Linie
das Fergana-Becken, wo sich Usbekistan, Tadshikistan und Kirgistan treffen.
Eine politisch und wirtschaftlich am
Boden liegende Region.18
Die politische Instabilität in der Region
wird zudem erhöht durch ethnische
Konflikte in den einzelnen Ländern,
durch Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Clans und die erwähnten
Konfliktsituationen zwischen den zentralasiatischen Ländern. Politische Stabilität ist aber von fundamentaler Bedeutung, da ohne sie die verschiedenen
Rohrleitungsprojekte nicht dauerhaft
verwirklicht werden können, die China und andere asiatische Staaten wie
Pakistan und Indien mit Energie versorgen und die durch eine Ausweitung
der Produktionskapazitäten in Zentralasien und Russland verfügbar gemacht
wird. Sie bedeutet eine Entlastung des
Weltenergiemarktes, steigt doch insbesondere der Energieverbrauch Chinas
unablässig. Allein im Zeitraum von
1990 bis 200319 vergrößerte er sich von
110 auf 275 Mill. Tonnen. Insofern
sind auch die USA an Stabilität in der
Region interessiert, wobei sich ihr Interesse mit dem der Russischen Föderation und der zentralasiatischen Staaten
trifft, wenn es gilt, die Rohrleitungsroute nach Pakistan und Indien durch
Afghanistan zu lenken, damit der Iran
von diesen Märkten fern gehalten wird.
Die amerikanische Besetzung Afghanistans soll diesen Weg sichern helfen.
Da Russland beabsichtigt, das Schwergewicht seiner künftigen Gasförderung
auf neu zu entwickelnde Vorkommen
Werner Gumpel
in Ostsibirien, der Republik Sacha (Jakutien) und das Schelfgebiet im Osten
zu legen, bei Verringerung der Förderung im europäischen Teil des Landes
(insbesondere im Wolga-Ural-Gebiet
und Nordkaukasus), ist es an einem
funktionierenden und störungsfreien
Transportsystem interessiert, das den
Abtransport des geförderten Erdgases
und Erdöls sowohl für die Deckung des
Binnen- als auch des Exportbedarfs sichert.20 Dies schließt auch eine Vernetzung mit den grenzüberschreitenden
Rohrleitungen ein.
Es geht aber nicht allein um die Sicherung des Exports der Energieträger.
Vielmehr bewirken die neuen Rohrleitungen, da sie weitgehend bisher unerschlossenes Territorium queren, auch
einen wichtigen Entwicklungsfaktor.
Dazu gehört, dass Siedlungsgebiete gasifiziert werden, die potenzielle Entwicklungschancen vorweisen, wodurch
u.A. neue Industrialisierungsprojekte
realisiert und Arbeitsplätze geschaffen
werden können. „Gasprom“ will bis
Ende 2008 35 Mrd. Rubel in die Gasifizierung vor allem der Regionen Sibiriens investieren.21 Damit wird der
russische Eigenbedarf an Gas erheblich
zunehmen. Auch dies ist ein Grund,
weswegen Russland seinen Einfluss auf
die gastragenden zentralasiatischen
Republiken wieder herstellen will. Bereits im Jahr 2006 beabsichtigt Russland 9 Mrd. cbm von Usbekistan und
30 Mrd. cbm von Turkmenistan zu kaufen. Die Bezüge von Turkmenistan sollen bis 2007/2008 auf 70–80 Mrd. cbm
ansteigen,22 von denen allerdings ein
großer Teil mit kräftigem Preisaufschlag an die Ukraine und nach Westeuropa weiterverkauft wird. Geopolitische Interessen sind im Spiel, wenn
durch diese Entwicklung die für den
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Die „sanften Revolutionen“ und die Lage in Zentralasien
Gas- bzw. Erdöltransport erforderliche
Infrastruktur entwickelt wird, die nicht
nur der Versorgung des Binnenmarktes
dient, sondern auch einen unabhängigen Zugang zu den internationalen
Märkten garantieren soll.23 Daran sind
auch Turkmenistan und Kasachstan interessiert, die beispielsweise für die Vermarktung ihres Erdöls einen Anschluss
ihres Rohrleitungsnetzes an die im Mai
2005 in Betrieb genommene BakuTbilisi-Ceyhan-Rohrleitung (BTC) anstreben, um damit einen nicht durch
russisches Gebiet führenden Zugang
zum europäischen Markt und darüber
hinaus zum Weltmarkt zu erlangen.24
Ein zentralasiatischer Staat, der bisher
als relativ stabil galt, ist Tadshikistan,
obwohl auch dieses Land nicht zuletzt
wegen seiner mit der herrschenden Armut verbundenen sozialen Probleme,
aber auch wegen eines Nord-Südkonflikts, im Jahr 1992 einen Bürgerkrieg
auszuhalten hatte. Derzeit gibt es dort
keine Anzeichen für eine Entwicklung,
wie sie in Georgien oder der Ukraine
oder Usbekistan und Kirgistan stattgefunden hat. Doch auch dort herrscht
eine handfeste Diktatur mit Unterdrückung der Menschenrechte. Die Verfassung des Landes wurde speziell geändert, um dem derzeitigen Präsidenten
Emomail Rahmonov die Möglichkeit
zu geben, bis zum Jahr 2020 im Amt zu
bleiben. Die sechs hauptsächlichen politischen Parteien sind schwach und
finden in der Bevölkerung keinen Widerhall. Die Regierung tut alles, um die
Opposition unter Druck zu setzen.
Gleiches geschieht in Hinblick auf unabhängige Medien und religiöse Gruppierungen. Der Boden für eine Revolution ist also zweifellos gegeben, doch
haben Präsident und Regierung die
Entwicklung fest in der Hand. Nach
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den Ereignissen in Georgien, der Ukraine, Kirgistan und Usbekistan verstärken sie den Druck auf potenzielle oppositionelle Kräfte. Die USA allerdings
stützen Rahmonov, wie der freundschaftliche Besuch von Verteidigungsminister Rumsfeld Ende Juli 2005 gezeigt hat. Als Dank für die Gewährung
von Überflugrechten versprach Rumsfeld einen vermehrten Beistand der
USA bei der Bekämpfung des Terrorismus – wie immer man diesen definieren mag.
Die politische Lage in den zentralasiatischen Republiken ist daher in großem
Maße von den geopolitischen Interessen der großen „Player“ in der Region
abhängig. Es sind dies Russland, das seine alte Stellung in der Region verteidigt
bzw. wiederherzustellen versucht und
sich einer Einkreisung der USA entgegenstellt, es sind die USA, die in der Region Fuß fassen und von dort ihren
Einfluss in Asien ausbauen wollen und
es ist die Volksrepublik China, die dieses Streben der USA mit großem Misstrauen sieht und amerikanische Stützpunkte an ihrer Nordwestgrenze verhindern will. Russland und China, die
jahrelang verfeindet waren, sind sich
im Gegensatz dazu auf Grund ihrer
diesbezüglichen gemeinsamen Interessen näher gerückt. Das gemeinsame
Manöver von Ende August 2005 ist
Ausdruck dessen. Es war das größte gemeinsame Manöver in der Geschichte
der russisch-chinesischen Beziehungen, doch der Chef des russischen Generalstabs, Jurij Balujevski, hat bereits
verkündet, dass in Zukunft noch größere gemeinsame Aktionen möglich
seien.25 Präsident Putin hat in diesem
Zusammenhang die große Bedeutung
der chinesisch-russischen militärischen
Kooperation unterstrichen und zusätz-
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lich auf das Interesse Russlands an Ölund Gaslieferungen nach China sowie
durch China in Drittländer verwiesen.
Dem darf kein amerikanisches Hindernis entgegenstehen. Die Diktaturen in
den zentralasiatischen Staaten garantieren Stabilität im russischen und chinesischen Sinne und werden deswegen
unterstützt. Russland zeigt durch die
Verbesserung seiner Beziehungen mit
China den USA zudem, dass es, wenn
es um die Verteidigung seiner Interessen in Zentralasien geht, über einen
starken Verbündeten verfügt.
Bleibt die Frage, ob die gegen die USA
erhobenen Vorwürfe in Hinblick auf
die Förderung „friedlicher Revolutionen“ und die Aufwiegelung oppositioneller Kräfte in den Nachfolgestaaten
der UdSSR zur Erweiterung ihrer Einflusssphäre gerechtfertigt sind. Als eindeutig kann gelten, dass oppositionelle Kreise von den USA finanziell unterstützt werden. Diese bedienen sich
hierbei vor allem sogenannter NGOs
(Non Governmental Organisations).
Eine der bedeutendsten ist die SorosFoundation, die seit 1989 über eine
Milliarde Dollar in den postsowjetischen Raum gepumpt haben soll. In
Georgien und in der Ukraine trug dies,
wie ein Bericht des Osteuropa-Instituts
München zeigt, nicht unwesentlich
zum Gelingen des revolutionären Umsturzes bei. Nach Usbekistan flossen allein aus dieser Stiftung 22 Mill. Dollar
„zur Stärkung der Demokratie und der
Menschenrechte“. Dass auch andere
westliche Staaten die oppositionellen
Bewegungen finanziell und organisatorisch unterstützen, ist kein Geheimnis. Im August 2005 gelangte eine
Video-Aufzeichnung an die Öffentlichkeit, die ein Treffen von Oppositionsführern aus Aserbaidshan mit anschei-
Werner Gumpel
nend georgischen Partnern in Tbilisi in
den letzten Tagen des Juli dokumentiert.26 Das auch im Fernsehen präsentierte Video gibt angeblich u.a. Auskunft darüber, dass die aserbaidshanische Opposition finanzielle Hilfe vom
„Nationalen Institut für Demokratie“
der USA erhalten hat, mit dem Ziel,
auch in Aserbaidshan eine Revolution
herbeizuführen. Hierzu sollten zwei
aserbaidshanische Vertrauensleute ein
spezielles Training durch amerikanische Experten in Polen erhalten. Zudem wurden angeblich Anweisungen
dafür gegeben, wie eine Revolution zu
provozieren sei.
Die Potentaten der noch nicht betroffenen Nachfolgestaaten der UdSSR
fürchten also mit Recht einen Demokratie-Export der USA und damit um
den Fortbestand der eigenen Herrschaft. Das Ergebnis ist, dass die in diesen Ländern tätigen NGOs entweder
verboten oder aber in ihrem Aktionsradius stark eingeschränkt werden. So
wurden im Februar und März 2006 in
Usbekistan praktisch alle ausländischen und ausländisch unterstützten
NGOs verboten.27 Das führt dann nicht
zu der vom Westen angestrebten Einführung von mehr Demokratie, sondern zu mehr Unterdrückung und
zum wieder stärkeren Zusammenrücken mit Moskau, das um seine Dominanz in dieser Region fürchtet. Aber
auch die Volksrepublik China fürchtet,
dass durch einen Regimewechsel in
den zentralasiatischen Staaten die Versorgung mit Energieträgern über die
neu errichteten Rohrleitungen nach
Kasachstan, Turkmenistan, Iran und
Russland gefährdet sein könnte. Allein aus Kasachstan wird sie in wenigen Jahren 20–25% ihrer Erdölimporte
beziehen. Sie beobachtet daher arg-
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Die „sanften Revolutionen“ und die Lage in Zentralasien
wöhnisch alle entsprechenden Entwicklungen. Die Einflussmöglichkeiten
des Westens sinken und die politische
Opposition verliert den Rest ihrer bisher geringen Möglichkeiten, demokratische Zustände herbeizuführen. Inso-
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fern sind die westlichen Bemühungen
zu einem Bumerang geworden und
haben den westlichen Interessen auf
dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nicht nur nicht genutzt, sondern geschadet.
Anmerkungen
1
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8
9
10
11
Allein in den beiden neu erschlossenen
Goldvorkommen von Koklatas und Daugystau werden jährlich 70–75 Tonnen
Gold gefördert, mit steigender Tendenz.
Die Uranförderung des berg-metallurgischen Kombinats von Navoi beläuft
sich auf jährlich 1500 Tonnen; vgl. Zentralno-Aziatskie Novosti (www.centran.ru)
30.1.2006. Einzelheiten über die zentralasiatischen Staaten siehe Gumppenberg
von, Marie-Carin/Steinbach, Udo (Hrsg.):
Zentralasien, Geschichte, Politik, Wirtschaft. Ein Lexikon, München 2004.
Radio Free Europe/Radio Liberty (www.
rferl.net), 25.2.2006.
www.newsru.com, 22.8.2006; www.rferl.
net, 19.11.2005; ein im August 2005 abgeschlossener Vertrag sieht zunächst die
Lieferung von 20 Mill. Tonnen Erdöl vor.
Außerdem hat die Staatliche Chinesische
Erdölgesellschaft für 4,18 Mrd. Dollar die
in Kanada registrierte Petrokasachstan gekauft. Zur Rolle Chinas in der Region siehe Engdahl, F. William: China lays down
gauntlet in energy war, in: Asia Times,
21.12.2005.
Vgl. hierzu: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.3.2006.
www.regionalanalysis.org, 21.4.2005.
Nezavisimaja Gazeta (www.ng.ru),
20.2.2006.
Izvestija, 16.5.2005.
www.Lenta.ru 26.2.2006.
Dieser Vertrag wurde im Mai 1992 von
Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan unterzeichnet und als „die Formierung eines
neuen militärisch-politischen Blockes“ bezeichnet. „Sein vereinendes Merkmal ist
die Loyalität zu Moskau.“; vgl. Moskovskie Novosti, 25.4.1993. Usbekistan hat
den Vertrag 1999 gekündigt und sich der
Gruppierung GUAM (Georgien, Ukraine,
Aserbaidshan, Moldowa) angeschlossen,
die damit zur „GUUAM“ wurde. 2005 hat
es diese wieder verlassen.
www.izvestia.ru, 15.2.2006.
Vgl. hierzu: Osteuropa-Institut München,
Zentralasien: Die Auflösung der zentralasiatischen Kooperationsorganisation ma-
12
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27
nifestiert die Dominanz Russlands als
Wirtschaftspartner, Oktober 2005.
Zur politischen und wirtschaftlichen Lage Turkmenistans und zum „großen Spiel
um Gas“ siehe Kunze, Thomas: Russlands
Hinterhof: Turkmenistan – Selbstzerstörung durch Autokratie, in: KAS/Auslandsinformationen, 22. Jg., Heft 2/2006,
S. 75ff., insbes. S. 90ff.
Hierzu ausführlich: Turkmenistan: A
Pipeline in the Pipeline, Radio Free
Europa/Radio Liberty: www.rferl.net,
14.2.2006.
www.rferl.net, 2.11.2005.
www.izvestia.ru, 25.1.2006.
www.centran.ru, 28.8.2004; www.Lenta.ru, 22.3.2005.
Moskauer Deutsche Zeitung online,
1.10.2004.
Radio Free Europe Radio Liberty (www.
rferl.net), 10.2.2006.
Vgl. Eder, L.V.: Sovremennoe sostojanie i
prognoz razvitija neftjanogo rynka Kitaja, in: Eko – Vserossiiskij Ekonomiceskij
shurnal, Nr.2/2005, S. 164.
