15. Dezember 2000 Aktuelle Themen Die Kerninflation als Indikator für die Geldpolitik Die Geldpolitik braucht mehr denn je ein geeignetes Inflationsmaß für geldpolitische Entscheidungen. Erstens können in dem aktuellen Umfeld relativ niedriger Inflationsraten die bestehenden Differenzen zwischen den einzelnen Inflationsmaßen unterschiedliche geldpolitische Maßnahmen suggerieren. So lag z.B. die Veränderungsrate des harmonisierten Verbraucherpreisindexes (HVPI) im Oktober mit 2,7% über der von der EZB festgelegten Definition von Preisstabilität (Inflationsrate unter 2%), während der HVPI ohne Lebensmittel und Energie mit 1,5% deutlich niedriger ausfiel. Zweitens haben theoretische Arbeiten die große Bedeutung hervorgehoben, die die Glaubwürdigkeit der Notenbank und die Stabilisierung der Erwartungen für die Sicherung der Preisstabilität haben. Dies hat zu Bemühungen geführt, die Geldpolitik transparenter und stärker für Zielabweichungen verantwortlich zu machen. Starke Differenzen zwischen verschiedenen Inflationsmaßen ... ... erschweren geldpolitische Entscheidungen ... ... und machen sie weniger transparent. Kerninflation: wichtiges Instrument der Preisanalyse Eine Schwäche der üblichen Preisindizes (wie des Verbraucherpreisindexes) ist ihre Sensitivität gegenüber vorübergehenden, zufälligen Störfaktoren. Auch können zuweilen schwankungsintensive Einzelpreise, wie z.B. die Energiepreise, den Verlauf der statistisch ausgewiesenen Inflation (Headline-Rate) stark beeinflussen. Die Headline-Rate kann daher ein falsches Bild der tendenziellen Preisveränderungen widerspiegeln. Auf Grund von Verzögerungen im Transmissionsmechanismus – d.h. der Wirkung der geldpolitischen Impulse auf die reale Wirtschaft – ist es jedoch dieser mittelfristige Preistrend, der für die Geldpolitik entscheidend ist. Das Einbeziehen von temporären und volatilen Einflüssen kann folglich zur Überschätzung konjunktureller Phänomene führen, die Effizienz der Geldpolitik senken und ihre Erklärung erschweren. Es ist dementsprechend für eine Notenbank wichtig, zwischen dauerhaften Veränderungen der Inflationsrate und transitorischen Störungen des Preisniveaus zu unterscheiden. Erstere liefern wichtige Informationen für die Zentralbank und werden oft als Kerninflation bezeichnet. Wird ausschließlich die Veränderungsrate des Verbraucherpreisindexes betrachtet, so besteht die Gefahr, dass temporäre Überschreitungen der Stabilitätsnorm als Lockerung der Geldpolitik gewertet werden. Dies könnte durch den Hinweis, dass sich die Geldpolitik an der Kernrate orientiert, verhindert werden. Sie könnte damit unter anderem dazu beitragen, Zweitrundeneffekte zu verhindern, indem sie auf Preiserwartungen einwirkt (z.B. in Lohnverhandlungen). Die Kerninflation kann also ein wichtiges Instrument der Kommunikationspolitik der Notenbank darstellen. So haben in letzter Zeit mehrere Ratsmitglieder der EZB auf die Bedeutung der Kerninflation für die Geldpolitik hingewiesen. 25 Heizöl- & Gaspreise Heizöl (rechts) 20 15 10 Gas (links) 5 0 -5 % gg. Vj. % gg. Vj. -10 96 97 98 99 70 60 50 40 30 20 10 0 -10 -20 -30 00 Die Kerninflation zeichnet den mittelfristigen Preistrend ab ... ... und kann dabei auf Preiserwartungen stabilisierend einwirken. Allerdings erweist sich die Messung als schwierig Allerdings gehen die Meinungen über ein geeignetes Maß der Kerninflation auseinander. Diese Situation hängt auch mit der etwas vagen Definition der Kerninflation in der Literatur zusammen. In der Praxis ist sie also in Abhängigkeit der angewandten Berechnungsmethode definiert. Zwei Ansätze können unterschieden werden. Erstens die Verfahren, die eine dynamische Betrachtungsweise wählen, definieren die Kerninflation als Trendkomponente der statistisch ausgewiesenen Preisrate. Nach diesem Ansatz wird die Kerninflation basierend auf einer Analyse der Zeitreiheneigenschaften der Inflation mittels statistischer Glättungsverfahren