T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE Z unächst zur Definition: Unter Seele, Psyche, läßt sich im platonischen Sinn alles jenseits des Somatischen verstehen. Das sind nicht nur Gefühle und Stimmungen, sondern auch der IntellektVerstand-Willen und die VernunftMoral-Ethik. Nicht erst seit Freud ist die Einteilung der Psyche in drei Komponenten bekannt. Wer sich in der Philosophie und der Weltliteratur etwas umsieht, stößt rasch in vielen Bereichen auf diese Dreiteilung. Ob im Drama, Gedicht, Volkslied, Schlager oder in philosophischen Schriften, der ewige Widerstreit zwischen Vernunft und Gefühl, zwischen Kopf und Herz, zwischen Pflicht und Neigung wird immer wieder beschrieben, wobei der „Widerstreit“ die dritte Komponente, das „Ich“, die persönliche Entscheidung darstellt. Der eigene Wille Freuds große Leistung war es, dieses „tanzende Muster“ der drei Komponenten, das Unbewußt-Gefühlsmäßige, das Willentlich-Persönliche und das Übergeordnet-Steuernde in die drei Schlagworte „Es – Ich – Über-Ich“ zu pressen (5, 6). Diese einfache Definition, so banal und abgedroschen sie für viele klingen mag, bringt tatsächlich das ganze gewaltige Thema auf den Punkt. Damit ist aber noch keineswegs erreicht, daß diese Definition, diese Kenntnis in der Praxis umgesetzt wird. Jeder kennt die Situation, vor einem Vorgesetzten zu stehen und kritisiert oder abgekanzelt zu werden. Während die Vernunft sagt, daß man sich diese Rede anhören muß (es könnte ja etwas Wahres an der Kritik sein), drängt das Triebhaft-Unterbewußte, dem Chef die Zunge herauszustrecken oder sich anders der Situation zu entziehen. Das Ich, der eigene Wille, kann nun wählen zwischen den beiden Möglichkeiten, der Vernunft (nämlich brav zuhören) oder dem Gefühl (was in diesem Fall vermutlich unvernünftig wäre). Genauso ist jeder Kontakt geprägt von den beiden Komponenten: a) wie man mit jedem Menschen umgehen sollte, genormt nach (zum Teil ererbten) Verhaltensregeln und erlernten Höflichkeitsmu- Die Bedeutung der Seele in der Medizin Widerstreit zwischen Vernunft und Gefühl Das „Ich“ muß zwischen Moral und dem Unbewußt-Triebhaften entscheiden. Michael Schimmer stern und b) dem Gefühl, dem persönlichen Eindruck dieser Person gegenüber. Das Ich, die eigene Persönlichkeit, kann entscheiden, wie sie mit dem Gegenüber umgeht. Das kann leicht sein, wenn das Gefühl positiv ist und damit den freundlich-korrekten Umgang erleichtert. In anderen Fällen hat man Mühe, sich zu beherrschen, weil einem der Gegenüber unsympathisch ist und man sich kaum „im Zaum halten“ kann; Vernunft und Gefühl klaffen auseinander, der Verstand (das Ich) muß entscheiden. Es ist bekannt, daß nicht immer die Vernunft siegt. Wenn man sich klar macht, daß weitaus der größte Teil der menschlichen Handlungen aus dem Unbewußt-Triebhaften kommt (3), dann wird sofort verständlich, daß in all den Fällen, wo die steuernde Vernunft wegfällt oder aus vielerlei Gründen nicht vorhanden ist, Dinge passieren, die „vernunftsmäßig“ nicht erklärbar sind. Stichwort: Sexueller Mißbrauch. Diese Erkenntnis ist zunächst erschreckend, und viele werden diese Aussage als „Unsinn“ oder „nicht haltbar“ abtun. Es gehört schon eine längere Beschäftigung mit der Philosophie und der Psychoanalyse dazu, die Wahrheit dieser Behauptung zu erkennen. Man kann sich das Unbewußte wie einen brodelnden Kochtopf vorstellen, der andauernd überzulaufen droht. Einerseits muß im Alltag, der weitgehend „vernunftgesteuert“ ist, der Deckel auf dieser brodelnden Suppe gehalten werden, andererseits gibt es Situationen, wo man neugierig ist, wie die Suppe riecht oder schmeckt, wo man also vorsichtig den Deckel ein wenig zur Seite schiebt und schnuppert. Beispiel aus dem täglichen Leben: Wenn die Vernunft durch eine genügende Menge Alkohol vermindert oder ausgeschaltet wird, dann brechen diese Gefühle und Stimmungen hervor, sei es in Form von Trauer – „Trübsinn“ (im wahrsten Sinne des Wortes) – oder in überschwenglicher