Skrip i.d.F. v. 15.07.2016

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Wolfgang Löwer
Staatsorganisationsrecht
Begleitmaterialien zur Vorlesung Sommersemester 2016
Vorwort zur Arbeit mit der Vorlesungsgliederung und ihren Materialien
Die Vorlesung ist immer noch das primäre Medium für die (Aus-)Bildung durch Wissenschaft. Ihr Zweck ist nicht allein die Vermittlung notwendigen Wissens – das könnten Sie
sich mit Hilfe der vorliegenden Gliederung oder irgendeines Lehrbuches auch aneignen –,
sondern ihr Ziel ist es, beim Hörer Verständnis über die Art und Weise der Rechtsgewinnung
in den einzelnen Disziplinen der Rechtsordnung zu fördern. Insofern zielt sie nicht darauf, einen wie auch immer definierten Kanon an Einzelinformationen gesichert zu überliefern, sondern Recht mit seinem unverbrüchlichen Geltungsanspruch bis in die – durchaus gelegentlich
(nicht immer) mehrere Antworten zulassenden – Anwendungsprobleme zu verfolgen. Es geht
also darum, die Steuerungsleistung der Rechtsordnung zu verstehen, sie im Feld des
Staatsorganisationsrechts für die Rechtsbeziehungen zwischen den Staatsorganen und des
Staates zu den Bürgern einsehbar zu machen und in die Art des Diskurses über Recht, wie er
sich bei uns rechtskulturell etabliert hat, einzuführen.
Lassen Sie mich insofern jetzt hier bei der Vorbemerkung und am Beginn Ihres Studiums
noch einige Bemerkungen zur „Großen Vorlesung“ machen. Angesichts der Zahl der Teilnehmer, ist die Vorlesung notwendig eine Frontal-Vorlesung. Frontal-Vorlesung heißt nicht,
dass Sie nicht einbezogen sein sollen, d.h. natürlich wird von Ihnen erwartet, dass Sie bei Verständnisschwierigkeiten Fragen zu dem Fragwürdigen stellen, das da vorne vor Ihnen produziert wird. Die Vorlesung ist der komplizierte Versuch, Sie in die Welt des (hier:
Staats-)Rechts mitzunehmen, Ihnen den Schlüssel für diese interessante Normenwelt in die
Hand zu geben, damit Sie verstehen, dass wir Normen als zentrale gesellschaftliche Steuerungsmechanismen begreifen müssen. Das ist ein anspruchsvolles Unterfangen, das unter
der prinzipiellen Schwierigkeit leidet, dass Recht nicht linear-additiv wie etwa die Grundlagen der Mathematik gelehrt werden kann. Das Verständnis von Recht kennt nicht eine Grundinformation, auf der alle weiteren Informationen aufbauen, so dass ich Sie auf einen Weg
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mitnehmen könnte, auf dem ich Ihnen die Voraussetzungen eines Schrittes erkläre, so dass –
wenn diese verstanden sind – dieser erste Satz für jedermann einsehbar ist. Ich kann in den
Rechtswissenschaften nur voraussetzungsvolle Sätze bilden, die ich nur mit voraussetzungsvollen Sätzen erklären kann. Das macht den Erwerb des Rechts als Disziplin und
Wissenschaft kompliziert. Sie können und werden folglich nicht alles von dem, was Ihnen in
Ihren Anfangsvorlesungen angeboten wird, in jeder Hinsicht verstehen können. Mit gewissen
Randunschärfen des Verständnisses muss man zunächst umgehen. Erst der wiederholte
Durchgang durch das Recht und sein Verständnis verschafft die nötige Einsicht. Sie müssen
sich den Weg zum Juristen so vorstellen, als seien Sie anfangs mit mir im Louvre, in einem
Saal mit Pointilisten und Sie stünden mit der Nasenspitze vor dem Bild. Mehr als Farbflecken
würden Sie nicht erkennen. Erst im Zurückschreiten (bei uns ist das die kontinuierliche Beschäftigung mit dem Gegenstand) setzen sich die Punkte und Striche zu einem erkennbaren
Bild zusammen.
Die große Vorlesung, die der großen Zahl der Studenten geschuldet ist, erleichtert den komplizierten Erwerb des Wissens zweifellos nicht (obwohl Generationen von Studenten so unterrichtet worden sind und gute Juristen geworden sind; schon Rudolf von Gneist, ein bedeutender Lehrer des Öffentlichen Rechts an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hatte mehr als 180 Hörer). Natürlich wäre es dialogisch
im Kleingruppenunterricht leichter.
Deshalb ist es wichtig, dass Sie die richtige Vorstellung davon mit in Ihr Studium nehmen,
was überhaupt die Funktion der Vorlesung ist, die ich oben bereits angedeutet habe: Lassen
Sie sich durch Hörerbefragung und Lehrevaluation und (früheren) bundespräsidentielle Worte
von der angeblich widerwillig dargebotenen Lehre nicht in die Irre führen. Der Erfolg des
Studiums hängt nicht vornehmlich davon ab, was wir hinter dem Katheder in welcher didaktischen Qualität auch immer Ihnen anbieten. Sie sind nicht – sie waren es auch nicht in Zeiten
von Studienbeiträgen – Konsumenten dessen, was Universität Ihnen lehrweise bietet in dem
Sinne, dass die Konsumtion bei Ihnen auch den Studienerfolg sicherstellen könnte. Sie müssen sich – und das ist unabdingbar für den Erfolg und völlig unabhängig davon, ob Sie mit
einer Vorlesung „zurechtkommen“ – über Ihre Rolle klar sein: Sie ist nicht die des passiven
Konsumenten sondern die des die Vorlesung als Auftakt und Anregung zu eigenem Arbeiten begreifenden Subjekts. Die Idee der Universität ist die, dass Sie Ihnen dabei hilft, sich den
Stoff selbst zu erarbeiten. Dafür gibt Ihnen die Vorlesung genügend Anregungen, wenn Sie
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Ihr mit Offenheit und Folgebereitschaft entgegentreten. Das setzt voraus, dass Sie vor- oder/und nacharbeiten, jedenfalls die Anregungen aus der Vorlesung zur eigenen Lektüre
nutzen. Sie müssen davon ausgehen, dass Sie für jede Vorlesungsstunde erhebliche Nachbereitungszeit brauchen, weil Sie den Stoff nach dem Hören durch Nachlesen in einen zweiten
Durchgang sich plausiblisieren müssen. Das bedeutet nicht, dass Sie in einem Grundriss, den
Sie zurecht für die Vorbereitung und für die Repetition zur Hand haben (Literaturhinweise
folgen sogleich) lesen, weil der Vorlesungsgrundriss seinerseits nicht in hinreichender Weise
auf Erklärung angelegt ist. Sie werden Gerichtsentscheidungen lesen müssen, die zum Problemverständnis wegen ihrer Beispielhaftigkeit eindringlich sind, Sie werden Aufsätze lesen,
die ein bestimmtes Problem intensiver umkreisen, als das Lehrbücher können. Sie werden
größere systematische Abschnitte in den Handbüchern lesen müssen, um den Dingen auf den
Grund zu gehen; es ist sinnvoller einen Handbuchbeitrag zu lesen, der für sein Thema mehr
Raum hat, als zusammenfassende Darstellungen in knappen Grundrissen.
Wenn Sie das nicht tun, mag Ihnen das Staatsrecht wie eine Fortsetzung der „Gemeinschaftskunde“ erscheinen, die Sie doch schon in der Schule in mehr oder minder eindrücklicher Weise genossen haben. Auch Staatsrecht, wie die anderen Rechtsdisziplinen, sind intensiv durchgearbeitete artifiziell argumentierende Disziplinen. In deren Art und Weise der Argumentation, in die spezifische Technik der Ergebnisherleitung muss man im Laufe des Studiums eindringen. Das setzt eine hohe Lektürelast voraus, der Sie nicht ausweichen können, wenn das
Studium erfolgreich sein soll.
Ich sage es Ihnen nochmals mit aller Eindringlichkeit: Der Studienerfolg hängt nur begrenzt
davon ab, was Ihre Universitätslehrer Ihnen in den Vorlesungen darbieten. Die Hauptinitiative
und Hauptlast des Rechtserwerbs liegt bei Ihnen selbst, bei Ihrer eigenen Lektürelast.
Dazu gehört aber auch, und das nicht zuletzt, dass über Recht gesprochen wird. Sie müssen
untereinander über Rechtsfragen sprechen; wir leisten Hilfe mit den Arbeitsgemeinschaften,
die den Dialog über Recht erleichtern soll. Aber auch jenseits der Arbeitsgemeinschaften
müssen Sie untereinander Rechtsfragen zu einem ganz selbstverständlichen Gesprächsgegenstand machen. Sie müssen die Zeitung mit neuen Augen lesen, nämlich mit denen des interessierten Juristen, der bei vielen Nachrichten, was jetzt hier etwa das Staatsrecht betrifft, die
das Staatsleben betreffen, Sie müssen mit dem Auge des (werdenden) Staatsrechtskundigen
die Informationen in neuer Weise sehen. Was vorher nur von politischem Interesse war, ist
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jetzt auch von rechtlichem Interesse. Diese Perspektive muss Ihnen gewissermaßen in Fleisch
und Blut übergehen.
Recht lässt sich nicht durch schlichtes Lernen bewältigen. Recht muss man in seinen Strukturen verstehen, wenn man damit erfolgreich umgehen will. Zu solchem Verständnis gehört
selbstverständlich auch Lernen, aber Lernen ohne Verstehen hilft in unserem Fach wenig.
Verstehen ist ein Prozess des Umkreisens des Gegenstandes durch unterschiedliche Lektüre,
Zuhörenserlebnisse und des Darüber-Redens. Insofern ist das Verständnis von Recht auch ein
intellektuelles Abenteuer, das, wenn man es besteht, intellektuell hoch befriedigend ist.
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Konzeption der Vorlesung
Sie suchen in Vorlesungen mit gutem Recht den „roten Faden“ und finden ihn nicht immer
leicht, weil Sie noch mit „Verstehen“ beschäftigt sind. Deshalb zur Erläuterung des roten Fadens: Das Grundgesetz enthält in Art. 20 ( lesen) gewissermaßen eine Zusammenfassung,
weil es sich dort über wesentliche Formprinzipien (Bauformen) ausspricht. Insofern ist ein
Herzstück der Vorlesung von diesen Staatsformprinzipien her wesentliche Inhalte der Verfassung zu erschließen (3. Teil). Dem schließt sich eine zweite Aufschlüsselung über das
Recht der Staatsorgane an (4. Teil). Vorausliegt eine Grundlagenbestimmung darüber, was
den Staat ausmacht, was Verfassung bedeutet und welcher Zusammenhang zwischen beiden
besteht (1. Teil). Der 2. Teil zum Werden der Bundesrepublik Deutschland wird nur kursorisch angesprochen. Er soll Sie zur eigenen Erarbeitung des für Sie nur noch „antiquarischen“
Gegenstandes ermuntern. Wer diese Vorgänge zu einem erheblichen Teil miterlebt hat – wie
ich – findet diesen Gegenstand faszinierend. Ich verstehe aber, dass ich Ihnen dieses Faszinosum im derzeitigen Stand Ihrer Ausbildung nicht mitteilen muss, so dass ich Sie damit auch
nicht intensiv „belästige“.
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Vorlesungsgliederung
1.Teil: VOM GEGENSTAND DES STAATSRECHTS
Vorbemerkung: Vom Grund des Verfassungsstaates
I. Der Staat als neuzeitlicher Staat
II. Vom Grund des Staates oder: Was ist ein Staat?
1. Die Drei-Elemente-Lehre
a) Inhalt der Lehre
aa) Staatsgewalt
bb) Staatsgebiet
cc) Staatsvolk
b) Völkerrechtliche Bedeutung der Lehre
c) „Spuren-Elemente“ der Drei-Elemente-Lehre im Grundgesetz
aa) Staatsgewalt
bb) Staatsgebiet
cc) Staatsvolk
d) Grundgesetzliche Reflexion der völkerrechtlichen Konsequenzen der Lehre
aa) Art. 25 GG als generelle Transformationsnorm
bb) Rezeption der 'Staatengrundrechte' durch Art. 25 GG
aaa) Respektierung des Territorialitätsprinzips
bbb) Staatenimmunität
ccc) Staatsorganimmunität
ddd) Immunität des Staatsoberhaupts
eee) Andere Staatsorgane
fff) Personale Grenzen der Immunität
ggg) Absolute Grenzen der Immunität
2. Zur Relativierung der „absoluten“ Kategorie des Staates oder: Wozu noch Staaten?
III. Exkurs: Rangordnung von Rechtsquellen
IV. Vom Grund des Verfassungsstaates oder: Was soll eine Verfassung?
1. Verfassungsstaat als Typus
a) Leges fundamentales
b) Gesellschaftsvertragliche Ursprünge dieses Denkens
c) Elemente solcher Verfassungsstaatlichkeit westlicher Prägung
d) Rechtliche Charakteristika des Verfassungsgesetzes
e) Notwendiger Inhalt einer solchen Verfassung
f) Gerichtliche Sicherung des Vorranges der Verfassung
g) Formeller und materieller Verfassungsbegriff
2. Die grundgesetzliche Realisierung des Typus in der „Zusammenfassung“ in Art. 20,
28, 79, 19 GG
V. Der Staat als juristische Person
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2. Teil: DER KONKRETE STAAT BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND/ DEUTSCHLANDS RECHTSLAGE
Vorbemerkung: Die Entwicklung bis zur Wiedervereinigung
I. Zur Illustration der (früheren) Bedeutung der Fragestellung: Der Fall Ingrid Brückmann
(BVerfGE 37,57) als deutsch-deutsches Schicksal
II. Chronologie der lagebestimmenden Dokumente bis zur Spaltung Deutschlandes
1. Atlantic Charta
2. Oktober ´43: Moskauer Vier-Nationen-Proklamation
3. Protokoll über die zukünftigen Besatzungszonen
4. Abkommen über Kontrolleinrichtungen in Deutschland
5. Jalta-Erklärung
6. Kapitulation
7. Erklärungen in Anbetracht der Niederlage Deutschlands
8. Potsdamer Abkommen
9. Proklamation des Kontrollrats Nr. 1
III. Erste Zwischenfrage: Was war mit Deutschland (dem deutschen Reich) geschehen?
IV. Die rechtliche Situation der Gebiete östlich von der Oder-Neiße in der Nachkriegsgeschichte
1. Unklarheit des Potsdamer Abkommens
2. Der fortdauernde Friedensvertragsvorbehalt
3. Die daraus abgeleitete deutsche Position
4. Neue Ostpolitik
5. Zwei-Plus-Vier-Vertrag
V. Die Gründung zweier deutscher Staaten in Deutschland
1. Die Westallierten als Supreme Allied Authority
a) Bizone, 2. Dezember 1946
b) „Trizonesien“, 8. April 1049
c) Besatzungsstatut, 10. April 1949
2. Gründung der Bundesrepublik
3. Der Sonderstatus Berlins
4. Die Gründung der DDR
VI. Die Deutsch-Deutsche Entwicklung
1. Von der Hallstein-Doktrin zu Inter-se-Beziehungen zweier Staaten in Deutschland
2. Der Grundlagenvertrag von 1972
VII. Die Wiedervereinigung
1. Die denkbaren Wege zur Einheit: Art. 23 S. 2 a.F.; Art. 146 a.F.
2. Die notwendigen Vertragsschritte
a) Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion
b) Einigungsvertrag
c) Zwei-plus-Vier-Vertrag
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3. Teil: DAS BUNDESDEUTSCHE STAATSRECHT IM SPIEGEL DER STAATSFORMPRINZIPIEN
I. Das republikanische Prinzip
1. Republik als Staatsformprinzip
2. Republik als Entgegensetzung zur Monarchie
3. Republik als historisch sinnerfüllter Typus der Staatlichkeit
II. Das demokratische Prinzip
1. Das Volk als Inhaber der Staatsgewalt (Art. 38 GG und das Prinzip ununterbrochener
„Legitimationsketten“)
2. Die Legitimation staatlicher Herrschaft durch das Volk
a) Differenzierung bzgl. der gewaltengegliederten Ordnung
b) Organisatorisch-personelle demokratische Legitimation
c) Sachlich-inhaltliche Legitimation
d) Zusammenwirken beider Legitimationsformen
e) Legitimation auf Gemeindeebene
f) Zusammenfassung der Kettenmodelle in Beispielen
aa) Zur personellen Legitimation
bb) Zur sachlichen Legitimation
aa) Die funktionale Selbstverwaltung
bb)Zwischenbemerkung: Zur Unterscheidung von Dezentralisation und Dekonzentration
cc) Weisungsfreiheit in der Dekonzentration
dd) Weisungsfreiheit in der Dezentralisation
3. „Volk“ als Grundbegriff der Demokratie
4. Demokratie und Gleichheit der politischen Mitwirkungsrechte
a) Grundsätzliches
b) Das Wahlrecht
5. Demokratie als Herrschaft der Mehrheit
6. Die Demokratie des Grundgesetzes als repräsentative Demokratie
7. Die Demokratie des Grundgesetzes und das parlamentarische Regierungssystem
a) Parlamentarismus
b) Das parlamentarische Regierungssystem im Grundgesetz im einzelnen
8. Die Demokratie des Grundgesetzes als parteienstaatliche Demokratie
9. Die Demokratie des Grundgesetzes als „streitbare“ Demokratie
III. Das bundesstaatsrechtliche Prinzip
1. Struktur des Bundesstaates
2. Die Grundaussagen des Grundgesetzes
3. Gesetzgebungskompetenzen
a) Art. 70 I → Länder
b) Ausschließliche Bundesgesetzgebung
c)Konkurrierende Gesetzgebung: Art. 72 i.V.m. Art. 74 GG
d) Grundregeln im Umgang mit Gesetzgebungskompetenzkonflikten
aa) Verfahrensarten
bb) Ansatzpunkt für Bundesständigkeit
cc) Auslegung von Kompetenzvorschriften
dd) Verhältnis von Bundes- und Landesrecht
ee) Ergänzung des Kompetenzkataloges
4. Verwaltungskompetenzen
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a) Grundregel
b) Vier Typen
5. Aufgabenverteilung für die Rechtsprechung
a) Prinzip der Fachgerichtsbarkeiten
b) Gesetzgebungskompetenz
c) Exkurs: Gerichtsaufbau
d)Bundesstaatliche Grundregel
e) Sonderfall Verfassungsgerichtsbarkeit
6. Mitwirkung der Länder im Gesetzgebungsverfahren
a) Grundaussage des Art. 79 Abs. 3 GG
b) Der Bundesrat als Bundesorgan der Länder
c) Ausgestaltung der Mitbestimmung
7. Aufgabenverteilung in der Vertragsschlusskompetenz von Bund und Ländern bei
auswärtigen Beziehungen
a) Grundlagen
b) Die Schwierigkeiten im Umgang mit der Vertragsschlusskonkurrenz
8. Regelungslücke im Grundgesetz: Verträge der Länder mit dem Bund und Verträge
der Gliedstaaten untereinander
9. Kompetenzverteilung bei gesetzesfreier Verwaltung
10. Bundestreue
11. Zusammenfassende Bemerkungen zum Bundestaatsprinzip
12. Anhang: Kommunale Selbstverwaltung
IV. Das Rechtsstaatsprinzip
1. Begriffliches
2. Die Begriffe formeller und materieller Rechtsstaat
3. Ausprägungen des Rechtsstaats: Vorbehalt und Vorrang der Verfassung
a) Vorrang der Verfassung
b) Vorbehalt des Gesetzes
c) Vorrang des Gesetzes
4. Rechtsstaatsprinzip und Rechtsquellenlehre
a) Rechtsstaatsbegriff als gewaltenteilende Kategorie im Blick auf den Staat
b) Gesetzgeberische Bindungen
c) Bindungen an Recht und Gesetz für die Verwaltung
d) Zeitliche Geltungsbeschränkungen
e) Übermaßverbot (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit)
f) Rechtsschutz als rechtsstaatliches Gebot
4. Teil: DAS RECHT DER VERFASSUNGSORGANE
A. Der deutsche Bundestag (Art. 38 - 48 GG)
I. Verfassungsrechtliche Charakteristik des Deutschen Bundestages
1. Rechtsstellung
2. Verhältnis des Deutschen Bundestages zu anderen Verfassungsorganen und sonstige
an der Hervorbringung der politischen Willensbildung Beteiligten
3. Formen der Willensbildung
II. Aufgaben des Deutschen Bundestages
1. Gesetzgebungsfunktion
2. Kreationsfunktion des Deutschen Bundestages
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3. Parlamentarische Regierungskontrolle
a) Erscheinungsformen
b) Kontrollinstrumente
4. Öffentlichkeitsfunktion
III. Der Abgeordnete
1. Das freie Mandat (Art. 38 Abs. 2 GG)
2. Das freie Mandat als Beruf (BVerfGE 40, 296 - Diäten)
3. Mandatsverzicht und Verwandtes
4. Pflichten der Abgeordneten
5. Rechte der Abgeordneten
6. Verfassungsprozessualer Status
IV. Innere Organisation des Bundestags
1. Die Ordnung des Bundestages im Spiegel der Normen
2. Die Fraktionen als bedeutendste innere Formierung des Bundestags
3. Gruppen
4. Die Opposition
5. Leitungsorgane
a) Der Bundestagspräsident
b) Ältestenrat
c) Ausschüsse
V. Parlamentarisches Verfahrensrecht
1. Rechtsquellen des parlamentarischen Verfahrensrechts
2. Verfahrensformen im Plenum des Deutschen Bundestages
VI. Parlamentsauflösung
B. Der Bundesrat
I. Verfassungsrechtliche Charakteristik (Art. 50-53 GG)
II. Aufgaben und Befugnisse des Bundesrats
1. Mitwirkung an der Gesetzgebung
a) Zustimmungsgesetze
b) Einspruchsgesetze
2. Mitwirkung des Bundesrates in der Exekutive
3. Kreationsrechte (Art. 61 I sowie Art. 94 I 2 GG)
4. Kontrollrechte (Art. 53 S.3, Art. 53a II 1 GG, Art 53 S.1 (Interpellation) i.V.m. § 19
GOBR, Art. 114 I /II GG (Finanzkontrollrechte)
5. Mitwirkung an den Angelegenheiten der Europäischen Union (Art. 23 GG)
III. Mitglieder und Verfahren des Bundesrates
1. Die Mitglieder
2. Status der Mitglieder
3. Verfahren
C. Der Bundespräsident
I. Amtsgewinn und Amtsverlust
1. Wahl durch die Bundesversammlung als Verfassungsorgan mit föderaler Konzeption
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2. Wahl des Bundespräsidenten
3. Amtsverlust
II. Status der Bundespräsidenten
1. Amtsdauer (Art. 54 II GG = allenfalls 10 Jahre)
2. Protokollarisch
3. Inkompabilitäten
4. Amtseid (Art. 56 GG- nicht pflichtbegründend, sondern pflichtbekräftigend)
5. Immunität
6. Persönliche Rechtsstellung
7. Vertretung des Bundespräsidenten (s. Art. 57 GG)
8. Verfasssungsprozessuale Stellung
III. Aufgaben und Zuständigkeiten des Bundespräsidenten
1. Punktuelle Regelungen im GG
2. Funktionen im Einzelnen
IV. Gegenzeichnung
1. Rechtsquellen (Art. 58 I, 82 I 1 GG, § 29 III GOPReg)
2. Zur Geschichte der Gegenzeichnung
3. Sinn der Gegenzeichnung heute
4. Anwendungsbereich der Gegenzeichnung
5. Zuständigkeit (58 I GG)
6. Rechtsfolge
D. Die Bundesregierung
I. Aufgaben der Bundesregierung
1. Kein Aufgabenkatalog im GG
2. Charakteristik der Bundesregierung als Quelle der Aufgabenumschreibung
3. Einzelaufgaben in der Übersicht
II. Amtsgewinn und Amtsverlust
1. Textbefund: Art. 63, 64 GG
2. Kanzlerwahl im parlamentarischen Regierungssystem
3. Kabinettsbildung
4. Amtsverlust
III. Parlamentarische Verantwortlichkeit
IV. Organisation der Bundesregierung
1. Textgrundlage Art. 65 i.V.m. der GOBReg
2. Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers
3. Die Ressortleitungskompetenz der Bundesminister
4. Die Kollegialkompetenz der Bundesregierung
5. Geschäftsführung der Bundesregierung
V. Verfassungsrechtliche Stellung
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E. Gesetzgebungsverfahren
I. Thematische Abgrenzung
II. 3-Phasen-Modell
III. Die einzelnen Phasen
1. Gesetzesinitative
2. Beschlussfassung durch Bundestag und Bundesrat
3. Das verfassungsändernde Gesetz (Art. 79 GG)
4. Ausfertigung und Verkündung (Art. 82 GG)
F. Das Bundesverfassungsgericht
Das Verfassungsprozessrecht ist Gegenstand einer Spezialvorlesung (die Sie nicht versäumen
sollten)!