berechnet. Diese Verfahren (Gleitender Mittelwert, Economics Verschiedene Berechnungsmethoden 7 Aktuelle Themen 15. Dezember 2000 Hodrick-Prescott Filter, Kalman Filter) haben aber oft den Nachteil, von statistischen Wahlparametern abzuhängen, die ohne präzise ökonomische Informationen festgelegt werden müssen.1 Der zweite Ansatz beruht auf einem statischen Konzept, das die gemessene Steigerungsrate eines Preises in eine allgemeine monetär beeinflusste Komponente (Kerninflation) und eine von vorübergehenden Störungen verursachte Komponente aufteilt (siehe Kasten). Der statische Ansatz Die gemessene Inflation eines Preises, pit, kann aufgegliedert werden in die Kerninflation,pt, und eine Störkomponente, xit: HVPI & Kerninflation 3.0 HVPI 2.5 pit = pt + xit . Die verschiedenen Methoden versuchen durch die Errechnung unterschiedlich gewichteter Mittelwerte von pit die Erstere zu isolieren.2 Die Schwierigkeit liegt hier in der Wahl der geeigneten Gewichtungen. Das bekannteste und meist verwandte Kerninflationsmaß, der Verbraucherpreisindex ohne Nahrungsmittel und Energie, ist eine extreme Ausprägung dieses Verfahrens, in dem einigen als besonders volatil angesehenen Komponenten ein Gewicht von Null zugeordnet wird. Diese Methode hat allerdings den Nachteil, dass das systematische Ausklammern einiger Komponenten einen Informationsverlust bedeuten kann, wenn diese Komponenten auch zur Veränderung des allgemeinen Preisniveaus beitragen und kann dadurch das Bild der allgemeinen Preistendenz verzerren. So sind z.B. nicht alle Nahrungsmittelpreise durch hohe Volatilität gekennzeichnet. Im Allgemeinen würde ein geeignetes Gewichtungsschema die Güte des monetären Signals der individuellen Preise reflektieren. Die kanadische Zentralbank benutzt seit einiger Zeit eine Methode, die jeder VPI-Komponente ein zusätzliches Gewicht zuordnet, das umso niedriger ist, je stärker die Volatilität des individuellen Preises ist. Konkret wird das verbrauchsabhängige Gewicht jeder Komponente im Warenkorb durch die Standardabweichung ihrer relativen Preisänderung dividiert. Es bleiben also sämtliche Komponenten des Warenkorbes bei der Berechnung der Kernrate berücksichtigt.3 Ein gemeinsames Problem der letztgenannten Ansätze ist ihre Annahme einer Normalverteilung des Terms xit. Sollte die Verteilung asymmetrisch sein, so erscheinen Schätzverfahren wie der gewichtete Median als robuster, die weniger sensitiv gegenüber Ausreißern sind. Eine andere Möglichkeit besteht darin, in jeder Periode die extremsten Veränderungen zu eliminieren, die als eine Folge transitorischer Schocks interpretiert werden. Diese getrimmten Mittelwerte sind im Hinblick auf die auszuschließende Komponente sehr flexibel. Dabei wird der gewichtete Mittelwert der an jedem Ende um einen gewissen Prozentsatz getrimmten Verteilung der Individualpreisveränderungen als Kerninflation festgehalten. Das Problem ist hier, die richtige Trimmungsgrenze zu bestimmen. Gewichteter Median 1.5 1.0 7,5% getrimmter Mittelwert So muss die Länge des gleitenden Mittelwertes spezifiziert werden, die Intensität der Glättung des HP Filters (l) oder die funktionale Form des Kerninflationsprozesses im Fall des Kalman Filters. 2 Hierbei wird die implizite Annahme gemacht, dass sich die Terme xit im Durchschnitt ausgleichen. 3 Vgl. Laflèche, T. (1997): Statistical measures of the trend rate of inflation, Bank of Canada Review, Autumn, 29-47. 