Heiterkeit. Jeder weiß das, aber wer macht sich klar, daß es sich nur um Verschiebungen im Gefüge des komplexen Ablaufs handelt? Wenn man den Deckel fortreißt, kann einen der heiße Dampf verbrühen und große Schmerzen und Verbrennungen, das heißt, bleibende Veränderungen (Narben), zufügen. Seelische Störungen Wenn man das weiß, versteht man viel leichter, daß seelische Störungen oder Erkrankungen Verschiebungen in den nicht bewußten Teil des seelischen Apparates sind. Zum Teil sind sie nachvollziehbar durch auslösende Ereignisse wie zum Beispiel den Tod eines engen Angehörigen, zum Teil sind sie nicht nachvollziehbar. In jedem Fall ist dieser Patient auf einer anderen seelischen Ebene, das heißt, er ist „vernünftigen“ Argumenten und Erklärungen nicht zugänglich – was nicht heißt, daß dieser Prozeß nicht reversibel ist. Der Schlüssel zu diesen Krankheiten kann dann nicht heißen: intellektuelle Führung, sondern Zuwendung, also der Versuch, auf emotioneller Ebene einen Zugang zu diesem kranken, hilfsbedürftigen Menschen zu finden – ganz einfach „Mit- Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 39, 25. September 1998 (33) A-2381 T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE/BERICHTE fühlen“, Einfühlen (Empathie). Natürlich kann und muß dies in vielen Fällen mit zusätzlichen „vernünftigen“ Hilfsmaßnahmen kombiniert werden. Das menschliche Leben, abgesehen von den körperlichen Funktionen, läuft vor allem als ein andauerndes Wechselspiel zwischen Vernunft/Moral einerseits und Unbewußtem/Triebhaftem andererseits ab, wobei das Ich als wache, verständige Person vom Aufstehen bis zum Einschlafen den Tageslauf im wirklichen Sinne „steuern“ muß. Das hat beispielsweise in der Pädiatrie erhebliche Bedeutung bei der Entwicklung (und damit auch Erziehung) von Kindern, bei denen aus anatomisch-neurophysiologischen Gründen die Vernunft und auch der Verstand erst allmählich wachsen (was nicht bedeutet, daß Kinder in manchen Situationen sich nicht vernünftiger verhalten als Erwachsene). Entscheidend ist die Gesamtschau des Menschen unter Berücksichtigung nicht nur der körperlichen Symptome, sondern auch des (andauernd arbeitenden) seelischen Apparates. Schon Aristoteles hat vom „intuitiven Verstand“ gesprochen (1), das heißt, der intellektuelle Verstand allein mag zwar in abstrakten Wissenschaften wie Mathematik oder Physik brillieren, in der Medizin steht er ziemlich armselig und einsam da ohne seinen Aristotelischen Bruder. Die Seele ist also ein wichtiger Teil des Menschen und damit auch der Medizin. Man kann keine Appendektomie vornehmen, ohne den Patienten aufzuklären (Vernunft/Ethik), zu beruhigen und Verständnis für seine Situation zu zeigen (Gefühl/Zuwendung), um dann nach bestem Wissen die Operation durchzuführen (Ich). Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1998; 95: A-2381–2382 [Heft 39] Literatur bei den Verfassern Anschrift des Verfassers Privatdozent Dr. med. habil. Michael Schimmer Kinderarzt Marktplatz 19 a 94051 Hauzenberg Studie Pflegende Angehörige: Hilfe auch durch Ärzte Ärzte können Pflegenden helfen, zum Beispiel, indem sie deren Erkrankungen konsequent therapieren. B ei 57 Prozent der pflegenden Angehörigen besteht dringender Entlastungsbedarf, da sie sich durch die Pflege stark bis sehr stark belastet fühlen und/oder ein weit überdurchschnittliches Ausmaß an körperlichen Beschwerden aufweisen. Das ist das Ergebnis einer Querschnittuntersuchung im Rahmen des Forschungsprojektes „Häusliche Pflege“. Ziel war es, möglichst verallgemeinerbare Aussagen über die gesundheitliche Situation Pflegender im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung und über ihre subjektive Belastung bei der häuslichen Pflege eines älteren Menschen mit chronischem Hilfsbedarf zu erhalten. Die Frage, welche Ansatzpunkte zur Entlastung der Pflegenden sich daraus ableiten lassen, war von besonderem Interesse. Stichprobe Die Pflegenden wurden über zwei auflagenstarke Zeitschriften („Neue Apotheken Illustrierte“ und „medizin heute“) kontaktiert und mit Hilfe eines 16seitigen Fragebogens befragt. Daneben wurde ein Teil der Fragebögen über soziale Einrichtungen verteilt. 