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Literaturübersicht Staatsrecht
Vorbemerkung:
Sie brauchen für die Vorlesung jedenfalls eine Textsammlung des formellen und materiellen
Verfassungsrechts, also des Grundgesetzes und des zugehörigen Gesetzesrechts. Da die Loseblattsammlungen in Form von Beck’schen „roten Ziegelsteinen“ für den Vorlesungsbetrieb zu
unhandlich sind, bieten sich die entsprechenden folgenden gebundenen Sammlungen:
• Nomos Gesetzestexte, Öffentliches Recht, 22. Aufl. September 2013
• Staats- und Verwaltungsrecht Bundesrepublik Deutschland mit Europarecht, 51. Aufl.
2012, CF Müller Verlag
• Grundgesetz, 7. Aufl. 2012 (erscheint im Oktober 2012), Mohr Siebeck
•
Basistexte öffentliches Recht, 16. Aufl. 2013, Beck-Texte im dtv.
Welches Lehr- und Lernbuch Sie zur Begleitlektüre erwerben, ist selbstverständlich Sache
Ihres persönlichen Geschmacks. Wichtig ist, dass Sie, nachdem Sie sich in einer Buchhandlung die Bücher angesehen haben, eines erwerben, das Ihnen bei den ersten Informationsbedürfnissen hilft, das Ihnen auch hilft, den Vorlesungsstoff nochmals in der Übersicht zu repetieren, dass Sie sich aber eben im Sinne der vorangestellten Bemerkungen immer darüber klar
sind, dass die eigentliche Arbeit sich nicht in der Lektüre des Lehrbuchs erschöpft, sondern
das Lehrbuch mitsteuert, was Sie zusätzlich lesen.
I. Studienliteratur
Zu differenzieren ist zwischen solchen Lehrbüchern, die das Staatsrecht (also Staatsorganisationsrecht sowie das Thema Grundrechte) in einem oder zwei Büchern darstellen. Die heute
übliche Aufteilung des Studienstoffes auf mindestens zwei staatsrechtliche Vorlesungen hat
bei der didaktischen Einführungsliteratur vermehrt zu zweibändigen Darstellungen geführt,
ohne einbändige Lehrdarstellungen ganz zu verdrängen.
1. Es gibt zwei einbändige „Klassiker“ die bis in die Gegenwart fortgeführt sind:
•
Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008,
•
Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. 2010.
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Eine knappe einbändige Einführung gibt
•
Wilfried Berg, Staatsrecht, 6. Aufl. 2011.
Der Name „Kurzlehrbuch“ trifft hier zu. Zur einführenden Lektüre ist das Werk sicher gut geeignet. Weiter trägt es allerdings nicht. Das gleiche gilt für die (guten) Einführungen von
•
Alfred Katz, Staatsrecht, 18. Aufl. 2010
•
Ulrich Battis/Christoph Gusy, Einführung in das Staatsrecht, 5. Aufl. 2011
•
Michael Kloepfer, Staatsrecht kompakt, Nomos UTB-Verlag 1. Auflage 2012
Eine klassische Darstellung zum gesamten Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, die
in ihrer wissenschaftlichen Konzeption zeitlos ist, aber nicht mehr fortgeführt wird, gibt
•
Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999. (Neudruck der 20.
Auflage von 1995)
Als nicht mehr fortgeführte Darstellung ist außerdem zu erwähnen:
•
Albert Bleckmann, Staatsrecht I (Staatsorganisationsrecht), 1993.
Als große einbändige Lehrdarstellung steht zur Verfügung:
•
Peter Badura, Staatsrecht. Systematische Erläuterung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl. 2012.
Das Buch von Badura folgt in seinem Aufbau den Abschnitten des Grundgesetzes. Mit seinen
reichlich 1000 Seiten stellt es eine noch zumutbare Begleitlektüre dar. Der große Vorzug des
Buches ist, dass es nicht in Details ertrinkt, sondern Strukturen offenlegt.
Beachten Sie bitte: Die einbändigen Lehrbücher verarbeiten (bis auf Katz) die Föderalismusreformen nur, wenn sie 2007 oder später erschienen sind.
2. An Lehrdarstellungen speziell zum Staatsorganisationsrecht sind zu nennen:
•
Hartmut Maurer, Staatsrecht, 7. Aufl. 2013.
Das Buch aus der Reihe „Grundrisse des Rechts“ ist 850 Seiten stark (allerdings in wesentlich
kleinerem Format als etwa das Buch von Badura – Format ist hier nur auf die Seitengröße bezogen); es behandelt die Grundrechte nicht. Der Vorzug des Buches ist nicht zuletzt, dass es
neben dem von Ipsen und Gröpl das jüngst konzipierteste ist, d.h. die Betrachtungsweise des
Autors setzt nicht wie bei Hesse in den 60er Jahren ein; es ist erstmals 1999 erschienen. Maurer berücksichtigt dabei intensiv die Verfassungsgeschichte; er legt dabei ein in sich wohlproportioniertes Buch vor.
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Alternativen dazu (durchaus gleichwertiger Art) sind die Bücher von
•
Jörn Ipsen, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 25. Aufl. 2013 oder
•
Christoph Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht: Mit Bezügen zum Europarecht, 29. Aufl. 2013
•
Ingo von Münch/Ute Mager, Staatsrecht I, 7. Aufl. 2012
•
Martin Morlok/Lothar Michael, Staatsorganisationsrecht 2013 und
•
Christoph Gröpl, Staatsrecht I, 4. Aufl. 2012
•
Hans-Jürgen Papier/Christoph Krönke, Grundkurs öffentliches Recht I, 2013
•
Heinrich Wilms, Staatsrecht I: Staatsorganisationsrecht, 2007
Die Bücher von Ipsen, Morlok, Degenhart und Gröpl sind knapper als das Buch von Maurer;
sie sind, wie auch die weiteren Bücher, in jeder Hinsicht eine taugliche Begleitlektüre.
Daneben gibt es eine Fülle noch stärker didaktisch-orientierter Literatur, die für das wissenschaftliche Gespräch weniger bedeutsam ist, aber für das Lernen selbstverständlich gleichwohl brauchbar sind.
•
Rolf Schmidt, Staatsorganisationsrecht sowie Grundzüge des Verfassungsprozessrechts, 12. Aufl. 2012.
Man kann mit Ausnahme der Föderalismusreform auch gut zurückgreifen auf:
•
Kremser/Leisner, Verfassungsrecht III. Staatsorganisation, (Reihe Studium Jura).
München 1999.
3. Einführungsliteratur in das öffentliche Recht insgesamt:
Öffentliches Recht besteht auf dem Staatsrecht (Vorlesungsgegliedert in Staatsrecht I =
Staatsorganisation, Staatsrecht II = Grundrechte, Staatsrecht III = internationalrechtliche Bezüge des Verfassungsrechts) und aus dem allgemeinen und besonderen Verwaltungsrecht.
Eine Gesamteinführung in diesen Stoff bieten
•
Sodan/Ziekow, Grundkurs öffentliches Recht, 5. Aufl., München 2012 und
•
Steffen Detterbeck, Öffentliches Recht, 9. Aufl. 2013.
Sodan/Ziekow beläuft sich auf knapp 800 Seiten, knapp 400 davon sind dem Verfassungsrecht gewidmet. Davon etwa die Hälfte dem Staatsorganisationsrecht. Auch dieses Buch erfüllt seinen Zweck als Anregung zum Weiterarbeiten für die gesamte Breite des Öffentlichen
Rechts.
•
Frenz, Walter, Öffentliches Recht, 6. Aufl. 2013 (angekündigt für Oktober 2013).
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Das Buch gibt einen Überblick über das Öffentliche Recht und ist nach Anspruchsgrundlagen
und Anspruchsbegehren aufgebaut. Es umfasst dabei die Gebiete die Staatsorganisationsrecht,
Grundrechte, Verwaltungsrecht AT sowie auch Verwaltungsprozessrecht.
•
Schwerdtfeger, Gunther/ Schwerdtfeger, Angela, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, 14. Aufl. 2012.
II. Staatsorganisation aus der Sicht anderer Wissenschaftsdisziplinen.
Wer sich nicht nur mit der typischen staatsrechtlichen Betrachtungsweise zufrieden geben
will, sondern die Staatsorganisation auch als Gegenstand der Politikwissenschaft kennenlernen will, sei verwiesen auf
•
Joachim Jens Hesse/Thomas Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik
Deutschland, 10. Aufl. 2012,
•
Raban Graf von Westphalen, Deutsches Regierungssystem (Lehr- und Handbücher der
Politikwissenschaft), 2001,
•
Gunnar Folke Schuppert, Staatswissenschaft, 1. Aufl. 2003.
III. Kommentare
Vermutlich ist das Grundgesetz das intensivst kommentierte Gesetz der Welt.
Dabei gibt es große vielbändige Darstellungen, gebundene und Loseblattkommentare, klassische und neue, lobenswerte und weniger lobenswerte. Zu nennen sind zunächst einbändige
Kommentare, wobei die drei erstgenannte sich auch Studenten als potentielle Nutzer vorstellen.
•
Dieter Hömig (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl.
2013 (geschrieben von Staatsrechtspraktikern),
•
Helge Sodan, Grundgesetz, 2. Aufl. 2011,
•
Hans D. Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 12. Aufl. 2012.
1. An größeren und teureren einbändigen Kommentaren ist zu vermerken:
•
Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011
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Der Kommentar ist der Verbreiteste unter den einbändigen Kommentaren. Mit ca. 2700 Seiten wird auch bereits eine recht umfängliche Kommentierung geboten, die allerdings in sich,
wie bei Sammelwerken kaum vermeidbar, in der Intensität unterschiedlich ist.
•
Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 12. Aufl. 2011, ein Kommentar, der mit der 11. Auflage
an Profil gewonnen hat.
2. Unter den gebundenen mehrbändigen Kommentaren ist zu nennen:
•
Dieter C. Umbach/Thomas Clemens, Grundgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 2 Bände (Heidelberger Kommentar), 2002.
•
Ingo von Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar.
Band 1: Präambel. Art. 1 bis 69 GG, 6. Aufl. 2012
Band 2: Art. 70 – 146, 6. Aufl. 2012
Konzeptionell ist der Kommentar von von Münch/Kunig stärker auch auf didaktische
Bedürfnisse ausgerichtet.
•
Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar.
Band I: Art. 1 – 19, 3. Aufl. 2012
Band II: Art. 20 – 82, 2. Aufl. 2006
Band III: Art. 83 – 146. 2. Aufl. 2008. Dazu gibt es aus Anlass der Föderalismusreform eine Ergänzung:
Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar. Band II (Art. 20 – 82) Supplementum
zu Band II 2007 und Supplementum 2010.
sowie
•
von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz,
Band I: Präambel. Art. 1 – 19, 6. Aufl. 2010
Band II: Art. 20 – 82, 6. Aufl. 2010
Band III: Art. 83 – 146, 6. Aufl. 2010
Schließlich sind die Loseblattkommentare zu nennen: Sie haben den Vorzug zum Teil substantieller wissenschaftlicher Durchdringung, die aber regelmäßig einen sehr uneinheitlichen
Bearbeitungsstand aufweisen.
•
Maunz-Dürig-Herzog, Grundgesetz, Loseblatt, 6 Bände, Loseblatt.
•
Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, 15 Bände (die neueren Kommentierungen erreichen monographischen Umfang).
18
•
Erhard Denninger u.a., Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2001, 3 Bände.
Die genannten Loseblattkommentare kommentieren das Grundgesetz im Wesentlichen vollständig.
Das gilt (noch) nicht für
•
Karl Heinrich Friauf/Wolfram Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt. 2012 (inzwischen 4 Bände).
der noch im Aufbau ist.
IV. Unter den großen Lehr- und Handbüchern ist zu erwähnen
•
Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, (Neudruck
2012)
ein einbändiges Sammelwerk zum Grundgesetz, das allerdings nur in Teilen dem Anspruch
an eine tiefdringende Deutung des Staatsrechtslebens genügt. Es findet deshalb in der wissenschaftlichen Zitierpraxis relativ wenig Erwähnung (trotz zum Teil sehr prominenter Autoren).
•
Klaus Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland;
eine für wahr monumentale Gesamtdarstellung, die das Staatsrechtsleben der Bundesrepublik in seiner dogmatischen Entwicklung zwischen Buchdeckeln bändigt. Es liegt
inzwischen in sieben Bänden komplett vor. Das Staatsorganisationsrecht behandeln
die Bände I und II. Band I ist in 2. Aufl. 1984 erschienen, Band II 1980, Band V behandelt die „geschichtlichen Grundlagen des deutschen Staatsrechts“ mit dem Untertitel: „Die Verfassungsentwicklung vom Alten Deutschen Reich zur Wiedervereinigten
Bundesrepublik Deutschland“. Der Band ist 2000 erschienen. Diesen Band müssen Sie
zur verfassungsgeschichtlichen Vertiefung des Gehörten unbedingt beiziehen, weil das
Verständnis von Staatsrecht auch aus der Kenntnis der Verfassungsgeschichte lebt
(C.H. Beck, München).
Auf aktuellem Niveau bündelt das Staatrechtswissen in der Bundesrepublik Deutschland das
•
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben von Josef
Isensee und Paul Kirchhof (C.F. Müller, Karlsruhe)
19
Die zweite Auflage des Werkes umfasste 10 Bände, von denen die Bände V und VI
den Grundrechten gewidmet sind und die Bände VIII und IX (in der 2. Aufl.) die transitorische Verfassungsordnung des Zusammenwachsens beider deutscher Staaten behandelt. Das Handbuch zieht die Summe der Staatsrechtslehre am Ende des 20. Jahrhunderts. Aber selbst dieses Handbuch macht die Arbeit mit weiterer Literatur nicht
entbehrlich. Die 3. Aufl. des Werkes inzwischen erschienen. Band I zu den historischen Grundlagen, Band II mit dem Titel „Verfassungsstaat“, Band III „Demokratie
und Bundesorgane“, Band IV „Aufgaben des Staates“, Band V, „Rechtsquellen, Organisation, Finanzen“ sowie Band VI „Bundesstaat“ (sowie Bd. VII u. VIII zu den
Grundrechten) liegen vor.
Die ersten sechs Bände sind gewissermaßen zugleich Referenzbände für die Vorlesung
Staatsorganisationsrecht.
Neuerdings gibt es das zweibändige „große“ Lehrbuch von
•
Michael Kloepfer, Verfassungsrecht I + II (2011 u. 2010), C.H. Beck, München.
V. Naturgemäß wird Staatsrecht unter dem Grundgesetz effektiv von der (Bundes-)Verfassungsrechtsprechung entfaltet, aber auch – für funktionierende Bundesstaatlichkeit ganz unerlässlich – von der Landesverfassungsgerichtsbarkeit. Insofern sind spezifische Werke zu nennen, die die Fülle der bundesverfassungsgerichtlichen Literatur zu bändigen und zu systematisieren versuchen.
Zu nennen ist hier:
•
Leibholz/Rinck/Hesselberger/Burghart, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Loseblatt, 3 Bände.
Der Kommentar komprimiert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Einzelvorschriften des Grundgesetzes, ohne sich mit den Ergebnissen näher auseinanderzusetzen.
Der Autor lässt gewissermaßen das Bundesverfassungsgericht systematisch sprechen.
•
Das „Sammel- und Nachschlagewerk“ der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ (hrsgg. vom Bundesverfassungsgericht, bearbeitet von Karin Graßhof) (5 Bände,
Loseblatt)
20
Dabei handelt es sich um einen (sehr sehr nützlichen) „Zettelkasten“ von Rechtsprechungssentenzen, nach den Vorschriften des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes geordnet.
VI. Sonstiges:
Ein Supreme Court Richter hat einmal zugespitzt bemerkt, dass die Verfassung den Inhalt hat,
den die Verfassungsgerichtsbarkeit ihr gibt. In diesem Sinne sind verfassungsgerichtliche
Entscheidungen auch Wegmarken der verfassungsrechtlichen Entwicklung. Dabei gibt es ein
sinnvolles (Bonner) Buch, das zu haben oder in dem zu lesen ausgesprochen empfehlenswert
ist:
•
Jörg Menzel, Ralf Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung. 2. Aufl. 2011.
Es handelt sich um ein Case-Book, das das Verständnis von Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erleichtert. Erscheinen ist es in der Erstauflage, als die Sammlung
des Bundesverfassungsgerichts auf 100 Bände angewachsen war. Inzwischen fasst das
Buch 127 Entscheidungen.
Ein Buch, das sich als Case-Book präsentiert, ist auch
•
Richter/Schuppert/Bumke, Case-Book Verfassungsrecht, 4. Aufl. 2001.
Das Buch behandelt Grundrechte und Staatsorganisationsrecht und orientiert sich dafür sehr stark an Auszügen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Für studentische Zwecke zusammengestellt sind schließlich Langtextzitate aus Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen bei Jürgen Schwabe, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Studienauswahl (Band 1 – 109), 8. Aufl. 2004 (nicht fortgeführt).
VI. Literatur zum Verfassungsprozessrecht
Studienliteratur
•
Robbers, Gerhard, Verfassungsprozessuale Probleme in der öffentlich-rechtlichen
Arbeit, 2. Aufl. 2005
•
Fleury, Roland, Verfassungsprozessrecht, 9. Auflage 2012
•
Hillgruber, Christian/Goos, Christoph, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011 (Empfehlenswert zur Anschaffung)
21
•
Schlaich, Klaus/Korioth, Stefan, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012
•
Benda/Klein, Verfassungsprozess (Großes Lehrbuch), 3. Aufl. 2011
•
Pestalozza, Christian, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991
(nicht mehr fortgeführt, aber dogmatisch fortwirkend bedeutsam)
An Kommentaren sind zu nennen:
Lechner/Zuck, BVerfGG. Kommentar, 6. Aufl. 2010
Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Loseblatt
VII. Ausbildungszeitschriften
Wichtige Lektüre sind für Sie auch die Ausbildungszeitschriften, die sowohl systematische
Beiträge mit Bezug auf Ihr jeweiliges Ausbildungsniveau aufweisen, wie auch Fallbesprechungen und Rechtsprechungsaufbereitungen präsentieren:
JuS (Juristische Schulung), C.H. Beck Verlag
JA (Juristische Arbeitsblätter), Wolter Kluwer Verlag
Jura (Juristische Ausbildung) , De Gruyter Verlag
VIII. Entscheidungssammlungen für das Verfassungsrecht
Der Kommentar der Verfassungsrechtssprechung ist unverzichtbar, weshalb die einschlägigen
Sammlungen Ihnen zur vertrauten Lektüre werden müssen.
Die Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind in inzwischen 130 Bänden
unter dem Namen
•
BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
(Mohr/Siebeck Tübingen)
gesammelt.
Neuerdings gibt es auch eine vom Gericht herausgegebene Sammlung der Kammerentscheidungen
•
BVerfGK Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgericht eine Auswahl
(hrsgg. vom Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts), C.F. Müller, Heidelberg, 2010 ff. (inzwischen 19 Bände).
22
Für die Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte (immerhin 16 weitere Spruchkörper)
gibt es keine gewissermaßen amtliche Gesamtpublikation. Die Entscheidungen des nordrheinwestfälischen Verfassungsgerichtshofes erschienen in der Rechtsprechungssammlung des
Nordrhein-Westfälischen Oberverwaltungsgerichts und des Verfassungsgerichtshof (OVGE).
Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat eine eigene Entscheidungssammlung, die sich in
gemeinschaftlich mit der Judikatur des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes in einem Band
befindet (BayVerfGHE) usw.
Es gibt aber eine Sammlung, in die die Mehrzahl der Verfassungsgerichte der Länder (aber
nicht NRW und Bayern) ihre Entscheidungen abdrucken.
•
LVerfGE, Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder, hrsgg. von den Mitgliedern der Gerichte, derzeit 18 Bände, De Gruyter Verlag
Auch diese Sammlung sollte Ihnen im Laufe der Zeit vertraut werden.
VIII. Fallsammlungen
•
Brauner, Roman J./Stollmann, Frank/Weiss, Regina, Fälle und Lösungen zum Staatsrecht: mit Originalklausuren und gutachterlichen Lösungen sowie Erläuterungen,
Boorberg-Reihe Studienprogramm Recht, 7. Auflage, 2003
•
Degenhart, Christoph, Klausurenkurs im Staatsrecht: Ein Fall- und Repetitionsbuch,
C. F. Müller, 3. Auflage, 2013 (im Erscheinen)
•
Hebeler, Timo, 40 Probleme aus dem Staatsrecht, Luchterhand, 3. Auflage, 2011
•
Kilian, Michael/Eiselstein, Claus, Grundfälle im Staatsrecht: Ein methodischer Kurs
zur Einführung in das Öffentliche Recht, C. F. Müller, 5. Auflage, 2011
•
Kisker, Gunter/Höfling, Wolfram, Fälle zum Staatsorganisationsrecht, JuS- Schriftenreihe, C.H. Beck, 4. Auflage, 2009
•
Schmalz, Dieter, Verfassungsrecht: Fälle und Lösungen - 34 Fälle mit Musterlösungen
zum Staatsorganisationsrecht, zu den Grundrechten und zum Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, Nomos, 3. Auflage, 2003
23
24
Staatsorganisationsrecht
1. Teil: Vom Gegenstand des Staatsrechts
Vorbemerkung: Vom Grund des Verfassungsstaates
S. dazu Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des
Staatsrecht, Band II: Grundlagen von Staat und Verfassung, 3. Aufl. 2004, § 15 (zukünftig
HdbStR II) (lesen!).
I. Der Staat als neuzeitlicher Staat
Der Staat in seiner modernen Gestalt entwickelt sich geschichtlich mit der frühen Neuzeit,
also mit der Überwindung des religiösen Bürgerkrieges. Der mittelalterliche Staat mit seinem lehnsrechtlichen Ursprung war als Staat im neuzeitlichen Sinn noch nicht recht erkennbar. Ein unmittelbares Rechtsverhältnis aller Einwohner zu einem Staat existierte nicht.
Erst als sich die monarchische Gewalt in Überwindung des religiösen Bürgerkrieges als
stärker erwies als alle anderen intermediären Kräfte – einschließlich der Kirche – war moderne Staatlichkeit konstatiert.
Insofern ist das Titelbild des Leviathan (1670) gewissermaßen das staatsrechtsikonographische Comic schlechthin (dazu noch unten II 1 aa) in diesem Kapitel). Das Bild
zeigt aber auch, dass das biblische Bild des Leviathan als schreckliches Ungeheuer eine
höchst zeitgenössische Problemlösung zur Überwindung des religiösen Bürgerkrieges
darstellt und eigentlich das große Problem erst formuliert hat, das aus seiner absolutistischen Herrschaftsvariante resultiert: Wie legen wir den Leviathan so an die Kette, dass wir
als Bürger und Einwohner mit ihm leben können.
Die Antwort hat die Geschichte gut ein Jahrhundert nach der Veröffentlichung von Hobbes
Leviathan mit der Gründung der Vereinigten Staaten und der Französischen Revolution
gegeben; deren Prinzipien werden seitdem durchdacht und modifiziert. Um diese Antwort
westlicher Verfassungsstaatlichkeit in der grundgesetzlichen Variante geht es in den drei
Staatsrechtsvorlesungen.
- Teil 1: Staatsorganisationsrecht
- Teil 2: Grundrechte
- Teil 3: Der Verfassungsstaat in der internationalen (supranationalen) Ordnung
25
Hier im Staatsorganisationsrecht geht es also um die grundgesetzliche Antwort, wie der
Staat als demokratischer, republikanischer und sozialer Bundesstaat organisiert ist. S.
Art. 20 I als gewissermaßen Zusammenfassung der Essenz des Grundgesetzes; hierzu tritt
fundamental Art. 1 GG.
Wir beginnen mit Überlegungen dazu, was ein Staat denn sei:
II. Vom Grund des Staates oder: Was ist ein Staat?
Zur Einführung ein skurriles Beispiel: VG Köln, DVBl. 1978, 510. Der großflächige Ponton
im Meer als Sitz eines Rundfunksenders als staatliches Territorium?
Weniger skurril: Der Kosovare X (gibt es den Kosovaren X eigentlich?) wird in Frankreich
wegen des dringenden Tatverdachts, einen Totschlag begangen zu haben, festgenommen.
Er verlangt nach konsularischem Beistand. Die französische Polizei verspricht ihm, die serbische Botschaft zu informieren. Er verlangt, man möge die Botschaft des Kosovo in Berlin
informieren.
Wie kann es zu solchen Verwicklungen kommen?
Die Beispiele zeigen, wir müssen juristisch wissen, was ein Staat ist. Das Völkerrecht ist
das Recht der Völkerrechtssubjekte; das sind zunächst und immer noch die Staaten als die
klassischen Völkerrechtssubjekte. (Heute sind internationale Organisationen und das Individuum als Völkerrechtssubjekt hinzugekommen.)
Was ist also juristisch ein Staat?
1. Die Drei-Elemente-Lehre
Klassischer Text (lesen!) G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1921, S. 394 ff.; moderne Version: Karl Doehring, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 2000, Rn. 39 ff.
a) Inhalt der Lehre
aa) 1. Element Staatsgewalt
-
Sicherheit als Staatszweck
Schon Kaiser Justinian (527 - 565) leitete die Institutionen (der Text ist greifbar in Behrends/Knütel/Kupisch/Seiler, Corpus Iuris Civilis. Die Institutionen, 1993, S. XIII) mit
einer zeitlosen Bestimmung der grundlegenden Staatsfunktionen ein: "Die kaiserliche
26
Majestät muß nicht allein mit Waffen geschmückt, sondern auch mit Gesetzen gerüstet
sein. Dann vermag sie zu jeder Zeit, im Krieg wie im Frieden, gut zu regieren, und der
Römische Kaiser bleibt Sieger nicht nur im Kampf gegen die Feinde, sondern auch dadurch, daß er auf den Wegen des Gesetzes den Ungerechtigkeiten der Böswilligen wehrt
und so wird er ebenso zum gewissenhaftesten Hüter des Rechts wie zum Triumphator
über die besiegten Feinde."