Vgl. Korbushajev, A.G.: Infrastruktura
transporta nefti i gaza v Rossii: Prioritetnye napravlenija razvitija, in: Eko – Vjerossiiskij Ekonomiceskij shurnal, Nr.4/
2005, S. 141.
www. lenta.ru, 5.3.2006.
www.rferl.org, 20.2.2006.
Vgl. hierzu Korbushajev, A.G.: Infrastruktura transporta nefti i gaza v Rossii:
Prioritetnye napravlenija razvitija, in: Eko,
Nr.4/2005, S. 150f.
Die BTC führt vom aserbaidshanischen
Hafen Baku durch Georgien zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan.
Izvestija, 10.8.2005.
Izvestija, 9.8.2005.
Es handelt sich vorwiegend um amerikanische oder amerikanisch, aber auch britisch unterstützte Organisationen wie
„Freedom House“, „Eurasia“, das Institut
„Offene Gesellschaft“ (Soros-Fonds), „Internews“, das „Institut für Kriegs- und
Friedensforschung“, örtliche NGOs u.A.;
vgl. Nezavisimaja Gazeta (www.ng.ru),
7.3.2006.
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Lateinamerika – Hinterhof der
USA oder „global player“?
Manfred Mols
1. Einführung
In neuesten Überlegungen des Auswärtigen Amtes in Berlin wird massiv auf
Lateinamerika als Globalisierungspartner Europas und Deutschlands hingewiesen. „Europa (...) betrachtet die Region zunehmend als politischen Partner für eine gemeinsame Gestaltung
der Globalisierung“. Und: „Lateinamerika gehört zwar nicht zu den bedeutendsten weltpolitischen Regionen.
Dennoch ist es als Partner für global governance wichtig.“1 Sieht man von
dem gleitenden Widerspruch in solchen Feststellungen ab: Ist der hervorgehobene Rang Lateinamerikas reines
Wunschdenken? Oder versucht man,
den Lateinamerikanern bzw. ihren in
Berlin ansässigen Botschaften zumindest verbal ein Stück jener „strategischen Partnerschaft“ anzubieten,
von der seit einigen Jahren immer wieder die Rede ist? Ist denn Lateinamerika tatsächlich ein aktueller oder zumindest potenzieller Globalisierungspartner?
Meine Fragen deuten eine kritische Haltung an, die ich umso mehr einzunehmen geneigt bin, je intensiver ich mich
in den letzten Jahren mit Ost- und Südostasien beschäftigen konnte. Ich bin
nicht der einzige, der Skepsis anmeldet.
Fast alle, die wir uns seit Jahren mit Lateinamerika beschäftigen, hatten lange
Zeit das Länder-Konglomerat südlich
des Rio Grande als eine Region der Zukunft angesehen, die in einer letztlich
absehbaren Zeit als Partner zumindest
des Westens heranreifen würde. Heute
müssen wir uns von unserem jüngeren
Kollegen Peter Thiery die Frage gefallen
lassen: „Wohin steuert Lateinamerika?
– oder besser: Wohin wird es gesteuert?“2 Die seit langem abgesagte Dependenztheorie hat nichts weniger als
die Fremdbestimmtheit Lateinamerikas
thematisiert. Dann kamen im Zuge von
Redemokratisierung, marktwirtschaftlicher Öffnung auch zum Weltmarkt, eines Profilgewinns der Organisation
Amerikanischer Staaten und des Aufhörens des gerade auch in Lateinamerika beinahe allenthalben spürbaren Ost-
Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006
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Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“?
West-Konflikts andere Perspektiven auf,
die in manchem an die „essentials“ der
früheren Modernisierungstheorien anzuknüpfen versuchten und die gut in
das ökonomistische Weltbild unserer
Zeit zu passen schienen. Inzwischen
sind Zweifel aufgekommen. Für die Politik wird von einer Krise der Institutionen, ja von eindeutigen Demokratiekrisen gesprochen.3 Lateinamerikanische
Autoren bezeichnen Ecuador, Bolivien,
Mexiko, Kolumbien, Argentinien, Peru
und Venezuela als „democracias volátiles“ – also als etwas, dessen demokratische Zukunft offen, also nicht gesichert
bleibt.4 Ökonomen, da Konjunktur orientierter argumentierend als Politologen (besonders, wenn diese gewohnt
sind, momentane Veränderungen in
Trends langfristiger Entwicklung) einzuordnen, kritisieren etwas verhaltener,
aber unter dem Strich nicht minder eindeutig.5 Das politische wie das ökonomische Lateinamerika der Gegenwart
ist – von Ausnahmen wie eventuell
Chile und Grenzsituationen wie Brasilien und auch noch Costa Rica abgesehen – ein fragiles, anfälliges, vulnerables Gebilde, dessen Schicksal schwer
prognostizierbar ist.
Hängt dies mit der traditionellen Rolle
Lateinamerikas als Hinterhof der Vereinigten Staaten zusammen, mit einem
oft gerade im großkaribischen Raum
recht rüde auftretenden US-Imperialismus, mit der Ablösung der Ideale des
„Befreiers“ Simón Bolívars durch einen
von Washington inaugurierten Panamerikanismus? Oder um es ein wenig sanfter in der Sprache Norman A. Baileys6
auszudrücken: mit einem überkommenen „Patron-Klientelverhältnis“?
Manches, vielleicht immer noch zu vieles, aus diesem panamerikanischen Le-
71
gat ist geblieben. Und doch lässt sich
die Hinterhofthese nicht mehr pauschal durchhalten. Eine zentrale doppelte Interpretationsrichtung der letzten Jahre hieß, Lateinamerika habe unter dem Fehlen einer artikulierten
Lateinamerika-Politik der USA genauso
zu leiden wie unter seinem Abdrängen
in eine hemisphärisch-regionale Nebenrolle eines „benign neglect“. Der
Chilene Arturo Valenzuela, während
der Clinton-Administration ein hochrangiger Berater im „National Security
Council“, hat unter der Überschrift
„Beyond Benign Neglect“7 Differenzierungen einzufügen versucht: Als Präsident Bush Jr. bei seiner Amtsübernahme im Jahre 2001 erklärt habe, die
Westliche Hemisphäre werde die höchste Priorität in der Außenpolitik Washingtons einnehmen, sei dies in weiten Kreisen des lateinischen Amerika
begrüßt worden. Doch dann habe man
in Washington in nicht wenigen Fällen
ungeschickt reagiert, die inzwischen erreichten positiven Interventionsmöglichkeiten der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) übersehen, die
Stabilisierungskräfte der sich einstellenden Handelsliberalisierung einfach
überschätzt, sei sorglos mit Normen
und Spielregeln umgegangen und habe
offenbar auch nicht begriffen, dass die
Wende zu elektoralen Regimen für sich
noch nicht die Lebensfähigkeit von Demokratie absichere. Der Venezolaner
Franklin Molina hat hier noch härter
geurteilt: Die Vereinigten Staaten praktizierten inzwischen eine Politik des
„aislamiento intervencionista“,8 d.h.
eine Politik, die in der Überbetonung
nationaler Sicherheitsinteressen je
nach Sachstand unilateral, multilateral, in Formen kooperativer Eingebundenheit und dann wieder isolationistisch vorgehe.
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Aber wie immer man im Detail das Verhältnis Washington – Lateinamerika
und seine künftige Entwicklung beurteilen mag: Die USA bleiben für jede
realiter voraussehbare Zeit die politisch, ökonomisch, entwicklungspolitisch und wohl auch kulturell wirkungsvollste Kraft in der Westlichen
Hemisphäre. Eine unberechenbare, mit
Attributen von Willkür ausgestattete
US-Außenpolitik, US-Wirtschafts- und
Finanzpolitik usw. muss in Lateinamerika notgedrungen Unverständnis und
negative Erschütterungen hervorrufen,
Skepsis, Ablehnung, einen versteckten
oder sogar offenen Antiamerikanismus
– und dabei Schaden anrichten. Andreas Boeckh hat dies etwas vornehmer
ausgedrückt: „Die lateinamerikanische
Perzeption der USA war und ist durch
eine Mischung von Abgrenzung und
Bewunderung geprägt, während umgekehrt die USA Lateinamerika traditionell und z.T. noch bis heute mit Geringschätzung und einem gehörigen
Maß an Unkenntnis begegnen.“9 Wie
immer wir daher über unser Thema
„Hinterhof oder ‚global player‘“ nachdenken, wir können dabei weder auf
die Lateinamerika-Sicht Washingtons
noch auf die Washington-Sicht der Lateinamerikaner verzichten. Beide Einstellungen entstammen zum Teil einem die Gegenwart betreffenden historischen Gedächtnis, zum anderen
Teil aktuellen Profilen der internationalen Politik, die weder die USA
noch die lateinamerikanischen Staaten
konstant halten können. Die lateinamerikanische Sicht ihrer Beziehungen
zu den USA ist stark von der Erfahrung
geprägt, einer sich fast immer durchsetzenden Hegemonialmacht ausgeliefert zu sein. Die US-Sicht Lateinamerikas hängt, eigentlich schon seit 200
Jahren, sehr stark mit über Lateiname-
Manfred Mols
rika weit hinausgehenden weltpolitischen Entwicklungen zusammen, die
umso mehr in Washington zählen
mussten, je eindeutiger die USA in eine
weltpolitische Rolle hinein wuchsen.
Ich will dies in vier Abschnitten illustrieren und damit zu zentralen Aussagen in der Behandlung des Themas
kommen.
2. Die traditionelle internationale Sicht der USA
Die traditionelle internationale Sicht
der Vereinigten Staaten von Amerika,
zurückgehend auf die No Transfer-Resolution von 1811, liest sich so: ‚Unsere nationalen Interessen heißen‘ – und
zwar in der folgenden Rangordnung,
die sich offenkundig bis heute nicht geändert hat (und durch den internationalen, massiv auf die USA gerichteten
Terrorismus der letzten Jahre eher noch
einen erneuten Auftrieb erhielt) – „security, tranquility and commerce“.10
Um dies zu erreichen, bedurfte und bedarf es eines unmittelbaren geopolitischen Umfeldes, das man unter Kontrolle hat. Hier wird sogleich die Frage
auftauchen, warum die Alternative
nicht auch Kooperation und Partnerschaft hätte heißen können. Man kann
mit einer Gegenfrage kommen: Ist eine
Nation, die vom Glauben an die eigene
„manifest destiny“ erfüllt war und es
wohl immer noch ist, befähigt zu einer
echten, von ihr selbst gewollten Partnerschaft? Es kommt noch ein weiterer
und gewichtigerer Gedanke hinzu, der
ebenfalls bei Boeckh auftaucht: Im 19.
Jahrhundert und noch bis ins 20. Jahrhundert waren viele lateinamerikanische Staaten „failed states“11 – und damit zu einer eigenständigen Politik der
Stabilität nach innen und außen kaum
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Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“?
in der Lage.12 Der Ausspruch des Außenministers Olney aus dem Jahre
1895 sollte daher für Jahrzehnte die
Handlungsmaxime gegenüber Lateinamerika werden: „Today the United
States is practically sovereign on this
continent, and its fiat is law upon the
subjects to which it confines its interposition (...).“13
Solche Positionen sind heute nicht
mehr durchzuhalten. Was immer an
politischen und sozioökonomischen
Mängeln in Lateinamerika zu konstatieren ist, das Rubrum „failed states“
passt nicht mehr angesichts von Modernisierungsleistungen und substanziellen politischen wie ökonomischen
Transformationen in fast allen Staaten
und Gesellschaften des Subkontinents.
Dies wird letztlich auch in Washington
so gesehen. Dass Lateinamerika seit
Jahren in einer von den USA ausgehenden Periode des „benign neglect“
leben muss, hängt damit zusammen,
dass die Trias „security, tranquility and
commerce“ durch andere und von den
USA so gut wie nicht mehr beeinflussbare Bedrohungspotenziale bzw. Handlungsverpflichtungen relativiert wird.
Der Aufstieg Asiens, vor allem Chinas
und damit auch die Chance des Übergangs von einem amerikanischen zu
einem asiatisch-pazifischen oder gar
chinesischen Jahrhundert beschäftigt
mehr und mehr die amerikanischen
und überhaupt die westlichen Eliten.14
Das Europa der Europäischen Union
agiert auf der internationalen Bühne
immer selbstständiger. Und die USA
sind tatsächlich längst einem „clash of
civilizations“, vor allem mit der islamischen Welt, ausgesetzt, der auch dann
nicht mehr geleugnet werden kann,
wenn man Huntingtons analytisch-historische Trennschärfe hinterfragt. Die
73
politischen Probleme des Nahen Ostens einschließlich der Frage der Zukunft der westlichen Energieversorgung wird noch lange auch auf der
Tagesordnung der amerikanischen Politik stehen. Ungewissheit und damit
höchste Aufmerksamkeit einfordernd
begleiten aus US-amerikanischer wie
übrigens auch aus der Sicht des Europas
der Union den Wiederaufstieg Russlands (das in diesem Jahr 2006 sogar die
G8-Präsidentschaft übernimmt) und
die zunehmende internationale Mündigkeit Indiens. Die Konsequenzen für
Lateinamerika liegen auf der Hand:
Wenn nicht morgen schon in Mexiko
oder vielleicht in Zentralamerika oder
in Venezuela Anarchie und Chaos ausbrechen, wird Lateinamerika nicht
mehr ein weiteres Mal in die Situation
ausgesprochen prioritärer Beachtung
durch Washington kommen. Ein sich
in verschiedenen Abschattierungen abspielendes „benign neglect“ wird zu
bleibenden Verhaltensprofilen Washingtons gegenüber den südlichen
Nachbarn gehören.
3. Lateinamerikas Emanzipationsversuche gegenüber den USA
Hat denn Lateinamerika nach dem
Scheitern des Projektes „Simon Bolivar“ nie versucht, aus dem Hegemonieschatten der Vereinigten Staaten
herauszukommen? Es hat es versucht
und versucht es immer noch, wenn
auch die diesbezüglichen Engagements
und Interessen in den lateinamerikanischen Ländern verschieden sind. Ich
nenne einige Beispiele: Zu den kulturell
eindrucksvollsten Dokumenten der lateinamerikanischen Emanzipation von
Washington gehört z.B. das berühmt
gewordene Essay des Uruguayers José
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Henrique Rodó mit dem Titel „Ariel“15,
in welchem eine lateinamerikanische
kulturelle Überlegenheit gegenüber
dem nordamerikanischen Materialismus gepredigt wird. „Ariel“ hat zu einer
ganzen Denkrichtung geführt, „Arielismo“ genannt. Ein anderes prominentes Beipiel bietet der Peruaner José Carlos Mariátegui,16 der nach dem Ersten
Weltkrieg in seinen gescheit geschriebenen „Siete Ensayos“ auf die von außen mitverschuldeten Probleme Lateinamerikas mit Hilfe marxistischer
Analyseraster verwies. Ohne einen groben Fehler zu machen, lässt sich sagen,
dass ein erheblicher Teil der lateinamerikanischen politischen und gesellschaftlichen Ideengeschichte und übrigens auch der philosophischen Schriften Emanzipationsliteratur ist, bei der
es um die Selbstfindung des Subkontinents geht.17 Auch auf politischem Gebiet war Lateinamerika immer wieder
wach. An der Schnittstelle von Ökonomie und Politik baute der erste Generalsekretär der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika CEPAL18, der legendäre Argentinier Raul Prebisch, in
seinem „Manifiesto Latinoamericano“
eine Position auf, die auf nichts weniger als eine Reform des internationalen
ökonomischen Systems bei einer sich
gleichzeitig abspielenden lateinamerikanischen Integration hinauslief. Eine
solche Schnittstelle ergab sich 1975
durch die Gründung des lateinamerikanischen Wirtschaftssystems SELA19
erneut. Es ging darum, für das gesamte
Lateinamerika20 im damals stattfindenden Nord-Süddialog einen verbindlichen Sprecher aufzubauen. Man glaubte auch, bei einer lateinamerikanischen
OAS ohne die USA auszukommen, nachdem es schon in den 30er-Jahren, vor
allem durch Argentinien, innerhalb des
sich allmählich entwickelnden Inter-
Manfred Mols
Amerikanischen Systems zu Versuchen
gekommen war, zu einem gleichberechtigteren Interessenaustausch mit
den Vereinigten Staaten zu gelangen.