2 045 Pflegende aus ganz Deutschland, die den Hauptteil der häuslichen Pflege leisteten, nahmen an der Befragung teil. 1 911 erfüllten die Einschlußkriterien: Häusliche Pflege bei chronischem, nicht angeborenem (oder vor dem 18. Lebensjahr erworbenen) Hilfs- oder Pflegebedarf in mindestens einem der Bereiche „Körperpflege“, „Nahrungsaufnahme“, „Toilettenbenutzung“, „Mobilität“ („körpernaher“ Pflegebedarf). Die Tabelle zeigt wichtige Kenngrößen der Stichprobe. A-2382 (34) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 39, 25. September 1998 Das Ausmaß der körperlichen Beschwerden der Befragten (Gießener Beschwerdebogen; Brähler und Scheer, 1995) steht in direktem Zusammenhang mit dem Ausmaß des Gefühls, durch die Pflege belastet zu sein (Häusliche Pflege-Skala; Gräßel und Leutbecher, 1993). Durch eine Deutungsanalyse konnte nachgewiesen werden, daß der statistische Zusammenhang zwischen körperlichen Beschwerden und psychischer Belastung größtenteils kausaler Art ist (Gräßel, 1997). Dabei beeinflussen sich Belastung und Beschwerden wechselseitig. Bei einer Zunahme des Gefühls, durch die Pflege belastet zu sein, kommt es im Verlauf eines Somatisierungsprozesses häufig zu einer Verschlechterung des gesundheitlichen Wohlbefindens. Umgekehrt bewirken Krankheiten der pflegenden Personen, die mit einer Zunahme körperlicher Beschwerden einhergehen, daß die Pflegetätigkeiten als größere Belastung wahrgenommen werden. Mögliche Hilfsangebote Warum steht die subjektive Belastung des Pflegenden im Zentrum der Überlegungen zu Entlastungen? Das hat im wesentlichen drei Gründe: ¿ Die subjektive Belastung beeinflußt das gesundheitliche Wohlbefinden der Pflegenden (Gräßel, 1997). À Pflegende Personen, die sich weniger belastet fühlen, pflegen über einen längeren Zeitraum zu Hause (Zarit et al., 1986). Á Bei stärker belasteten Pflegepersonen kommt es häufiger zu aggressiven Verhaltensweisen der pflegebedürftigen Person gegenüber (Grafström et al., 1993). T H E M E N D E R Z E I T BERICHTE Von einer Entlastung der Pflege- Entweder springen nachts andere Fapersonen profitieren somit die Pflege- milienmitglieder ein, falls diese bereit bedürftigen, aber auch die Gesell- sind zu helfen. Es kann auch versucht schaft (zum Beispiel geringerer Ko- werden, den gestörten Tag-Nachtstenaufwand für Pflege im Heim). Rhythmus bei der zu pflegenden PerVon großer praktischer Bedeu- son durch Medikamente zu normalitung ist die Beantwortung der Frage: sieren. Denn die „Nachtpflege“ außer Wo sollen erfolgversprechende Entla- Haus ist teuer und wird noch sehr selstungen ansetzen? Ungeeignet sind ten angeboten. Sie wäre allerdings für Variablen, die gar nicht mit der sub- die 35 Prozent der Hauptpflegepersojektiven Belastung in Zusammenhang nen, die nachts mehrfach den Schlaf stehen. Dies gilt insbesondere für Er- unterbrechen müssen, eine wirksame werbstätigkeit oder Nichterwerbs- Entlastung. tätigkeit der pfleTabelle genden Person sowie für die Höhe Soziodemographische Daten des Einkommens. Variable der pflegebedürftigen Person Im Rahmen der Studie wurde Alter (Jahre)1) 78,8 ± 11,0 untersucht, welche Geschlecht (% weiblich) 66,7 Variablen PrädikHauptursache der Pflegebedürftigkeit (%): toren der Bela– Demenz2) 66,8 stung sind. Daraus – sonstige neurologische Erkrankung3) 18,6 lassen sich empi– internistisch-geriatrische Erkrankung4) 14,6 risch begründete Dauer der Hilfs-/Pflegebedürftigkeit (Jahre)5) 3,0 ± 2,0 Ansätze zur Entlastung ableiten. Es Variable der pflegenden Person gibt Prädiktoren, die zwar mit der Alter (Jahre)1) 57,9 ± 12,1 subjektiven BelaGeschlecht (% weiblich) 82,8 stung in ZusamVerwandtschaftsverhältnis zur pflegemenhang stehen, bedürftigen Person (%): jedoch von außen – (Ehe-)Partner 34,4 nicht beeinflußbar – Tochter/Sohn 44,9 sind. Dazu zählen – Schwiegertochter 14,3 Alter und Ge– Sonstige6) 6,4 schlecht der pfle1) arithmetisches Mittel ± Standardabweichung genden Person. 