Thomas Hobbes (1588 – 1679): Homo homini lupus est! (s. seinen Leviathan (1670)
Kap. 13 u. 17). Der Staat muss den 'bellum omnium contra omnes' überwinden!
S. dazu z.B. Gerhard Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 36 ff.
Zum berühmten Titelbild des Leviathan s. Reinhart Brandt, Das Titelblatt des Leviathan, in: Wolfgang Kersting (Hrsg.), Thomas Hobbes, Leviathan (Klassiker Auslegen
5), 1996, S. 29 ff.
-
Staat als souveräner ("Puissance absolue et perpétuelle d'une République", Jean Bodin,
Les six livres de la République, 1583, liv. I, chap. X (jüngste deutsche Übersetzung
1981)) Herrschaftsverband nach innen und außen mit dem Monopol der (auch physischen) Gewaltausübung durch Rechtsetzung, Rechtsprechung und Exekutive nach innen und dem Recht zur Selbstbehauptung der Unabhängigkeit nach außen (Polizei, Gerichtsbarkeit, stehendes Heer; zusammengefasst: das staatliche Gewaltmonopol). Souveränität als „Seele des Gemeinwesens“ (Thomes Hobbes).
Die Lehre vom Gewaltenmonopol ist folgenreich:
Bsp.: A ist Eigentümer eines Mietwohnungskarrées, das er als Investor gekauft hat, als
es einigermaßen abgewirtschaftet gewesen ist. Es hat sich dort in einem Flügel eine
linksautonome Wohngemeinschaft entwickelt, die keine Miete zahlt, weil man „Kapitalistenschweinen nichts zahlen müsse“ und in einem anderen Flügel haben sich Rechtsextremisten eingenistet, „die keine Miete zahlen, weil man dem zumeist doch jüdisch
versippten Vermieterpack“ nichts zahlen müsse.
Mit großer Mühe gelingt es, gerichtlich Räumungstitel gegen die dort Wohnenden zu erlangen. Als die Polizei Vollstreckungshilfe leisten soll, weil der Gläubiger seinen Titel
vollstrecken will, weigert sich die Polizei gegen die Mieter einzuschreiten, weil sie vom
Verfassungsschutz weiß, dass große Mengen an Molotow-Cocktails, Kopfsteinpflastersteinen etc. in den Wohnungen gelagert ist. Dem Polizeipräsidenten sind seine jungen
27
Bereitschaftspolizisten „zu schade“, um sie für die Interessen eines Vermieters gesteigerten physischen Gefahren auszusetzen.
Daraufhin fragt der Vermieter bei den Hell’s Angels an, ob sie ihm bei der tatsächlichen
Räumung helfen würden, da ihn der Staat im Stich lasse.
Bsp.: Schutz vor Piraterie: Schiffe unter deutscher Flagge bilden eine „einheitliche
Kauffahrteiflotte“ (Art. 27 GG), die der Staat über See allerdings nicht effektiv schützen
kann (jedenfalls nur sehr erschwert). Deshalb nimmt er seinen Monopolanspruch im
Sinne des Verbots privater Gewaltausübung ein Stück weit zurück:
Zur Zulassung privater Sicherheitsfirmen auf Deutschen Seeschiffen vgl. nun das „Gesetz zur Einführung eines Zulassungsverfahrens für Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen“ (BGBl. I 2013, S. 362ff.), das am 01.12.2013 in Kraft trat. Privaten Sicherheitsfirmen ist nun das Tragen von Waffen an Bord erlaubt; die Firmen müssen nach
dem neu gefassten § 31 GewO eine Zulassung beantragen. Vgl. auch die das Zulassungsverfahren konkretisierende „Verordnung über die Zulassung von Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen“ (BGBl. I 2013, S. 1562ff.)
Bsp.: No-go-areas; Scharia-Strukturen als faktisch durchgesetzte Substitution für staatliche Gerichtsbarkeit; Clan-Strukturen als „Herrschaft durch Gewalt“.
Zur Souveränität s. etwa Albrecht Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität,
HdbStR II, § 17; Werner Mäder, Vom Wesen der Souveränität. Ein deutsches und europäisches Problem, 2007; zu Relativierungen eines souveränitätszentrierten Denkens s.
unten I 2 (S. 29).
Der Zusammenklang von Souveränität und Staatsgewalt lehrt:
- - Staatliche Gewalt ist unabgeleitete Herrschaftsgewalt.
- - Daraus folgen Wesensmerkmale des öffentlichen Rechts: Subordinations- und Subjektstheorie als (zum Teil modifikationsbedürftige) Wesensmerkmale des öffentlichen
Rechts. (s. vorläufig Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. § 3 Rn.
12 – 21; Martin Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht in Geschichte und Gegenwart, in: FS. f. Fritz Rittner, 1991, S. 69 ff. Ausf. und lesenswert (zu gegebener Zeit):
Detlef Schmidt, Die Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht, 1985).
28
- Das Merkmal der Staatsgewalt ist zugleich Relationsgröße für die weiteren zwei Elemente Staatsgebiet und Staatsvolk.
bb) Staatsgebiet: Staat als territorialer Herrschaftsverband; vom modernen Staat ist erst zu
sprechen, als er für ein Territorium Gebietshoheit beanspruchen konnte, also territorial begrenzte Herrschaft über Personen im Herrschaftsgebiet ausüben konnte.
-
Der Zusammenhang von Staatsgewalt und Staatsgebiet ist etwa in der aktuellen Flüchtlingskrise sichtbar. Dabei geht es hier nicht um die Frage, wer aus welchem Grund ein
Zutrittsrecht haben kann, um hier Schutz zu finden, sondern um die Modalitäten des Zutritts. Wenn der Staat seine Territorial- und Personalhoheit behaup
ten will, muss er
den Zutritt effektiv kontrollieren. Dass diese Kontrolle in der EU im Schengenraum
nach außen verlagert ist, wird unerheblich, wenn dort der Zutritt nicht kontrolliert wird
(d.h. die Zutretenen nicht personal erfasst werden). Dann muss die Bundesrepublik
selbst die Zutrittskontrolle wieder übernehmen. Was „eigentlich“ nicht sein kann und
darf, ist der nicht registrierte Zutritt, weil dadurch die Souveränität, wie sie sich in der
Kontrolle der Personal- und Territorialhoheit zeigt, verloren geht.
Das mag man in der Abwägung in einer momentanen humanitär gebotenen Hilfsaktion
rechtfertigen können, muss aber die Ausnahme bleiben.
s. Udo Di Fabio, Migrantenkrise als föderales Verfassungsproblem, 2016, S. 49 ff. –
im Netz verfügbar -
cc) Staatsvolk (mit der Fähigkeit der Selbstregierung): das durch das Band der Staatsangehörigkeit geeinte personale Substrat der Herrschaftsausübung
-
Problematik des Volksbegriffs. Siedlungsgemeinschaft, Kultur, Sitte, Sprache, Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, Gemeinschaftswille. Praktisch löst das Staatsangehörigkeitsrecht das Problem: Das Volk ist die Summe der Staatsangehörigen. Die Problematik zeigt sich beim Selbstbestimmungsrecht der Völker als Legitimationsgrundlage
für die Sezession als Grundlage völkerrechtlich begründeter Staatenbildung oder wenn
der Volksbegriff zur Abgrenzung vorgeblich nicht-homogener Volksteile ideologisch
eingesetzt wird (Beispiel: Lehre von der „Artgleichheit“ zur Ausenzung der Juden mit
der Folge des Verlustes der Rechtsgleichheit bis hin zur physischen Vernichtung).
29
-
Staatsangehörigkeit des modernen Staates als formales Band – nicht als „völkisch“ miss
zu verstehen: Es sind nur zwei Anknüpfungen denkbar (die auch kombiniert werden
können): Abstammungsprinzip und/oder Territorialitätsprinzip + Einbürgerung
S. zur Bedeutung der Staatsangehörigkeit im völkerrechtlichen Verkehr deren Relevanz
für die Wiedervereinigung:
Letztlich war die Position der sozialistischen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang in ihrer
Abschottung unhaltbar geworden, als Ungarn 1989 eine große Zahl von DDR-Bürgern im
Land hatte, die auf der Basis bundesdeutscher Staatsangehörigkeitsdoktrin (es gab danach
nur eine deutsche Staatsangehörigkeit für alle Deutschen in der Bundesrepublik und in der
DDR) gegen die DDR-Auffassung von der (alleinigen) DDR-Staatsangehörigkeit zu dem
Schluss kam, es handele sich bei den DDR-Bürgern offenbar um Doppelstaater. Da diese in
die Bundesrepublik ausreisen wollten, machten sie auch ein ‚genuine link’ zur deutschen
Staatsangehörigkeit geltend, so dass Ungarn bereit war, diese Personen durch den Eisernen
Vorhang in den Westen ausreisen zu lassen. Dieses „Loch“ im sog. Eisernen Vorhang war
der Anfang vom Ende des Ostblocks; eine staatsangehörigkeitsrechtliche völkerrechtlich
mögliche Handlungsoption Ungarns war der Auslöser. Das gleiche galt für die Entscheidung der Tschechoslowaken die „Botschaftsflüchtlinge“ auszureisen zu lassen – allerdings
mit der Besonderheit, dass die DDR den Zug unter Verweis auf ihre Territorial- und Personalhoheit hat passieren lassen. Das Loch im Zaun von Ungarn führte hingegen unmittelbar
in den Westen; dass Österreich den Zutritt akzeptieren würde, weil es sich um freiheitsberechtigte (deutsche) Unionsbürger handelte, war selbstverständlich und unionsrechtlich geboten.
b) Völkerrechtliche Bedeutung der Lehre
-
Der Staat besitzt Völkerrechtssubjektivität kraft seiner Existenz und folglich mit dem
Anspruch auf (im einzelnen streitig):
--
Anerkennung als Staat; s. z.B. für eine entsprechende Rechtsfolge Art. 4 UN-Charta;
zur Anerkennungspraxis der Bundesrepublik Deutschland, s. Michael Schweitzer/Albrecht Weber, Handbuch der Völkerrechtspraxis der Bundesrepublik Deutschland, 2004, Rn. 431 ff.)
Konkret: S. oben das Beispiel des Kosovo, der von einigen Mitgliedstaaten der EU
(auch Deutschland) anerkannt wird, von anderen nicht (etwa von Frankreich nicht).
(Zur Frage der Anerkennungsfähigkeit des Kosovo s. die Entscheidung des Internati-
30
onalen Gerichtshofs (IGH) als Organ der Vereinten Nationen vom 22. Juli 2010, Dokumentennummer: 2010/25.)
- - Mit der Existenz als Staat gelten die sogenannten Staatengrundrechte, also
- - - politische Unabhängigkeit,
- - - souveräne Gleichheit der Staaten (Art. 2 Nr. 1 der UN-Charta) und
- - - Staatenimmunität (Exteritorrialität):
→ "par in parem non habet iudicium": Könnte Deutschland die USA vor z.B. dem
Landgericht Berlin verklagen wegen völkerrechtswidriger Benutzung des Luftraumes
der Bundesrepublik Deutschland oder auf Unterlassung des Datenfischens im deutschen Hoheitsraum oder auf Unterlassung des Abhörens des Handys der Bundeskanzlerin? Offensichtlich nicht!
→ "ne impediatur legatio": (Die Arbeit der Botschaft darf nicht behelligt werden; völkerrechtlich kodifizierter Grundsatz.) Darf Deutschland den Botschafter Russlands
festnehmen, wenn dieser die Bundeskanzlerin beleidigt? Wie weit reicht die Immunität
der jeweiligen Staatsvertreter? Beispiel: Das amtierende Staatsoberhaupt eines Staates
wird eines Genozids gegenüber einer ethnischen Minderheit in seinem Heimatstaat beschuldigt. Er ist als eingeladenes Staatsoberhaupt Gast der Bundesrepublik Deutschland. Darf ein deutscher Staatsanwalt ihn aufgrund des Weltrechtsprinzips mit einem
deutschen Haftbefehl bei Betreten des Flughafens Berlin-Tegel verhaften? An sich
nicht, aber jetzt gilt im Grundsatz ja, nachdem es den Internationalen Gerichtshof gibt.
Dessen etwaiger Haftbefehl könnte (und müsste) vollstreckt werden. Deshalb können
Staatschefs mit genozidalem Blut an den Händen (z.B. der Syrer Assat) Putin noch besuchen, aber nicht solche Staaten, die dem Statut von Rom zur Internationalen Strafgerichtsbarkeit beigetreten sind.
Ein historisches Beispiel: Der Staatsratsvorsitzende der DDR Erich Honecker besucht
die BRD. Als Staatsratsvorsitzender ist er weder Regierungschef noch Staatspräsident.
Die Staatsanwaltschaft Bonn beantragt einen Haftbefehl wegen des Schießbefehls an
der innerdeutschen Mauer. Wird der Richter den Haftbefehl ausfertigen?
- siehe dazu §§ 18-21 GVG; nebenbei: Honnecker ist erst gekommen, nachdem das
GVG geändert worden war.
Ein aktuelleres Beispiel: Der Bonner Bürger D hat Argentinien 1990 Geld geliehen.
Argentinien hat seine Zahlungsunfähigkeit erklärt und bedient die Darlehensforderun-
31
gen seit 1992 nicht mehr. 1995 verlegt Argentinien den Sitz seiner Botschaft nach Berlin (bisher war sie auf dem Bonner Venusberg). Daraufhin beantragt D beim Amtsgericht Bonn die Eintragung einer Sicherungshypothek auf dem Grundstück Argentiniens
auf dem Bonner Venusberg zur Sicherung seiner Darlehensforderung. Wird das Amtsgericht die Eintragung bewilligen, wenn Argentinien behauptet, die Bonner Residenz
bleibe Teil der diplomatischen Vertretung Argentiniens?
Schließlich wird die Sicherungshypothek durch Entscheidung des OLG Köln eingetragen. Rechtsmittel dagegen sind nicht mehr möglich. Daraufhin erhebt Argentinien Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Ist die Verfassungsbeschwerde
zulässig und begründet?
- siehe BVerfG Beschluss vom 20.09.2006 - 2 BvR 799/04 – BVerfGK 9, 211
- - - Interventionsverbot (siehe z.B. "Nicaragua-Fall" IGH vom 27.06.1986, ICJ Reports
1986, 14 (106 ff.), dazu K. Ipsen/H. Fischer, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 59 Rn. 50
ff.) mit dem Hintergrund des Gewaltverbots (Art. 2 Nr. 4 UN-Charta). Völkerrechtlich
ist die Berechtigung zur sog. humanitären Intervention bei schwersten planmäßigen
Menschenrechtsverletzungen wie Völkermord und ethnischen Vertreibungen noch
nicht vollständig geklärt. (Intervention der NATO in Serbien als Ausgangspunkt einer
veränderten Völkerrechtsordnung)? S. Ipsen/Fischer, a.a.O., § 59 Rn. 26).
- - - Anspruch auf Achtung der Rechtspersönlichkeit des Staates (seiner völkerrechtlichen Existenz) mit dem Recht zur Selbstverteidigung (als Durchbrechung des Gewaltverbots);
- - - Recht auf Achtung und Schutz der Ehre eines Staates (Recht auf individuelle
Selbstbehauptung); das Recht auf den Schutz der Ehre erfasst auch das jeweilige
Staatoberhaupt (s. Erdogan v. Böhmermann; § 103 StGB i.V.m. § 104a StGB und:
Erdogan v. Böhmermann, § 185 StGB
- - - das Selbstbestimmungsrecht (nicht unstreitig), s. das Stichwort bei
Seidl/Hohenveldern (Hrsg.), Völkerrecht (Lexikon des Rechts) 2. Aufl. S. 284 f.
(Zu den völkerrechtlichen Grundrechten der Staaten s. K. Ipsen/ C. Gloria, Völkerrecht,
a.a.O., § 26; zum Interventionsverbot s. das Stichwort "Nichteinmischung", in:
Seidl/Hohenveldern (Hrsg.), a.a.O., S. 226 f.; insbesondere zur Anerkennung von Staaten s.
R. Wolfrum, in: Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/1, 2. Aufl. 1989, S. 196 ff. sowie
Ipsen/Gloria, a.a.O., § 22; sowie das oben zitierte Handbuch von Schweitzer/Weber. Diese
Fragestellungen werden ausführlich in der Vorlesung Staatsrecht III behandelt.)
32
c) "Spuren-Elemente" der Drei-Elemente-Lehre im Grundgesetz
aa) Staatsgewalt als dem Grundgesetz vorausliegende Kategorie
- Das ungeschriebene Grundrecht auf Sicherheit
(s. Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen
Verfassungsstaates, 1983; Gerhard Robbers; zu den Grundrechten als „Schutzpflichten“,
siehe den gleichnamigen Beitrag von Christian Calliess in: Merten/Papier (Hrsg.), HdB d.
GRe, Bd. II Grundrechte in Deutschland, allgemeine Lehren I (2006), § 44.)
Normative Ansätze zum Schutz des einzelnen vor Eingriffen Dritter in seine Grundrechte
zeigen Art. 1 Abs. 1 Satz 2; Art. 2 I, II auf; siehe dazu BVerfGE 39, 1 (42) – Schwangerschaftsabbruch I; 46, 160 (164) – Schleyer; 49, 89 (141) – Kalklar; 53, 30 (57) – MülheimKärlich; 56, 54 (73) Fluglärm; 79, 174 (201 f.) – Straßenverkehrslärm; 88, 203 (254) –
Schwangerschaftsabbruch II. Der Schutzauftrag richtet sich an alle Staatsgewalten; s. für
die insoweit gegenüber gesetzgeberischen Lücken lückenschließungsbefugte Rspr.: BVerfGE 81, 242 (255 f.) – gewerbliche Wettbewerbsverbote; 84, 212 (227) - Arbeitskampf; zu
den Grundrechten als „Schutzpflichten“, siehe den gleichnamigen Beitrag von Christian
Calliess in: Merten/Papier (Hrsg.), HdB d. GRe, Bd. II Grundrechte in Deutschland, allgemeine Lehren I (2006), § 44.
- Souveränitätsprinzip: siehe Art. 20 III GG als Merkposten.
- - Staatsgewalt als unabgeleitete Herrschaftsgewalt: Unterschied zur gemeindlichen und
sonstigen dezentralen Hoheitsgewalt, s. Art. 28 I, II GG.
- Gewaltmonopol nach außen: Art. 87a i.V.m. Art. 115a I GG.
- Gewaltmonopol nach innen: nur erkennbar an den normierten Durchbrechungen des Gewaltmonopols, siehe Art. 20 IV GG sowie einfach-rechtlich §§ 32 - 35 StGB, § 229 f.
BGB; § 127 StPO. Im Übrigen normiert der Staat sein Recht zur notfalls gewaltsamen
Selbstbehauptung auch nach innen, siehe Art. 87a IV, 91 I, II, 35 II GG.
- - Justizgewährleistungspflicht und Rechtsprechungsmonopol
Beispiel 1: Der deutsche Fussballprofi F wird vom DFB-Sportgericht zwei Jahre für
den Spielbetrieb gesperrt, weil er einen Schiedsrichter angespuckt hat. F wendet ein, er
sei anders als sein Verein – der 1. FC Köln – gar nicht Mitglied des DFB und sehe auch
nicht ein, wie solch eine private Institution das Recht haben könne, ihn in seiner Berufsausübung zu hindern. (s. §§ 1025 ff. Zivilprozessordnung)
33
Beispiel 2: Der Fall der Eisschnellläuferin Claudia Pechstein – OLG München, v.
15.01.2015 – U 1110/14 Kart Beispiel 3: P ist katholischer Priester: Er zeugt zwei Kinder mit einer verheirateten
Frau in seiner Gemeinde, deren Ehemann in Afghanistan vermisst ist. Seiner Gemeinde
erklärt er in der Predigt, er tue ein gottgefälliges Werk, wenn er der Ehefrau des Verschollenen durch Familienvergrößerung helfe; das sei wichtiger als seine zölibatäre
Verpflichtung und das müsse auch die Kirche einsehen.
Das zuständige Kirchengericht entlässt ihn als Pfarrer. Dagegen klagt P vor dem Verwaltungsgericht. Hat die Klage Aussicht auf Erfolg?
- - Die Justizgewährleistungspflicht als (nicht ausdrücklich normierte) Komplementär des
Gewaltmonopols; normativ gesichert im Rechtsstaatsprinzip, speziell gesichert gegenüber der öffentlichen Gewalt in Art. 19 IV (s. nur Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Dürig,
GG, Art. 19 IV Rn. 16 f.)
--
Das Rechtsprechungsmonopol ist allenfalls angedeutet in Art. 92 GG; es erstreckt sich
aber nur auf die staatliche Gerichtsbarkeit; eine privatautonome Durchbrechungsmöglichkeit ist denkbar, wie die Vereins- und Verbandsschiedsgerichtsbarkeit sofort zeigt (s.
Achterberg, BK, Art. 92 Rn. 173 ff.; der Staat wird allerdings aus seiner Garantenpflicht
nie vollständig entlassen, s. § 1025 ff. ZPO). Das gilt nach der Rspr. nicht für die kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit (sie betrifft personell nur die Geistlichen, nicht das
weitere Kirchenpersonal), weil diese verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist (Art. 140 GG
i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV). Das kann man auch anders sehen, so dass die §§ 1025 ff.
ZPO auch gegenüber kirchenverwaltungsgerichtlichen Urteilen geltend gemacht werden
könnten. Jedenfalls genügen die Kirchenverwaltungsgerichte tatsächlich uneingeschränkt den §§ 1025 ff. ZPO. – Parteischiedsgerichte der politischen Parteien unterliegen uneingeschränkt den §§ 1025 ff. ZPO. – Ein Problem ist die Sportschiedsgerichtsbarkeit, die es dem Sportler sanktioniert verbietet, die staatlichen Gerichte anzurufen.
Nach meinem Dafürhalten wäre das eine echte Durchbrechung der staatlichen Garantenpflicht, die mit der Justizgewährleistungspflicht nicht vereinbar ist. Der Fall Pechstein
(oben Beispiel 2) wird für Klarheit sorgen.
- - Öffentliches Recht als Amtsrecht: s. Art. 33 IV, Art. 19 IV, § 40 I VwGO, § 839 BGB,
§ 1 VwVfG
bb) Staatsgebiet: (siehe dazu insgesamt Daniel-Erasmus Khan, BK, Staatsgebiet und Grenzen[vor Präambel], Rn. 1 ff.). Die Präambel beschreibt den territorialen Herrschaftsraum
34
- auch Schiffe (s. Art. 27 GG; dazu BVerfGE 92, 43) und Botschaften (die allerdings nicht
eigentlich exterritorial sind (obwohl das häufig gesagt wird); es gilt der Grundsatz der
Unverletztlichkeit der Räumlichkeiten der Mission, s. Art. 22 Wiener Übereinkommen
über die Diplomatischen Beziehungen (WÜD); s. Ipsen/Fischer, a.a.O., § 35 Rn. 60 ff.)
- luftwärts: 80 bis 100 km über dem Meeresspiegel (s. Graf Vitzthum, HdbStR II, § 18,
Rn. 22); praktische Bedeutung: LuftVG
Beispiel: Sie sind Eigentümer einer attraktiven Immobilie in Berchtesgaden (vor etwa 30
Jahren!). Österreich baut den Flughafen Salzburg aus. Österreich ist damals noch
nicht Mitglied der EWG (heute: EU) und hält es nicht für nötig, die „deutschen Piefkes“ am Verwaltungsverfahren zum Ausbau des Flughafens zu beteiligen. Da die
Salzburger durch den gesteigerten Flugverkehr stark belastet würden, entscheidet sich
die Planfeststellungsbehörde in Wien für einen Flughafenausbau, in dessen Rahmen
die Anflugrouten bevorzugt über Berchtesgaden zu führen sein werden. Was wollen
Sie als Berchtesgadener tun? Wen wollen Sie auf welche Maßnahme in Anspruch
nehmen? (Der Fall hat deutsche Gerichtsbarkeit tatsächlich beschäftigt.)
- seewärts: Vitzthum, a.a.O., Rn. 29 f.: konsentiert sind jedenfalls zwölf Seemeilen.
- bundesstaatsrechtliche Bedeutung der Präambel:
Bundesgebiet = Summe der Landesherrschaftsgebiete; keine bundesfreien Landesgebiete;
keine bundesunmittelbaren Gebiete; kein Washington D.C.!
cc) Staatsvolk (siehe dazu Rolf Grawert, HdbStR II, § 16) Präambel, Art. 20 III, Art. 116
als Textbefund
- persönliches Herrschaftssubstrat und Gegenstand staatlicher Personalhoheit; Träger der
Staatsgewalt
- personale Abgrenzung: Nach der Staatsangehörigkeit = Gesamtheit der Staatsangehörigen, die dem Staat kraft Rechts zugeordnet sind und kraft Völkerrecht zugeordnet werden
dürfen.