In diesen Kontext gehört auch der
„Konsens von Viña del Mar“ im Jahre
1969 und die CECLA21-Gründung,
deren Ziel innerlateinamerikanische
Koordination hieß. In den Großversuch einer lateinamerikanischen Emanzipation gehört selbstverständlich die
Kubanische Revolution, der Aufstand
der Sandinisten in Nicaragua bzw. der
Zentralamerika-Konflikt der 80er-Jahre
überhaupt. Heute wird man auf Venezuelas Chavez verweisen, auf seine
Absprachen mit Bolivien und mit Kuba, auf die Sympathien, die ihm in
nicht wenigen lateinamerikanischen
Ländern entgegengebracht werden, auf
die neopopulistischen und antiimperialistischen Trends im Cono Sur und
anderswo.
4. Lateinamerikas Handlungsalternativen
Man betont häufig in den Analysen
zu Lateinamerikas internationaler Stellung, dass die Implosion der Sowjetunion und damit das Ende des OstWest-Konfliktes eine für Lateinamerika
signifikante Chance zu einer früher
nicht gekannten Handlungsfreiheit bedeutet. Daran ist sicher einiges richtig,
aber es ist dies nur die halbe Wahrheit.
Die Europäer und auch einige Länder
des Pazifischen Asien sind schon lange
vor 1990 auf Lateinamerika zugegangen, die Europäer massiv und konstruktiv in ihrer Unterstützung der vielfältigen lateinamerikanischen Integrationsprozesse, sehr demonstrativ auch
anlässlich des Zentralamerika-Konfliktes; die Asiaten über die Bewegung der
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Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“?
Blockfreien einerseits und über das sich
schrittweise vollziehende japanische
Engagement in einigen lateinamerikanischen Ländern andererseits. Die heutigen Bindungen Europas an Lateinamerika haben sehr viel mit der inzwischen
etwas verbrämten früheren Kolonisierung des Subkontinentes durch Spanien und Portugal zu tun und auch mit
der Einbindung der Anfang des 19. Jahrhunderts unabhängig gewordenen Länder in die Aufmerksamkeits- und Interessensphären Englands und – dies mit
einer sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vollziehenden Phasenverschiebung – Deutschlands. „Asien-Pazifik“
bedeutet in den Ländern südlich des
Rio Grande immer mehr neben Japan
vor allem Chinas sehr intensiv gewordenes Lateinamerika-Engagement.22
Man kommt daher nicht um die Feststellung herum, dass Lateinamerika seit
Jahren Optionen hatte, für die die Regierungen in ihren Entscheidungen frei
waren, also unbeeinflusst von jeder
klientelistischen Bevormundung. Das
gilt eindeutig für die Einrichtung eines
auf französische Initiative gestarteten
biregionalen Dialogs auf höchster politischer Ebene unter dem Namen Europäisch-Lateinamerikanischer Gipfel, der
zum ersten Mal im Juni 1999 in Rio de
Janeiro zusammentrat und inzwischen
in die vierte Runde geht.23 Ebenso interventionslos von außen blieben die
europäisch-lateinamerikanischen Parlamentariertreffen und schließlich das
von Singapur und Chile inaugurierte
Ministertreffen FEALAC.24 Ob beide
Seiten die mit FOCALAE gebotenen
Chancen des neu eröffneten inter-regionalen und trans-pazifischen Dialogs
zur Diversifizierung ihrer politischen
und ökonomischen Beziehungen auch
voll zu nutzen wussten, steht als Frage
auf einem anderen Blatt.25
75
5. Nochmals zur Frage des
Globalisierungspartners
Wenn also die Hinterhof-Interpretation Lateinamerikas kaum noch zu halten ist (Kolumbien gehört zu den Ausnahmen, die die Regel bestätigen), ist
damit schon verbürgt, dass Lateinamerika in eine vordere Reihe des imaginären internationalen Systems gerückt
ist, und zwar als „global player“? Die
pauschale Antwort heißt eindeutig
Nein, muss aber etwas genauer erläutert werden.
Der immer mehr Anhänger findende
Präsident Hugo Chavez von Venezuela,
dessen linker Populismus auch in anderen lateinamerikanischen Ländern
auf Sympathien stößt (Bolivien, Peru,
natürlich Kuba, etwas weniger offen im
Argentinien Präsident Kirchners und
im Brasilien des Präsidenten „Lula“),
zeigt eindeutig, dass Lateinamerika ordnungspolitisch noch lange nicht zur
Ruhe bzw. einer intern wie extern akzeptablen Selbstfindung gekommen
ist. Doch weder Chavez noch sein Venezuela könnte man als „global players“ bezeichnen. Ein Element der Unruhe, dazu noch ein, wegen seiner Öleinnahmen ressourcenkräftiges, wird
als solches zur Kenntnis genommen,
nicht aber als Partner im internationalen Spiel behandelt. Argentinien hat
sich wieder gefangen, ist aber aus seinen traditionalen strukturellen Problemen nicht hinausgekommen. Über
Mexiko kann man angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen
schon deshalb nicht viel sagen, weil die
in der Regierung befindliche PAN26, die
alte Revolutionspartei PRI27 und der
Linksabweichler PRD einigermaßen gleiche Wahlchancen haben, was allerdings im Falle eines Sieges von PRI und
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vor allem PRD28 bedeuten könnte, dass
sich das Land, trotz seiner Zugehörigkeit zur nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA29, wieder etwas stärker in Richtung Lateinamerika bewegen würde. Das einzige Land, das nicht
nur jetzt, sondern schon seit einer geraumen Zeit in den Status eines „global
player“ hineinwächst, dürfte Brasilien
sein. Brasiliens globaler Anspruch ist
mehr als 100 Jahre alt und geht im Wesentlichen auf seinen damaligen Außenminister Rio Branco zurück. Stefan
Schirm30 hat in einem dicht geschriebenen Aufsatz die bedenkenswerten
und die nicht ganz so positiven Führungsindikatoren Brasiliens aufgelistet.
Zu den Führungselementen zählen die
Rolle des Landes auf der Ministerkonferenz im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO von Cancún im Jahre
2003 und die dort eingenommene prominente Haltung in der „Gruppe der
20“, seine Aktivitäten in internationalen Friedensaktionen der UN und im
Rahmen der OAS, seine Bemühungen,
zu einem „gerechteren internationalen
Handelssystem“ zu kommen, die auf
gleiche Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten drängenden Versuche zu einer maßgeblichen Mitsprache in den
nordamerikanischen Plänen zur Schaffung eines Free Trade Agreement of the
Americas FTAA, schließlich auch erfolgreiche internationale Vermittleraktivitäten in Paraguay, Venezuela und
Bolivien. Hinzu kommen immer mehr
ausgebaute Wirtschaftsbeziehungen zu
Europa, China und allmählich auch Indien. Doch bleiben bei all dem auch
Grenzen und Einschränkungen. Brasiliens Nachbarn respektieren das politische und ökonomische Gewicht des
Landes, stehen aber einer regionalen
brasilianischen Führungsrolle reserviert bis ablehnend gegenüber. Es zeig-
Manfred Mols
te sich dies besonders deutlich in der
Haltung Argentiniens und übrigens
auch Mexikos, sich für einen dauerhaften Sitz Brasiliens im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen einzusetzen.
Die von Brasilien inaugurierte Gründung einer Comunidad Sudamericana
de Naciones ist bisher ergebnislos geblieben. Ob es gelingt, gegen die bis vor
kurzem von Bush favorisierte FTAA eine South American Free Trade Organisation (SAFTA) ins Leben zu rufen, die
im Wesentlichen aus einer Fusion der
Mitglieder von Mercosur und Andenunion bestehen würde, ist deshalb
ungewiss, weil sich Brasilien seiner
Mitspieler nicht sicher sein kann. Außerdem – das hat Schirm gut herausgearbeitet – zeigt Brasilien völkerrechtliche wie ideologische Beklemmungen,
wenn es um die Vertiefung von jedweder Integration und Kooperation geht.
Wo die nationale Souveränität alleinige Richtschnur im außenpolitischen
und internationalen Verhalten bleibt,
sind verbindlichere Einbindungen in
partielle Fusionsprozesse mit anderen
schlicht unmöglich. Gilbert Calcagnotto hat in einem Beitrag mit der
Überschrift „Die Rolle Brasiliens im
Kampf mit den USA und die Vormachtstellung in Südamerika“31 Brasilien ein Land auf „tönernen Füßen“ genannt. Maßgeblicher Indikator sei die
im Weltmaßstab mehr als prekäre Situation der sozialen Ungleichheit, die
es in dieser drastischen Evidenz weder
in Argentinien noch in Paraguay noch
in Uruguay gebe.32 Dass hier eine permanente Bedrohung des innenpolitischen Friedens Brasiliens besteht, die
das Land gleichzeitig enorm schwächt
und ihm damit auch kein international
überzeugendes Erscheinungsbild gibt,
ist augenscheinlich. Ob eine eingreifende soziale Korrektur unter den vor-
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Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“?
herrschenden Bedingungen von ökonomischer Globalisierung und NeoLiberalismus möglich wäre, sei fairerweise deshalb ausdrücklich dahingestellt, weil sich deutliche Tendenzen
sozialer Verzerrung auch in den, den
gleichen Rahmenbedingungen ausgesetzten großen Industrieländern zeigen, z.B. in Deutschland, in Großbritannien und in den USA. Bleibt der
Hinweis auf Chile. Chile ist in vielerlei
Hinsicht das entwickeltste lateinamerikanische Land. „Good Governance“ ist
besser erreicht als anderswo, die Demokratie ist intakt, die Wirtschaftsordnung stabil und die Wirtschaft selbst
auf einem guten Kurs. Das Land hat
Dank einer arbeitsfähigen Diplomatie
einen Diversifizierungsgrad seiner auswärtigen politischen wie wirtschaftlichen Interessen erreicht, um den ihn
die lateinamerikanischen Nachbarn
beneiden müssen. Dennoch wäre es etwas künstlich, Chile als „global player“
zu bezeichnen. Von seiner Bevölkerungs- und Wirtschaftsgröße her ist das
Land zu klein, um das für einen „global
player“ notwendige Gewicht aufzubringen. Unterschlagen werden soll
gleichwohl nicht, dass Chile – gegen
anderweitige Präferenzvorstellungen
der USA – mit José Miguel Insulza (dem
ehemaligen Außenminister) den amtierenden Generalsekretär der OAS stellt.
Insulza ist seit langem eine intellektuell überzeugende Symbolfigur für die
Emanzipation Lateinamerikas.
Es sollte deutlich geworden sein, dass
Lateinamerika zum gegenwärtigen Zeitpunkt und bis auf weiteres kein strategischer Partner im weltweiten Globalisierungsspiel sein kann. Globalisierung
ist – entgegen landläufigen Hinweisen
auf enorm gesteigerte wirtschaftliche
Interdependenzen und alle gängigen
77
Zeitvorstellungen überholende kommunikativen Vernetzungen – ein multidimensionales Geschehen,33 das eine
UNESCO-Forschergruppe um den bedeutenden Brasilianer Helio Jaguaribe
de Mattos auf die Formel einer „planetarischen Zivilisation“ gebracht hat,
welche dabei sei, die Nachfolge der
„späten Westlichen Zivilisation“ anzutreten.34 Zu einer Zivilisation gehören
politische und wirtschaftliche Ordnungsmuster, artikulierte Sozialstrukturen, ein normativer und auch ideologischer Überbau, Kultur und Wissenschaft im weitesten Sinne des Wortes,
technologische Eigenqualitäten einschließlich Forschung und Entwicklung, vor allem auch „soft power“ in jener konzeptuellen Einkreisung, wie uns
dies vor Jahren Joseph Nye vorzustellen
wusste. Das bedeutet das Aufkommen
eines paradigmatischen Ranges und
einer entsprechenden Attraktion für
andere, nicht zuletzt ein aus seiner
jeweiligen historischen Epoche definierbarer Modernisierungsgrad, der die
Ausstrahlung von „soft power“ rechtfertigen kann.
Von all diesen Qualitäten ist Lateinamerika sehr weit entfernt.35 Die politischen Systeme seiner Länder müssen
um Mindeststandards von „governance“ kämpfen. Die lateinamerikanische Wirtschaft – das haben die Krisen
der letzten Jahre und eigentlich Jahrzehnte gezeigt – bleibt extrem verwundbar und in der Menge seiner
konkreten wirtschaftlichen Outputs
eher vormodern als modern. Die Investitionen für Forschung und Entwicklungen können nicht im Ansatz
mit entsprechenden Ausgaben in ausgewählten ost-, südost- und südasiatischen Ländern mithalten, von einer
ausstrahlenden „soft power“ ist ange-
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Manfred Mols
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sichts der meist extrem verzerrten Sozialsysteme, die das Prädikat „ungerechte Gesellschaften“ rechtfertigen,
im internationalen Feld nichts zu spüren. Es hat in den vergangenen Jahren
im Kreis um Wolf Grabendorff und
Riordan Roett ins Operative gehende
Überlegungen zur Bildung eines Atlantischen Dreiecks,36 bestehend aus
Europa, den USA und Lateinamerika
gegeben. Hätte man dieses Thema unter dem Vorzeichen einer breit gefassten Globalisierung diskutiert, wäre man
auf die Grenzen einer entsprechenden
transatlantischen Partnerschaft gestoßen. Lateinamerika ist kein „rule ma-
ker“ im weltweiten Globalisierungsprozess, sondern ein „rule taker“. Dem
Bolivianer Felipe Mansilla ist Recht zu
geben, wenn er meint, dass Globalisierung in Lateinamerika überwiegend als
Bedrohung empfunden werde, sodass
die Suche nach einer eigenen und
bleibenden Identität Vorrang habe.37
Womit wir bei der alten Abgrenzungsphilosophie der Lateinamerikaner wieder angekommen wären, der Suche
nach dem „ser americano“ und der nationalen Kultur.38 Wäre Lateinamerika
anders zu interpretieren, wenn es gerade heutzutage weniger fragmentiert
wirkte?