2) mittelschwere bis schwere Hirnleistungsstörung Auch das Motiv, 3) z. B. Hirninfarkt (ohne Demenz), Multiple Sklerose, Parkinsondie häusliche Pflesyndrom 4) z. B. Diabetes mellitus, Arthrose /Arthritis, Herzinsuffizienz ge zu übernehmen, 5) Median ± Median-Deviation ob aus Zuneigung 6) sonstiges Verwandtschaftsverhältnis (Enkel, Geschwister etc.) oder aus anderen oder nicht verwandt Gründen, ist eine solche Größe. DaEs gibt zwei weitere Ansatzpunkte gegen kann durch Hilfe bei der Pflege, gleich ob durch andere Familienmit- insbesondere für Ärzte, Pflegenden zu glieder oder durch professionelle Hel- helfen. Diejenigen, die Erkrankungen fer, die Dauer der täglichen Pflege für der Pflegenden konsequent therapiedie befragte Hauptpflegeperson ge- ren, tragen dazu bei, das Ausmaß der senkt und damit eine Entlastung er- körperlichen Beschwerden zu senken. Sie helfen damit nicht nur auf körperlireicht werden. Wenn die Hauptpflegeperson cher Ebene, sondern verringern auch zum Beispiel nur wenig Zeit zum die subjektive Belastung. InsbesondeSchlafen hat oder wenn der Nacht- re bei demenziellen Erkrankungen schlaf häufig unterbrochen werden kommt es häufig zu Persönlichkeitsmuß, hat dies erhebliche Auswirkun- veränderungen des Erkrankten. Dies gen auf ihre Gesundheit und das Be- kann sich in sozialen Verhaltenslastungsempfinden. Hier gibt es prin- störungen wie Streitsucht und Agzipiell Möglichkeiten zur Abhilfe. gressivität äußern. Diese Situation ist für pflegende Angehörige besonders belastend. Wenn es gelänge, diese Verhaltensstörungen therapeutisch zu beeinflussen, wäre dies ein großer Gewinn für die Pflegenden. Aus den Gesamtergebnissen der Studie können drei Empfehlungen für die Praxis abgeleitet werden: l Es kommt darauf an, pflegende Angehörige frühzeitig anzuregen, Hilfe und Entlastung zu suchen und in Anspruch zu nehmen, um einem „burn-out-Syndrom“ vorzubeugen. So können Pflegende zufriedener, gesünder und deshalb wohl auch länger zu Hause pflegen. l Damit bereits vorhandene Hilfs- und Entlastungsmöglichkeiten für die Pflegenden verfügbar werden, braucht es ein dichteres Netz an Beratungsstellen, die als neutrale, kompetente Informationsvermittler auf die individuellen Gegebenheiten und Bedürfnisse eingehen können. l Insbesondere bei hoher Belastung ist es im Sinne der Pflegenden wie der Pflegebedürftigen, aber auch um die häusliche Pflegesituation zu stabilisieren, geboten, helfend einzugreifen. Erfolgversprechende Möglichkeiten gibt es. Sie müßten nur häufiger in die Tat umgesetzt werden. Literatur 1. Brähler E, Scheer JW: Der Gießener Beschwerdebogen GBB. 2. Auflage, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber, 1995. 2. Grafström M, Nordberg A, Winblad B: Abuse is in the eye of the beholder. Report by family members about abuse of demented persons in home care. A total population-based study. Scandinavian Journal of Social Medicine 1993; 21: 247–255. 3. Gräßel E: Belastung und gesundheitliche Situation der Pflegenden. Querschnittuntersuchung zur häuslichen Pflege bei chronischem Hilfs- oder Pflegebedarf im Alter. Habilitationsschrift der Medizinischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg. Egelsbach, Frankfurt, Washington: HänselHohenhausen, 1997. 4. Gräßel E, Leutbecher M: Häusliche PflegeSkala HPS zur Erfassung der Belastung bei pflegenden oder betreuenden Personen. Ebersberg: Vless, 1993. 5. Zarit SH, Todd PA, Zarit JM: Subjective burden of husbands and wives as caregivers. A longitudinal study. The Gerontologist 1986; 26: 260–266. Anschrift des Verfassers PD Dr. med. Elmar Gräßel Abteilung für Medizinische Psychologie und Psychopathometrie der Universität Erlangen-Nürnberg Schwabachanlage 6 91054 Erlangen Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 39, 25. September 1998 (35) A-2383