- Deutsche historisch bedingte "Spezial-Probleme": Deutsche waren selbstverständlich
auch alle Bürger der früheren DDR, auch solche, die im Rahmen des ordre public dort
35
eingebürgert worden sind (s. BVerfGE 77, 137 (151 f.); durch die Ostverträge haben
Deutsche ihre Staatsangehörigkeit nicht verloren (BVerfGE 40, 141 (170); 43, 203 (210)
– Sudetendeutsche; wohl aber Österreicher am 25.04.1945 (BVerfGE 4, 322 (327)). Zu
Art. 116 s. zuletzt BVerwGE 90, 173; BGHZ 121, 305 (314). Deutsche im Sinne von
Art. 116 Abs. 1 GG sind auch: Flüchtlinge oder Vertriebene (= derjenige, der seinen
Wohnsitz außerhalb des Gebiets der heutigen Bundesrepublik hatte und diesen Wohnsitz
aufgrund des Zweiten Weltkrieges durch Vertreibung oder durch Flucht verloren hat und
in Deutschland Aufnahme gefunden hat (auch noch nach Inkrafttreten des GG, BVerfGE
8, 81 (86); 17, 224 (231)). (Deutscher Volkszugehörigkeit = derjenige, der sich in seiner
Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch Merkmale
wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird).
- Wesen der Staatsangehörigkeit: Ein Rechtsverhältnis, das ein Rechtsband von Rechten
und Pflichten (Gehorsamspflicht des Bürgers! z.B.) zwischen dem Staat und seinen Angehörigen schafft (Grawert, a.a.O. Rn. 42). Alltäglich: Steuerpflicht, Schulpflicht, Gesetzesgehorsam, früher: Wehrpflicht etc. (Aber Vorsicht! Diese Pflichten gelten z.T. nicht nur
für Staatsbürger); dem Bürger entstehen auf der anderen Seite Forderungsrechte gegen
den Staat zu (Recht auf Zugang zu Bildungseinrichtungen, zur Infrastruktur, auf Sozialleistungen.
Aber beachten Sie: die große Mehrheit solcher Forderungsrechte steht allen Einwohnern
offen; s. aber z.B. die Differenzierung bei den Grundrechten.
Konkrete Folgen anhand von Beispielen:
1. Beispiel: Der Fußballlehrer Stange will (zu Zeiten von Saddam Hussein) die irakische
Fußballnationalmannschaft trainieren. Die Bundesrepublik Deutschland entzieht ihm den
Pass (Rückruf); suchen Sie im Passgesetz die entsprechende Ermächtigungsgrundlage!
2. Beispiel: Elfes ist Oberbürgermeister einer rheinischen Stadt in der ersten Hälfte der
50er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Er ist CDU Politiker, steht aber in Opposition zu
Adenauers Westintegrationspolitik in den frühen 50ern. Er will nach Moskau, um dort an
einem „Friedenskongress“ teilzunehmen, dabei die Außenpolitik der Regierung kritisieren. Da seine Ausreise die Belange der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtige, wird
ihm der Pass verweigert (BVerfGE 6, 89 - Elfes).
36
- - Konsequenzen auf der Berechtigungsseite:
Völkerrechtlich: Auslandsschutz sowohl konsularisch (Auskunft, Beratung, Fürsorge, s.
das Konsulargesetz, Sartorius II, Nr. 580) und diplomatisch: Wegen völkerrechtswidriger Behandlung der eigenen Staatsangehörigen gegenüber einem völkerrechtswidrig
handelnden Staat (s. auch BVerfGE 81, 208 (224): Urheberrecht und gezielte Benachteiligung fremder Staatsangehöriger "unentschlossener" Staaten zur Erzwingung von Gegenseitigkeitsabkommen zum Schutze der eigenen Staatsangehörigen) (zum Auslandsschutz: Dauses Jura 1990, 262 ff.; Rudolf Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 3.
Aufl. 2002, § 50)
Staatsrechtlich berechtigend: s. die frühere Regelung in Art. 112 Abs. 2 WRV mit der
ausdrücklichen Normierung eines subjektiven Rechts auf (ermessensabhängigen) Auslandsschutz (s. gegenwärtig die häufigen Bemühungen der Krisenstäbe im Auswärtigen
Amt, entführte Deutsche in Afghanistan oder im Irak „freizukaufen“ (was nie zugegeben
wird) oder ihre Freilassung auf anderem Wege zu erreichen). Aus der Staatsangehörigkeit folgt ein Forderungsrecht auf Gewährung von Auslandsschutz. Dem Grundgesetz fehlt zwar eine entsprechende Regelung; sie folgt aber aus dem Wesen der Staatsangehörigkeit als Rechtsverhältnis (BVerfGE 55, 349 (364 f.) - Rudolf Heß, BVerwG
NJW 1988, 2208; OVG Münster NJW 1989, 2209); man mag den Auslandsschutz im
Kern auch in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 gewährleistet sehen (s. Jarass/Pieroth, GG,
Art 16 Rn. 7 m.w.Nachw. (str.)). Ein signifikantes Beispiel für die Gewährung von Auslandsschutz ist etwa die Klage der Bundesrepublik Deutschland gegen die USA a conto
doppelte Staatsangehörigkeit der zum Tode verurteilten Brüder La Grand, die verurteilt
worden waren, ohne dass Deutschland den deutschen Staatsangehörigen konsularischen
Beistand hätte leisten können. Der Angerufene Internationale Gerichtshof (IGH) hat der
Bundesrepublik Recht gegeben und die Völkerrechtswidrigkeit der Verurteilung ohne
die Gewährung von Auslandsschutz ausgesprochen (IGH La Grand (Germany) v. USA,
Urteil vom 27.06.2001, ICJ Rep 2001, 466.) Zu den Rechtsfolgen verweigerten Zugangs
des Heimatstaates zu einem eigenen Staatsangehörigen vor dem deutschen Strafrichter
s. BVerfGK 17, 390.
Beispiel: A ist als deutscher Staatsangehöriger, wie der Bundesnachrichtendienst weiß,
in Afghanistan in einem Ausbildungscamp für Selbstmordattentäter gewesen. Als er
zurückkehrt, verweigert ihm die BRD die Einreise. Sie empfiehlt ihm, dorthin zurückzukehren, „wo er sich offensichtlich wohl fühlt, nämlich in Terrorstaaten“. Ist
dies (von der Formulierung abgesehen) rechtmäßig? (Zur Bedeutung des Art. 11
37
GG für die Einreise in das Bundesgebiet s. BVerfGE 110, 177 (191) - Spätaussiedler; BVerwGE 122, 313 (316))
Kann Deutschen, von denen die Behörden annehmen, dass von ihnen eine Gefahr
ausgeht, die Wiedereinreise verweigert werden, wenn sie Doppelstaatler sind?
Fall Kurnaz: Er ist Deutscher und Türke und war Guantanamo-Häftling. Kann ihm
unter Verweis auf: „Dann gehen Sie doch in die Türkei“ die Wiedereinreise nach
Deutschland verwehrt werden?
- gesetzliche Grundlage für eine solche Entscheidung ist nicht gegeben;
- Art. 11 GG garantiert die Wiedereinreise.
- Welche StaatsAng effektiv sein soll, entscheidet K selbst.
- Im Ergebnis liefe das Verbot der Wiedereinreise auf eine Entziehung der Staatsangehörigkeit hinaus (dazu noch S. 38)
Kontrastbeispiel: Das Sektenoberhaupt Mun ist koreanischer Staatsangehöriger. Er will
in die Bundesrepublik einreisen, um seine Gemeindemitglieder besuchen zu können.
Die BRD verweigert die Einreise unter Hinweis darauf, dass er keinen Anspruch auf
Zutritt habe. Mun klagt dagegen. Wird seine Klage Erfolg haben? s. BVerfGK 9,
371. Weil er seine „Gemeinschaften besuchen will, ist ihm wegen Art. 4 Abs. 1 GG
die Einreise zu gestatten. Für IS-„Geistliche“ würde das wegen latenter Unfriedlichkeit nicht gelten.
Außerdem: Die Staatsangehörigkeit ist relevant für die Geltung der „Deutschen-Grundrechte“ (s. insofern den Text der Grundrechte).
Staatsrechtlich verpflichtend: Unterwerfung unter den personalen Geltungsanspruch des
deutschen innerstaatlichen Rechts (die aber auch für jedermann gilt, der sich im Inhalt aufhält).
- Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit nach dem StAG
- - Ius sanguinis oder ius territorii (jeweils ergänzt um Erklärungserwerbstatbestände) als
denkbare Modelle; das kaiserliche RuStAG folgte im Grundsatz dem Abstammungsprinzip, jetzt aufgelockert durch ein modales Territorialitätsprinzip für hier geborene
Ausländerkinder (sog. Optionsregelung, § 29 StAG)
38
- - Ius sanguinis und Art. 3 Abs. 2: BVerfGE 37, 217: Staatsangehörigkeit nach Vater und
Mutter; das reine Paternalitätsprinzip (oder das Maternalitätsprinzip) ist verfassungswidrig. Doppelte Staatsangehörigkeiten, die daraus folgen, sind hinzunehmen.
- - Problematik der doppelten Staatsangehörigkeit
s. Wolfgang Löwer, Abstammungsprinzip und Mehrstaatlichkeit, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 1993, S. 156 f. sowie K.F. Gärditz, Der Bürgerstatus
im Lichte von Migration und Europäischer Integration, VVDStRL 72 (2013); politisch
ist die Frage hoch umstritten; viele Diskutanden halten die doppelte Staatsangehörigkeit
für einen Beitrag zur Integration, mancher für einen Beitrag zur Verhinderung der Integration.
- Grundrechtlicher Schutz der Staatsangehörigkeit und der Staatsangehörigen: Art. 16 I
und Art. 16 II. "Gegen den Willen" = Verlust, den der Betroffene nicht beeinflussen kann
(BVerfG - VPr. NJW 1990, 2193 sowie jetzt BVerwGE 118, 216 und BVerfGE 116, 24
(44 f.)). Verfassungsrechtliche Problematik der Optionsregelung für Doppelstaater: im
Ergebnis ist § 29 StAG keine „Entziehung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 S. 1 GG, weil
nach Maßgabe des Willens des Betroffenen beeinflussbar (Jarass/Pieroth, GG, Art. 16,
Rn. 8 u. Rn. 12 a mit weiteren Nachw.); die Regelung wird aber im Schrifttum für mit
Art. 3 Abs. 3 S. 1, 2. Var. und Art. 3 Abs. 1 GG für unvereinbar gehalten, auch mit den
Unionsbürgerrechten der EU, wenn davon EU-Bürger betroffen sind. (s. Zimmerann/Schütte/Sener, „Deutsche zweiter Klasse?“, 2013, S. 38ff.); aktueller Meinungsstand
bei Jarass/Pieroth, a.a.O., Art. 16 Rn. 12a.
Neuerdings wird erwogen deutsche Terroristen, die sich z.B. in Terrormilizen ausbilden
lassen, die deutsche StAng. zu entziehen (FAZ v. 20. April 2016, S. 1) Präsumtive Arg.:
Ich werde willentlich Terrorist, also liegt der Verlustgrund in meinem eigenen Verhalten
(= BVerfGE 116, 24); im Ergebnis könnten also „gefährliche Deutsche“ nach Maßgabe
konkreter Anhaltspunkte „expatriiert“ werden.
Hier ist Vorsicht geboten: Im 116. Bd. bezieht sich die Wesentlichkeit des Handelns, dem
der Verlust folgt, auf Tatbestände des StAngR; der Neuregelungsvorschlag müsste an ein
Merkmal der „Gefährlichkeit“ eines Menschen an. Das ist etwas substantiell anderes. ME
lässt Art. 16 I eine solche Regelung nicht zu.
39
d) Grundgesetzliche Reflexion der völkerrechtlichen Konsequenzen der DreiElemente-Lehre
aa) Art. 25 GG; dazu Kunig, Jura 1989, 667; Steinberger, HbdStR, 2. Aufl. VII, § 173,
Art. 25 als generelle Transformationsnorm (Rechtsanwendungsbefehl) für die allgemeinen Regeln des Völkerrechts; insbesondere Art. 25 Satz 2; es gilt nicht etwa ganz
generell: "International law is part of the law of the land" mit den angelsächsischen Implikationen der Eingliederung des Völkerrechts in das Landesrecht z.B. auch hinsichtlich
zeitlicher Kollisionsregeln: s. den Rang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts oberhalb
des Gesetzes (aber nach herrschender Meinung unterhalb der Verfassung) mit der verfassungsprozessualen Sicherung der Wahrung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts
durch das Normverfikationsverfahren in Art. 100 Abs. 2 GG (s. hierzu den Argentinienfall oben S. 30 – Argentinische Botschaft). Zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehören das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze des
Völkerrechts, d.h. diejenigen Normen des Völkerrechts, die unabhängig von vertraglicher
Zustimmung für alle oder doch die meisten Staaten gelten (so zuletzt BVerfG, v. 15. Dezember 2015 – 2 BvL 1/12 -). Art. 59 GG gilt für das Vertragsvölkerrecht. Es gilt im
Range des Parlamentsgesetzes und ist deshalb der zeitlichen Geltungsanordnung der lex
posterior ausgesetzt (s. zu den Studiengebühren z.B. OVG Münster, v. 9. Oktober 2007 –
15 A 1596/07 - zu Art. 13 Abs. 2 Buchstabe c des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) sowie (allerdings völkerrechtlich eher
kursorisch): BVerwGE 134, 1, Rn. 45 ff.; s. jetzt zur Kollision der lex posterior mit Vökervertragsrecht; BVerfG v. 15. Dezember 2015 – 2 BvL 1/12 -: Der Bundesfinanzhof
(BFH) hatte eine im Schrifttum neuerdings verbreitet vertretene Auffassung zum Rang
des Volkervertragsrechts dem BVerfG vorgelegt. Der einfache Gesetzgeber sei auch an
das Völkervertragsrecht derart gebunden, dass ein späteres Gesetz nicht geltungsstärker
sei als das frühere – gegen die zeitliche Geltungsregel, nach dem das spätere dem früheren
vorgeht (lex posterior derogat legi priori). Die Völkerrechtsfreundlichkeit insbesondere
gebiete, das zwischen Völkerrechtssubjekten bestimmte Völkervertragsrechte vor einem
‚Treaty overide’ zu schützen. Das BVerfG ist dem überzeugend entgegengetreten; schon
die Systematik aus Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG lasse eine Nivellierung zwischen allgemeinen Regeln des Völkerrechts und Völkervertragsrechts nicht zu (s. BVerfG, a.a.O.,
C I 1a) und b)).
40
bb) Art. 25 GG rezipiert damit auch die oben zitierten 'Staatengrundrechte' (soweit sie
allgemeine Regeln darstellen, soweit es also um "evidence of general practice accepted as
law" geht); s. den IGH-Fall Continental Shelf [Libyen vs. Malta], ICJ Reports 1985, 29 f.
aaa) Respektierung des Territorialitätsprinzip, BVerfGE 84, 90 (123) - Bodenreformurteil: Hinnahme fremder Enteignungen (durch SMAD (= Sowjetische Militätradministration in Deutschland))
bbb) Staatenimmunität Unterscheidung in:
- acta iure imperii
- acta iure gestionis
- fremde Staatsunternehmen
Acta iure gestionis bleiben für das prozessuale Erkenntnisverfahren ohne Immunitätsschutz (BVerfGE 16, 27 - Reparatur der Heizungsanlage in der Iranischen Botschaft),
für die Vollstreckung s. BVerfGE 46, 342 - Philippinische Botschaft als Mieter; es gilt
der Grundsatz ne impediatur legatio (siehe oben), wenn in das eine Botschaftskonto gepfändet werden soll.
Zu Staatsunternehmen s. BVerfGE 64, 1 - National Iranian Oil Co: keine Staatenimmunität (auch nicht für staatliche Monopolunternehmen); s. auch den oben zitierten
Fall BVerfGE 117, 141 zu Staatsanleihen bei erklärtem pauschalem Verzicht auf Vollstreckungsschutz (Argentinien).
ccc) Staatsorganimmunität: s. § 20 Abs. 1 und § 20 Abs. 2 GVG
ddd) Immunität des Staatsoberhaupts
s. Dahm/Delbrück/Wolfrum, a.a.O., § 29: "Wer das ist, bestimmt die Verfassung des jeweiligen Staates".
Inhaltlich: grundsätzlich absolute Immunität während seiner Amtstätigkeit, nach seiner
Amtstätigkeit immun wegen Amtshandlungen (diese sind solche des Staates).
Was ist mit untergegangenen Staat? (s. BVerfG DtZ 1992, 216 - Willi Stoph). Die Immunität des Staatsoberhaupts ist von der Staatenimmunität abgeleitete Immunität, bleibt
also auch personal erhalten.
Sind (waren) auch Generalsekretäre "regierender" kommunistischer Parteien Staatsoberhäupter? (s. dazu Dahm/Delbrück/Wolfrum, a.a.O., S. 250 Fn. 5). Zum Staatsratsvorsitzenden der DDR s. Art. 66 Abs. 2 DDR-Verfassung: Staatsrat als kollektives Staatsoberhaupt, BGH JZ 1985, 299 f. - Erich Honecker; sowie dazu (zu Recht kritisch) Dieter
Blumenwitz JZ 1985, 614 ff.
41
Wandlungsprozesse in den vergangenen zwei Jahrzehnten:
Fall Pinochet: House of Lords, Judgement – Regina v. Bartle and the Commissioner of
Police for the Metropolis and Others Ex Parte Pinochet; Regina v. Evans and Another
and the Commissioner. … (on Appeal from a Divisional Court of the Queen’s Bench
Devision v. 24. März 1999). Die Immunität schützt nicht mehr gegen schwere Menschenrechtsverletzungen. Das gilt nach Auffassung mancher Staaten auch losgelöst von
der Internationalen Strafgerichtsbarkeit der sich gerade menschenrechtsverachtende
Staaten nicht unterworfen haben (s. ggg).
eee) Andere Staatsorgane: Inhaltlich: Auf die Amtstätigkeit bezogene Immunität BGH
NJW 1979, 1101 – Scientology/New Scotland Yard/BKA; BVerfG(K) DVBl. 1989, 261
– Vernehmung des indischen Verteidigungsministers im Asylverfahren
fff) Personale Grenzen der Immunität
Diplomaten und Konsule: Art. 31 Wiener Diplomatenrechtskonvention (WDÜ) (Sartorius II
Nr. 325); Art. 41 Wiener Konsularrechtskonvention (Sartorius II Nr. 326); Das Recht des
Staatenverbundes durch diplomatische und konsularische Vertreter enthält kodifizierte allgemeine Regeln des Völkerrechts Im Sinne des Art. 25 GG. Dazu BVerfGE 96, 68: Keine
erga-omnes-Wirkung des Immunitätsschutzes (lesen!). Es ging um den libyschen Botschafter in der DDR, der in den Anschlag auf die Berliner Diskothek „La Belle“ (3 Tote, 28
Schwerverletzte) durch Unterstützungshandlungen beteiligt war.
ggg) Absolute Grenzen der Immunität
- Kriegsverbrechen (Beginn: Nürnberger Kriegsverbrecher Tribunal; aktuell: Internationaler
Strafgerichtshof, Konvention von Rom).
- weitere Tribunale: Kambodscha, Jugoslawien – Tribunal.
- Spionage (s. dazu BVerfGE 92, 277: die Markus-Wolf-Entscheidung); das allgemeine
Völkerrecht kennt keine Zurechnung der Spionagetätigkeit in den Bereich staatlicher Immunität.
2. Zur Relativierung der „absoluten“ Kategorie des Staates, oder: Wozu noch Staaten?
- Transnationalität der Probleme (z.B. im Umweltrecht)
- Transnationalität der Antworten
- Globalisierung und Vernetzung des Wirtschafts- und Informationsverkehrs
42
- Supranationalität als Antwort
s. eine moderne Staatslehre bei Peter Saladin, Wozu noch Staaten? Zu den Funktionen eines
modernen demokratischen Rechtsstaates in einer zunehmend überstaatlichen Welt, 1995;
zur „Todesdiskussion“ s. auch die Hinweise bei Wolfgang Löwer, Der Staat im Völkerrecht, in: Jörg Menzel et. al. (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, 2005, S. 115 ff.
43
III. Exkurs
Rangordnung von Rechtsquellen
Der Exkurs knüpft daran an, was für Sie eine wesentliche Tätigkeit Ihrer juristischen Profession sein wird. Sie werden Garant rechtsmäßigen Verhaltens, als Richter, als Verwaltungsbeamter, als beratender Rechtsanwalt.
Die Rechtsordnung gilt; das hat Konsequenzen für die Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit rechtserheblichen Handelns.
Im öffentlichen Recht ist die Durchsetzung der Rechtsbindung Verfassungsgebot (Art. 20
Abs. 3 GG) – Bindung an Verfassung, Gesetz und Recht – mit gewaltengeteilter Differenzierung.
Rechtsmäßigkeit braucht ein Maß. Dieses gibt die Normenordnung vor (in ihrer Differenziertheit, dazu sogleich der Exkurs). Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit ergibt sich aus
dem Vergleich der rechtserheblichen Handlung mit der Normenordnung.
Das ist abstrakt leicht gesagt, hat aber seine Tücken, weil die Rechtsordnung hoch differenziert ist, wie der Exkurs zeigt.
Im öffentlichen Recht wird der Vorgang des Vergleichens von zwei Prinzipien gesteuert:
- vom Vorbehalt des Gesetzes (Rechtsstaatsprinzip + grundrechtlicher Gesetzesvorbehalt +
Wesentlichkeitstheorie)
- vom Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG)
Ziel: Herstellung der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung bei einer Pluralität von
Rechtserzeugern: In Deutschland gilt nationales Recht des Bundes und der Länder, autonomes Recht (Gemeinden, Universitäten, etc.), Völkerrecht, Europarecht.
44
1. Stellen Sie sich zunächst vor, alles Recht einer Rechtsmasse (Rechtordnungen verschiedener Stufen) sei in einem Container mit Einschubcontainern.
Völkerrecht
Europarecht
Bundesrecht
Landesrecht
a) Kollisionsregel (für EUR, BR, LR): Das Unionsrecht im Container geht nationalem
Recht (BR und LR) vor.
b) Kollisionsregel: Bundesrecht ist geltungsstärker als Landesrecht, s. Art. 31 GG sowie
den kompetentiellen Vorrang des Bundesrechts aus den Art. 72 ff. GG.
c) Kollisionsregel: Für das Völkerrecht gegenüber nationalem Recht gelten Besonderheiten
nach deutschem Verfassungsrecht (s. sogleich).
Beachten Sie: Zeitliche Kollisionsregeln zwischen Normen aus verschiedenen Containern
nach Maßgabe der lex-posterior-Regel gelten nicht (lex posterior derogat legi priori = das
jüngere Gesetz geht dem älteren vor in dem Sinne von: beendet seine Wirkung). Zeitliche
Geltungsregeln gelten nur innerhalb des Rechts derselben Geltungsstufe, also im anwendbaren Unionsrecht, im anwendbaren Bundesrecht – bei gleicher Rangstufe dort (also älteres
formelles Gesetz und jüngeres formelles Gesetz, ältere RVO und jüngere RVO, ältere Satzung und jüngere Satzung etc.
45
2. Wenn keine Kollision der Rechtnormen (= Rechtsordnungen verschiedener Stufen) vorliegt, könnte eine Kollision zwischen Normen verschiedener Geltungsstufen innerhalb einer
Rechtmasse (Rechtsordnung) vorliegen.
Container
Völkerrecht
= Allgemeine Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG)
Völkervertragsrecht (Art. 59 GG) = Rang des Zustimmungsgesetzes. Die lex-posterior-Regel greift unter
Hinnahme eines Verstoßes gegen völkerrechtliche
Verpflichtungen.
Container
Europarecht
Primärrecht
(EUV, AEUV)
---------------------Sekundärrecht
Verordnungen
Container
Bundesrecht
Richtlinien
Verfassung /
Grundgesetz
-------Parl. beschlossene Gesetze
--------Verordnungen (Art. 80 GG)
-----------Autonomes Recht (Satzungen)
→ Vorrang der Verfassung und Vorrang des
Gesetzes vor abgeleitetem Recht
Container
Landesrecht
Landesverfassung
------Parlamentsgesetze
------Verordnungen
------Autonomes Recht
(Gemeinden, Universitäten = Satzungen,
Art. 28 II GG, Art. 70 LVerfNRW)
46
IV. Vom Grund des Verfassungsstaates oder: Was soll eine Verfassung?
Zur neuzeitlichen Geschichte des Begriffs Dieter Grimm, Verfassung II, in: Verfassung,
Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart, 1995, S. 100; zum Verfassungsbegriff siehe etwa Wolfram Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S.
28 ff.
1. Verfassungsstaat als Typus
s. die umfassende Monographie zum Nachschlagen der Einzelheiten und auch zur belehrenden Lektüre: Carl Joachim Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953. Knapper,
aber nicht weniger anregend, z.B. Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 5. Aufl.
1994, S. 93 ff.