Anmerkungen
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5
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7
8
9
Arbeitspapier Auswärtiges Amt/Berlin
2005.
Thiery, Peter: Zwischen good governance, Populismus und Institutionenkollaps,
in: Brennpunkt Lateinamerika 22 vom
15.11.2005.
Maihold, Günther/Husar, Jörg: Demokratiekrisen in Lateinamerika. Bolivien
und Venezuela als Testfälle für das demokratische Engagement der internationalen Gemeinschaft, SWP-Aktuell, Juni
2005.
Molina, Franklin: Estados Unidos y la
Doctrina Bush en Política Exterior. Visión desde America Latina, in: Rev. Ven. de
Econ. y Ciencias Sociales 9/3 2003, 59–
71.
Vgl. Sangmeister, Hartmut: Gulliver und
die Zwerge: Asymmetrien und Interdependenzen der Wirtschaftsbeziehungen
in den beiden Amerikas, Lateinamerika
Analysen 11 vom 11. Juni 2005.
Bailey, Norman A.: Latin America in
World Politics, New York 1967.
Valenzuela, Arturo: Beyond Benign Neglect. Washington and Latin America, in:
Current History vom Februar 2005, 58–
76.
Molina, F., Estados Unidos, 62.
Boeckh, Andreas: Lateinamerika und die
USA: Muster wechselseitiger Wahrnehmung in einer symmetrischen Partner-
10
11
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13
14
15
16
17
18
19
20
schaft, Lateinamerika-Analysen 11 (Juni
2005), 87–106.
Text bei Bailey, N.A., Latin America, 183.
Boeckh, A., Lateinamerika, 96.
Ausnahmen waren hier zeitweilig Chile
und vor allem Brasilien, das einen reibungslosen Übergang von einer Kolonie
zu einer geordneten und handlungsfähigen Staatlichkeit kannte.
Bailey, A., Lateinamerika, 183.
Schon klassisch: Borthwick, Mark: Pacific
Century. The Emergence of Modern Pacific Asia, Boulder/Col. U.A. 1992.
In der deutschen Ausgabe hg. von Ette,
Ottmar, Mainz 1994 (span. Original
1902).
Mariátegui, José Carlos: Siete Ensayos de
interpretación de la realidad peruana, Lima 1928.
Vgl. etwa Roig, Arturo Andrés: Teoria y
Práctica del Pensamiento Latinoamericano, México 1981; Faust, Jörg/Mols,
Manfred/Wagner, Christoph (Hrsg.): Ideengeber und Entwicklungsprozesse in Lateinamerika, Mainz 1999; Zea, Leopoldo
(coord.): América Latina en sus ideas,
México 1996.
CEPAL = Comisión Económica para America Latina. (Heute … yel Caribe).
SELA = Sistema Económico Latinoamericano mit Sitz in Caracas.
Auch das castristische Cuba machte mit!
70-79_Mols
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Lateinamerika – Hinterhof der USA oder „global player“?
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29
CECLA = Comisión Especial de Coordinación Latinoamericana. Einzelheiten zu
diesen Entwicklungen bei Mols, Manfred:
Integration und Kooperation in zwei Kontinenten. Das Streben nach Einheit in Lateinamerika und in Südostasien, Stuttgart
1996, bes. Teil 2.
Vgl. Xu Chicheng u.a.: Latin America en
2004-2005, Peking, March 1, 2005 (Bureau of International Cooperation/Institute of Latin American Studies).
Vgl. Boomgarden, Georg: Aussichten auf
den Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, Lateinamerikas und der Karibik am 28./29. Juni
1999 in Rio de Janeiro, in: Lateinamerika.
Analysen-Daten-Dokumentation Nr. 15
(1998), 54–62.
FEALAC = Forum for East Asia Latin America Cooperation.
Vgl. Mols, Manfred: Latin America and
East Asia. Between Bilaterism and Interregionalism, in: Jörg Faust/Manfred Mols/
Won-ho Kim (eds.), Latin America and
East Asia – Attempts at Diversification.
New Patterns of Power, Interest and
Cooperation, Münster/New Brunswick/
London 2005, 196–311.
PAN = Partido Acción Nacional.
PRI = Partido Revolucionario Institucional.
PRD = Partido Revolucionario Democrático.
NAFTA = North American Free Trade
Agreement.
30
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Schirm, Stefan A.: Führungsindikatoren
und Erklärungsvariablen für die neue internationale Politik Brasiliens, in: Lateinamerika Analysen Nr.11 vom Juni 2005,
107–130.
Calcagnotto, Gilberto: Die Rolle Brasiliens
im Kampf mit den USA um die Vormachtstellung in Südamerika, in: Nadja
Gmelch u.a. (Hrsg.), Freihandel in den
Amerikas. Entwicklung und Perspektiven
gegenwärtiger Integrationsprojekte, München 2005, 263–289.
Daten: Ebd. 272.
Zu einer breiteren Definition von Globalisierung vgl. Mols, Manfred: Bemerkungen zur Globalisierung in Lateinamerika
und in Ostasien, in: Wulfdieter Zippel
(Hrsg.), Die Beziehungen zwischen der EU
und den Mercosur-Staaten, Baden-Baden
2002, 45–76.
Vgl. Jaguaribe, Helio: Un Estudio crítico
de la Historia, México 2001 und 2002 (2
Bände), hier bes. Bd.II, Kapitel XVI–XIX.
Vgl. Mols, Manfred/ Öhlschläger, Rainer
(Hrsg.): Lateinamerika in der Globalisierung, Frankfurt am Main 2003.
Vgl. Grabendorff, Wolf/ Roett, Riordan
(Hrsg.): Lateinamerika – Westeuropa –
Vereinigte Staaten: Ein Atlantisches Dreieck?, Baden-Baden 1985.
Mansilla, Felipe, H.C.: Tradición autoritaria y modernización imitativa, La Paz 1997.
Vgl. Oddone, Juan A.: Regionalismo y nacionalismo, in: L. Zea, America Latina,
201–238.
80-83_Im_Dialog
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Im Dialog
Der Beitrag von Stefan Jakob Wimmer im Heft 405 der Politischen Studien
mit dem Titel „Gibt es eine ‚islamische Gefahr‘ für die Kultur Europas?“ hat
ein großes Echo bei unserer Leserschaft hervorgerufen und wurde kontrovers
diskutiert. Stellvertretend drucken wir hier zwei Expertenmeinungen ab.
Prof. Dr. Arnulf Baring, Berlin, hat in
seinem Artikel „Europäismus als Selbsttäuschung“ in der FAZ vom 29. März
2006 Stefan J. Wimmers Beitrag lobend
hervorgehoben und zustimmend zitiert:
immer wieder zu erlebender Gewalt
äußern.‘“ (S.9)
„(...) Das Januar/Februar Heft der Politischen Studien fragt nach den Grenzen Europas und in diesem Zusammenhang auch, ob es eine islamische
Gefahr für die europäische Kultur gebe.
Kenntnisreich und einfühlsam schildert Stefan Jakob Wimmer zunächst
das Selbstverständnis des Islams als Religion, weist seine versöhnlichen und
friedfertigen Züge nach. Doch dann
fährt er fort: ‚Das bisher Gesagte könnte den Eindruck erwecken, als bestünde gar kein Grund zur Besorgnis, als
könne von einer Gefahr keine Rede
sein. Der Blick auf aktuelle Realitäten
belehrt uns freilich sehr drastisch eines
Schlimmeren. Von Muslimen selbst
wird oft allzu schmerzlich empfunden,
dass die Forderung ‚Es sei kein Zwang
in der Religion‘ zu den am häufigsten
und heftigsten missachteten Koranstellen gehört. An Stelle eines Lebens in
Fülle ist die Wirklichkeit sehr viel eher
von Beschränkungen, von Eingrenzungen und Abgrenzungen bestimmt. Tatsächlich ist das Verhältnis islamischer
Gesellschaften gegenüber dem so genannten Westen heute in erschreckendem Maße von Abgrenzung und Konfrontation geprägt, die sich auch in
„Stefan Wimmer versucht, ein seiner
Ansicht nach verzerrtes Bild des Islam
hier zu Lande zurechtzurücken, Fehlentwicklungen aufzuzeigen und die
aus ihnen resultierende Bedrohung
von der ‚eigentlich friedliche(n) Natur
des Islam‘ zu unterscheiden. Seine Ausführungen enthalten jedoch entscheidende Fehldeutungen islamischer Begriffe und Phänomene, ignorieren oder
verharmlosen wesentliche Probleme
und gelangen somit zu durchaus anfechtbaren Folgerungen.
Dr. Eva D. Plickert, München, schickte uns folgenden kritischen Leserbrief:
Die korrekte Übersetzung des arabischen Worts Islam mit ‚Hingabe‘ oder
‚Unterwerfung‘ bestreitet Wimmer und
erklärt, Islam bedeute ‚Frieden‘. Diese
von Islam-Apologeten oft gehörte, irreführende Behauptung stützt Wimmer
mit einer Ableitung des Worts Islam
aus der Wurzel des Worts salâm, d.h.
‚Frieden‘, ‚Heil‘. Nicht alle aus den
Wurzelkonsonanten s, l, m gebildeten
Wörter haben jedoch die gleiche Bedeutung. Wimmers Übersetzung ist
nicht haltbar und weckt den Verdacht,
er traue Nicht-Muslimen nicht zu, in
einem arabischen Wörterbuch nachzuschlagen.
Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006
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Im Dialog
Islam bedeutet also, sich dem Willen
Allahs und der islamischen Lebensordnung gemäß dem Koran und der Sunna, dem Vorbild des Propheten Mohammed, zu unterwerfen. Frieden ist
dort, wo der Islam herrscht, nämlich
im Dar-al-Islam. Als Ganzheitssystem,
das Temporalia und Spiritualia nicht
trennt, umfasst der Islam Religion, Politik, Recht, Kultur und das gesamte Leben der Menschen. Der Einzelne ist der
Umma, der Gemeinschaft der Muslime, untergeordnet und besitzt nicht
den Status eines Individuums. Von diesem quasi-totalitären Anspruch des islamischen Systems und seinem Gegensatz zum säkularen, demokratischen
Rechtsstaat mit seinen Grund- und
Menschenrechten erfahren wir von
Wimmer leider nichts.
Kaum überzeugen kann auch Wimmers Interpretation des Dschihad, d.h.
‚Anstrengung‘. Während im Koran der
Begriff Dschihad ganz entscheidend im
Sinne des Kampfs gegen ‚Ungläubige‘
auftritt (z.B. Sure 9, 5 und 123), wie es
den Glaubensforderungen Mohammeds entspricht, verharmlost Wimmer
den Dschihad als Bemühen um eine
bessere Welt durch soziales Engagement oder Umweltschutz und lässt die
Bedeutung von Kampf und Krieg nur
als Dschihad gegen ‚das Böse‘ oder im
Verteidigungsfall zu. Wenngleich Mohammed auch Angriffe abzuwehren
hatte, ist doch unverkennbar, dass die
‚Ungläubigen‘ ‚um Allahs willen‘ (Sure
4, 74 und 76 u.a.) grundsätzlich aggressiv zu bekämpfen sind. ‚So kämpfen sie (die Muslime) auf dem Pfade
Gottes; sie töten und werden getötet‘
(Sure 9, 111). Die Weigerung, sich dem
Islam zu unterwerfen, ist ‚das Böse‘, das
bekämpft werden muss, um das Paradies zu erlangen. Der Bezug auf Al-
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lah/Gott legt den Begriff ‚Heiliger
Krieg‘ durchaus nahe, weshalb Wimmers Hinweis, dieser sei erst von christlichen Kreuzfahrern eingeführt worden, als Ablenkungsversuch erscheint.
Zwar gesteht Wimmer zu, Mohammed
habe auch Gewalt praktiziert und Kriege geführt, was ihn ‚aus christlicher
Perspektive‘ – eine typische Relativierung Wimmers – und im Vergleich mit
Jesus disqualifiziere. Aus muslimischer
Sicht habe jedoch Mohammed wie ihm
vorausgegangene streitbare Propheten
(Moses, Elias, Josua und David) notwendigerweise für seinen Glauben
kämpfen müssen, um das Prophetentum zu vollenden. Ohne festen ethischen Standpunkt und in ständigem
Perspektivenwechsel rechtfertigt Wimmer damit die fundamentale Aggressivität Mohammeds. Der Friedenslehre
Jesu stellt Wimmer den Islam als eine
‚realistischere Theologie‘ gegenüber,
die verlange, dass gegen die für ‚das Böse‘ in der Welt verantwortlichen ‚Täter‘, mit denen nur die ‚Ungläubigen‘
(kafir) gemeint sein können, mit Gewalt vorzugehen sei. Dass Juden und
Christen zu dulden sind, wenn sie als
untergeordnete Dhimmis Tribut entrichten, ist aus solcher Sicht wohl als
besondere Großzügigkeit zu begrüßen.
Mit dem Koranfragment ‚Es sei kein
Zwang im Glauben‘ (Sure 2, 256) insinuiert Wimmer, es gelte Glaubensfreiheit im Islam. Damit ist jedoch tatsächlich gemeint, der islamische Glauben sei dem Menschen von Geburt an
gleichsam naturgemäß. Gegen Religionsfreiheit sprechen nur zu deutlich
die zahlreichen Koranstellen, die den
Kampf gegen ‚Ungläubige‘ fordern,
und der Umstand, dass Apostasie, der
Abfall vom Islam, als schweres Verbrechen verfolgt werden muss.
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Völlig ignoriert wird bei Wimmers Betrachtung dessen, was islamisch sei, die
ausdrücklich im Koran geforderte Gewalt gegen Frauen (Sure 4, 34), wenn
sie sich ‚widerspenstig‘ verhalten. Entsprechend sind auch die in islamischen
Staaten praktizierte Unterdrückung
und rechtliche Benachteiligung der
Frauen, ‚Ehren‘morde z.B. bei Ehebruch und andere drakonische Strafen
gemäß der Scharia kein Thema.
Die Frage, ob der Islam gefährlich sei,
beantwortet Wimmer wie gewohnt
ambivalent. Terror, Fanatismus, Sympathie mit Gewalt gegen den Westen
und Antisemitismus werden zwar
durchaus angeprangert, jedoch als Fehlentwicklungen bezeichnet. Die Verbrechen von Terroristen pervertierten
ihre Religion, wie dies – wiederum relativierend – in allen Religionen vorkomme. Die Ursachen werden mit dem
Verlust der früheren kulturellen und
zivilisatorischen Überlegenheit durch
– aus der Sicht der Muslime – ‚heilsgeschichtlich überholte Kulturen‘ wie
das Christentum sowie die kolonialistische Ausbeutung und Überfremdung
durch die westliche Kultur erklärt, die
als Bedrohung empfunden würden.
