Supply Management Insights Industrie 4.0 BEIFAHRER ODER STEUERMANN: DIE NEUE ROLLE DES EINKAUFS Der Einkauf hat jetzt die Chance, Entwicklungen im Rahmen der Industrie 4.0 aktiv mitzugestalten. Halt machen wird die Digitalisierung vor seiner Tür jedenfalls nicht. Die vierte industrielle Revolution ist derzeit eines der Top-Themen in den Managementetagen deutscher Konzerne. Fabriken und Lieferanten sollen vernetzt werden, um ressourcenschonender und in individueller Losgröße produzieren zu können – soweit die Theorie. In der Praxis aber klafft noch eine große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wenn es um übergreifende Strategien und Umsetzungsmaßnahmen geht, wie eine Studie von INVERTO zeigt. In der Praxis ist es derzeit so, dass einzelne Unternehmensbereiche individuelle Lösungen entwickeln. Da jedoch alle Bereiche von Industrie 4.0 betroffen sind, ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise und eine unternehmensweite Strategie erforderlich. Denn der Weg zur Industrie 4.0 umfasst mehr als reine Systemimplementierungen. Vernetzung, Digitalisierung und Automatisierung funktionieren erst dann, wenn zuvor eine ganzheitliche Betrachtung der Wertschöpfungskette vorgenommen wurde und alle Abteilungen involviert sind. Eine solche Analyse sollten SCM-Verantwortliche gemeinsam mit dem Einkauf 06 Übergreifende Industrie 4.0 Strategie Unternehmensbereiche Geschäftsmodell Vertrieb 4.0 Einkauf 4.0 Organisation & Prozesse Produktion 4.0 Technologie & Systeme Logistik 4.0 Management & Skills After Sales 4.0 Eine unternehmensweite übergreifende Strategie ist gefragt durchführen, da dieser für die anschließende Beschaffung der passenden Lösungen zuständig ist. Dies bietet dem Einkauf die Chance, sich als Steuermann für die Digitalisierung zu positionieren, weil er über die meisten Schnittstellen zu internen und externen Stakeholdern verfügt. Er ist damit in der Lage, die gesamte Supply Chain zu überblicken und Informationen allen Abteilungen zugänglich zu machen. Investitionen in IT-Infrastruktur notwendig Eine umfassende Transparenz und Datenverfügbarkeit ist einer der Erfolgsfaktoren für eine erfolgreiche Transformation zur Industrie 4.0. Dafür müssen viele Unternehmen ihre IT-Infrastruktur modernisieren und nachrüsten. Die Auswahl von passen- den IT-Lösungen ist dabei alles andere als trivial. Damit der Einkauf entsprechendes Know-how über spezifische Hard- und Software für die Vernetzung der Supply Chain Partner aufbauen kann, sollte er sich eng mit der IT-Abteilung vernetzen und regelmäßig Fachwissen austauschen. Für die Dienstleister-Auswahl und -Bewertung werden neue Kriterien notwendig. Neben Preis und Leistung ist die Möglichkeit zur digitalen Vernetzung von Systemen und Prozessen des Lieferanten ein zentrales Entscheidungskriterium. Um die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit, die viele Vorteile der Industrie 4.0 überhaupt erst erschließt zu ermöglichen, sollten Einkaufs- und Supply Chain Manager Pläne entwickeln, wie sie die Zulieferer und Partner bestmöglich in die Wertschöpfung Ausgabe 4 / 2016 Beifahrer oder Steuermann: Die neue Rolle des Einkaufs einbinden. Die Bandbreite reicht von der Schaffung gemeinsamer Plattformen und Standards über das Teilen bestimmter Informationen – etwa Betriebsdaten von Maschinen – bis zu gezielten Investitionen in die gemeinsame Innovationsentwicklung. Einkaufsfunktion wird strategischer Damit wächst auch die Komplexität beim Lieferanten- und Partnermanagement: Die Fremdfirmen und deren Maschinen, Produkte oder Dienstleistungen müssen per Schnittstellen und Clouds mit der eigenen Supply Chain vernetzt werden und die dafür notwendigen Abläufe beschrieben werden. Dadurch entstehen neue, teils stark technologiebezogene Risiken, die gemanagt werden müssen: Zu Versorgungs- und Ausfallgefahren kommen solche hinzu, die IT-Sicherheit, Datenschutz sowie Compliance betreffen. Im Gegenzug fallen operative Dispositionsvorgänge weg – beispielsweise dann, wenn Maschinen Materialbedarfe