Art. 16 der Rechteerklärung von 1789 als Ursprung der Begriffsbildung: "Eine Gesellschaft,
in der die Garantie der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist,
hat keine Verfassung".
a) Leges fundamentales als „Verfassungsvereinbarungen“ im frühmodernen Staat
zwischen den „Ständen“ und dem Monarchen
- s. für England z.B. die Magna Charta Libertatum 1215 sowie die Petition of Rights 1628
- s. für als Beginn der Revolution die Einberufung der Generalstände für die Bewilligung
neuer Steuern
- s. für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation die Wahlkapitulationen der Kaiser
und die Reichsgrundgesetze wie
- Goldene Bulle 1356 (als Staatsorganisationsstatut)
- Ewiger Landfrieden 1495 (mit einem Gewaltverbot = Ende der Fehde); später Abglanz Goethes Götz von Berlichingen oder Kleists Michael Kohlhaas
- Reichskammergerichtsordnung (RKGO) 1495 (föderale Befriedung durch Richterspruch)
Eine Rückkehr solcher leges fundamentales, also eine Wiederkehr des Vertrages als Verfassungssurrogat sehen Sie im Europarecht mit dem Vertrag über die Europäische Union
(EUV) und im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV); der Ver-
47
such, den Verfassungsbegriff auf die Vertragsgrundlage anzuwenden, ist mit dem Lissabon
Vertrag (u.a. in Referenden emanzipierter Völker) gescheitert.
Bedenken Sie auch: Solche Verträge sind rechtsbeständiger als (einfache) Gesetze. Sie sind
der schlichten Verfügung des Gesetzgebers entzogen gewesen.
Die alten Texte finden Sie bei Willoweit/Seif, Europäische Verfassungsgeschichte, 2003
(Ewiger Landfriede und RKGO unter der Überschrift: Die Reformgesetzgebung Maximilians I. auf dem Wormser Reichstag vom 7. August 1495, S. 197 ff).
b) Gesellschaftsvertragliche Ursprünge dieses Denkens
- s. Wolfgang Kersting, Stichwort: Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag, in:
Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990
c) Elemente solcher Verfassungsstaatlichkeit westlicher Prägung
- Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte
- Volkssouveränität, Gesetzmäßigkeit, Gewaltenteilung
- förmliche Verbriefung (Urkundsprinzip); s. aber auch als "verfassungsurkundslose" Staaten: Großbritannien und Israel
d) Geltungsgrund der Verfassung: der souveräne Wille des Volkes
- Herrschaft durch das Mittel des volkssouverän geschaffenen und im Staat-BürgerVerhältnis amtlich vollzogenen Rechts.
e) Rechtliche Charakteristika des Verfassungsgesetzes
- Urkundsprinzip: Jede Verfassungsänderung ist Verfassungstextänderung (Art. 79 GG)
oder Verfassungsergänzung (US-amerikanisches System). Aber beachten Sie auch: Das
Urkundsprinzip ist nicht gewissermaßen zwingend: Die Weimarer Reichsverfassung kannte
das (mit qualifizierter Mehrheit beschlossene) verfassungsdurchbrechende Gesetz und die
Bundesrepublik Österreich folgt auch heute nicht dem Urkundsprinzip. Österreich kennt
den Erlass von Gesetzen im Rang der Verfassung (Verfassungsgesetzen), die mit qualifizierter Mehrheit erlassen werden.
- Erschwerte Abänderbarkeit zur Sicherung einer erhöhten Bestandskraft (s. Art. 79 GG)
- Vorrang der Verfassung mit dem Ziel, staatliche Macht im Interesse der Freiheit zu begrenzen und zu legitimieren. (Art. 20 Abs. 3 GG) – Bindung auch des Gesetzgebers
Zu den historischen Charakteristika des Verfassungsdenkens s. jetzt zusammenfassend
Gerald Stourzh, Naturrechtslehre, Leges fundamentales und die Anfänge des Vorrangs der
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Verfassung, in: Christian Starck (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze. 7. Symposium der
Kommission "Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart", Abhandlungen
der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse. 3. Folge
Nr. 210, 1995, S. 13 ff.
f) Notwendiger Inhalt einer solchen Verfassung? Besser: Regelinhalt einer Verfassung
- Organisation staatlicher Herrschaft, Organisation der darauf bezüglichen Willensbildung
- Sicherung und Garantie der individuellen Freiheit (s. Art. 1 ff. GG)
- Festlegung der unverfügbaren Rechtsgüter und Werte (Verfassung als "Programm der nationalen Integration", s. Herbert Krüger, Fs. f. Friedrich Berber, 1973, 247 ff.; s. aber auch
Ernst Wolfgang Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der
Verfassung, in: Fs. f. Rudolf Gmür, 1983, S. 7 ff. = wiederabgedruckt in ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht (stw
953), 1991, S. 29 ff. (lesen!)
g) Gerichtliche Sicherung des Vorrangs der Verfassung
Beispiele:
- A ist GmbH-Gesellschafter mit einer Statistik-Auskunfts-Allergie. Als ihn die IHK auffordert, bestimmte Angaben zu machen, schickt er die Fragebögen mit dem Bemerken
zurück, „Quatsch“ beantworte er nicht. Auf erneute Belehrung über seine rechtliche
Antwortpflicht, schickt er die Bögen zurück, mit dem Hinweis, er empfehle die Götz-von
Berlichingen-Festspiele auf Schloss Jagsthausen zu besuchen. Im dritten Versuch teilt
die Behörde mit, wenn er jetzt nicht antworte, begehe er eine Ordnungswidrigkeit. Er
fragt zurück, ob sie seine Goethe-Anspielung nicht verstanden hätten. Das Bußgeld wird
nunmehr festgesetzt und Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet mit dem Hinweis,
der GmbH-Geschäftsführer habe mit der Wirkung des Bußgeldes vorsätzlich das Vermögen der GmbH geschädigt. (Sondertatbestand im GmbH-Gesetz – Nebenstrafrecht).
Als sich A auch in der mündlichen Verhandlung dem Goethe-Zitat sehr zugewandt zeigt
und durch allerlei Clownereien auffällt, wird seine Schuldfähigkeit bezweifelt. Zur entsprechenden gutachtlichen Prüfung soll ihm aus dem Rückenmark Liquor mittels einer
Spritze entnommen werden.
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Wird der Strafrichter dies anordnen, wenn die Entnahme in seltenen Fällen zu schwerwiegenden Gesundheitsschäden führt?
Gesetzesvorbehalt – Grundrecht auf Gesundheit – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Zum Fall der Liquor-Entnahme s. BVerfGE 16, 194 ff.; zur Hirnkammerluftfüllung
BVerfGE 17, 108 (115 ff.) ff.; zur Elektroenzephalographie BVerfGE 17, 108 (114 f.).
- B wird wegen Nichtzahlung gesetzlich begründeter Studiengebühren exmatrikuliert. B
meint, Studiengebühren seien verfassungswidrig und völkerrechtswidrig
Was wird der Verwaltungsrichter prüfen? Jeder Richter ist Hüter der Verfassung bei der
Normanwendung. So wird jeder Rechtsakt von jedem Richter auf seine Verfassungsmäßigkeit geprüft (Art. 100 Abs. 1 GG); zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts s.
Art. 100 Abs. 2 GG. Für das Landesrecht prüft der zuständige Richter dies am Maßstab
der Bundesverfassung (Art. 100 GG) und auch am Maßstab der Landesverfassung (s. für
NRW § 50 VerfGH NRW – Richtervorlage an das Landesverfassungsgericht). Der einschlägige Pakt über bürgerliche und soziale Rechte (abgedruckt u.a. im Satorius II) kennt
das Versprechen unentgeltlicher Universitätsausbildung in staatlichen Hochschulen. Der
Pakt ist Völkerrecht und Bundesrecht. Konsequenzen?
- Die CDU-Fraktion im Landtag NRW hält das Hochschulzukunftsgesetz für verfassungswidrig.
Was kann sie tun?
Abstrakte Normenkontrolle nach Landesverfassungsrecht (Art. 75 Nr. 3 LV NRW) oder
Bundesverfassungsrecht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Maßstabsdifferenzen sind durchaus
beachtlich: Art. 16 LV: Selbstverwaltungsgarantie für Universitäten und Art. 4 LV
i.V.m. Art. 5 Abs. 3 GG (= LVerfG); Art. 5 Abs. 3 GG (individuelle) Wissenschaftsfreiheit (BVerfG).
- Der Abgeordnete Joschka Fischer wird (vor seiner Ministerzeit) als „einfacher Abgeordneter“ von Bundestagspräsidenten mehrfach auf die Redezeitüberschreitung hingewiesen. Als der Bundestagspräsident ankündigt, demnächst werde er das Mikro abstellen,
wendet sich Fischer dem Bundestagspräsidenten Richard Stücklen zu mit den Worten:
„Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“. Daraufhin wird der Abgeordnete
Fischer von der Sitzung nach Maßgabe des Geschäftsordnungsrechts ausgeschlossen.
Dagegen wehrt er sich vor dem Bundesverfassungsgericht.
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s. zur Organstreitkontrolle der Geschäftsleitungsgewalt: BVerfGE 60, 374.
- Der Bundesumweltminister weist den bayerischen Umweltminister förmlich an („Bundesweisung“), gegen die Aussaat von Maissaatgut, das minimale Spuren (< 0,02) eines
zur Freisetzung zugelassenen gentechnisch veränderten Saatgutes aufwies, einzuschreiten und ggf. solche bereits besäten Flächen umbrechen zu lassen. Der bayerische
Minister will die Verfassungswidrigkeit der Weisung festgestellt wissen.
Bund-Länder-Streit, Art. 93 Abs. 1 GG: Im Verfassungsrechtsverhältnis zwischen Bund
und Ländern dürfen deren Rechte und Pflichten nicht im Ungewissen bleiben. Zur Lösung: Lesen Sie Art. 83 ff. GG: Bundesweisungen gibt es nur in der Bundesauftragsverwaltung. Das GenTG wird im Regelvollzug des landeseigenen Vollzugs von Bundesrecht vollzogen (Art. 84 GG). Dieses kennt ein solches Bundesweisungsverfahren nicht
(s. Art. 84 Abs. 4 GG)
- Die Bahn-AG hält ein Urteil des LAG Sachsen zur Streikfreiheit der LokführerGewerkschaft für eine Verkennung von Art. 9 Abs. 3 GG. Sie will nach Karlsruhe.
s. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG: Verfassungsbeschwerde. Alle Bürger sind Hüter der Verfassung.
Fragen die z.B. zu stellen wären: Ist die 100%-Bundes-Tochter Bahn AG eigentlich
„Jedermann“ in Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und § 90 BVerfGG, Reichweite der
Koalitionsfreiheit? Rechtswegerschöpfung?
-
Nachdem das Parteiprogramm der AfD in der Form eines Grundsatzpapiers vorliegt und
darin der Islam als mit dem Grundgesetz unvereinbar gekennzeichnet wird, sowie für
jedermann das Recht zum Waffentragen erkämpft werden soll und der Schusswaffengebrauch gegen Flüchtlinge an der Grenze zur präventiven Gefahrenabwehr gefordert
wird, will der Bundesrat einen Parteiverbotsantrag gegen die AfD stellen.
Ist das grundsätzlich möglich und würde ein solcher Antrag Erfolg haben?
-
Pegida ist – so ist zu unterstellen – als rechtsfähiger Verein in Sachsen organisiert. Außerhalb Sachsens tritt der Verein nicht als Organisator von Demos auf. Spitzenfunktionäre treten für die „Ausgrenzung“ von Ausländern aus islamischen geprägten Herkunftsländern ein, bezeichnen Flüchtlinge als „Gesindel“ etc. und rufen zu „Mahnwachen“ vor Flüchtlingsheimen auf, die dem „Pack“ seine Unerwünschtheit verdeutlichen
sollen.
51
Der Bundesinnenminister erwägt den Verein zu verbieten. Geht das?
-
Nachdem der Bundespräsident die NPD als „Spinner“ bezeichnet hat, will die inzwischen im Bundestag vertretene AfD eine Präsidentenanklage erheben?
Mit Erfolg?
h) Formeller und materieller Verfassungsbegriff
Formell = Recht der Verfassungsurkunde; materiell = Recht der Verfassungsurkunde + die
„organisatorische“ Ausführungsgesetzgebung
2. Die grundgesetzliche Realisierung des Typus in der "Zusammenfassung" in Art. 20,
28, 79, 19 (und damit als weiteres Programm der Vorlesung).
V. Der Staat als juristische Person
Zur Illustration der Schwierigkeit, den Staat als juristische Person zu erfassen s. immer
noch: Otto Mayer, Die juristische Person und ihre Verwertbarkeit im öffentlichen Recht, in:
FG f. Paul Laband, Staatsrechtliche Abhandlungen, Tübingen 1908; auch als monographischer Separatabdruck erschienen. Heute besteht kein Zweifel mehr daran, dass der Staat, die
Bundesrepublik und die Länder juristische Personen sind, die durch ihre Organe handeln.
2. Teil: Der konkrete Staat Bundesrepublik Deutschland/ Deutschlands Rechtslage
Vorbemerkung: Die Entwicklung bis zur Wiedervereinigung
Zur Rechtslage Deutschlands vor der Wiedervereinigung s. R. Bernhardt, Die deutsche Teilung und der Status Gesamtdeutschlands, in: HbStR I, § 8; oder (knapper) ders., JuS 1986,
839 - 845. Im folgenden werden zwei Dokumentensammlungen vornehmlich benutzt: Ingo
v. Münch, Dokumente des geteilten Deutschlands. Inzwischen 3 Bände. Band 1 liegt vor in
2. Aufl. 1976, Band 2 1974. Außerdem wird benutzt: Dietrich Rauschning (Bearbeiter), Die
Gesamtverfassung Deutschlands. Nationale und internationale Texte zur Rechtslage
Deutschlands (die Staatsverfassungen der Welt in Einzelausgaben Band 1, 1962). Eine
brauchbare Textsammlung gibt auch Dietrich Rauschning (Hrsg.), Rechtsstellung Deutschlands, 1985. Im folgenden sind die beiden erstzitierten Werke mit dem Namen des Hrsg.
resp. Bearbeiters zitiert. Sie sollten wenigstens die Dokumente nachlesen.
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I. Zur Illustration der (früheren) Bedeutung der Fragestellung: der Fall Ingrid Brückmann
(BVerfGE 37, 57) als deutsch-deutsches Schicksal.
Zum dafür vor allen Dingen relevanten Berlinvorbehalt der westlichen Militärgouverneure
vom 12. Mai 1949 s. von Münch I, S. 130.
II. Chronologie der lagebestimmenden Dokumente bis zur Spaltung Deutschlands
1. Atlantic Charta vom 12.08.1941 mit dem Kriegsziel des Vereinigten Königreichs und
der USA, das dann in der Folgezeit zum Kriegsziel der drei resp. vier Alliierten geworden
ist (bei v. Münch I, a.a.O.),: "the final destruction of the Nazi tyranny"
2. Oktober '43: Moskauer Vier-Nationen-Proklamation: Kriegführung bis zur bedingslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands (bei v. Münch I, a.a.O.).
3. Protokoll über die (zukünftigen) Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung
Groß-Berlins vom 12. September 1944 (Rauschning, S. 75).
4. Abkommen über die Kontrolleinrichtungen in Deutschland vom 14. November 1944
(Rauschning, a.a.O., S. 83): die Organisationsweise der zukünftigen Besatzung wird festgelegt.
5. Jalta-Erklärung vom 11. Februar 1945 (v. Münch I, S. 5) und Protokoll (Münch I, S. 12
(14)): UK, USA, USSR "shall possess supreme authority with respect to Germany".
6. Kapitulation vom 7./8. Mai 1945 (bei Rauschning, a.a.O., S. 73 f.)
- Erreicht war damit die debellatio Deutschlands (seine militärische Niederwerfung, nicht
seine Auslöschung)
7. Erklärungen in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten
Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands vom 5.6.1945 (Rauschning, a.a.O., S. 86) mit
der Feststellung über das Kontrollverfahren vom 5. Juni 1945 (Rauschning, a.a.O., S. 91)
und der Feststellung über die Besatzungszonen in Deutschland vom 5. Juni 1945
(Rauschning, a.a. O., S. 93).
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8. Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 (Rauschning, S. 95 ff.) mit der folgenschweren Zuweisung der Gebiete östlich Oder und Neiße in die vorläufige Verwaltung Polens und
der Sowjetunion.
9. Proklamation des Kontrollrats Nr. 1 vom 30.08.1945 (v. Münch I, S. 51).
III. Erste Zwischenfrage: Was war mit Deutschland (dem Deutschen Reich) geschehen?
- Anwendung der Drei-Elemente-Lehre
s. dazu BVerfGE 3, 288 (319 f.); BVerfGE 5, 85 (126) - KPD-Urteil; BVerfGE 6, 309
(363 f.) - Konkordats-Urteil: "Das Deutsche Reich ist als Völkerrechtssubjekt nicht untergegangen. Es hat aber nach dem 8. Mai 1945 seine staatliche Organisation eingebüßt. Im
Geltungsbereich des Grundgesetzes wird die staatliche Einheit durch die Bundesrepublik
Deutschland als Bundesstaat verwirklicht ..." (so die letztzitierte Entscheidung).
IV. Die rechtliche Situation der Gebiete östlich von Oder-Neiße in der Nachkriegsgeschichte
1. S. nochmals die Unklarheit des Potsdamer Abkommens; retrospektiv: damals wurde die
faktische Endgültigkeit der Westverschiebung Polens besiegelt.
2. Der fortdauernde Friedensvertragsvorbehalt
3. Die daraus abgeleitete deutsche Position: "Diese Gebiete werden von Polen nur einstweilen verwaltet. Einem Friedensvertrag muß die endgültige Lösung vorbehalten bleiben." S.
z.B. das Bulletin 1955, Nr. 173, S. 1445 - Erklärung zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion.
4. Neue Ostpolitik 1969 ff.
- Deutsch-sowjetischer Vertrag vom 12.08.1970 Art. 3 (BGBl. 1972 II, S. 354)
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- Deutsch-polnischer Vertrag vom 07.12.1970 Art. 1 (BGBl. 1972 II, S. 362 mit dem dazugehörigen Brief zur deutschen Einheit Bulletin 1970, Nr. 909 (S. 1094) und die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17.05.1972, 6. WP., 187. Sitzung, Sten.Ber. S.
10960 Anlage 6).
5. Zwei-Plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 (BGBl. II, S. 1318)
- Art. 1 II, III sowie den - deutsch-sowjetischen Partnerschaftsvertrag vom 9. November
1990 (BGBl. 1991 II, S. 703), Art. 1, 2 und den deutsch-polnischen Vertrag vom
17.06.1991 (bei Klaus Stern/Bruno Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Zwei-plus-Vier-Vertrag
mit Begründungen und Materialien (Verträge und Rechtsakte zur deutschen Einheit Band
3) 1991 unter Nr. 12.
Zum Ganzen s. auch die Einleitung von Klaus Stern in der Einführung zu der vorzitierten
Textsammlung, S. 3 f.
V. Die Gründung zweier deutscher Staaten in Deutschland
1. Die Westalliierten als Supreme Allied Authority
a) Bizone vom 2. Dezember 1946
b) "Trizonesien" vom 8. April 1949
c) Besatzungsstatut vom 10. April 1949 mit dem Statut der Alliierten Hohen Kommission
vom 20. Juni 1949.
S. dazu Michael Stolleis, Besatzungsherrschaft und Wiederaufbau deutscher Staatlichkeit
1945 - 1949, HdbStR I, § 5 S. 173 ff., die einschlägigen Dokumente z.B. bei v. Münch I,
a.a.O., S. 65 ff.
2. Die Gründung der Bundesrepublik
s. dazu Reinhard Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: HdbStR I (3. Auflage), § 6 S. 219 ff.
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a) Frankfurter Dokumente betreffend die Einberufung einer Verfassunggebenden Nationalversammlung vom 1. Juli 1948 (v. Münch I, a.a.O., S. 88)
b) Das Grundgesetz mit seinen Beziehungen zur Wiedervereinigung Präambel a.F., Art. 23
a.F., Art. 116, Art. 146 a.F.
c) Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure vom 12. Mai 1949 (v. Münch I, S. 130)
d) Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei
Mächten (Generalvertrag) vom 26. Mai 1952 (v. Münch, a.a.O., S. 229 ff.).
e) Erklärungen der Regierungen der USA, des UK und Frankreichs vom 3. Oktober 1954
(v. Münch I, a.a.O., S. 246 f.)
f) Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Oktober 1954 (v. Münch I, a.a.O., S. 247)
g) Nato-Beitritt vom 23.10.1954 mit Truppenstatut vom 23. Oktober 1954 (v. Münch I ,
a.a.O., S. 271) (vollzogen am 5. Mai 1955).
h) Proklamation betreffend die Aufhebung des Besatzungsstatus und die Auflösung der
Alliierten Hohen Kommission vom 5. Mai 1955
3. Der Sonderstatus Berlins (s. dazu Rupert Scholz, Der Status Berlins, HdbStR I (1. Auflage), § 9, S. 351 ff.)
Die wesentlichen frühen Dokumente zur Berlin-Frage finden sich in dem Band: Dokumente
zur Berlin-Frage 1944 - 1966. Herausgegeben vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V., Bonn (Dokumente und Berichte Band 18), 3. durchgesehene und erweitere Aufl. 1967.
4. Die Gründung der DDR
s. dazu die Hinweise bei Georg Brunner, Das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen
Republik, HdbStR I (3. Auflage), § 10, S. 385 f.
VI. Die Deutsch-Deutsche Entwicklung
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1. Von der Hallstein-Doktrine zu Inter-se-Beziehungen zweier Staaten in Deutschland.
s. Georg Ress, Grundlagen und Entwicklungen der innerdeutschen Beziehung, HdbStR I,
(1. Auflage), § 11 sowie Rudolf Dolzer, Die rechtliche Ordnung des Verhältnisses der Bundesrepublik Deutschland zur Deutschen Demokratischen Republik, HdbStR I, § 12
(1.Auflage) sowie jetzt Otto Luchterhand, die staatliche Teilung Deutschlands, in: HdbStR I
(3. Aufl.), § 10 S. 423 ff.
2. Der Grundlagenvertrag von 1972 (BGBl. 1973, II, S. 423) mit dem Brief zur deutschen
Einheit vom 21. Dezember 1972 (BGBl. 1973, II, 424) (beide Dokumente in v. Münch
[Hrsg.], Dokumente des geteilten Deutschlands, Band II (seit 1968), S. 301 f. u. S. 316).
Dazu lesen (!): Grundlagenvertrags-Urteil BVerfGE 36, 1, dazu Ingo v. Münch, wie vor, in
seiner Einführung S. XXVI f.
- Fortbestehende Vier-Mächte-Verantwortung auch nach dem Grundlagenvertrag und nach
der Aufnahme beider deutscher Staaten in die UN. Siehe als Beispiel für die besondere
Lage Deutschlands das Nato-Communiqué vom 8.12.1972: Die Lage Deutschlands
"which is characterized by the fact that the German people today lives in two states, that a
freely agreed contractual peace settlement for Germany is still outstanding and that until
such a settlement in achieved, the (above mentioned) rights and responsibilities of the
Four Powers relating to Berlin and Germany as a whole will continue".
VII. Die Wiedervereinigung
1. Die denkbaren Wege zur Einheit: Art. 23 Satz 2 a.F., Art. 146 a.F.
Art. 23 a.F. lautete: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, WürttembergBaden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“
- Für Art. 23 Satz 2 a.F. als Einigungsweg s. schon BVerfGE 36, 1 (29); umf. Christian
Tomuschat, Wege zur deutschen Einheit, VVDStRL 49, 70 ff.
57
2. Die notwendigen Vertragsschritte
a) Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschaft- und Sozialunion zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai
1990 (BGBl. II 537).
(Text mit einer lesenswerten Einführung auch als Band 1 der "Verträge und Rechtsakte zur
Deutschen Einheit" (hrsg. von Klaus Stern und Bruno Schmidt-Bleibtreu) (1990)).
b) Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen
Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag vom 31. August
1990 (BGBl. II 889) (Text auch in Band 2 der o.g. Schriftenreihe mit einer ebenfalls lesenswerten Einleitung).
- Völkerrechtliche Wirkung des EV
- - Erstreckung der Gebietshoheit der Bundesrepublik Deutschland auf die Deutsche Demokratische Republik
- - Untergang der Deutschen Demokratischen Republik als Völkerrechtssubjekt
- Staatsrechtliche Wirkung des Einigungsvertrages
- - s. Art. 45 EV: Einigungsvertrag als Bundesrecht nach Vollzug des Beitritts.
- - der Einigungsvertrag als Verfassungsänderungsvertrag, Art. 4, 5 EV; dazu BVerfGE 82,
316.
c) Vertrag über die abschließende (!) Regelung in bezug auf Deutschland (sog. Zwei-plusVier-Vertrag) v. 12.07.1990 (BGBl. II 1318) (Text ebenfalls in der o.g. Schriftenreihe Band
3 (mit lesenswerter Einleitung)).
s. dazu D. Rausching, Beendigung der Nachkriegszeit mit dem Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland (DVBl. 1990, 1249).