Daraus folge eine Rückbesinnung auf
die ‚höchsten Werte‘ der eigenen Religion, die zu einem ‚befreienden Überlegenheitsgefühl‘ führe. Diese mit Sympathie für die Sicht der Muslime geführte Argumentation resultiert in der
Feststellung, der Islam könne durchaus
die Lösung für die Muslime sein, wenn
er nur nicht durch ‚Fundamentalismus
entstellt und verderbt würde‘. Letzteres
verkennt, dass dem orthodoxen Islam
mit seinem allumfassenden Anspruch
durchaus fundamentalistische Tendenzen inhärent sind, die Unterscheidung
zwischen Islam und Islamismus dem-
Im Dialog
nach ‚keinen Erkenntniswert‘ (Tilman
Nagel) besitzt.
Zweifellos gibt es auch in Europa viele
Muslime, die dem Absolutheitsanspruch des Islam nicht folgen. Insofern
ist Wimmer zuzustimmen, dass pauschale Verurteilungen in der Tat nicht
gerechtfertigt sind. Friedfertig sind jene
Muslime jedoch kaum, weil sie ihre Religion so leben, ‚wie sie gemeint ist‘,
sondern weil sie die aggressiven Forderungen Mohammeds aus innerer Ablehnung oder welchen Motiven auch
immer nicht umsetzen wollen oder
können. Gewiss ist der Islam kein Monolith, leider finden sich jedoch bei
Wimmer keine Hinweise auf seine verschiedenen Ausformungen, z.B. auf das
Alevitentum.
Der Forderung nach Unterstützung der
‚positiven Strömungen‘ ist zuzustimmen, wenn damit moderate, friedfertige und mit unseren Werten kompatible
Tendenzen gemeint sind. Jedoch davon ausgehend, wie Wimmer es verlangt, das heftige Drängen der Türkei in
die Europäische Union als einen ‚friedlichen Anschluss an Europa‘ und als
‚einmaliges Geschenk der Geschichte‘
zu begrüßen geht an den realen Motiven der Türkei völlig vorbei und würde
die Aufnahmefähigkeit der EU vollends
überfordern. Ein EU-Beitritt der Türkei,
die ihren rasch wachsenden, arbeitslosen Bevölkerungsüberschuss nach Europa leiten will und als größter Schuldner des IWF auf Subventionen aus Brüssel spekuliert, würde für die EU und
insbesondere Deutschland fatale Folgen zeitigen. Nach einem Beitritt werden infolge der zu gewährenden Freizügigkeit eine Einwanderung von über
10 Millionen Türken nach Deutschland und jährliche Beitrittshilfen der
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Im Dialog
EU von bis zu 28 Milliarden Euro erwartet, von denen unser hoch verschuldeter Staat rund 20% zu zahlen
hätte. Wahrlich ein Danaergeschenk!“
Dr. Stefan Jakob Wimmer Ph.D.,
München, erwidert:
„Gegen Ende ihrer Kommentierung
meines Beitrags spricht sich Frau Plickert gegen pauschale Verurteilungen
von Muslimen aus und unterstützt
meine Forderung nach einem Bündnis
mit ‚positiven Strömungen‘, welche
den Islam als friedliche und mit den
Werten einer modernen, pluralistischen und freien Gesellschaft konformen Religion vertreten. Zuvor bemüht
sie sich ausführlich, dabei leider nicht
immer sachlich und mit zuweilen apodiktisch (‚damit ist jedoch tatsächlich
gemeint ...‘) eingeführten Positionen,
den Nachweis zu führen, dass es solche
Muslime im Grunde nicht geben könne, jedenfalls nicht, solange sie in
Treue an den Quellen ihrer Religion,
dem Koran und der Überlieferung des
Propheten Muhammad festhielten. Es
ist angesichts der erschreckend verbreiteten Fehlentwicklungen in islamischen Gesellschaften, der Wucht islamistischen (nicht: islamischen – der
Unterscheidung kommt ein essenziel-
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ler Erkenntniswert zu!) Terrors und der
eben darauf konzentrierten Außenwahrnehmung unsererseits tatsächlich
immer noch möglich und beklagenswert verbreitet, die ganze Breite und
Vielfalt muslimischer Stimmen zu den
Fragen, die uns alle bedrängen und
beunruhigen, zu ignorieren und auf
eingefahrenen, plakativen und scheinbar eindeutig charakteristischen Stereotypen (Islam = Unterwerfung, Heiliger Krieg, Ungläubige, Ehrenmorde) zu
insistieren. Die Verfasser des aktuell
verbreiteten ‚Muslimischen Manifests‘
(Mustafa Akyol und Zeyno Baran; über
Internet-Recherche bequem einzusehen), von ganz unterschiedlichen Beiträgen, die in der Neuerscheinung von
‚Der Islam am Wendepunkt. Liberale
und konservative Reformer einer Weltreligion‘, herausgegeben von Katajun
Amirpur und Luwig Amann (Herder
Freiburg 2006) gesammelt werden, und
zahlreiche weitere muslimische Stimmen bei uns, in der Türkei und in anderen Ländern belegen eindrucksvoll,
dass Islam sehr viel mehr sein kann, als
wir gewohnt (oder bereit?) sind, zur
Kenntnis zu nehmen. Bei aller gebotenen Vorsicht vor den Gefahren einer
globalen und lokalen Konfrontation
meine ich, dieses Zugeständnis sind wir
der Achtung der Würde auch muslimischer Menschen schuldig.“
84-85_Das_aktuelle_Buch
12.05.2006
8:43 Uhr
Seite 84
Das aktuelle Buch
Schirrmacher, Frank: Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft. München: Karl Blessing Verlag, 2006,
185 Seiten, € 16,00.
Apokalyptische Szenarien vom drohenden
Niedergang unserer Gesellschaft haben Konjunktur. Sie kleiden sich allerdings häufig nicht
in so wohlgesetzte Rede wie das hier anzuzeigende Buch. Es stammt aus der Feder des
Mitherausgebers der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung, Dr. Frank Schirrmacher, der sich nach
seinem streitbaren Aufruf zum
„Methusalem-Komplott“ nun mit
einer weiteren Monografie in der
Debatte zur Bevölkerungsentwicklung zu Wort gemeldet hat.
Sie trägt den Titel „Minimum“ –
und der Name ist Programm.
Drehen sich die insgesamt sechs
Kapitel unterschiedlicher Länge
im Kern doch alle um das Menetekel einer Verkümmerung unserer sozialen Beziehungen auf
ein „Minimum“ und die darob
aufbrechenden Urfragen einer
Gesellschaft: Wie entsteht Vertrauen? Auf wen kann man im
Ernstfall bauen? Wer hilft wem, wann, wie lange und warum?
In gut journalistischer Manier wählt Schirrmacher zu Beginn einen effektvollen Aufhänger,
der ihm im Folgenden immer wieder als Vergleichsfolie dienen wird: die Tragödie vom
Donner-Pass. Auf seinem Weg nach Kalifornien war 1846/47 ein Treck von 81 Siedlern
sechs Monate lang bei knapper werdenden
Vorräten durch Schneestürme in der Sierra
Nevada fest gehalten worden. 50% starben.
Bei näherer Betrachtung stellte sich rückblickend heraus, dass es nicht die starken, unabhängigen Einzelkämpfer waren, welche die
größten Überlebenschancen hatten. Entscheidend für das Durchkommen war einzig und
allein, ob die betreffende Person in einer Familie gereist war oder nicht: je größer die
Familie, desto größer die Überlebenswahrscheinlichkeit des Einzelnen.
Dieses „biologische“ Erklärungsmuster von
der „Überlebensfabrik Familie“ überträgt Schirrmacher nun auf unsere von der „Krise des Sozialstaats“ und der „Implosion der Familien“
geplagte Gegenwart. Und seine daraus gewonnene Erkenntnis überrascht nicht. Kaum
ein Mitglied unserer Gemeinschaft wäre am
Donner-Pass unter den sicheren Gewinnern
gewesen. Selbst wenn wir allerorten spüren,
dass auch heute „unbekanntes Terrain“ vor
uns liegt, reisen wir überwiegend allein. Im
Deutschland des Jahres 2006, dessen Geburtenrate mit durchschnittlich 1,3 Kindern je
Frau die niedrigste Europas ist, strebt die „Urgewalt“ Familie dem absoluten „Minimum“ zu.
Die damit in Gang gesetzte Abwärtsspirale im
sozialen Gefüge unseres Landes ist so beunruhigend wie bekannt. Als einen der gravierendsten Punkte nennt Schirrmacher hier den
Ausfall der Familie als „stärkste
Sozialisierungsmaschinerie“, als
Kern allen Zusammenhalts, als
Keimzelle des Altruismus, was eine radikal unter ökonomischen
Vorzeichen stehende Umwertung
aller Werte nach sich ziehen werde. Die Gesellschaft habe es versäumt, der „Investition Kind“ in
der öffentlichen Wahrnehmung
mit dem „sozialen Kapital“, das
Kinder schaffen, einen positiven
„Wert“ entgegenzusetzen, obwohl
dieser auf Grund des Gesetzes
von Angebot und Nachfrage in
den nächsten Jahren und Jahrzehnten sprunghaft steigen werde. Nicht nur,
weil diese Kinder dann als unter 20-Jährige
einer zu diesem Zeitpunkt faktisch halbierten
Bevölkerungsgruppe angehören, sondern weil
sie in einer schrumpfenden Gesellschaft
schlicht eine mit Geld nicht mehr aufzuwiegende Größe darstellen werden. Denn was
erwartet uns, wenn der Verteilungskampf auf
Grund der Rationierung sozialer Zuwendungen nicht in der Sierra Nevada des 19. Jahrhunderts, sondern morgen in unserer Mitte
ausbricht? Was, wenn der Staat in absehbarer Zukunft seine Hilfsversprechen nicht mehr
halten kann? Wer rettet dann wen, wenn es
ernst wird?
Auf einen Nenner gebracht, lautet Schirrmachers mit weiteren „Rollenspielen“, historischen Exempeln und sozialpsychologischen
Untersuchungen unterfütterte Antwort: „Blut
ist dicker als Wasser“. Jede Gesellschaft brauche, sofern sie fortbestehen wolle, einen bestimmten Anteil „verwandtschaftlichen Altruismus“. Im Ernstfall trage allein das familiäre
Netz. Die massenmedial propagierte Illusion
eines ökonomisch oder freundschaftlich motivierten Zusammenhalts, in der sich unsere
„Single-Generation“ behaglich eingerichtet
hat, werde im Angesicht heraufziehender Katastrophen zerplatzen und eine Freischar nar-
Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006
84-85_Das_aktuelle_Buch
17.05.2006
10:21 Uhr
Das aktuelle Buch
zisstischer Einzelkämpfer offenbaren, für die
etwa ein Generationenvertrag keine Geltung
mehr besitze.
Ist das Vergehen unserer Minimum-Gemeinschaft also unvermeidbar? Der Autor verneint
dies unter anderem mit einem Hinweis auf historische Analogien wie die zur „Schicksalsgemeinschaft“ (Helmut Schelsky) der Jahre
1945/49. Denn immer dann, wenn die Ressourcen schwänden und existenzielle Gerechtigkeit gefragt sei, so Schirrmacher, schlage die Stunde der Frauen. In ihnen sieht er die
großen „Verwandtschaftsbewahrer“, die auch
in scheinbar ausweglosen Situationen die Familien zusammen hielten, Netzwerke organisierten und „soziales Kapital“ akkumulierten,
wo es verschwendet oder zerstört wurde. Alles, was einer schrumpfenden Gesellschaft
fehlen werde – soziale Kompetenz, Einfühlung, Altruismus, Kooperation –, vereinten die
Frauen auf sich, weshalb es nur ihnen gelingen könne, die schwindende Gemeinschaft
zu stabilisieren. Sie seien, ähnlich den Frauen
vom Donner-Pass, die „Überlebensmaschinen“ unserer Gemeinschaft.
Eingedenk der landläufig unter dem Schlagwort „demografischer Wandel“ subsumierten hochkomplexen Gemengelage aus wirtschafts- und familienpolitischen Herausforderungen, Bevölkerungsentwicklung und zusehends überforderten sozialen Sicherungssystemen, vor denen unser Land heute steht,
ist man spätestens an diesem Punkt denn
doch versucht, hinter die femininen Lösungsvisionen Schirrmachers ein deutliches Fragezeichen zu setzen. Der weiblichen Bevölkerungshälfte – wahlweise Deutschlands, Mitteleuropas, Europas oder des „Westens“ – aus
recht freimütig zusammengestellten evolutionsbiologischen Gründen en passant die
Verantwortung für einen Ausweg aus der
Seite 85
85
Malaise zuzuschieben, scheint doch reichlich
gewagt.
Zumal Schirrmacher sein in den ersten beiden
Dritteln des Buches aufgestelltes „biologisches“ Erklärungsmuster im Verlauf des letzten Drittels selbst konterkariert. Prognostiziert
er doch angesichts der anstehenden fundamentalen Ausdünnung der verwandtschaftlichen Netzwerke – in deren Verlauf in vielen
Ländern Europas eine wachsende Zahl von
Menschen in ihrer eigenen Generation wenige
oder gar keine Blutsverwandte mehr haben
wird – das Knüpfen „neuer Netze“ des sozialen Zusammenhalts durch weibliche Hand.
Wer Schirrmachers wortmächtig unterfütterte
Donner-Pass-Szenarien von der Fragilität rein
ökonomischen oder freundschaftlichen Zusammenhalts im Angesicht hereinbrechender
Katastrophen noch im Ohr hat, wird aber in
diesen, aus nahe liegenden Gründen gerade
nicht verwandtschaftlich fundierten Verbünden
keine zukunftsfähigen Garanten der Haltbarkeit und Beständigkeit unserer Gesellschaft
sehen wollen. So bleibt der Autor, anders als
im Untertitel suggeriert, konkrete und tragfähige Vorschläge für das „Neuentstehen unserer Gemeinschaft“ schuldig.
Bei aller Kritik im Detail bleibt dieses Buch
dennoch lesenswert. Goldene Zügel machen
ein Pferd nicht besser, aber wer „Minimum“
nicht als akademisches Werk, sondern als gesellschaftspolitisches Manifest liest, der darf,
nicht zuletzt auf Grund Schirrmachers vorzüglicher Gabe, abstrakte Daten in spannende Geschichten zu übersetzen, die anregende
Lektüre eines gut geschriebenen und warmen
Plädoyers für die Familie als Nukleus der Gesellschaft erwarten. Das ist nicht viel, aber ein
Anfang.
Philipp W. Hildmann
86-93_Buchbesprechungen
12.05.2006
8:43 Uhr
Seite 86
Buchbesprechungen
Böckenförde, Stephan (Hrsg.): Chancen
der deutschen Außenpolitik. Analysen –
Perspektiven – Empfehlungen. Dresden:
TUDpress, 2005, 214 Seiten, € 14,80.
der Außenpolitik dar (Klaus Segbers). Und
nach Wilfried von Bredow erscheint die Außenpolitik der letzten 15 Jahre insgesamt „in
keinem schlechten Licht“.