auf Basis des aktuellen Bestands und der prognostizierten Absatzmenge berechnen und eigenständig bestellen. Weil sich manuelle Tätigkeiten erübrigen, lassen sich so auch mögliche Fehlerquellen reduzieren. Gleichzeitig werden neue softwarebasierte Applikationen das Datenmanagement und die Steuerung erleichtern. Tritt beispielsweise ein Problem mit einem Teil in der Lieferkette auf, erhalten Einkäufer und Produktionsmitarbeiter eine entsprechende Nachricht und einen Vorschlag per App für Ersatz zu sorgen. Einkäufer sind zunehmend als Strategen gefragt. Abgeleitet aus der Unternehmensstrategie sollten die Verantwortlichen ermitteln, welche Aufgaben der Einkauf derzeit wahrnimmt und welche davon zukünftig digitalisiert werden könnten. Im Rahmen dieser Analyse ist es wichtig, Transparenz über die mit den Aufgaben verbundenen Informationen zu gewinnen. Denn der Datenbestand ist ein entscheidender Erfolgsfaktor für die zukünftige Zusammenarbeit mit Zulieferern und Partnern. Anforderungen an den Einkauf 4.0 • Agiles Scouting auf den Beschaffungsmärkten und enge Vernetzung sowie Integration mit strategischen Partnern • Interne Prozesse und Organisationsformen aufbrechen, um eine ganzheitliche Vernetzung der Prozesse und Systeme zu ermöglichen • Datenverfügbarkeit und Datenanalyse für Lieferantenmanagement und Beschaffungs strategien sicherstellen • Mitarbeiterprofile und Managementansätze an die Anforderungen der digitalen Transformation anpassen Der Mensch bleibt wichtig Doch auch die zuverlässigste und innovativste Technologie macht den Menschen nicht überflüssig. Das gilt etwa dann, wenn Ereignisse auftreten, die eine pünktliche Lieferung verhindern oder gar zum Lieferausfall führen. Dann gilt es für die Verantwortlichen, schnell die richtigen Entscheidungen zu treffen, um das Ausfallrisiko für die gesamte Wertschöpfungskette zu minimieren. In der Praxis bedeutet das, frühzeitig die Weichen für eine erfolgreiche Integration von Lieferanten zu stellen und gemeinsam aktive Maßnahmen zur Risikoprävention zu treffen. Die zur Früherkennung nötigen Indikatoren müssen vom Einkauf definiert und mit Hilfe von digitalen Tools regelmäßig überwacht werden. Die entsprechende Qualifizierung von Mitarbeitern sollte deshalb im Vordergrund stehen. Hier eignen sich Schulungen zum Thema Datenanalyse und Datenmanagement. Vor allem die Fähigkeit von Mitarbeitern, geeignete Maßnahmen auf Basis digitaler Echtzeitinformationen einzuleiten, sollte gestärkt werden. Das gilt insbesondere für erfahrene Mitarbeiter, die seit Jahren mit traditionellen Prozessen vertraut sind – ihr Wissen kann mit Hilfe von digitalen Tools noch besser zum Einsatz kommen. Damit die digitale Transformation erfolgreich verläuft, ist ein aktives Change Management wichtig. Mitarbeiterprofile ändern sich und müssen daher stärker an den neuen Anforderungen ausgerichtet werden. Dazu sind gleichermaßen Per- sonalentwicklung sowie Rekrutierung von Digital Natives nötig. Fazit Die vierte industrielle Revolution steigert die Komplexität von Lieferketten und verkürzt zugleich Entwicklungs- und Produktlebenszyklen. Um mit beidem Schritt halten zu können, brauchen Unternehmen digitale Abläufe im Einkauf und Supply Chain Management. Dafür sind Investitionen in ITSysteme zum abteilungsübergreifenden Datenaustausch sowie eine frühzeitige Einbindung der Lieferanten unerlässlich. Neben allen Überlegungen zu Technik und Prozessen darf der Mensch im Hype um Vernetzung und Digitalisierung nicht untergehen. Gerade in Zeiten der Digitalisierung ist die Qualifizierung und Weiterbildung von Mitarbeitern entscheidend für den Erfolg. Caroline Päffgen Caroline Päffgen ist Senior Consultant bei der INVERTO GmbH in Köln und Expertin für das Thema Industrie 4.0 im Competence Center Supply Chain Management. Sie promoviert derzeit an der WHU und betreut hauptsächlich Kunden aus dem Handel und der Industrie in Supply Chain Management Projekten bei der Optimierung von Produktion, Prozessen und Working Capital. [email protected] 07