Zur Geschichte der Wiedervereinigung ist für denjenigen, der vertieft zeitgeschichtlich und
verfassungsgeschichtlich in die Fragestellungen eindringen will unverzichtbar:
Hans Joachim Küsters, Entscheidung für die deutsche Einheit, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes
1989/90 von Hans Jürgen Küsters und Daniel Hoffmann, München 1998
sowie
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Wolfgang Jäger, Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozess der Vereinigung
1989/90 (= Geschichte der Deutschen Einheit 3), Stuttgart 1998
3. Teil: Das bundesdeutsche Staatsrecht im Spiegel der Staatsformprinzipien
I. Das republikanische Prinzip
Josef Isensee, Republik - Sinnpotential eines Begriffs, JZ 1981, 1 ff.; Wilhelm Henke, Die
Republik, in: Isensee/Kirchhof, HdbStR I, S. 863 - 886; Wolfgang Löwer, Aktuelle Gefährdungen des Republikanismus durch den Parteienstaat, Verantwortung und Leistung, 25
(1993).
1. Republik als Staatsformprinzip (und nicht nur als Staatsname)
Res publica (=die öffentlichen Angelegenheiten) sind Angelegenheiten des Volkes. D.h. das
Volk organisiert die Herrschaft.
Konsequenz im Wahlrecht: S. die Entscheidung zu den Wahlcomputern: BVerfGE 121, 266
Die Wahl ist Sache des Volkes, gewissermaßen ein „eigenhändiger Vorgang“: Jedermann
kann sich selbst zur Wahl stellen (parteiunabhängige Wahlkreiskandidaten). Jedermann
kann als Mitglied einer Partei an der Nomination von Wahlkreiskandidaten mitwirken. Beides sind Vorgänge, die der organisierten Staatlichkeit entzogen sind.
Die Wahl selbst wird weder von Polizei noch Justiz organisiert. Sie liegt, was den Wahlvorgang betrifft, in der Hand des Volkes. Sie ist öffentlich (nur die Wahlentscheidung ist
geheim).
- s. ehrenamtliche Wahlhelfer
- s. Auszählung der Stimmen durch Bürger „unter der Aufsicht“ von Bürgern=öffentlich
Deshalb sind Wahlcomputer bislang unzulässig, weil die Stimmen nicht öffentlich gezählt
und überwacht werden können.
2. Republik als Entgegensetzung zur Monarchie
Beispiel: Der Verein „Kinni Ludwig II – der größte aller bayerischen Monarchen“ will in
Bayern die konstitutionelle Monarchie mit einem Wittelsbacher an der Spitze
über ein Volksbegehren wieder einsetzen. Ist das Volksbegehren zulässig?
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Beispiel: Nachdem der Bundespräsident Gauck es sich hat gefallen lassen müssen, dass er
wegen seiner Äußerungen über die NPD („Spinner“) in ein Organstreitverfahren
hineingezogen worden ist, will die A-Fraktion im Deutschen Bundestag das Verfassungsprozessrecht dahingehend verändern, dass der BuPrä nicht beklagte Partei sein kann und die Präsidentenanklage streichen. (zu Gauck vor dem BVerfG
in Sachen NPD s. BVerfG, v. 10. Juni 2014 - 2 BvE 4/13 = BVerfGE 136, 323
ff.)
- s. aber auch die Möglichkeit republikanischen Regierens in konstitutionellen und parlamentarischen Monarchien (UK, Spanien, Dänemark, Schweden, Norwegen, Belgien, Niederlande, Luxemburg); letzter (von Sympathie getragener) Erklärungsversuch für die Monarchie bei Karl Löwenstein, Die Monarchie im modernen Staat, 1952.
3. Republik als historisch-sinnerfüllter Typus der Staatlichkeit
- Absage an jede Form ideologischer (totalitärer) Herrschaft (zu den Konsequenzen ideologischer Herrschaft: Bertolt Brecht, Die Maßnahme (1930), jetzt in: B.B., Werke (hrsgg.
von Werner Hecht u.a.), Band 3 (Stücke 3) 1988, S. 73 ff.
- - im Grundgesetz: s. Art. 4 I: Prinzip der Nichtidentifikation, Art. 21 i.V.m. Art. 38 GG
setzt ein Mehrparteiensystem voraus.
- Absage an jede Form unverantworteter Herrschaftsausübung (Prinzip der durch Wahlakt
legitimierten Herrschaftsausübung auf Zeit)
- - im Grundgesetz: Art. 38, 39, 54, 63, § 4 BVerfGG
- - Formen, Verantwortung zur Geltung zu bringen: Art. 38 I – Mehrheitswechsel; parteiinternes Normierungsverfahren: Art. 12 I; Art. 67, 61, 94 II; §§ 33-48 BeamtStG.
- Republikanische Herrschaft als ausschließlich gemeinwohlbezogene Herrschaft.
S. als frühe Formulierung die Bill of Rights von Massachusetts von 1780 (Abdruck bei
Henry Steele Commager, Documents of American History, 5th Ed. New York, 1948, p.
107): „Staatliche Herrschaft ist zugunsten des Gemeinwohls, für Schutz, Sicherheit,
Wohlstand und soziales Wohlergehen des Volkes eingerichtet und nicht für den Verdienst, die Ehre oder das Privatinteresse eines Einzelmenschen, einer Familie oder einer
Gruppe von Menschen.“
- - im Grundgesetz: Art. 38, 20 II, 1 III, 19 I; §§ 33, 38, 40, 42 BeamtStG
60
- Republikanische Herrschaft als amtsgeprägte Herrschaft:
Das Baugesetz republikanischer Herrschaft besteht in der Inpflichtnahme des Amtswalters
für ein Amt, das zu fremdnützigem interessendistanziertem staatlichem Entscheiden verpflichtet.
- - im Grundgesetz: Art. 33, 56, 64 II, § 11 BVerfGG
- - zum politischen Eid s. immer noch Ernst Friesenhahn, 1928.
- - Die Ämterverfassung der Republik
Otto Depenheuer, Das Öffentliche Amt, in: HbdStR III (3. Aufl.) § 36, S. 87 f., sowie
jetzt Klaus Ferdinand Gärditz, Das Amtsprinzip und seine Sicherung bei Verfassungsorganen, in: JöR N.F. 64 (2016), S. 1 ff.
Die Baugesetze der Amtlichkeit sind Heteronomie (also Verpflichtung auf die Fremdnützigkeit) und Kompetenz (also die Zuweisung von Pflichten an ein Organ/einen Organwalter). Die Bedeutung dieser Amtscharakteristik zeigt sich im Lichte der Baugesetze, nach denen das Individuum lebt. Diese sind die Autonomie (also die Selbstbestimmtheit) und das subjektive Recht (also die verrückbare und verzichtbare Berechtigung). Die
Kompetenz ist für das Organ/den Organwalter unverrückbar und unverzichtbar, das subjektive Recht ist Ausdruck der Freiheit, demzufolge verfügbar. Heteronomie bedeutet
Verpflichtung auf fremdgesetzte Normen, Autonomie das Recht zur Setzung einer
selbstgefundenen Ordnung (oder Unordnung).
-- Ausprägung der Ämterverfassung in der Republik
- - - Der Abgeordnete als Amtsträger: Art. 20 Abs. 2 GG, Art. 38 Abs. 1, GG Art. 48 Abs.
2 Satz 1 GG
Zur Amtsbindung des Abgeordneten s. Hans Hugo Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art.
38 Rn. 191 sowie Art. 48 Rn. 28 f.
Nur scheinbar verweist Art. 38 GG auf die Subjektivität (s. oben!) des Abgeordneten
(Freiheit des Gewissens). Die Freiheit des Mandats meint nicht Autonomie des Mandatsinhabers, sondern verpflichtet ihn zum Dienst am Gemeinwohl, indem er sein
Mandat in der Freiheit wahrnimmt, die Art. 38 Abs. 1 GG verspricht. Es ist nicht die
Freiheit des Amtierens oder Nichtamtierens, sondern die Freiheit im Amt, Dritten
nicht gehorchen oder folgen zu müssen, sondern der eigenen Maßstabsbildung (unter
Respektierung des Vorrangs der Verfassung). Es ist Dienst am Gemeinwohl, weil das
Mandat zu einer kompetentiellen Pflichtenstellung führt, Zuständigkeiten für Dritte
61
(hier das Volk) wahrzunehmen, wobei der Mandatsinhaber seine Amtsstellung auf
den Legitimationsakt der Wahl zurückführt (das anvertraute Mandat (Amt)) und er
durch sein Handeln das Volk gewissermaßen verpflichtet, weil sein Handeln über den
Deutschen Bundestag dem Souverän zugerechnet wird.
Die Amtsverfassung des Abgeordneten wird im Übrigen über die Verhaltensregeln
für die Mitglieder des Deutschen Bundestages (s. Anlage 1 zur GOBT) deutlich. Die
Transparenzregeln sollen die Verpflichtung des Mandatsinhabers auf das Wohl des
ganzen Volkes verdeutlichen, indem seine Partikularbindungen außerhalb des Mandats offengelegt werden. (Einstweilen BVerfGE 118, 277 zu den Transparenzregeln –
eine 4:4 Entscheidung! Siehe jetzt die aktuelle Diskussion im Zusammenhang mit
dem Kanzlerkandidaten Steinbrück und der Offenlegung der Auftragsgeber und der
Höhe von „Nebenverdiensten“ von Abgeordneten.
- - - Der Beamte als Amtsträger: Art. 20 Abs. 2 GG, Art. 33 Abs. 5 GG („hergebrachte
Grundsätze des Berufsbeamtentums“), sowie Abschnitt 6 des BeamtStG mit der
Überschrift „Rechtliche Stellung im Beamtenverhältnis“ (§§ 33 ff.)
Das Beamtenrecht setzt mit der Grundbedingung der Heteronomie ein (§ 33 BeamtStG): „Beamte dienen dem ganzen Volk, nicht einer Partei. Er/Sie hat seine/ihre
Aufgabe unparteiisch und gerecht zu erfüllen und bei der Amtsführung auf das Wohl
der Allgemeinheit Bedacht zu nehmen. Der Beamte muss für die freiheitlich demokratische Grundordnung eintreten (§ 33 Abs. 21 BeamtStG) und ist bei der politischen
Betätigung zur Mäßigung und Zurückhaltung angehalten (§ 33 Abs. 2 BeamtStG).
Die Devotion an die Allgemeinheit drückt sich in entsprechend pathetischer Sprache
aus: „Beamtinnen und Beamte haben sich mit voller Hingabe ihrem Beruf zu widmen.
Sie haben die übertragenen Aufgaben uneigennützig nach bestem Gewissen zu verwalten. Ihr Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes muss der Achtung und
dem Vertrauen gerecht werden, die ihr Beruf erfordert.“ (§ 34 BeamtStG). Die Eidesformel bekräftigt, was ganz allgemein mit dem Amt des Beamten gemeint ist: „Ich
schwöre, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und alle in der Bundesrepublik geltenden Gesetze zu bewahren und meine Amtspflichten gewissenhaft
zu erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“ Die Amtspflichten der Unparteilichkeit werden
durch weitere Normen umhegt. So ist der Beamte von Amtshandlungen zu befreien,
die sich gegen ihn selbst oder einen Angehörigen richten. Es gilt das Gebot der Amts-
62
verschwiegenheit und das Verbot, Geschenke und Belohnungen in Bezug auf das Amt
anzunehmen usw.
---
Die Amtsverfassung des Richters
Das Grundgesetz selbst regelt die wesentlichen Voraussetzungen in Art. 97. Dort ist
die sachliche und persönliche Unabhängigkeit des Richters geregelt. Seine Unabhängigkeitssicherung ergibt sich aus Art. 97 Abs. 2 GG und aus Art. 98 GG mit der verfassungskräftigen Festlegung, dass ein Richter sein Amt nur durch Richterspruch verlieren kann. Die weitere Amtsverfassung des Richters regelt das deutsche Richtergesetz. Auch hier ist Uneigennützigkeit und Verpflichtung auf das Gesetz unabdingbare
Grundlage richterlicher Tätigkeit. Der Richtereid bekräftigt die Pflichten: „Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der
Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen, so wahr mir
Gott helfe.“ (§ 38 DRG)
II. Das demokratische Prinzip
Für die grundlegenden Zusammenhänge: s. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als
Verfassungsprinzip, in: HdbStR I, (3. Auflage), § 24, S. 429 ff.
1. Das Volk als Inhaber der Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 GG und Art. 38 und das Prinzip
ununterbrochener "Legitimationsketten")
Kettenmodell schematisch
Volk
(Wahl)
Parlament
personell
Kanzler
Ministerialbürokratie
mit Minister an der Spitze
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Nachgeordnetes Personal
Volk
(Wahl)
Parlament
sachlich
Gesetze
Ministerien (s. Art. 64 GG)
Ministerialbehörde
gesetzesgebunden
und weisungsabhängig
Nachgeordnete Behörden
Polemische Frage: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus (so Art. 20 GG). Aber wo geht sie
hin? Zu den Parteien (s. Art. 21 Abs. 1 u. 2 GG)?
- Staatsrechtlich präzise muss man festhalten: Die Staatsgewalt wird durch Abgeordnete
im Parlament ausgeübt: Deshalb sitzen nicht „die Parteien“ im Parlament, sondern Abgeordnete (Art. 38 I GG!), die in Fraktionen zusammenarbeiten, die wiederum auch nicht
die „Partei“ sind, obwohl die Abgeordneten ihre Wahlchance der Nomination auf einer
Landesliste durch die politischen Parteien verdanken. Nur dies rechtfertigt die mehr umgangssprachliche Sprechweise, Fraktionen seien die Parteien im Parlament. Im Parlament sitzen nur, um das nochmals zu betonen, Abgeordnete, die nicht Vertreter „ihrer“
Partei sind, sondern Vertreter des ganzen Volkes; verpflichtet sind sie letztlich nur ihrem
selbstgesetzten Maßstäben. In der Realität ist das nicht leicht wiederzufinden, weil die
Parteien den Prozess politischer Willensbildung dominieren.
2. Die Legitimation staatlicher Herrschaft durch das Volk
- Also nicht die Herrschaft einer Aristokratie, einer Oligarchie, einer Plutokratie sondern
durch das zum egalitären Wahlkörper verfasste Volk.
- Auch keine theokratische Herrschaft; Volksherrschaft bedingt säkulare Herrschaft (Art.
20 Abs. 2 GG); Bindung an die Verfassung und an nichts sonst.
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a) In der Differenzierung bezüglich der gewaltengegliederten Ordnung
- Erster Merkposten: Gesetzesvorbehalt als Eingriffsvorbehalt (Eingriffe in Freiheit oder
Eigentum bedürfen der gesetzlichen Grundlage) oder als Wesentlichkeitsvorbehalt (alle
wesentlich grundrechtsprägenden oder wesentlich staatsleitenden Akte bedürfen parlamentarischer Entscheidung): Gesetze als maßgebliche gewaltenteilende Handlungsform
- Der Gesetzesvorbehalt führt aber nicht zu einem Parlamentsmonismus; es gilt vielmehr
der Vorrang der konkreten gewaltengegliederten Funktionenordnung des Grundgesetzes:
BVerfGE 49, 89 (125) - Kalkar; 68, 1 (89) - Nato-Nachrüstung; 90, 286 (344 ff.) einerseits und 381 ff. andererseits Adria/AWACS/UNOSOM II; zur parlamentarischen Mitwirkung beim Streitkräfteeinsatz s. außerdem BVerfGE 108, 34 – einstweilige Anordnung in Sachen AWACS – Nato-Mandat Türkei sowie BVerfGE 98, 218 – Rechtschreibreform.
Die unmittelbare Legitimation des Parlaments durch Wahl führt nicht zu einer "besseren", rechtlich überlegenen Legitimation des Parlaments gegenüber der Legitimation der
anderen Staatsgewalten, s. BVerfGE 68, 1 (89): "Es ist keineswegs ein Defizit an Demokratie, wenn die Exekutive im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten auch ausschließliche Befugnisse zu weittragenden, möglicherweise existentiellen Entscheidungen
besitzt."
b) Organisatorisch-personelle demokratische Legitimation (Böckenförde, a.a.O., Rn. 16
ff.)
Der Amtsgewinn muss ununterbrochen auf das Volk zurückführbar sein (im parlamentarischen Regierungssystem mit der parlamentarischen Verantwortung der Regierung unverzichtbar). Die Legitimationskette kann allerdings „dünn“ sein.
- Amtsberufung durch das Volk (Parlament) oder durch volksgewählte Organe (ununterbrochene Legitimationskette des Amtsgewinns, rückführbar auf das Parlament)
Beispiel für eine verdünnte Legitimationskette:
Der Hochschulrat nach dem Hochschulgesetz Nordrhein-Westfalen wird von einer Findungskommission vorgeschlagen, deren eine Hälfte der Mitglieder der Senat der Universität aussucht und die andere Hälfte wird von der Ministerialverwaltung benannt.. Diese
Findungskommission schlägt eine Liste von Hochschulratsmitgliedern vor, die vom Senat
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der Universität nur angenommen oder abgelehnt werden kann. Anschließend werden die
Hochschulratsmitglieder vom zuständigen Ressortminister ernannt, wobei nicht klar ist,
ob ihm insofern mehr als eine Rechtsprüfungsbefugnist zusteht. Aber immerhin verdanken
die Hochschulratsmitglieder im letzten ihre Berufung dem Ernennungsakt des Ministers.
- Legitimationskette und Mitwirkung von gesellschaftlichen Gruppen in Kollegialorganen:
Amtsgewinn solcher Amtswalter, die ihre Legitimation nicht auf das Parlament zurückführen können: vgl. Grzeszick, in: Maunz-Dürig, GG, Erläuterung II zu Art. 20 Rn. 74 ff;
VerfGH NW DVBl. 1986, 1196 "Arbeitnehmermitbestimmung" im Leitungsorgan einer
kommunalen Sparkasse; s. umf. auch Fritz Ossenbühl, Grenzen der Mitbestimmung im
öffentlichen Dienst, 1986; zuletzt VerfGH Rh.-Pf. NVwZ-RR, 1994, 665 ff. sowie BVerfGE 93, 37 – MBG Schles.-H.; BVerwG - Vorlagebeschluß – v. 17. Dezember 1997 – 6
C 1 und 6 C 2.97 wegen Zusammensetzung der Leitungsorgane in Wasserverbänden in
NW sowie dazu die neuerdings großzügige Antwort qua hinreichendem Legitimationsniveaus für die Kombination aus b) und c) BVerfGE 107, 59 für den Sachbereich funktionaler Selbstverwaltung.
c) Sachlich-inhaltliche Legitimation: Die Entscheidung muss vor dem Parlament (und damit
vor dem Volk) verantwortet werden können.
- Der Satz kennt verfassungsunmittelbare Durchbrechungen. Rundfunkanstalten sind Körperschaften des öffentlichen Rechts, aber gleichwohl und selbstverständlich weisungsfrei
(Art. 5 Abs. 1 GG); die Bundesbank ist ebenfalls kraft verfassungsunmittelbarer Anordnung weisungsfrei (Art. 88 Satz 2 GG) und der Bundesrechnungshof (Art. 114) muss auch
ohne sachliche Legitimation durch Weisung agieren können, weil er sonst zur Kontrolle
der Exekutive nicht befähigt wäre.
- Problematik der Bindung staatlicher Entscheidungen an das Votum nichtstaatlicher Entscheidungsträger. s. dazu BVerfGE 9, 268 (279 - 284) - Mitbestimmung im öffentlichen
Dienst (lesen!); dazu zuletzt BVerfGE 93, 37 zum Mitbestimmungsgesetz SchleswigHolstein. Das Gericht hat die Grenzlinien nunmehr wie folgt formuliert: „Die Mitbestimmung darf sich einerseits nur auf inhaltliche Maßnahmen erstrecken und nur soweit
gehen, als die spezifischen in den Beschäftigungsverhältnis angelegten Interessen der Angehörigen der Dienststelle sie rechtfertigen (Schutzzweckgrenze). Andererseits verlangt
das Demokratieprinzip für die Ausübung von Staatsgewalt bei der Entscheidungen von
Bedeutung für die Erfüllung des Amtsauftrags jedenfalls, dass die Letztentscheidung eines
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dem Parlament verantwortlichen Verwaltungsträgers gesichert ist (Verantwortungsgrenze).“
d) Zusammenwirken beider Legitimationsformen
- Zur Problematik sog. ministerialfreier Räume (dazu W. Müller, JuS 1975, 497 ff.; s. jetzt
auch BVerfGE 91, 228 (244) – Kommunale Gleichstellungsbeauftragte).
Beispiel: Der Bundesminister für Wirtschaft wird im Bundestag gefragt, weshalb das
Bundeskartellamt die Fusion von Springer und ProSieben/Sat1 verhindert habe, weshalb
er das Amt nicht angewiesen habe, anders zu entscheiden. Auch bei der Bundesnetzagentur sei ein Preis für die Benutzung der Kabel der Telekom für Dritte genehmigt worden,
den er als viel zu hoch hätte verhindern müssen. Der Minister erklärt dem Parlament gegenüber: gegenüber Bundeskartellamt wie BNetzA könne er leider nichts machen. Es blute ihm das Herz, aber ihm seien die Hände gebunden, weil er keine Weisungen erteilen
dürfe.
- Neuerdings hat das Bundesverfassungsgericht seine Antwort in Sachen Zusammensetzung der Leitungsorgane in Wasserverbänden in NRW modifiziert (BVerfGE 107, 59
(94)) (s. schon oben sub b)): Es soll nunmehr genügen, dass für die den Organen von Trägern der funktionalen Selbstverwaltung eingeräumte Entscheidungsbefugnis das Volk sein
Selbstbestimmungsrecht dadurch wahrt, dass es maßgeblichen Einfluss auf dieses Handeln behält. Dieser maßgebliche Einfluss wird jetzt neu definiert: „Das erfordert, dass die
Aufgaben und Handlungsbefugnisse der Organe in einem von der Volksvertretung beschlossenen Gesetz ausreichend vorherbestimmt sind und ihre Wahrnehmung der Aufsicht
personell demokratisch legitimierter Amtswalter unterliegt.“ Die maßgebliche Legitimationsquelle für die „Verdünnung“ der Legitimationskette ist also das parlamentarische Gesetz.
- Konsequenzen für den nordrhein-westfälischen Hochschulrat (vgl. oben S. 56 f.): Der
Hochschulrat übt unverantwortet Herrschaft aus. Es gibt keine Möglichkeit der Abberufung oder der Einwirkung auf den Hochschulrat. Ob Rechtsaufsicht hier ausreicht für die
Rückbindung an das Volk über die parlamentarische Verantwortlichkeit des Ministers, ist
überaus zweifelhaft. Lässt sich weiter in Ansehung der Aufgaben des Hochschulrates sagen, dass diese und seine Handlungsbefugnisse „ausreichend“ vorherbestimmt sind, wenn
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zu diesen Aufgaben die Wahl des Rektors (letztverbindlich), die Zustimmung zum Hochschulentwicklungsplan und die Billigung der Haushaltsplanung gehört usw.? Unter eng
determinierten Handlungsprogrammen stellt man sich etwas anderes vor.
- Ob die Weisungsfreiheit des Bundeskartellamtes für Einzelweisungen verfassungsmäßig
ist, ist umstritten. In der Staatspraxis hat sie sich durchgesetzt; für die Bundesnetzagentur
werden die Dinge anders gesehen (nach h.M.). Beachten Sie aber auch, dass das Unionsrecht großes Vertrauen gerade in die Unabhängigkeit von Behörden setzt; die Rechtsstellung der Datenschutzbeauftragten z.B. muss so ausgestaltet sein, dass sie nicht einmal der
Rechtsaufsicht des Staates unterliegen.
e) Legitimation auf Gemeindeebene
Die Gemeinden haben ihren eigenen demokratischen Legitimationszusammenhang, der
bundesverfassungsrechtlich verbindlich auch für die Landesebene vorgeschrieben ist (s.
Art. 28 Abs. 1). Die Organe und Organwalter müssen auf gemeindlicher Ebene ihre Legitimation im Rahmen des dortigen Legitimationszusammenhangs (durch Wahlen des Gemeindevolkes) nachweisen können. Die gemeindliche Ebene ist ein eigener demokratischer
Legitimationszusammenhang. Das Gemeindevolk örtlich fragmentiertes Staatsvolk, also
Volk und legitimiert so die Hoheitsakte auf Gemeindeebene.
f) Zusammenfassung der Kettenmodelle in Beispielen:
Zu unterscheiden sind die Rückbindung an das Volk
- hinsichtlich des Amtsgewinns und des Amtsverlustes (personelle Legitimation) (aa) und
- hinsichtlich der Sachentscheidungen (bb).
aa) Personelle Legitimation
(1) Wie kommt
- der Abgeordnete
- der Bundeskanzler
- die Minister
- das nachgeordnete Personal unmittelbar und mittelbar legitimiert
in das Amt?
→ Die Legitimationskette reicht problemlos bis zum Volk, das den Bundestag (die Landtage) legitimiert. Dieser wählt den Kanzler, dieser sucht sich seine Minister, diese sich das
nachgeordnete Personal.
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(2) Wie kommt
- der Bürgermeister (Bgm.)
- die Ratsmitglieder
- das sonstige Gemeindepersonal
in das Amt?
→ Die Legitimationskette reicht problemlos unmittelbar oder mittelbar auf das Gemeindevolk zurück (Bgm., Ratsmitglieder = unmittelbar; Personal mittelbar durch Ernennung
durch unmittelbar legitimierten Bgm). Das Gemeindevolk ist in den Gemeinden„fraktioniertes“ Volk, also Staatsvolk.