Wie kann die deutsche Außenpolitik unter der
Regierung Schröder/Fischer bilanziert werden? Welche Perspektiven und vor allem welche Handlungsempfehlungen lassen sich daraus ableiten? Das sind die Fragen, die sich 24
renommierte Politikwissenschaftler im vorliegenden Band stellen. Antworten auf diese Fragen zu finden ist auch notwendig, da – wie der
Herausgeber in seinem einleitenden Artikel
ausführt – die deutsche Außenpolitik in einer
dreifachen Krise steckt. Diese manifestiert
sich auf globaler, europäischer und nationaler
Ebene. Deshalb ist eine breite Diskussion über
die Interessen, Ziele und Mittel der deutschen
Außenpolitik erforderlich. Der Band soll in diesem Kontext als „Ideensteinbruch“ verstanden werden. Die Maxime der „wissenschaftlichen Politikberatung“ liegt den Autoren dabei
zugrunde. Neben Aufsätzen zur Außenpolitik
allgemein umfasst das Buch auch Beiträge zu
speziellen außenpolitischen Bereichen oder
mit regionalem Schwerpunkt.
Der bundesrepublikanischen Außenpolitik
werden dann auch eindeutige Empfehlungen
gegeben: Die konzeptionellen Schwächen
müssen erstens dringend ausgebessert werden. Dazu fordert Hanns W. Maull beispielsweise ein „Weißbuch zur deutschen Außenpolitik“, um die Interessen, Ziele und Mittel
einer konsistenten Außenpolitik in einem breiten Umfang abzustecken. Deutschland muss
seine Interessen also klarer definieren. Dies
gilt für fast alle Bereiche. So ist eine gute Entwicklungspolitik auch immer eine Krisenpräventionspolitik (Dirk Messner) und kluge Energiepolitik auch immer Sicherheitspolitik (Friedemann Müller).
Bei der Lektüre wird deutlich, dass in den Augen der meisten Autoren die Bundesrepublik
in den letzten Jahren wenig richtig, aber viel
falsch gemacht hat. Augenfällig ist der Hinweis auf die fehlende Gesamtkonzeption der
deutschen Außenpolitik. Eine außenpolitische
Strategie, die deutsche Interessen überhaupt
erst definiert, war nicht vorhanden. Neben
handwerklichen Fehlern wies die deutsche
Außenpolitik der letzten Jahre unilaterale Züge auf. Einige der Beiträge sparen nicht mit
scharfer Kritik. Die deutsche Außenpolitik sei
„ziel- und ruderlos“ (Christian Hacke). Die rotgrüne Außenpolitik litt unter „Realitätsverlust“
und bewirkte einen Rückfall in „deutsche Nationalromantik“ (Helmut Hubel). „Das Deutschland, das die rot-grüne Regierung der Welt
hinterlässt, ist eine absteigende Macht mit
wachsenden Ambitionen.“ Die Entwicklungen
deuten auf eine „machtpolitische Resozialisierung“ hin (Gunther Hellmann). Gerhard
Schröder hat mit seiner „Megaphon-Diplomatie“ einen „auffälligen Bruch in der Kontinuität
deutscher Außenpolitik nach 1945“ vollzogen
(Frank Umbach).
Diesen teilweise vernichtenden Urteilen stehen nur wenige positive Einschätzungen gegenüber. Das Verdienst der rot-grünen Regierung stelle beispielsweise die Normalisierung
Zweitens ist es dringend notwendig, so die
herrschende Meinung, dass Deutschland seine innenpolitischen Probleme zuerst lösen
muss, um die Ressourcen für eine Außenpolitik zu generieren, die Deutschlands gewachsener Verantwortung gerecht wird. Für die
Übernahme globaler Verantwortung fehlen
Deutschland aber nicht nur die militärischen
Fähigkeiten, sondern zunehmend auch die
„soft power“, die sich aus multilateraler Vorgehensweise und internationalem Ansehen
speisen. Deswegen schickt Reinhard Wolf
Berlin „zurück auf Los“ und plädiert für eine
Anknüpfung an den „vorsichtig-zurückhaltenden Multilateralismus der Bonner Republik“.
Mehr Multilateralismus und weniger Alleingänge wie im Irak-Konflikt oder beim Streben
nach einem Sitz im UN-Sicherheitsratssitz
muss daher drittens die Devise sein. Die Erweiterung und Vertiefung der EU sowie die
Stärkung der UN „bei gleichzeitig größerem
deutschen Einfluss auf deren Entscheidungen“ sollte auch weiterhin angestrebt werden
(Herfried Münkler). Denn dieser Einfluss, so
Johannes Varwick, ist durch den deutschen
Unilateralismus gesunken.
Viele der Beiträge sind auf Grund der Kürze
und des deklaratorischen Charakters impulsiv
und offensiv. Dies war das Ziel des Bandes
und das ist auch das Erfrischende daran. Aber
manche der Beiträge gehen weit über ihr
Thema hinaus und verlieren so an Prägnanz.
Statt konkreter Handlungsempfehlungen stehen außerdem nicht selten Generalabrechnungen und noch zu vage Empfehlungen im
Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006
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Vordergrund. Am Ende fühlt sich der Leser ein
wenig allein gelassen. Zu viele Themen werden angesprochen und vieles wiederholt sich.
Hier wäre ein abschließender Artikel des Herausgebers, der die Thesen bündelt und Perspektiven eröffnet, sicher hilfreich gewesen.
Der Band ist ein lobenswerter Versuch, der in
der Krise steckenden deutschen Außenpolitik
mögliche Wege nach vorne aufzuzeigen.
Bleibt zu hoffen, dass in diesem „Ideensteinbruch“ weitergearbeitet wird und auch in
Deutschland eine breite und fruchtbare Diskussion zwischen dem außenpolitischen Establishment, der Politikwissenschaft und der
Öffentlichkeit entsteht.
Herbert Maier
Gareis, Sven Bernhard: Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik. Eine Einführung. Opladen: Verlag Barbara Budrich, 2005,
268 Seiten, € 19,90.
Diese Monografie des in Münster lehrenden
Politologen Sven Bernhard Gareis sollte in jeder Einführungsveranstaltung zur deutschen
Außen- und Sicherheitspolitik Pflichtlektüre
sein. Das lobenswert übersichtlich gegliederte Werk führt Studenten so souverän wie kompakt in das Thema ein. Zweifellos wird es in
seinen zwölf Kapiteln dem eigenen Anspruch
gerecht, die Grundlagen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu erläutern und
deren zentrale Handlungsfelder zu durchleuchten. Studienanfänger werden es dem
Autor danken, dass er sich nur den ersten der
beiden Appelle des folgenden friesischen
Wahrspruchs zu Herzen nimmt: „Man muss
die Menschen dort abholen, wo sie stehen,
und dorthin rudern, wo sie nicht mehr stehen
können.“
Routiniert werden in Teil A (Grundlagen) Begriffe definiert und zueinander in Beziehung
gesetzt, wird systematisch der Entscheidungsapparat der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik vorgestellt. Danach skizziert
Gareis die Grundzüge der bundesdeutschen
auswärtigen Politik bis 1990. Diese Basis nutzt
er, um die durch Wiedervereinigung und Ende
des Ost-West-Konflikts veränderten Rahmenbedingungen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik zu erörtern. In Teil B (Ausgewählte
Handlungsfelder) widmet sich der Autor dann
der Rolle Deutschlands in der EU, der NATO
und der UNO. Darüber hinaus thematisiert er
in eigenen Kapiteln die schwierige Transformation der Bundeswehr von der statischen
Verteidigungs- zur global tätigen Einsatzarmee sowie den Kampf gegen den internatio-
nalen Terrorismus bzw. die deutsche Beteiligung daran. Teil C (Perspektiven) schließlich
bietet Empfehlungen für die künftige Gestaltung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.
Das Lehrbuch ist klug konzipiert. Obwohl sich
der Autor offensichtlich vorgenommen hat, jedes einzelne Kapitel so zu gestalten, dass die
jeweiligen Ausführungen auch für sich genommen problemlos nachvollziehbar sind,
kommt es kaum zu Redundanzen. Die thematisierten Aspekte, die sich gegenseitig gut ergänzen und zu einem gelungenen Gesamtbild
zusammenfügen, bereitet Gareis stets schnörkellos und leicht verständlich auf – nicht selten mit Hilfe von Abbildungen und „Kästen“
(schade, dass ein entsprechendes Verzeichnis
fehlt). Der interessierte Leser findet einige
kommentierte Angaben zu weiterführender Literatur und viele einschlägige Internet-Adressen.
Lässt das Buch also keine Wünsche offen?
Beinahe. Zum einen hätte es an zwei Stellen
etwas gestrafft werden können. Kapitel 5, das
sich mit „Interessen“ beschäftigt, hätte man
einsparen können, indem man dessen Kern in
das der begrifflichen Klärung gewidmete Kapitel 1 integriert hätte. Dadurch wäre es auch
möglich gewesen, den Begriff des Interesses
mit einigen der dort kurz vorgestellten Theorien – auf die später zu selten Bezug genommen wird – in Verbindung zu bringen. Darauf
aufbauend hätte dann der jeweilige Zusammenhang zwischen deutschen Interessen und
der entsprechenden Politik im jeweiligen
Handlungsfeld hergestellt werden können.
Ähnliches gilt für Abschnitt 11 (Krisen- und
Konfliktprävention): Wenn die zentralen Punkte an jeweils passender Stelle bereits früher
eingeflossen wären, wäre dieses Kapitel überflüssig. Man hätte die Studenten folglich mit
ein paar bedruckten Seiten weniger erfreuen
können.
Zum anderen wäre man dem Autor gewiss
nicht böse, wenn er häufiger und weniger vorsichtig argumentiert und Position bezogen
hätte. Zwar sind der angenehm unaufgeregte
Tonfall und die Ausgewogenheit der analytisch
angelegten Abschnitte grundsätzlich positiv
zu bewerten. Gareis vermeidet Stellungnahmen auch nicht generell. Der Realisierung des
im Vorwort benannten Ziels, zur „weiteren Beschäftigung und Diskussion anregen“ zu wollen, wäre es jedoch sicherlich zuträglich gewesen, noch öfter Thesen der Art zu formulieren, wie der Autor es in der Frage der
EU-Mitgliedschaft der Türkei tut. Hier attestiert er der rot-grünen Bundesregierung, mit
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ihrer Position „die strategischen Erfordernisse
der Zukunft“ zu berücksichtigen. Er warnt davor, einen möglicherweise „fatalen Fehler“ zu
begehen und den „zweifellos mühevollen Prozess“ des Beitritts erst gar nicht ernsthaft zu
beginnen (S. 113).
Kritisch angemerkt werden muss, dass ein
weiterer Korrekturgang nötig gewesen wäre.
Dadurch hätten Wortwiederholungen und
orthografische Fehler, vor allem bei Eigennamen – so wird z.B. Mitterrand konsequent
falsch geschrieben –, vermieden werden können.
Diese Hinweise sollen jedoch keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass das Buch eine
sehr gute Basis für die Beschäftigung mit dem
Thema bietet. Es steht außer Frage, dass es
die Bedürfnisse der Zielgruppe (Studienanfänger und Lehrende) ausgezeichnet befriedigt.
Christian Strobel
Weidenfeld, Werner: Getrennte Wege? Die
transatlantischen Beziehungen am Scheideweg. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, 2005, 206 Seiten, € 25,00.
In seinem neuestem Buch „Rivalität der Partner. Die Zukunft der transatlantischen Beziehungen – die Chancen eines Neubeginns“
greift Werner Weidenfeld seine bereits Mitte
der 90er-Jahre aufgestellte These vom „Kulturbruch mit Amerika“ auf. Hinter der heftigen
öffentlichen Auseinandersetzung diesseits
und jenseits des Atlantiks über das Für und
Wider eines Irak-Krieges stehe eine immer
größer wachsende Kluft über die künftige Ausgestaltung der internationalen Ordnung. Für
ihn stehen die transatlantischen Beziehungen
an einem Scheideweg: Entweder lassen Amerika und Europa zu, dass „die Rivalität der
Partner“ zum „endgültigen Bruch“ führt, oder
sie finden zu einem neuen „strategischen Realismus“, um gemeinsam das 21. Jahrhundert
zu gestalten.
Nach einem Exkurs in die historische Entwicklung der transatlantischen Beziehungen
werden die Entwicklungen der USA nach dem
Ende des Ost-West-Konflikts und der europäische Integrationsprozess auf dem Weg zur
politischen Vollendung seit dem Vertrag von
Maastricht beleuchtet. Vor diesem Hintergrund wird beschrieben, wie sich die transatlantische Gemeinschaft angesichts der
weltpolitischen Veränderungen und neuer
globaler Herausforderungen neu begründet.
Abschließend erfolgt eine Bewertung ihrer
Perspektiven.
Wie kann dem Niedergang der transatlantischen Beziehungen nach der Irak-Krise Einhalt geboten werden? Nicht durch eine Rückkehr zur guten alten Zeit des Ost-West-Konflikts, die unwiderruflich vorüber ist, so der
Befund Weidenfelds. Nachdem die Bedrohung der gemeinsamen Idee der Freiheit nicht
mehr besteht, seien Amerika und Europa zur
„historischen Normalität der Ambivalenz“ zurückgekehrt. Die Ursache der „transatlantischen Entfremdung“ macht er in der unterschiedlichen Wahrnehmung von Bedrohung
und Risiko auf beiden Seiten des Atlantiks
aus. Die wachsenden Differenzen seien mit
dem 11. September offen zu Tage getreten.
Während sich die USA existenziell bedroht
sähen und alles täten, die eigene Sicherheit zu
garantieren, ohne sich dabei im Geflecht multinationaler Institutionen verstricken zu lassen,
wollten die Europäer „befrieden und nicht
kämpfen“. Konflikte müssten multilateral eingehegt und militärische Macht nur als letztes
Mittel auf der Grundlage eines legitimierenden Mandats des UN-Sicherheitsrates eingesetzt werden. Stehen wir einem Kampf unterschiedlicher Risiko-Kulturen – Mars contra Venus – gegenüber?
Hinter der rissigen Fassade versteckt sich
nach Auffassung von Weidenfeld eine feste
Substanz. Aus der „Rivalität der Partner“
könne eine „neue Kooperation“ erwachsen.
Beide wissen, dass sie „einander brauchen“.
Beide wissen, dass es keine konkurrenzfähige
Alternative zur transatlantischen Zusammenarbeit gibt. Amerika und Europa sind aufgerufen, sich eine „gemeinsame transatlantische
Risiko-Kultur“ zu erarbeiten.
Das zentrale Defizit der transatlantischen Partnerschaft macht Weidenfeld im Fehlen eines
substanziellen Strategie-Dialogs zwischen
beiden Seiten des Atlantiks aus. Künftig müsse es einen Ort der strategischen Verständigung über den Atlantik geben. Wie aktuell seine Forderung ist, unterstreicht die Rede von
Bundeskanzlerin Angela Merkel in Washington am 12. Januar 2006, als sie dazu aufrief,
die NATO zu einem Ort zu machen, „an dem
sicherheitspolitische Diskussionen (...) zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika
und den europäischen Mitgliedstaaten geführt
werden“ sollen.
