Rezension von Victor Mauer als PDF.

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Politik In einer differenzierten Analyse des Weltgeschehens plädiert der Politologe Carlo Masala
für eine interessengeleitete Realpolitik
MachtspielohneSchiedsrichter
Carlo Masala: Weltunordnung.
Die globalen Krisen und das Versagen des
Westens. C.H. Beck, München 2016.
176 Seiten, Fr. 21.90, E-Book 13.50.
«Anarchy is what states make of it» lautet
der Titel eines 1992 veröffentlichten Aufsatzes des amerikanischen Politologen
Alexander Wendt, der die Wissenschaft
von den Internationalen Beziehungen
nachhaltig beeinflusst hat. Staaten, so
die These des Begründers des sozialtheoretischen Konstruktivismus, seien dazu
fähig, in Interaktions- und Lernprozessen nicht nur ihr Verhalten, sondern
auch ihre Identität und ihre Interessen
zu verändern – und zwar ungeachtet der
Tatsache, dass das internationale System
prinzipiell anarchisch strukturiert sei.
Dass der auf liberalen Theorien aufbauende Ansatz mit dem Ende des Kalten Krieges zusammen- und weithin auf
fruchtbaren Boden fiel, war kein Zufall.
Ein neues Zeitalter schien angebrochen
zu sein, eine Art global gesteigerte Reprise des Fortschrittsoptimismus der liberalen Viktorianer, der auf das Versprechen eines weltpolitischen Monismus
hinauslief, in dem das machtpolitische
Paradoxon von Hegemoniestreben und
Gegenmachtbildung erodiert, die Staatenwelt zur Weltgesellschaft mutiert und
(neo-)realistische Ansätze ihre Erklärungskraft verlieren.
Vier Illusionen des Westens
Ein Vierteljahrhundert später ist die Ernüchterung omnipräsent. «Wir zahlen
jetzt den Preis für eine grosse Illusion»,
notierte jüngst einer der politischen Proponenten des liberalen Internationalismus, der ehemalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer. «Wir haben nach
1989 gerne geglaubt, die liberale Demokratie habe weltweit gesiegt. Das war ein
Irrtum.» In der Politik wie in der Wissenschaft, heisst das, ist die Paradoxie eben
doch die alleinige Orthodoxie.
Unausgesprochen setzt hier die weltpolitische Tour d’Horizon des Politologen Carlo Masala an, der an der Universität der Bundeswehr in München lehrt.
Sein schmaler Band richtet sich an ein
breites Publikum. Für die verdichtete
Analyse komplexer Themen muss niemand ein Spezialwörterbuch konsultieren. Differenzierung und Zuspitzung reichen sich bei dem Parforceritt durch die
Weltpolitik mühelos die Hand. Masala
gehört zu den Vertretern der realistischen Schule von den Internationalen
Beziehungen, für die Anarchie, also die
Abwesenheit von globaler Herrschaft, Sicherheit, Machtstreben, Grossmächte,
nationale Interessen, Hegemonie und
Gleichgewicht analytische Schlüsselbegriffe sind. Institutionen, Normen und
weltpolitischem Wohl kommt bei der Erklärung der internationalen Politik bestenfalls nachgeordnete Bedeutung zu.
GORAN TOMASEVIC / REUTERS
Von Victor Mauer
Mit militärischen
Interventionen hat
der Westen zur neuen
Unübersichtlichkeit
der Welt beigetragen,
befindet Carlo Masala.
US-Soldaten bei einem
Einsatz in Bagdad
(2008).
Die Welt, so die einleitende These, ist
aus den Fugen geraten. Der Versuch, den
«unipolaren Moment» (Charles Krauthammer) für die Etablierung einer neuen
liberalen Weltordnung zu nutzen, ist gescheitert, und der Westen unter Führung
der USA, so die zweite These, trägt eine
erhebliche Verantwortung für die neue
Weltunordnung, weil er sich, nicht selten
gepaart mit einer Mischung aus Dilettantismus, Doppelmoral und Hybris, einer
vierfachen Illusion hingab: der Illusion
der Demokratisierung, der militärischen
Interventionen, der Stärkung internationaler Organisationen und der Verrechtlichung der internationalen Politik. Stattdessen werden, so die dritte These,
Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit die Politik des 21. Jahrhunderts
bestimmen. In einer Welt der globalen
Machtdiffusion ist militärische, ökonomische und politische Macht nicht mehr
gleichbedeutend mit der Fähigkeit, seine
Ziele erfolgreich durchsetzen zu können.
Prägnant veranschaulicht Masala diese
Erkenntnis am Beispiel der neuen Herausforderungen: Staatszerfall, Nationalismus, Terrorismus, Pandemien, Flucht,
Migration sowie Digitalisierung.
Wenn selbst die Grossmächte ausserhalb ihres Einflussbereichs nur noch
begrenzt Macht ausüben können, dann
wiegt es unter Weltordnungsgesichtspunkten umso schwerer, dass die Grossen sich nicht einmal ansatzweise auf die
Prinzipien einer neuen Ordnung verständigen können. Stattdessen, so die vierte
These des Buches, wird die Tendenz zur
Bildung von Ad-hoc-Koalitionen zum
Muster staatlicher Zusammenarbeit, um
zumindest punktuell Stabilität zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund ist
es nur verständlich, wenn Masala für
eine interessengeleitete Realpolitik plädiert, die ihr Handeln mit nationalem
Interesse und nationaler Sicherheit begründet und nicht moralisch aufgeladenen Illusionen hinterherjagt.
Ungemütliche Erkenntnisse
Sich mit einer Praxis abzufinden, die
mehr Handwerk als metapolitische Fürsorge ist und sich dezidiert von der utopischen Phantasie mit ihrer selbst-verliehenen Ermächtigung über die Wirklichkeit verabschiedet, mag nicht jedem behagen. Tatsächlich dürfte Masala nicht
wenige Kritiker auf den Plan rufen, wenn
er der deutschen Politik nahelegt, «sich
von ihrem Traum einer weiter fortschreitenden Verrechtlichung der internationalen Politik [zu] verabschieden», sich
«von der Fessel des selbstverordneten
völkerrechtlichen Dogmas zu lösen» und
den Instrumenten der Realpolitik mehr
Aufmerksamkeit zu schenken. Eine aussenpolitische Elite, die sich bar jeden
strategischen Denkens in der Rolle des
moralischen (Welt-)Lehrmeisters gefällt,
und eine, um einen Ausdruck Max
Webers zu bemühen, aussenpolitisch
unerzogene Gesellschaft täten indes gut
daran, sich auf Carlo Masalas Analyse
einzulassen – und sei es nur, um für einmal den Weg der Diskursverweigerung
zu verlassen und im weltpolitischen
Machtspiel ohne Schiedsrichter klüger
zu werden. ●
27. November 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
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