(3) Wie kommt
- der Rektor
- der Präsident der IHK
- der Präsident eines Wasser- und Bodenverbandes
- der Präsident der Ärzte-, Architekten-, Rechtsanwalts-, Notarkammer usw.
- der Vorsitzende der kassenärztlichen Vereinigungen usw.
in das Amt?
→ Durch Wahl der Vertretungskörperschaften der jeweiligen Einrichtungen: Senat + Hochschulrat beim Rektor; Kammerversammlung (= gewählte Repräsentanten der Kaufleute in
der IHK; der Handwerker (Handwerkskammer) und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltskammer)
usw.
Frage: Sind Mitglieder der Hochschule (Studierende, Professoren, akademischer „Mittelbau“ sowie Mitarbeiter aus Technik und Verwaltung), Grundstückseigentümer der Wasserverbände (Verbandsversammlung), Ärzte (Kammerversammlung) usw. „Volk“ im Sinne
von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG?
→ Gewiss nicht, sie sind nach Zwecken zusammengeführte vom Gesetz als solche verfasste
Gruppen, aber nicht Teilstaatsvölker. Ihre Existenz verdanken sie ihrer Funktion = funktionale Selbstverwaltung. Diese hat zwar keinen Verfassungsrang, sie ist aber von der Verfassung respektiert und akzeptiert, wenn die Verbandsbildung mit der Verfassung vereinbar
ist, was jedenfalls für die überkommenen Verbände gilt.
Also: Die Kette ist gerissen, sie wird aber verfassungslegitim durch ein Äquivalent – die
Legitimationskraft der verfassungsmäßig gesetzlich verfassten funktionalen Gruppen – ersetzt. Ein nicht auf die Gesamtheit der Gruppenmitglieder rückführbarer Amtsgewinn ist
nicht denkbar.
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Beachten Sie: In einer Klausur müssten Sie bedenken, wenn eine Entscheidung (Verwaltungsakt) eines Wasserverbandes, erlassen durch den Geschäftsführer, zur Bearbeitung gestell würde ; im Klageverfahren würde der Betroffene für die Rechtwidrigkeit des Verwaltungsaktes (VA) ins Feld führen, der Geschäftsführer habe ihm schon deshalb nichts zu
sagen, weil er demokratisch nicht legitimiert sei; er könne sich nicht erinnern, dass er „diesen Typ“ irgendwie gewählt habe. An der Verbandsarbeit beteilige er sich überdies nicht,
weil er den Verband ohnehin für verfassungswidrig hält.
Sie müssten also prüfen:
- Gibt es den Verband überhaupt; es gibt ihn nicht, wenn er mangels Gesetz (eben weil dieses wegen Verfassungswidrigkeit nichtig ist) nicht wirksam errichtet ist.
- Wenn es den Verband wirksam durch Gesetz errichtet gibt: Sind die Ämter verfassungsmäßig besetzt oder scheitert dies an Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. I.E. nein (s.o.).
- Sind die Entscheidungen der Amtswalter hinreichend legitimiert (siehe unten bb)).
bb) Sachliche Legitimation
Sachentscheidungen der Exekutive werden durch deren Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3
GG) sowie durch das Weisungsrecht in einer hierarchisch gegliederten Exekutive legitimiert. Das Weisungsrecht ist das Herzstück der Ressortleitungskompetenz des Ministers
(Art. 65 Satz 2 GG); dem Weisungsrecht korrespondiert die Gehorsamspflicht des Beamten
als ‚hergebrachtem Grundsatz des Berufsbeamtentums’ (Art. 33 Abs. 5 GG).
Föderal zeigt sich das Hierarchiemoment in der Bundesaufsicht des Art. 84 Abs. 2, 3 und 5
GG sowie in Art. 85 Abs. 2, 3 und 4 GG. Selbst wenn das Gesetz als Steuerungsinstrument
nicht gegeben ist (gesetzesfreie Verwaltung) bleibt immer die Weisungskompetenz.
Die parlamentarische Verantwortung des Ministers für sein und „seiner Leute“ Verhalten,
findet ihren Grund in der Zurechnung des Verhaltens nachgeordenter Hierarchiestufen an
die oberste Hierarchiestufe. Insofern kann es prinzipiell keinen ministerialfreien Raum geben (s. aber oben sub b), S. 58).
- Unproblematisches gegenläufiges Phänomen: Sachentscheidungen der Gemeinden und
Kreise (Legitimation durch die gewählten Ratsmitglieder und Kreistagsmitglieder)
Beispiel: Die Gemeinde X beschließt, weil sie reich ist, jedem neugeborenen Einwohner ein Begrüßungsgeld in Höhe von 1.000,- € zu zahlen (Fall der Gemeinde Much).
Der Minister, im Landtag dafür zur Rede gestellt, wie er dies zulassen könne, sagt, er
könne nichts machen; Selbstverwaltung sei das Recht, auf eigene Kosten Dummheiten zu machen. Er könne deshalb nicht zur Verantwortung gezogen werden.
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→ Richtig im Grundsatz, falsch in der Rigidität: Art. 28 Abs. 2 GG schafft für die Gemeinden einen eigenen Legitimationszusammenhang, der gemeindliches Entscheiden aus
der hierarchischen Verantwortung ausgliedert. ABER: Art. 28 Abs. 2 GG schafft keine
„souveränen“ Gliederungen im Staat. Die Rechtsaufsicht ist das Korrelat der Selbstverwaltung. Die Einhaltung der Rechte durch autonome Verbände muss der Staat sicherstellen.
Für die Ausübung der Rechtsaufsicht muss der Minister sich auch parlamentarisch verantworten.
Hier: Das Begrüßungsgeld verstößt (angeblich) gegen das Bundeskindergeldgesetz
(= abschließende Regelung) (siehe OVG Münster, Urt. v. 19.1.1995 – 15 A 569/91,
NVwZ 1995, 718; wenn das mal in der Sache stimmt?!).
- Problematisch gegenläufige Phänomene
aa) – die funktionale Selbstverwaltung (siehe oben aa) (3)) (S. 60)
Die Kammerversammlung der Ärztekammer entzieht allen Ärzten die Approbation,
deren Dissertation als Plagiat oder sonst schwerwiegende Fälschungen durch die zuständige Fakultät festgestellt werden.
Der betroffene Ä hält die Entscheidung für verfassungswidrig; u.a. weil dafür die
ministerielle Verantwortlichkeit nicht gegeben sei.
→ In der Tat: die breite Zone der funktionalen Selbstverwaltung genügt – ohne Fachaufsicht für jede einzelne Entscheidung (gäbe es die umfassende Fachaufsicht, wäre es keine
Selbstverwaltung mehr!) – nicht dem Kettenmodell. Das Bundesverfassungsgericht war
also vor die Frage gestellt, ob diese geläufige Form des Verwaltens verfassungswidrig ist,
ob also auch die Organisationsvarianten der Staatsaufgabenerfüllung um diese Variante
reduziert werden musste.
Das Gericht legt die Frage in die Hand des Gesetzgebers. Das Gesetz bindet die funktionale
Selbstverwaltung an den Staatswillen zurück. Dieser verwirklicht sich im Gesetzesvollzug.
Das Gesetz muss so gestaltet sein, dass der Verzicht auf ein Fachaufsichtsrecht das hinreichende Legitimationsniveau nicht unterschreitet. Insofern müssten diese Einrichtungen auf
ein gesetzlich einigermaßen engmaschiges Korsett treffen (was übrigens mit der Idee gewährter Selbstverwaltung nicht recht kompatibel ist). Wenn also der Gesetzgeber die funktionale Selbstverwaltung selbst hinreichend steuert, sind auch die darauf folgenden Sachentscheidungen hinreichend legitimiert. (Pflichtvokabel: hinreichendes Legitimationsniveau!)
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Zum Fallbeispiel: Rechtsaufsicht ist auch hier unverzichtbar und führt zur Aufhebung der Beschlüsse, weil die Dissertationen (Promotion) keine den Berufszugang
eröffnende Funktion hat.
bb) Zwischenbemerkung: Zur Unterscheidung von Dezentralisation und Dekonzentration
Dezentralisation = Verteilung von Entscheidungsmacht auf verselbständigte Personen des
öffentlichen Rechts. Gebietskörperschaftlich: Gemeinden + Kreise u.ä.; funktional: rechtsfähige Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts (z.B. Universitäten
in NRW = Körperschaften des öffentlichen Rechts)
Dekonzentration = Verteilung von Entscheidungsmacht auf nichtsrechtsfähige (teil-) verselbständigte Behörden als Verwaltungsträger; z.B. obere Bundesbehörden: Bundesumweltamt, Bundeskartellamt; Bundesamt für Naturschutz; Paul-Ehrlich-Institut, Bundesnetzagentur etc.
cc) Weisungsfreiheit in der Dekonzentration
- Beispiel: Bundeskartellamt (siehe oben sub b), S. 58 f.)
- Vereinbarkeit mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zweifelhaft.
- Vorgetragen wird zur Rechtfertigung:
-- das justizförmige Beschlussfassungsverfahren in Beschluss-Kammern stehe der Einzelweisung entgegen.
-- die Ministererlaubnis in der Fusionskontrolle rechtfertige den Verzicht auf Einzelweisungen.
- Die Qualität der Argumente ist begrenzt; sie sind aber „herrschende Lehre“. Als Merksatz
lässt sich formulieren: Ministerialfreiheit (Weisungsfreiheit) in der Dekonzentration (siehe
oben (2)) ist tendenziell verfassungswidrig, aber mit guten Gründen rechtfertigungsfähig.
Bedenken Sie aber auch: Ein US-amerikanischer oder französischer Verfassungsjurist täte
sich mit unseren Überlegungen schwer. In den USA ist die Verwaltung über Agencies viel
verbreiteter als bei uns und die Europäische Union neigt durchaus auch zu solchen Modellen, die den scheinbaren Vorzug haben, nicht Beute der Parteien zu werden, aber auch den
Nachteil haben, dass der Bürger gegebenenfalls der Vollzugsphilosophie der Behörden ausgeliefert ist, die diese ungestört durch Weisungen durchsetzen können.
dd) Weisungsfreiheit in der Dezentralisation
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Dezentralisation ist auf Weisungsfreiheit angelegt. Für die verfassungsoriginäre Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 16 Abs. 1 Landesverfassung NRW für die Universitäten)
folgt die Rechtfertigung unmittelbar aus der Verfassung. Für die verfassungsmäßig konstruierte funktionale Selbstverwaltung folgte die Legitimation aus dem gesetzlichen Aufgabenprogramm.
3. "Volk" als Grundbegriff der Demokratie
Fiktives Beispiel: Das Land Nordrhein-Westfalen will allen Ausländern, die 10 Jahre im
Land wohnen und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis vorweisen können, das Wahlrecht
für Landtagswahlen gewähren.
- Zu Staatsvolk und Staatsangehörigkeit s.o. S. 28 sub cc)
- Konsequenzen für das Wahlrecht: Nur deutsche Staatsangehörige sind befähigt zu staatsrechtlicher Legitimation, womit ein Wahlrecht für Ausländer vor der Schaffung des Unionsbürgers durch die EU im Zusammenhang demokratischer Legitimation ausgeschlossen
ist: Zum Volk als Staatsbürgerverband der Deutschen s. BVerfGE 83, 37 (50 f.) und
BVerfGE 83, 60; zu diesen Entscheidungen, die zum Kommunalwahlrecht für Ausländer
ergangen sind, s. die Prozessdokumentation von Isensee/ Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das
Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht. Dokumentation der Verfahren,
1993; dazu Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 28 ff. Das
Bundesverfassungsgericht hält an dieser Definition des Volkes fest, wie die weitere Judikatur zur EU zeigt: BVerfGE 123, 267 (343) – Lissabon mit dem Rekurs auf das Deutsche
Volk und seine verfassungsgebende Gewalt.
- Zu den späteren EG-bedingten Regelungen (Kommunalwahl für EG-Bürger) s. Art. 28
Abs. 1 S. 3 GG.
Erstreckt sich diese (aktive) wahlrechtliche Berechtigung auch auf plebiszitäre kommunalrechtliche Entscheidungen? (dem Wortlaut nach nicht (Wahlen!), dem Telos nach m.E.
schon; s. Löwer, a.a.O. Rn. 32 f.). Ist damit auch das passive Wahlrecht für EG-Ausländer
bei der unmittelbaren Volkswahl der Hauptverwaltungsbeamten ((Ober-)Bürgermeister)
verbunden? (Siehe dazu Klaas Engelken, VBlBW 1995, 217 ff.; 232 ff; ders. DöV 1996,
737; Marcel Kaufmann, Kommunales Unionsbürgerrecht und demokratischer Staatsaufbau, 1998, S. 25 ff.; Pieroth/ Schmülling, Die Umsetzung der Richtlinie des Rates zum
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Kommunalwahlrecht der Unionsbürger in den deutschen Ländern, DVBl. 1998, S. 365;
Löwer, a.a.O., Rn. 33); NRW hat das passive Wahlrecht für EU-Bürger eingeführt; s. E.
Kremer VR 1996, 145; s. für die bayerische Lösung, die das passive Wahlrecht verneint,
BayVerfGH NVwZ 1998, 54: die Nichtgewähr des passiven Wahlrechts ist verfassungsmäßig (und unionsrechtskonform); (s. in diesem Zusammenhang auch, dass deutsche
Wahlbürger durch die Gewähr des Wahlrechts an EU-Bürger (aktiv und passiv) nicht in
eigenen Rechten verletzt sein können: BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats) vom 19.
Februar 1997, NVwZ 1998, S. 52 sowie Beschluss vom 8. Januar 1997, NVwZ 1998, S.
52 f.)
4. Demokratie und Gleichheit der politischen Mitwirkungsrechte
a) Die gleiche Chance politischen Machtgewinns für Individuen und Parteien auf der aktiven und passiven Seite ist ein Konstitutionsmoment der Demokratie. Die Verfassung der
politischen Gleichheit der Staatsbürger als Wahlkörper ist Aufgabe des Wahlrechts und des
Parteienrechts (s. unter 8. in diesem Abschnitt).
b) Insbesondere: Das Wahlrecht
vgl. dazu Hans-Uwe Erichsen, Die Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes, Jura 1983,
635 ff.; ders., Wahlsysteme, Jura 1984, 22; Ludwig Gramlich, Allgemeines Wahlrecht - in
Grenzen?, JA 1986, 129; Annette Guckelberger, Wahlsystem und Wahlrechtsgrundsätze,
JA 2012, S. 561 ff. (Teil I) sowie S. 641 ff. (Teil II).
- Wahlsysteme
Fiktives Beispiel: Die CDU kommt zu der Einschätzung, dass sie im 5-7 Parteien Parlament
nach geltendem Wahlrecht für das bürgerliche Lager keine Mehrheit mehr findet. Hingegen
gewinnt sie immer noch (viel) mehr Wahlkreise als die SPD. Sie bringt deshalb einen Antrag auf Einführung des reinen Mehrheitswahlsystems in den Bundestag ein.
SPD und die weiteren Parteien (FDP, Grüne, die Linke) lehnen den Antrag ab, weil er verfassungswidrig sei. Haben sie recht?
Nachdem dieses Projekt gescheitert ist, will die CDU wenigstens ein Grabensystem einführen (= die Hälfte der 598 Abgeordneten werden direkt in Wahlkreisen gewählt, die anderen
über die Liste nach Maßgabe verhältnismäßiger (also ihrem Stimmanteil entsprechender)
Sitzverteilung auf die Landeslisten der Parteien).
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Auch diesen Vorschlag lehnen die anderen Parteien ab. Daraufhin bringt die SPD den Vorschlag für ein reines Verhältniswahlsystem als Verfassungsänderung ein. Dies lehnt wiederum die CDU ab, die an einem Zwei-Stimmen-Wahlrecht festhalten will.
- - Mehrheitswahlsystem, Verhältniswahlsystem
knapper Überblick bei H. Westerath, Wahlrecht, in: EvStL, 3. Aufl. 1987, Sp. 3930
(3933 - 3935) sowie umf. Hans Meyer, in: HdbStR II, § 37 und § 38 (wenn auch seine
verfassungsrechtlichen Sympathien für die reine Verhältniswahl ihren Grund in seiner
persönlichen Präferenz findet, aber nicht im Grundgesetz).
- - Das Grundgesetz optiert in Art. 38 GG weder für das Mehrheitswahlsystem noch für das
Verhältniswahlsystem, so dass das gewählte System im Bundeswahlgesetz einer personalisierten Verhältniswahl verfassungsmäßig ist (§ 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG). Das
ergibt sich schon aus der Entstehungsgeschichte. Der Parlamentarische Rat hatte sehr
wohl über das Wahlsystem beraten, übrigens auch das „Grabensystem“ erwogen, hatte
sich aber nicht einigen können (s. die 850 (!) Seiten Beratungsunterlagen: Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle. Band 6: Ausschuss für Wahlrechtsrechtsfragen (bearbeitet von Harald Rosenbach), 1994) Das Bundesverfassungsgericht hat
deshalb auch die Mehrheitswahl (BVerfGE 6, 84(90); 34, 81(100); 95, 335 (345 ff.))
ebenso für verfassungsmäßig gehalten, wie die Verhältniswahl (BVerfGE 66, 291,
(302); 95, 335 (349); 121, 266 (296)), und auch das Grabensystem als zulässige Gestaltung bezeichnet.
- - Das personalisierte Verhältniswahlrecht führt zu Problemen, wenn es nicht als „Grabensystem“ ausgestaltet ist, weil dann die Wahlkreisgewinne auf die nach der Zweitstimmenverteilung zugeteilten Mandate angerechnet werden. (s. § 5 i.V.m. § 6
BWahlG). Das Problem kompliziert sich, weil die Listen Landeslisten der Parteien sind,
nicht eine Bundesliste (§ 6 Abs. 1 BWahlG). Insofern kann es zu Überhangmandaten
kommen (zur bisherigen Regelung § 6 BWahlG).
- - (Zur Frage der Überhangmandate bei der personalisierten Verhältniswahl; s. U. Mager/R. Uerpmann, Überhangmandate und Gleichheit der Wahl, DVBl. 1995, 273 ff. einerseits und Hans Meyer, a.a.O., § 46 Rn. 45 ff.; sowie Wolfgang Löwer, Aktuelle wahlrechtliche Verfassungsfragen, 1996, S. 86 ff; die Antwort des Bundesverfassungsgerichts zu den Überhangmandaten BVerfGE 95, 335; s. aber auch BVerfGE 97, 317: kein
Nachrücken in Überhangmandate; zum Ganzen s. zuletzt Hans Hugo Klein, Überhangmandate und Grundmandatsklauseln im Bundestagswahlrecht, in: Schriftenreihe der Ge-
75
sellschaft für Deutschlandforschung 94 (2007), S. 33 ff.; die letzte Antwort des Bundesverfassungsgerichts ist, vorsichtig gesagt, originell: bis zu ungefähr 15 Überhangmandate sind verfassungsrechtlich hinnehmbar (BVerfGE 131, 316 ff. - negatives Stimmgewicht); aber das Gericht hält Überhangmandate eigentlich für eine „Übung“!
Überhangmandate entstehen dadurch, dass die Gesamtzahl der zu vergebenden 598 Sitze
im Verhältnis der Summe der Zweitstimmen auf die einzelnen Listen verteilt werden (§
6, 7 BWahlG).Wenn eine Partei in einem Land in den Wahlkreisen mehr Mandate erringt als ihr nach der Zahl der auf sie entfallenden Zweitstimmen zustehen, entstehen
Überhandmandate. Diese so genannten Überhangmandate verbleiben der Partei. Die Gesamtzahl der Abgeordneten erhöht sich entsprechend (§ 6 Abs. 5 BWahlG); s. Hans
Hugo Klein, a.a.O., S. 34.
Das Bundesverfassungsgericht verschließt sich mit der Aussage, das Grundgesetz optiere nicht für ein Wahlgesetz, an sich einem kontrollierenden Zugriff auf die WahlsystemEntscheidung (von der Kontrolle der Wahlrechtsgrundsätze abgesehen). Es eröffnet ihn
sich aber wieder über eine Folgerichtigkeitsprüfung, die an „das ausgewählte Wahlsystem“ anknüpft. Der Gesetzgeber muss das ausgewählte Wahlsystem in seinen Grundelementen folgerichtig gestalten und er darf keine strukturwidrigen Elemente einführen.
(so zuletzt BVerfGE 120, 82 (103 f.); 131, 316 ff. ; zuerst BVerfGE 11, 351 (362); 13,
127 (129)) Als (gewähltes) System sieht das BVerfG die Verhältniswahl an; dass der
Gesetzgeber ein eigenes System durch Kombinatorik schaffen kann („personalisierte
Verhältniswahl“), die es legitimieren würde, mit der notwendigen Unabgestimmtheit der
Teile zu leben, zieht das BVerfG nicht in Betracht. Die Kombinatorik ist kein Rechtfertigungselement. Das führt zu einer immer schwerer überschaubaren komplizierten Wahlrechtslage.
Der Gesetzgeber hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 131, 316 ff.) jetzt so verstanden, dass die Verschiebungen im Ergebnis der Verhältniswahl durch Überhangmandate im Wege sog. Ausgleichsmandate zu vermeiden seien (BWahlG v. 3.5.2012,
BGBl. I S. 1082 ff.) Das kann zu einer erheblichen Vergrößerung des Bundestages führen; das Element der Personalwahl durch Wahlkreismehrheit wird so m.E. (unangemessen) zurückgedrängt. Im Grunde nähert sich das System der reinen Verhältniswahl an.
Zum neuen Wahlrecht s. Jörn Ipsen, Iurratio 2013, S. 60 ff., sowie Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 91 ff.; dort Rn. 95 auch ein Berechnungsbeispiel. Ob diese Regelung nun
vernünftig ist, darf man bezweifeln: Nach neuem Wahlrecht hätte der Bundestag der vorigen Legislaturperiode nicht 598 + 24 = 622 Sitze gehabt, sondern mit Ausgleichsmandaten 671 (s.d. Hinweis bei Degenhart Rn. 97)
76
- - Zur sog. „Grundmandatsklausel“ (§ 6 Abs. 6 S. 1 BWahlG); s. krit. Hans Meyer,
a.a.O., § 46 Rn. 44; a.A. Löwer, a.a.O., S. 61 ff.; in diesem Sinne dann BVerfGE 95,
408 (420, 422 f.); Hans Hugo Klein, a.a.O., S. 46 – 48: effektive Integration des Staatsvolkes als Ziel; Wahlkreisgewinn als Indiz für gerechtfertigte Repräsentanz eines Anliegens im Parlament.
- Die Wahlrechtsgrundsätze
- - Allgemeinheit der Wahl mit den zulässigen Einschränkungen des Mindestalters (siehe
Art. 38 Abs. 2 GG) und der Sesshaftigkeit (für die Sesshaftigkeit gilt der melderechtliche Wohnsitzbegriff! Zum Fall des Thüringischen Wirtschaftsministers Schuster s.
ThürVerfGH NJW 1998, 525); neuerdings hat das BVerfG (ich meine „ohne Not“ s. das
dissenting-vote von Lübbe-Wolff) entgegen seiner bisherigen Rechtsprechung (BVerfGE 36, 139 (141 f.) die Zeitbestimmung für die Sesshaftigkeit (3 Monate für Auslandsdeutsche als Voraussetzung für die Wahlberechtigung) als verfassungswidrig verworfen
(BVerfGE 132, 39; kritisch zur Neuregelung: Felten, Zur Verfassungswidrigkeit des
neuen Wahlrechts für Auslandsdeutsche, DÖV 2013, S. 466 ff.) Weitere Allgemeinheitsbeschränkungen: Entmündigung (heute nur noch Pflegschaft, die im Allgemeinen
nicht die politische Betätigung betrifft); Altersgrenzen für das passive Wahlrecht im
Kommunalwahlrecht: Der gewählte Bürgermeister (Hauptverwaltungsbeamter) darf
nicht älter sein als 68 Jahre. Rechtfertigung: Altersgrenze ist hergebrachter Grundsatz
des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG); insofern verfassungsunmittelbare Rechtfertigung der Einschränkung der Allgemeinheit (BayVerfGHE 21, 83 (90); VerfGHRP,
NVwZ 2007, 1052; BVerfG (K) NVwZ, 1997, 1207).
Frage: Wäre ein Familienwahlrecht verfassungsrechtlich möglich? Im Familienwahlrecht geben Eltern treuhänderisch pro Kind eine (weitere) Stimme ab, wobei das Elternpaar unter sich regelt, wer diese Zusatzstimme abgibt. Zum Teil wird mit der Fiktion gearbeitet, es ginge nicht um das Elternwahlrecht, sondern um das Kinderwahlrecht, das
nur durch einen Dritten wahrgenommen würde.
Dass eine solche gedankliche Aufsplittung des Elternteils in einen Wähler für sich selbst
und einen Wähler für sein Kind unsinnig ist, liegt auf der Hand. Ganz überwiegend wird
deshalb ein Familienwahlrecht auch trotz der vorgeblichen Verbreiterung der Allgemeinheit der Wahl verworfen, s. die Nachweise bei Hans Meyer, a.a.O., § 46 Rn. 11; das
Elternwahlrecht verstößt gegen die Gleichheit der Wahl, weil die Eltern mehr Stimmgewicht haben als Nichteltern, ohne die Allgemeinheit der Wahl zu verbreitern (die Kinder
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wählen nicht selbst, wenn Eltern für sie wählen). Auch mit Art. 79 Abs. 3 GG wäre ein
Familienwahlrecht nicht vereinbar, weil es die Mitwirkungsgleichheit in der demokratischen Legitimationsteilhabe beeinträchtigte.