Amerika kann als einzig verbliebene Supermacht die großen Weltordnungsaufgaben des
21. Jahrhunderts nicht allein bewältigen. Weltordnung kann nicht von den USA allein kom-
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men, sie kann nur aus der atlantischen Gemeinschaft insgesamt kommen. Die USA
stehen vor der Aufgabe, wieder als eine institutionell eingebettete Führungsmacht zu handeln, die die notwendige politische Legitimation durch Zustimmung und aktive Unterstützung ihrer Freunde, Verbündeten und Partner
für die Umgestaltung des globalen sicherheitspolitischen Umfeldes im Sinne eines liberalen Internationalismus mobilisieren kann.
Und nur ein starkes, handlungsfähiges Europa
kann der selbstbewusste, unerlässliche Partner der USA sein. Um Verantwortung auf der
Weltbühne an der Seite der USA übernehmen
zu können, ist Europa aufgerufen, seine Defizite bei den militärischen Fähigkeiten zu beseitigen und seine politische Uneinigkeit – „altes“ gegen „neues“ Europa – zu überwinden.
Die Lehre des 20. Jahrhunderts lautet: Amerika und Europa können ihre Interessen gemeinsam viel besser fördern als im Alleingang.
Sie eint gemeinsame Werte, Interessen und
die Vision einer Welt im 21. Jahrhundert, die
sich auf Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit gründet. Und beide verfügen über
alle Mittel und Möglichkeiten, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts von der Stabilisierung der Lage im Irak bis hin zum weltweiten Kampf gegen den Dschihad-Terrorismus erfolgreich zu bewältigen. Gelingt es,
einen „soliden Pragmatismus und strategischen Realismus“ zu verinnerlichen, so kann
der Beginn des 21. Jahrhunderts eine „neue
erfolgreiche Ära“ in den transatlantischen Beziehungen einläuten, so der versöhnliche Ausblick Weidenfelds. Die Krise um das Atomprogramm Irans könnte sich als Lackmustest für
die auf einem neuen strategischen Realismus
sich gründenden Transatlantizismus erweisen.
Franz-Josef Meiers
Biscop, Sven: The European Security Strategy. A Global Agenda for Positive Power.
Burlington: Verlag Aldershot, 2005, 152 Seiten, £ 49,95.
Bereits mit dem Untertitel „A Global Agenda
for Positive Power“ zeigt Sven Biscop die
Stoßrichtung an, in die eine zukünftige Umsetzung Europäischer Sicherheitsstrategie
(ESS) weisen könnte und seiner Meinung nach
auch sollte. In seiner durch klare Struktur und
Gliederung gekennzeichneten Arbeit geht er
zunächst auf die veränderte internationale Sicherheitslage seit dem Kalten Krieg ein, um
daraus resultierend Schlussfolgerungen für
„new approaches“ einer modernen europäischen Sicherheitspolitik abzuleiten (S. 1–14).
Das immer wiederkehrende Schlagwort ist dabei die „comprehensive security“, die sich im
Gegensatz zur amerikanischen Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) nicht nur auf den politisch-militärischen Sektor beschränkt, sondern durch umfassendes und globales Krisenmanagement gekennzeichnet ist. Auch
der Zusammenhang zwischen Globalisierung
und Entstehung von Terrorismus wird klar herausgearbeitet (S. 15–34).
Trotz der globalen Dimension einer Europäischen Sicherheitsstrategie verweist der Autor
auf die nach wie vor wichtige „Neighbourhood
Policy“. In der Stabilität der Beziehungen zwischen der EU und ihren unmittelbaren Nachbarstaaten (z.B. Ukraine, Moldova, Belarus,
Rumänien, Bulgarien, Balkanregion, südlicher
Kaukasus), aber auch ihren „mediterranen
Partnern“ (Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Marokko, Syrien, Tunesien,
Türkei, Palästinenser) sieht er eine unabdingbare Voraussetzung für die Sicherheit in
Europa. Für die erfolgreiche Stabilisierung des
Mittleren Ostens hält er die Zusammenarbeit
von Union und Vereinigten Staaten für erforderlich, wobei er auf die bereits vorhandenen
– wenn auch nicht umgesetzten – Gemeinsamkeiten der beiden hinweist (S. 35–54).
Im vierten Kapitel wird die Reform der UN angesprochen. Hier geht Biscop sowohl auf die
nach dem Irak-Krieg entbrannte Debatte ein,
wer wann unter welchen Umständen zum Gebrauch von Waffengewalt berechtigt ist, als
auch auf mögliche zukünftige Konstellationen
des Sicherheitsrates (S. 55–83).
Im nächsten Abschnitt wird auf die „Sicherung der Kapazitäten“ eingegangen, die nach
Biscop nicht allein die Erhöhung militärischer
Potenziale, sondern vor allem auch eine
dauerhafte und strukturierte Zusammenarbeit
der einzelnen Organisationen (UN, NATO etc.)
erfordert, um Kohärenz und Effizienz zu bewirken (S. 85–106). Ein wichtiger Faktor für
diese dauerhafte Stabilisierung der internationalen Sicherungssysteme stellt dabei die
Wiederbelebung der transatlantischen Beziehungen dar. Trotz der bestehenden Differenzen zwischen USA und EU, die Biscop
einfühlsam, aber durchaus Amerika-kritisch
herausarbeitet, plädiert er für eine Partnerschaft, die auf mehr als einer militärischen
Verteidigungsbasis (NATO) beruht. Schließlich
seien die USA wichtigster – wenn auch nicht
einziger – Partner der EU, ein Verhältnis, das
nicht allein auf wirtschaftlichen Faktoren
beruhe, sondern vor allem auch auf gemeinsamen Wertvorstellungen basiere (S. 106–
127).
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Abschließend geht der Autor auf die „Securing
Implementation“ ein (S. 129–136). Hier verweist er auf Kritikpunkte gegenüber der ESS,
die zwar die langfristigen und übergeordneten
Ziele der EU-Außenpolitik darlegt, in ihren
konkreten Formulierungen aber schwammig
bleibt. Dennoch hält er die Umsetzung der
Sicherheitsstrategie enorm wichtig für die
Glaubwürdigkeit der EU. So zeichnet Sven
Biscop ein insgesamt positives, wenn auch
nicht kritikfreies Bild der Europäischen Sicherheitsstrategie, die für ihn mehr ist als
das, nämlich „a Global Agenda for Positive
Power“.
Sven Biscop legt mit dieser Arbeit eine ausführliche und breit gefächerte Analyse der Europäischen Sicherheitsstrategie vor und bringt
gleichzeitig eigene Gedanken und Ansätze zur
Weiterentwicklung europäischer Politik mit
ein. Überzeugend legt er dar, dass im 21. Jahrhundert, in Zeiten von Globalisierung und internationalem Terrorismus, nur mehr eine multilaterale „comprehensive security“ für dauerhafte Stabilität und Sicherheit weltweit sorgen
kann. Für die EU bedeutet dies, dass eine
Ausweitung ihrer GASP auf den militärischen
Sektor unabdingbar ist, ohne dabei die anderen Bereiche der Sicherheitspolitik zu vernachlässigen. Nur so kann die EU tatsächlich
zu einem globalen Akteur werden, als den sie
sich selbst in der ESS bezeichnet. Erste Voraussetzung dafür ist, dass die Mitgliedstaaten endlich lernen, mit einer einzigen Stimme
zu sprechen, um als gemeinsame Kraft den
USA ein gleichberechtigter Partner auf der internationalen Bühne zu werden. Trotz einiger
berechtigter Kritikpunkte bewertet Biscop das
Potenzial dieser „comprehensive strategy for
EU external action“ optimistisch, die für ihn
den Stellenwert einer „Global Agenda of Positive Power“ einnimmt. Die zukünftige Entwicklung der EU im Allgemeinen und der
GASP im Besonderen wird zeigen, ob er Recht
behält.
Agnes von Bressensdorf
Behrends, Jan C./Klimó von, Árpád/Poutrus, Patrice G. (Hrsg.): Antiamerikanismus
im 20. Jahrhundert. Studien zu Ost- und
Westeuropa. Bonn: Dietz Verlag, 2005, 365
Seiten, € 36,00.
Nicht erst seit dem transatlantischen Streit um
den Irak-Krieg 2003 gibt es eine neue Welle eines polymorphen Antiamerikanismus. Misshandlungen von feindlichen Soldaten durch
amerikanische GIs, Verschleppungen von Terrorverdächtigen verschiedener Nationen, das
Foltern dieser in rechtsfreien Ländern und das
Festhalten an der Todesstrafe sind Gründe dafür, dass die einst als „gutmütiger Hegemon“
(Josef Joffe) gefeierten USA in den Sog abgrundtiefer normativer und gesellschaftlicher
Kritik von innen und außen geraten sind. Auf
der anderen Seite ist es die pure Stärke des
Hegemons, die naturgemäß Neider auf den
Plan ruft, wie dies zumindest amerikanische
Neokonservative behaupten.
Der Zeitpunkt für die Publikation eines Buches
über die Geschichte des Antiamerikanismus
könnte auf Grund der Aktualität des Themas
nicht besser gewählt sein.
In 14 prägnanten Studien untersuchen junge
Autoren aus den USA und aus Europa die verschiedenen Formen und Motivationen für einen kritischen Umgang mit der „neuen Welt“
in der Geschichte.
Mit dem spanisch-amerikanischen Krieg
(1898) betraten die Vereinigten Staaten die
Bühne der Großmachtpolitik. Und erst mit der
Wahrnehmung der außergewöhnlichen ökonomischen und politischen Macht der USA
geriet die junge Nation in den Fokus der Evaluationen durch andere Mächte und Kulturen.
Mit den Ambitionen Theodore Roosevelts
übernahmen die USA eine wahrhaft globale
Rolle. Seit mehr als einem Jahrhundert oszillieren mittlerweile weltweit die USA-Bilder zwischen hochgradiger Bewunderung und abgrundtiefem Hass.
Der Antiamerikanismus wird auf verschiedenen Feldern ausgetragen. Jan Behrends zeigt,
dass Amerikakritik oftmals eine nach außen
gewandte Selbstkritik von Nationen darstellt.
In seiner radikalen Form stellt der Antiamerikanismus nicht nur einen intellektuellen Diskurs, sondern eine „zielgerichtete Mobilisierungsideologie“ dar. Dies war vor allem im Kalten Krieg der Fall, als der Sozialismus eine
eigene Identität lediglich über die Konstruktion von Feindbildern (vorübergehend) herzustellen vermochte. Der Antiamerikanismus
dient aber auch als intellektuelle Plattform für
eine allgemeine System- oder Gesellschaftskritik, die beispielsweise eine sehr weitgefasste Globalisierungskritik umfasst.
Die bolschewistische Revolution in Russland
im Jahr 1917 führte zur Entstehung eines alternativen antikapitalistischen Gesellschaftsentwurfs. Mit dem Begriff Antiamerikanismus
ist deshalb definitorisch eine umfassende Gesellschaftskritik zu assoziieren, die die Errungenschaften des westlichen Liberalismus von
sozialistischer Seite per se in Frage stellt.
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Behrends zeigt in seinem Beitrag, wie Stalins
Gefolgsleute versuchten, den Zusammenhalt der unterjochten Völker Südosteuropas
mit Hilfe eines primitiven Antiamerikanismus
herzustellen. In perfider Weise wurden die
Werte der USA mit denen des faschistischen
Deutschland gleichgesetzt und die Außenpolitik der Truman-Doktrin mit dem deutschen Expansionismus verglichen. Signifikant ist, dass die Sowjets mit Hilfe des Antiamerikanismus versuchten, die Westintegration von Nationen wie Deutschland und
Österreich zu verhindern und diesen damit
zu einer Propagandawaffe im realpolitischen Schlagabtausch des Kalten Krieges
machten.
Die offizielle antiamerikanistische Propaganda
im Ostblock, aber auch in Italien und Frankreich stand in den Fünfzigerjahren meist in
krudem Gegensatz zum Empfinden der Bevölkerung, welche den amerikanischen Lebensstil von der Jeans bis zum Rock’n Roll
begeistert nachzuahmen versuchte.
Die Kritik an den USA wird meist durch
geschichtliche Beispiele fundiert, wie verschiedene Autoren verdeutlichen. Dabei werden historische Verfehlungen der US-Regierungen, die für diese in der Tat kein
Ruhmesblatt darstellen, kontextentkoppelt
und als zwangsläufiges Ergebnis des amerikanischen Politikprozesses gedeutet. Die
Anklagen reichen vom Vorwurf der Indianerausrottung über die Sklaverei und den Rassismus, von Hiroshima bis zum US-Interventionismus in Vietnam. In der Gegenwart werden die Fehler der Bush-Administration wie im
Irak von Globalisierungskritikern verschiedener Façon als systemimmanente Folge
des globalkapitalistischen US-Expansionismus gewertet.
Von besonderer Bedeutung ist der Antiamerikanismus für die Konstruktion einer „europäischen Identität“, wie Andrei S. Markovits
verdeutlicht. Wie jede wachsende Gemeinschaft braucht auch Europa ein klares Gegenüber. Unlängst waren es Habermas, Rorty
und Derrida, die in den europaweiten Demonstrationen gegen den Irak-Krieg die Geburt eines „neuen Europa“ sahen. Antiamerikanische Ressentiments spielen im europäischen Staatsbildungsprozess eine bedeutsame Rolle.
Philipp Gassert weist zu Recht darauf hin,
dass der Begriff Antiamerikanismus präzise
definiert werden muss, soll er nicht zur Rechtfertigung jedweder tagespolitischer Kritik herhalten.
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Insgesamt beleuchten die Beiträge des Buches ein breites Spektrum an Ausprägungen
des Antiamerikanismus. Gerade in den Zeiten,
in denen die Bush-Administration ihren Krieg
gegen den Terror mit selbstgerecht legitimierten Menschenrechtsverstößen exekutiert, ist
es wichtig, eine klare Sicht zu behalten und tagespolitische von allgemeiner Gesellschaftskritik zu trennen. Denn die selbstreinigende
Kraft im Falle politisch-moralischer Verfehlungen durch US-Administrationen kommt wie so
oft wieder aus den USA selbst.
Einige Beiträge des Buches weichen etwas
stark vom Ursprungsprojekt des Buches ab
und beleuchten mehr binnensoziologische
Fragestellungen.
Trotz dieses Kritikpunktes wird hier ein zentraler Beitrag zum Verständnis des komplexen transatlantischen Beziehungsgefüges in
seiner Genealogie geliefert. Das Buch ist für
Studenten gut lesbar, bietet aber auch Experten im Feld neueste Forschungserkenntnisse
an.
Christoph Rohde
Falter, Jürgen W./Schoen Harald (Hrsg.):
Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaften, 2005, 826
Seiten, € 49,90.
Im Zuge der Bundestagswahl 2005 war die
Unberechenbarkeit der Wähler in aller Munde.