8 Economics 0.5 % gg. Vj. 97 98 99 0.0 00 HVPI & Kerninflation 3.0 HVPI 2.5 HVPI ohne Lebensmittel und Energie 2.0 1.5 1.0 Modifizierte Gewichte 0.5 % gg. Vj. 0.0 97 1 2.0 98 99 00 15. Dezember 2000 Aktuelle Themen Kerninflation zur Zeit unter 2% in Euroland Für die EWU sind die verschiedenen Maße der Kerninflation definitionsgemäß weniger variabel als die durch den HVPI gemessene Inflation. Dabei entspricht das Verfahren der Bank of Canada am deutlichsten der Vorstellung eines träge verlaufenden Preistrends. Die simple VPIohne-Nahrungsmittel-und-Energie-Methode weist einen schwächeren Anstieg der Kernrate in 2000 aus als die anderen Maße. Tendenziell lag die Kerninflation 1998 in einem Umfeld fallender Ölpreise über der HVPI Inflationsrate. Der massive Ölpreisanstieg des Jahres 2000 wird als temporärer Störfaktor interpretiert und spiegelt sich demnach nur sehr gemäßigt in der Kernrate wider. Alle Maße signalisieren also am aktuellen Rand eine statistisch ausgewiesene Inflation, die über ihrem Trend liegt. Trotz Abgrenzungsunsicherheiten für Geldpolitik von Relevanz In letzter Zeit wurde von einigen Vertretern der EZB eine stärkere Berücksichtigung der Kerninflation in der Geldpolitik diskutiert, ohne dabei allerdings die zentrale Rolle des HVPI in der 2-Säulen Strategie der europäischen Notenbank in Frage zu stellen. Grundsätzlich bieten Kerninflationsindikatoren zusätzliche Informationen für die Geldpolitik, indem sie die grundlegende Preistendenz abbilden. Da die verschiedenen Methoden durch eine nennenswerte Unsicherheit hinsichtlich der als transitorisch anzusehenden Preisänderungen gekennzeichnet sind, läuft eine sich ausschließlich auf die Kerninflation konzentrierende Geldpolitik allerdings Gefahr, permanente Entwicklungen als temporär zu identifizieren und damit die inflationäre Dynamik zu unterschätzten. Tatsächlich kann eine längerfristige Verteuerung einzelner Komponenten zu einer Überwälzung auf andere Preise führen. Die Entwicklung der Erzeugerpreise in Euroland lässt erkennen, wie die höheren Rohölpreise auf die nachgelagerten Stufen der Produktionskette durchschlagen und schließlich auch die weniger volatilen Komponenten des HVPI erfassen. Die rohstoff-dominierten Preise für Vorprodukte sind zwar nach wie vor der Hauptgrund für die Beschleunigung des Anstiegs der Erzeugerpreise. Mittlerweile ziehen jedoch auch die Preise für Verbrauchsund Investitionsgüter sukzessiv an (Okt.: 2,1 bzw. 0,6% gg. Vj.). Im HVPI zeigen nicht nur die volatilen Nahrungsmittelpreise wieder eine deutliche Aufwärtstendenz; auch die Teuerungsraten für Industriegüter und Dienstleistungen haben sich seit den im Herbst 1999 verzeichneten Tiefständen um ½-¾ %-Punkte erhöht. Entsprechend hat die Kerninflation binnen Jahresfrist wieder zugelegt und dürfte auch im nächsten Jahr weiter ansteigen. Was ihren Einsatz als Instrument der Kommunikation der Notenbank mit der Öffentlichkeit angeht, so würde eine solche Verwendung wahrscheinlich erfordern, dass dieses Inflationsmaß von allen Beteiligten anerkannt wird. Produzentenpreise & Komponenten 14 12 Produzentenpreise Verbrauchsgüter Investitionsgüter Gebrauchsgüter 97 4 % gg. Vj. 99 -4 -6 00 Taylor-Zins Deutschland 14.0 Taylor Rate (HVPI) Taylor Rate (Kern) 12.0 10.0 8.0 6.0 4.0 2.0 Geldmarktsatz 0.0 % 83 86 89 92 95 -2.0 98 Taylor-Zins Euroland 7.0 Trotz dieser Unsicherheiten zeigt z.B. eine Analyse der deutschen Geldpolitik in der Vergangenheit, dass diese in Phasen eines temporären Auseinanderdriftens beider Inflationsraten sich eher an der Kernrate orientiert hat. Ein auf Basis der Kernrate berechneter Taylor-Zins4 liegt in solchen Phasen deutlich näher an dem tatsächlichen Zins als ein auf Basis des VPI berechneter (siehe Grafik Taylor-Zins Deutschland). Auf Basis der aktuellen Inflationsrate entspricht der derzeitige 3M-Zins in Euroland auch einem mit Hilfe der Kernrate berechneten Taylor-Zins und liegt damit erheblich unter dem Taylor-Zins, der sich unter Heranziehung der Headline-Rate ergibt (siehe GrafikTaylor-Zins Euroland). Markus Heider, +49 69 910-30471 ([email protected]) 4 2 0 -2 Vorleistungsgüter 98 10 8 6 Taylor Rate (HVPI) 6.0 5.0 Taylor Rate (Kern) 4.0 3.0 2.0 Geldmarktsatz % 1.0 0.0 96 97 98 99 00 01 02 Die sogenannte Taylor-Regel beschreibt den Nominalzins in Abhängigkeit von einem realen Zins, der Differenz zwischen tatsächlicher Inflationsrate und einem Inflationsziel sowie der Produktionslücke. Economics 9