Das Ergebnis verblüffte – auch die Wahlforschung, die im Unterschied zur inflationär gewordenen Umfrageforschung auf die strikte
Einhaltung qualitativer Standards achtet.
Letztgenanntes belegen der renommierte
Mainzer Wahlforscher Jürgen Falter, vielen
durch seine Fernsehanalysen auch außerhalb der Wissenschaft ein Begriff, und Harald Schoen. Beide haben zusammen mit
Autoren, die als Politikwissenschaftler an der
Universität Mainz tätig waren oder sind, ein
voluminöses Handbuch Wahlforschung verfasst.
Generell hat sich die empirische Wahlforschung methodisch stark weiterentwickelt, sie
zählt zu den in der Öffentlichkeit stark wahrgenommenen Bereichen der Politikwissenschaft. Diese Einschätzung bestätigt sich mit
der Lektüre des Buches, das konzeptionell so
hervorragend wie vielschichtig aufbereitet ist.
Gleichwohl beschreitet das imposante Werk
so viele Seitenwege, dass es dem Rezensenten wahrlich nicht leicht fällt, auf dem Hauptweg zu bleiben.
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Das Handbuch beginnt mit den Grundlagen
und geht dabei aus demokratietheoretischer
Sicht unter anderem auf Methodenprobleme
der empirischen Wahlforschung ein. Danach
folgen theoretische Ansätze in der empirischen Wahlforschung wie sozialpsychologische und ökonomische Erklärungsmuster. Besonders tief gehend und ergiebig ist das anschließende Kapitel, in dem sich Falter und
Schoen mit Phänomenen wie der Wahl extremistischer Parteien auseinander setzen. Zudem wird der in der heutigen „Mediendemokratie“ relevante Zusammenhang zwischen
Massenmedien und Wahlverhalten berücksichtigt und die Brücke zwischen Politik- und
Kommunikationswissenschaft geschlagen.
Daran schließen sich ausgewählte Gebiete der
Wahlforschung an. Zu ihnen gehört die historische Wahlforschung, zu der Jürgen Falter
selbst mit seinem Buch „Hitlers Wähler“ viel
beitrug: Darin konnte er Seymour M. Lipsets
These, der Mittelstand habe die NSDAP überproportional gewählt, empirisch widerlegen.
Das Handbuch schließt mit Kritik und Entwicklungsperspektiven der empirischen Wahlforschung in Deutschland ab.
Durch das Werk – mehr als eine Grundlage für
weitere Forschungen – entsteht ein umfassendes Bild der Wahlforschung. Die Autoren
zeigen beispielsweise, dass die Vorstellung,
das Elektorat lasse sich in Stamm-, Nicht- und
Wechselwähler unterteilen, antiquiert sei. Monokausale Erklärungen für Erscheinungen wie
Wechsel- und Nichtwahl würden zu viel ausblenden. Ausdrücklich gelobt sei auch das
wichtige Glossar, das die zentralen Begriffe
erläutert. Offen bleibt, ob die Wahlforschung
nicht auch neue experimentelle Wege beschreiten könnte, welche der zunehmenden Bedeutung des Faktors „Emotionalität“ Rechnung tragen. Vielleicht wird dieser noch zu wenig berücksichtigt. Das gilt auch für das
Internet, das im Handbuch eindeutig zu kurz
kommt.
Florian Hartleb
Klausen, Jytte: Europas muslimische Eliten. Wer sie sind und was sie wollen. Frankfurt/Main: Campus-Verlag, 2006, 306 Seiten,
€ 29,90.
In Europa leben 15 Millionen Muslime. Der Islam ist damit die größte Minderheitenreligion
auf dem Alten Kontinent. Mittlerweile gibt es im
protestantischen Nordeuropa mehr Muslime
als Katholiken sowie mehr Muslime als Protestanten im katholischen Südeuropa. Die Zahl
der europäischen Muslime übersteigt die der
europäischen Juden bei weitem. Aufgrund dieser numerischen Stärke und nicht zuletzt der
inflationären Auseinandersetzung mit dem Islam seit dem 11. September 2001 ist der Islam
in Europa zum Politikum geworden. Problematisch ist dabei, dass in der Regel nur über
und nicht mit den Muslimen gesprochen wird.
Jytte Klausen, Politikwissenschaftlerin an der
Brandeis University in Boston, hat das geändert und über 300 muslimische Frauen und
Männer – unter ihnen Politiker, Ärzte, Juristen
und Unternehmer – aus Deutschland und fünf
weiteren europäischen Staaten zu deren Sicht
auf das gesellschaftliche Zusammenleben befragt. Die Ergebnisse sind in dem hier vorzustellenden Buch zusammengefasst. Wie
schon im Untertitel anklingt, interessieren die
gebürtige Dänin dabei insbesondere, wer diese neuen muslimischen Eliten Europas sind
und was sie wollen. In Abgrenzung zu einem
Huntingtonschen Kulturkampf vertritt sie dabei die These, dass „Muslime schlicht neue
Interessengruppen und ein neues Wählerreservoir darstellen und dass die politischen
Systeme in Europa sich als Folge dieser veränderten Prozesse der Repräsentation, Herausforderung und Kooptation ebenfalls verändern werden.“
Eine einseitige, womöglich einseitig positive
Darstellung kann man Klausen dabei nicht unterstellen. Kritisch thematisiert sie die Vereinbarkeit des Islam mit westlichen Werten und
weist auf die von Hasspredigern und Islamisten in Europa ausgehende Gefahr hin. Den
„muslimischen Mainstream“ sieht sie jedoch
besser von zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren repräsentiert, eben von jener
neuen muslimischen Elite Europas. Eine dauerhafte Integration des Islam in Europa wird
nach Ansicht Klausens daher neben den
Problemlösungsfähigkeiten der Regierungen
ganz entscheidend von der Beteiligung dieser
muslimischen Eliten am Konfliktlösungsprozess abhängen.
Im ersten Kapitel des Buches beschäftigt sich
Klausen dementsprechend mit den von ihr untersuchten muslimischen Eliten, deren gesellschaftlicher Verortung und religiösen Überzeugungen. Die rege muslimische Verbandstätigkeit führt sie dabei auf die jahrelange
Vernachlässigung muslimischer Interessen
durch die Politik der Aufnahmeländer zurück.
Aufschlussreich ist auch der von ihr hergestellte Zusammenhang zwischen dem Grad
der Religiosität und der politischen Einordnung im Rechts-Links-Schema. Demnach
schreibt der Großteil der Befragten der Religion zwar in Übereinstimmung mit konser-
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vativen Strömungen in Europa eine wichtige
Rolle in seinem Leben zu, jedoch ordnen sich
fast alle Interviewten politisch links oder in der
Mitte ein. Andererseits überrascht die dennoch unerwartet hohe Zahl von Muslimen, die
christdemokratischen Parteien angehören
und sich durch eine christliche Partei allemal
besser vertreten sehen als durch eine weitestgehend säkularisierte.
Im Weiteren stellt Klausen die Meinungen dieser Menschen zu zentralen politischen Streitfragen dar. Zum einen beschreibt sie dabei
verschiedene Modelle zur Integration des Islam in Europa, wobei deutlich wird, dass der
Großteil der muslimischen Elite in Europa –
egal ob säkularer Moslem, Euro-Moslem oder
neoorthodoxer Moslem – zur Integration bereit
ist und den Islam für integrierbar erachtet. Andererseits weist Klausen aber auch auf Hürden zur Integration hin, welche die europäischen Aufnahmegesellschaften durch Islamophobie sowie die Diskriminierung der Muslime
durch rechtsradikale Rhetorik und negative
Medienberichterstattung aufbauen. Daran anschließend diskutiert sie an mehreren Beispielen die Versäumnisse europäischer Politik
in Bezug auf die freie Religionsausübung der
Muslime, hinterfragt die Grenzen staatlicher
Neutralität in Glaubensfragen und thematisiert
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die Chancen eines interreligiösen Dialogs und
multikultureller Konzepte.
Wenngleich das Buch gerade in der zweiten
Hälfte an mancher Stelle etwas geraffter hätte gehalten werden können, so ist es für eine
wissenschaftliche Studie erfreulich gut lesbar
und damit lesenswert. Klausen beansprucht
zu keiner Zeit eine absolute Repräsentativität.
Und doch liefern die von ihr geführten Interviews interessante Einblicke in eine muslimische Elite, die sich in Europa heimisch fühlt
und sich gesellschaftlich und politisch engagiert, im Gegenzug aber Anerkennung und
Achtung erwartet. Dass der Großteil der europäischen Muslime tatsächlich demokratiefähig und integrationswillig ist, wird dabei umso
glaubhafter, da auch problembehaftete Themen behandelt werden und nicht unerwähnt
bleibt, dass sich auch ein Mitglied der Hamas
unter den Befragten befand. Wenngleich also
noch teils gravierende Probleme bestehen und
die Integration an mancher Stelle bislang nur
mangelhaft erfolgt ist, so macht Jytte Klausen
mit ihrem Buch dennoch Hoffnung, dass das
Zusammenleben mit den europäischen Muslimen unter Einbeziehung derer Repräsentantinnen und Repräsentanten funktionieren kann.
Ferdinand Mirbach
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Ankündigungen
Folgende Neuerscheinungen aus unseren Publikationsreihen können von Interessenten bei der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e.V.,
Lazarettstraße 33, 80636 München (Telefon: 089/1258-260/266) oder im Internet
www.hss.de/publikationen.shtml bestellt werden:
● aktuelle analysen
– Die Bundestagswahl 2005 – Neue Machtkonstellation trotz Stabilität der politischen Lager
– Welchen Sozialstaat wollen wir?
● Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen
– Aktive Bürgergesellschaft durch bundesweite Volksentscheide? Direkte
Demokratie in der Diskussion
– Die Zukunft der Demokratie – Politische Herausforderungen am Beginn des
21. Jahrhunderts
– Nachhaltige Zukunftsstrategien für Bayern – Zum Stellenwert von Ökonomie,
Ethik und Bürgerengagement
● Berichte und Studien
– Islamistischer Terrorismus – Bestandsaufnahme und Bekämpfungsmöglichkeiten
– Deutsche Sicherheitspolitik – Rückblick, Bilanz und Perspektiven
Über den Buchhandel zu beziehen:
● Alois Glück/Bernhard Vogel/Hans Zehetmair (Hrsg.): Solidarische Leistungsgesellschaft – Eine Alternative zu Wohlfahrtsstaat und Ellbogengesellschaft.
Freiburg: Verlag Herder, 2006. (ISBN-13: 978-3-451-23014-1)
● Hans Zehetmair (Hrsg.): Der Islam im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005. (ISBN 3-531-14797-8)
Politische Studien, Heft 407, 57. Jahrgang, Mai/Juni 2006
94-95_Ankuendigungen_Nachwuchs
12.05.2006
8:44 Uhr
Seite 95
Nachwuchsförderpreis
für politische Publizistik
Der Preis ist mit € 5.000,– dotiert,
wobei der Preis in vier Einzelpreise zu € 2.500,–, € 1.500,–
und zweimal je € 500,– aufgeteilt werden kann.
Einzureichen sind Aufsätze zum Thema:
Haben die Volksparteien Zukunft?
Die Arbeit kann übergreifend oder exemplarisch angelegt sein. Bewerben können sich immatrikulierte Studierende oder Erstpromovierende an wissenschaftlichen Hochschulen mit
von ihnen verfassten wissenschaftlichen Aufsätzen, die sich für eine Veröffentlichung in der
von der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung herausgegebenen politisch-wissenschaftlichen Zeitschrift POLITISCHE STUDIEN eignen. Der Beitrag darf
noch nicht veröffentlicht sein. Der Preis dient der Förderung von Nachwuchswissenschaftlern und Nachwuchswissenschaftlerinnen. Die Altersgrenze ist in der Regel 30 Jahre.
Die Aufsätze müssen in deutscher Sprache abgefasst sein, einen klaren Themenbezug zum
politischen System der Bundesrepublik Deutschland aufweisen, den Anforderungen an eine wissenschaftliche Arbeit genügen, sich durch stilistische Klarheit auszeichnen und durch
eigenständige Gedanken oder auch durch ungewöhnliche Gesichtspunkte ihrer Thematik
Interesse erregen.
Einsendeschluss ist der 2. November 2006
Die Arbeiten sollen einen Umfang von 25.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) nicht wesentlich
überschreiten und sind jeweils als Manuskript und auf CD unter Angabe des Verfassernamens, seiner Anschrift, einer Immatrikulationsbescheinigung und eines Lebenslaufs, aus
dem insbesondere der Bildungsgang hervorgehen soll, an die Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung zu senden. Rückfragen unter Tel. (0 89) 12 58-2 15
oder E-Mail: [email protected]
Die Auswahl unter den eingereichten Arbeiten nimmt eine Jury vor, der prominente Wissenschaftler und Publizisten angehören.
Die Hanns-Seidel-Stiftung, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, erwirbt mit der Auszeichnung der Arbeiten das Recht, diese in den POLITISCHEN STUDIEN honorarfrei zu veröffentlichen. Eine Pflicht zum Abdruck der ausgezeichneten Arbeiten entsteht für die HannsSeidel-Stiftung nicht.
Die Preisverleihung findet im Frühjahr 2007 im Rahmen einer Feierstunde in unserem
Münchner Konferenzzentrum statt. Hauptamtliche Mitarbeiter der Hanns-Seidel-Stiftung
und Autoren der POLITISCHEN STUDIEN sind von der Teilnahme an dem Wettbewerb ausgeschlossen.
96_Autorenverzeichnis
17.05.2006
10:37 Uhr
Seite 96
Autorenverzeichnis
Böhr, Christoph, Dr.
MdL
Stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU
Deutschlands, Trier
Kamer, Hansrudolf, Dr.
stv. Chefredakteur der
Neuen Zürcher Zeitung,
Zürich
Frey, Dieter, Prof. Dr.
Ordinarius für Sozialpsychologie am Department
Psychologie der LudwigMaximilians-Universität
München, Akademischer
Leiter der Bayerischen
Elite-Akademie
Mols, Manfred, Prof. Dr.
Politikwissenschaftler,
Universität Mainz
Gumpel, Werner, Prof.
Dr. em.
Lehrstuhl für Wirtschaft
und Gesellschaft Südosteuropas, Ludwig-Maximilians-Universität
München
Henkel, Jürgen, Dr.
Leiter der Vertretung der
Hanns-Seidel-Stiftung in
Bukarest, Rumänien
Schulze, Hagen, Prof. Dr.
Professur für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien
Universität Berlin, Direktor des Deutschen Historischen Instituts London
Schwarz, Hans-Peter,
Prof. Dr. Dr. h.c.
Historiker,
München/Gauting
Wehler, Hans-Ulrich,
Prof. Dr.
Historiker, Bielefeld
Hildmann, Philipp W.,
Dr.
Referent für Werte, Normen und gesellschaftlichen Wandel der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der HannsSeidel-Stiftung e.V.,
München
Zehetmair, Hans, Dr.
h.c. mult
Staatsminister a.D., Vorsitzender der HannsSeidel-Stiftung e.V.,
München
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