- - - Inkompatibilität und Ineligibilität: Art. 137 GG
Grundlagen s. dazu Klaus Schlaich, Wählbarkeitsbeschränkungen für Beamte nach Art. 137
Abs. 1 GG und die Verantwortung des Gesetzgebers für die Zusammensetzung der Parlamente, AöR 105 (1980), 188 sowie (knapper) ders., Inkompatibilität, Lexikon des Rechts
5/380 (1996).
Das parlamentarische Regierungssystem muss sich der Frage stellen, welche Konsequenzen
es haben soll, dass die Exekutive vom Parlament kontrolliert wird, folglich der Kontrollierte
selbst in der Gestalt eines Dienstnehmers des öffentlichen Dienstes nicht im Parlament sitzen kann, weil er sich selbst kontrollieren würde. Kontrolleur und Kontrollierter zugleich zu
sein, führt zu einer Unvereinbarkeit von beidem. Insofern ordnet Art. 137 GG an, dass die
gleichzeitige Innehabung beider Ämter nicht zulässig sein kann. Das könnte allerdings eine
Verletzung der Allgemeinheit der Wahl sein, wenn solche Regelungen als Ineligibilitäten
ausgestaltet wären. Dann würde das passive Wahlrecht für den Dienstnehmer im öffentlichen Dienst ausgeschlossen. Die „Allgemeinheit“ schonen würde hingegen eine Regelung,
die nur zum Verbot der Gleichzeitigkeit der Innehabung beider Ämter führen würde, das
Exekutivamt also zum Ruhen brächte, wenn das Mandat angetreten werden soll. Dienstnehmer des öffentlichen Dienstes hätten dann allerdings das Problem, dass sie einkommenslos dastünden. Insofern ist die Entscheidung für die Schonung der Allgemeinheit der Wahl,
also für den Verzicht auf die Ineligibilität und das Votum für die Inkompatibilität die Eintrittskarte für eine hohe Aufwandsentschädigung für die Mandatsinhaber, nämlich in solcher Höhe, dass sie den Verlust ihrer Amtseinkünfte verschmerzen können. Insofern ist für
Dienstnehmer des Öffentlichen Dienstes das Parlament etwa bis zur Gehaltsstufe des Ministerialrats von Interesse, weil bis dahin mit den Diäten gewissermaßen ein besitzstandswahrendes Einkommen anfällt. Wer einen höheren Rang bekleidet, würde als Abgeordneter eine
niedrigere Bezahlung akzeptieren müssen, weil die Diäten hinter seiner Vergütung aus dem
Amt zurückblieben. (Spott-Spruch für den Landtag NRW: „Der Landtag ist mal voller und
mal leerer, aber immer voller Lehrer.“) . Sie finden deshalb auch keinen Ministerialdirigenten oder -direktor im Parlament.
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Bundesrechtliche Konsequenzen: §§ 5 ff. AbgG, §§ 4 Abs. 1, 17a, 21 Abs. 2 Nr. 2, 36
Abs. 2, 121 DRiG, §§ 4 Abs. 4, 25 Abs. 2, Abs. 3, 46 Abs. 2 Nr. 5, 55 Abs. 1 SoldG.
Beachten Sie aber auch: Sich für die Ineligibilität zu entscheiden, schmälert zwar die Allgemeinheit der Wahl, stärkt aber die Gewaltenteilung.
Wirkung des Art. 137 GG für das Landesrecht (eine Übersicht über die Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts auf aktuellstem Stand findet sich bei Magiera, in: Sachs,
GG, 7. Aufl. 2014, Art. 137 Rn. 6 - 18; zu der brisanten Frage der Wirkung des Art. 137
gegenüber Landesverfassungsrecht s. jetzt die (falschen) Entscheidungen des BbgVerfG NJ
1995, 252 u. DVBl. 1996, 363; ablehnend dazu Jörg Menzel, Unvereinbarkeit von Amt und
Mandat in den Ländern nach Art. 137 Abs. 1 GG und Landesverfassungsrecht, DÖV 1996,
1037 f.; siehe aber auch die sehr sorgfältige und gut begründete Entscheidung des SachsAnhVerfG NVwZ-RR 1995, 457).
Kommunalrechtliche Wirkungen: Auch dafür gilt Art 137 GG
Fall: - Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Rat der Stadt Bochum hat faktisch keine Zeit
für einen bürgerlichen Beruf, kann aber vom Sitzungsgeld, das er als Ratsherr kassiert,
auch nicht leben.
Also beschließt die Stadt, ihn zum gutdotierten Vorstandsvorsitzenden der kommunalen
Wohnungsbaugesellschaft (100%-Tochter der Stadt) zu machen. Ist die Mandatswahrnehmung im Rat zulässig im Lichte von Art. 137 GG?
- Nachdem die Stadt „kalte Füße“ hat, ob die Lösung Bestand hat, verkauft sie 51 %
ihrer Anteile an das gewerkschaftseigene Unternehmen NEUE HEIMAT (existiert heute
nicht mehr). Im Gesellschaftsvertrag legt sie fest, dass sie durch den Vertreter der NEUEN HEIMAT in Vorstand und Aufsichtsrat nicht überstimmt werden darf. Ist jetzt die
Mandatswahrnehmung unangreifbar? Unvereinbarkeit von Amt und Mandat greift im
Kommunalrecht ein: Ein kommunaler Bediensteter kann sich nicht selbst kontrollieren.
Bei mittelbarer Kommunalverwaltung (z.B. in kommunalen Unternehmen) kommt es
darauf an, ob die Gemeinde das Unternehmen „beherrscht“ kraft Mehrheit oder z.B.
kraft Stimmrechtsbildung. Landesbeamte können hingegen im Rat einer Gemeinde sitzen, sie kontrollieren sich nicht selbst.
→ Siehe zu den kommunalrechtlichen Wirkungen BVerfGE 48, 64 (89 f.); 57, 43 (67); 58,
177 (193); zuletzt auch BVerwGE 117, 11 (14 ff.). Hinreichende Diäten sind auf Kommunalebene mangels Vollzeitjob nicht möglich (sinnvoll). Faktisch handelt es sich also
um Ineligibilität. Diese ist aber durch die mit Art. 28 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich
gewünschte „Kleinräumigkeit“ der Selbstverwaltung in gewissem Sinne (mit-) legitimiert.
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Der Ausschluss wegen Richterspruchs (§ 13 Nr. 1 BWG) muss wohl begrenzt werden
auf die Verurteilung wegen Verstoßes gegen den Staat schützende strafrecht-
liche Normen. (s. H.H. Trute, in: von Münch/Kunig, a.a.O. Art. 38 Rn. 24).
- - Unmittelbarkeit der Wahl
Zwischen Wählerwillen (Zählwirkung der Stimmen) und den Mandatsgewinn darf keine
weitere Willensentscheidung treten (außer der Annahmebereitschaft des Gewählten).
Das US-amerikanische System der Präsidentenwahlen über Wahlmänner wäre also mit
Art. 38 GG unvereinbar. Die Listenwahl (kraft des Listenmonopols politischer Parteien)
ist keine Verletzung der Unmittelbarkeit. „Der Grundsatz der unmittelbaren Wahl hindert nicht, dass die Wahl eines Bewerbers von der Mitwahl anderer Bewerber abhängig
gemacht wird“ (BVerfGE 7, 63 (69); 21, 355 (356); 47, 253 (283)). Jedenfalls würde
Art. 21 Abs. 1 GG den Eingriff in die Unmittelbarkeit rechtfertigen.
Neuralgische Punkte:
Fälle:
(1) Der Abgeordnete A verletzt mehrfach die Fraktionsdisziplin. Daraufhin wird er aus
der Partei ausgeschlossen. Darf das Wahlrecht regeln, dass er damit auch sein Mandat
verliert? Schließlich verdankt er es der Nomination durch die Partei! Im Ergebnis wohl
nicht, weil der Parteiausschluss über die Mandatsinhaberschaft entschiede. Der Parteiausschuss würde sich zwischen den Wählerwillen und den Gewählten schieben.
(2) Eine Partei beschließt, dass möglichst viele Mitglieder in den Genuss eines Mandates
kommen sollen. Deshalb beschließt sie (und dahingehend verpflichten sich auch die
Kandidaten), dass jedes über die Liste gewählte Mitglied zur Hälfte der Legislaturperiode ‚freiwillig’ zurücktritt (Rotation) (s. Nds. StGH NJW 1985, 2319). Eine Rechtspflicht
zur Rotation wäre ein Dazwischentreten einer anderen Entscheidung; eine Rechtspflicht
zur Rotation verstößt aber gegen höherrangiges Recht (Art. 38 Abs. 2 GG) und ist deshalb nicht wirksam; also gibt es keine Rechtspflicht zur Rotation.
(3) Der hessische Landtag beschließt, dass für den Fall, dass ein Abgeordneter zum Minister ernannt wird, dieser sein Abgeordnetenmandat ruhen lassen muss, es wird von einem Listennachrücker besetzt. Wenn der Minister sein Ministeramt verlieren sollte,
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muss der Nachrücker den Platz wieder freimachen für den Ex-Minister (sog. Ruhendes
Mandat).
Die Entscheidung zur Ministerernennung und Ministerentlassung schiebt sich folglich
zwischen den Wählerwillen und den Mandatsgewinn resp. –verlust. Folglich ist dies ein
Verstoß gegen die Unmittelbarkeit (so auch HessStGH, NJW 1977, 2065 S. 2066).
- - Freiheit der Wahl:
Freiheit von Zwang und unzulässiger politischer, wirtschaftlicher und sozialer Einflussnahme hinsichtlich der Überzeugungsbildung für die Stimmabgabe
(BVerfGE 7, 63 (69); 15, 165 (166); 95, 335 (350)).
- - - Freiheit der Wahl heißt im Rahmen von Art. 38 Abs. 1 GG (aus-)wählen können, d.h.
es muss im Wahlakt wählbare Alternativen geben, z.B. zwischen mehreren Listen.
- - - Freiheit der Wahl heißt: An der Wahl teilnehmen zu wollen oder nicht teilnehmen zu
wollen. Eine gesetzliche Wahlpflicht (wie z.B. in Belgien) wäre verfassungswidrig.
- - - Freiheit der Wahl hat Vorwirkungen auf die Freiheit der Nomination von Kandidaten
durch politische Parteien (s. H.H. Trute, in: v. Münch/Kunig, a.a.O., Art. 38 Rn. 40); s. §
21 BWG sowie die Verpflichtung der Parteien auf eine demokratische Binnenstruktur
(Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG).
- - - Die Freiheit der Wahl wird strafrechtlich durch §§ 107 ff. StGB geschützt.
- - - Der Freiheitsgrad der Kommunikation im Wahlrecht muss unterscheiden zwischen der
Einwirkung durch Grundrechtsträger (1) und der Einwirkung durch die organisierte
Staatlichkeit (2).
(1) Fälle:
Der Kardinal in Paderborn predigt von der Kanzel, es müsse jedem katholischen Wähler
klar sein, dass es eine Sünde sei, eine Partei zu wählen, die nicht ein „C“ für christlich in
ihrem Namen trage.
s. OVG Münster, JZ 1962, 767 – Hirtenbrief der Bischöfe; BVerwGE 18, 14 /17); w.
Hinw. bei H.H. Trute, a.a.O., Art. 38 Rn. 47 Rn. 208.
81
Der Unternehmer A schreibt seinen Mitarbeitern, dass bei einer Wahl der SPD ihre Arbeitsplätze hochgradig in Gefahr seien. Er werde dann wohl den Laden dicht machen.
vgl. BVerfGE 66, 369 (380); 103, 111 (132 f.): Die Entscheidung grenzt gesellschaftliche Einflussversuche auf das Wahlverhalten einzuwirken, aus dem Kreis denkbarer
Wahlfehler aus; für gewerkschaftliche Wahlwerbung BVerfGE 42, 133 (139).
Die NPD wirbt für ihre Wahl mit dem Hinweis, sie würde die parlamentarische Demokratie beseitigen wollen und auf eine ständische Diktatur hinarbeiten.
(s. BVerfGE 47, 198 (229)): Das Fernsehen muss einen solchen Wahlwerbespot gleichwohl – wegen des sog. Parteienprinzips – senden.
Der reiche Wahlkreiskandidat Z verspricht jedem, der ihn nachgewiesener Maßen in der
Briefwahl wählt, für 8 Tage nach Mallorca zum Ballermann einzuladen (= unzulässiger
Stimmkauf).
Der reiche Wahlkreiskandidat Z wirbt für sich mit kleinen Schneidebrettchen, die er an
die Hausfrauen seines Wahlkreises versendet.
(BVerfGE 21, 196 (198); Wahlgeschenke sind unbedenklich, „solange diese von geringen Wert sind und nicht aus dem Rahmen des Üblichen fallen“ (so Hans Peter Schneider, GG-AK, Art. 38 Rn. 66)
(2) Eine amtliche Wahlbeeinflussung ist unzulässig; es gilt der Grundsatz strikter Neutralität.
Fall: Im zeitlichen Vorfeld der Landtagswahl erscheint in den Zeitungen des Saarlandes
eine Anzeigenserie mit dem Titel: „Der Ministerpräsident (CDU) informiert.“
Wo liegt der Fehler? s. SaarlVerfGH, v. 01.07.2010 Az. Lv 4/09.
Für eine Landtagswahl geben 37 Bürgermeister eine gemeinsame Wahlempfehlung ab
(s. BVerwGE 104, 323).
Zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung in Abgrenzung zu Wahlbeeinflussung s. BVerfGE 44, 125; 63, 230; zum Zeitpunkt s. BVerfGE 63, 230 (245); s. § 16 BWahlG.
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- - Gleichheit der Wahl: sie fordert eine schematische Gleichheit im gesamten Wahlvorgang, also den gleichen Zähl- und prinzipiell auch gleichen Erfolgswert der Stimmen:
Die zulässige Durchbrechung für Bundestagswahlen (und für Landtagswahlen) ist die 5Prozent-Klausel (s. dazu mit umf. Nachw.: Hans Meyer, a.a.O., § 46 Rn. 36 ff.); für das
Kommunalwahlrecht ist die Berechtigung der 5-Prozent-Klausel gesondert zu prüfen: s.
dazu aus der jüngeren Vergangenheit VerfGH NW NVwZ 95, 479 f.; VerfGH Bln Urteil
v. 17.03.1997, LKV 98, 147; HbgVerfG NordÖR 1999, S. 17 ff.; LVerfG MV, LKV
2001, 270 sowie VerfGH NRW 2000, 666; ThürVerfGH, LVerfGE 19, 495, 506 ff.;
BremStGH, LVerfGE 20, 143 (156 ff.). Für das Europaparlament (EP) hat das BVerfG
jetzt (Entscheidung vom 9.9.2011 – 2 BvC 4/10 – Rn. 95 ff.) die 5%-Klausel verworfen.
Die Argumente dafür sind allerdings schwach. Die Entscheidung ist äußerst kritisch aufgenommen worden. Das Argument, dass im EP keine Koalitionsregierungen gebildet
werden müssen und folglich das Regierungsstabilitätsargument keine Rolle spiele, ist
zwar richtig, unterstellt aber zu unrecht, dass dies die einzig denkbare Rechtfertigung für
5%-Klausen sei.
Die Argumente gegen die Anerkennung von Überhangmandaten knüpfen an die Zählund Erfolgswertgleichheit der Stimmen an: Wenn Überhangmandate entstehen, sinke
die Zahl der Stimmen, die man für den Mandatsgewinn brauche, so dass die Wähler von
Listen, für die Überhangmandate „produziert“ würden, ein höheres Stimmgewicht hätten. Dem ist entgegenzutreten mit der Erwägung, dass niemand bei der Stimmabgabe
weiß, ob seine Stimme für eine Liste abgegeben wird, für die auch Überhangmandate
entstehen werden. Die Erfolgschance ist für alle gleich.
Das sog. negative Stimmgewicht ist mit der Gleichheit der Wahl nicht vereinbar,
BVerfG Urteil vom 25. Juli 2012 – 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11.
Die Gleichheit im gesamten Wahlvorgang bedeutet auch die Chancengleichheit der
Wahlbewerber, also die Chancengleichheit für das passive Wahlrecht auch für Einzelwahlkreisbewerber, s. BVerfGE 41, 399 - Daniels (jetzt § 18 Abs. 4 PartG). Garantiert ist damit auch die Chancengleichheit der Parteien, s. etwa BVerfGE 44, 125 - zur
Wahlwerbung der Regierung; die Chancengleichheit erstreckt sich auch auf Wahlkampfkostenerstattung, Sendezeitverteilung im Fernsehen, Zuteilung von Werbungsflächen usf. (s. dazu § 5 Abs. 1 PartG); dazu Philip Kunig, HdbStR III, (3. Aufl.) § 40 Rn.
93 – 101; Einzelheiten zu Chancengleichheit der Parteien, s. dort (in diesem Abschnitt
unter 8.).
83
--
Geheimheit der Wahl
Der Wähler genießt lückenlosen Diskretionsschutz für seine Wahlentscheidung (auch
damit sie wirklich frei ist). Geheimheit und Freiheit sind Geschwister!
Normativ: § 107e StGB, §§ 33 Abs. 1, 34 Abs. 1, 35 Abs. 2 BWG.
Fall: Die katholische Kirche entlässt einen Theologieprofessor T, weil er – wie sie sicher zu wissen meint – die gottlose NPD gewählt hat.
Das Gericht beschließt, darüber Beweis zu erheben, wie T gewählt hat durch Parteivernehmung und durch Vernehmung seiner Ehefrau, der die Kirche vermutlich ihre Information verdankt.
vgl. BVerwGE 49, 75 (76); BGH, JZ 1981, 103: Unzulässigkeit der Beweiserhebung
Die Geheimheit ist unverzichtbar.
Fall:
A + B sind verheiratet. Nach Abgabe ihrer Wahlscheine wollen sie gemeinsam die
Wahlkabine benutzen. Muss der Leiter des Wahlbüros einschreiten? (Ja!)
Gefährdungen sind nur hinzunehmen, wenn dadurch ein anderer Wahlrechtsgrundsatz
„gewinnt“:
z.B. Hinnahme der Briefwahl zur Steigerung der Allgemeinheit der Wahl (BVerfGE
21, 200 (205)),
z.B. Notifikation der Stimmabgabe im Wählerverzeichnis zur Verhinderung der
gleichheitswidrigen mehrfachen Stimmabgabe,
z.B. Wahl durch eine Vertrauensperson (§ 57 BWO) (BVerfGE 21, 200 (206)) wegen
der Allgemeinheit der Wahl und zur Ermöglichung der Wahl in der Person des Hilfsbedürftigen.
--
Öffentlichkeit der Wahl
Grundlegend BVerfGE 123, 39 – Wahlautomaten
Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl folgt danach aus Art. 38 i.V.m. Art. 20
Abs. 1 u. 2 GG (E 123, 68); er betrifft den „konkreten Ablauf der Wahl“; das Geheimheitserfordernis betrifft die Stimmabgabe. Also ist die Wahl geheim (Stimmabgabe)
und öffentlich ansonsten (Wahlvorgang)!
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„Die Wahl muss vor den Augen der Öffentlichkeit durchgeführt werden“ (E 123, 69
im Anschluss an W. Schreiber).
Die bisher eingesetzten Wahlautomaten genügen diesen Anforderungen nicht.
Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat jetzt ebenfalls Internet-Wahlen (für die
universitären Vertretungsgremien) mit dem Argument der fehlenden Öffentlichkeitskontrollbarkeit für verfassungswidrig erklärt.
s. ÖVfGH, v. 13.12.2011 – V 85/11 u.a., zfhr 2012, 126.
5. Demokratie als Herrschaft der Mehrheit
vgl. dazu Horst Dreier, Das Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, ZParl.
17 (1986), S. 94 ff. sowie Ulrich Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973
(glänzende Darstellung für die Wurzeln des Mehrheitsprinzips, lesen!).
- Mehrheitsherrschaft als Konsequenz demokratischer Gleichheit und der Pflicht des Staates
zur Entscheidung.
- Mehrheitsbegriffe: einfache Mehrheit, qualifizierte Mehrheit (Art. 61 Abs. 1 Satz 3, 79
Abs. 2, 98 Abs. 2 Satz 1, 115a Abs. 1 Satz 2, 115e Abs. 1, 115h Abs. 2 Satz 2)
Zu den Mehrheitsbegriffen s. auch Wolfgang Löwer, Rechtsprobleme der Stimmrechtszählung im Wissenschaftsrat, in: WissR 29 (1996), S. 101 ff.
- Grenzen der Mehrheitsentscheidung: Unverfügbarkeit der Konstitutionsprinzipien der
Demokratie im Sinne von Art. 79 Abs. 3; Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (Art. 9 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2 GG).
S. dazu Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in;
Isensee/Kirchhof, HStR I, § 19 sowie Hans-Peter Schneider, Die verfassunggebende Gewalt, in: Isenee/Kirchhof: HStR VII, § 158; für die Bedeutung der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG für die Grundrechte s. den gleichnamigen Beitrag von
Klaus Stern, JuS 1985, 329.
- Frage: Gibt es der Mehrheitsentscheidung schlechthin entzogene Fragen?
85
s. den Streit um die Rechtschreibreform, Jörg Menzel, Von Richtern und anderen Sprachexperten – Ist die Rechtschreibreform ein Verfassungsproblem?, NJW 1998, S. 1177
(1183 f.)
- Voraussetzung der Mehrheitsherrschaft:
Gleichheit der Bürger, Gleichheit der Teilhabe am politischen Prozess, Art. 3, 33 Abs. 2
GG, Art. 38 Abs. 1 GG; Gleichheit der Repräsentanten in der Staatswillensbildung: BVerfGE 70, 324 - GRÜNE und Gemeindienstkontrolle; s. aber auch die abweichende Meinung dazu, S. 366 ff., 380 ff.; für die Gleichheit der Mitwirkungsrechte s. auch BVerfGE
80, 188 (218) - Wüppesahl; 84, 304 (321) - PDS/Linke Liste -; diese Gleichheitsrechte auf
politische Mitwirkung sind nur aus zwingenden verfassungsrechtlichen Gründen einschränkbar.
6. Die Demokratie des Grundgesetzes als repräsentative Demokratie
Art. 20 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 29 und 118, BVerfGE 8, 104 sowie Art. 76 und Art. 77
i.V.m. Art. 78, 79, Art. 82 GG mit dem Verweis auf Art. 77 als zusätzliches Argument; s.
als maximale (umstrittene) interpretatorische Auflockerung der Verfassungsentscheidung
für die repräsentative Demokratie Pestalozza, Der Popularvorbehalt. Direkte Demokratie in
Deutschland, Berlin, 1981; weit. Hinw. auf den status controversiae bei Löwer, in: v.
Münch/Kunig, GGK II, 4. Aufl. 2012 Rn. 19 f.:
Fall: Der baden-württembergische Landtag ist des Streits um Stuttgart 21 müde. Wegen der hohen – auch den Bund treffenden – Kosten bittet er den Bundestag, er möge
eine bundesweite konsultative Volksbefragung durchführen, ob dieses Projekt in seiner ganzen Linienführung durchgeführt werden soll.
Darf der Bundestag eine entsprechende konsultative Volksbefragung durchführen? (S.
Peter Krause, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie, in: Isensee/Kirchof (Hrsg.) HBStR III (§. Aufl.), § 35 Rn. 23-26) Die Frage ist nicht unumstritten; es spricht viel dafür, dass eine solche bloß faktische Entscheidungsverlagerung auf das Volk mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht vereinbar ist („Instruktionsverbot“ für das Parlament).
Die Verfassungsentscheidung für die repräsentative Demokratie im Grundgesetz folgt nicht
aus einer Staatsfundamentalnorm, die über Art. 79 Abs. 3 etwa änderungsfest wäre. Das
86
Grundgesetz stellt mit der Fassung des Art. 20 Abs. 2 die Einführung plebiszitärer Entscheidungsstrukturen unter Verfassungsvorbehalt, so dass weitere plebiszitäre Elemente durch
Verfassungsänderung eingeführt werden könnten. Deshalb besteht auch kein aus der Sicht
des Art. 28 Abs. 1 problematischer Widerspruch zwischen homogenitätssicherndem Bundesverfassungsrecht und plebiszitär-offenem Landesverfassungsrecht. (Für weitere Einzelheiten s. Peter Krause a.a.O. HBStR III, 3. Aufl. § 35)
7. Die Demokratie des Grundgesetzes und das parlamentarische Regierungssystem
s. dazu Klaus Stern, Staatsrecht Band 1, 2. Aufl., S. 939 - 1022, insbesondere S. 977 ff.;
Hans Peter Schneider, Das parlamentarische System, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch
des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 537 ff.; Peter Badura, Die parlamentarische Demokratie, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, (3. Auflage), § 25 (S. 479 ff.).
a) Parlamentarismus
Übersichtliche Zusammenfassung bei Wilhelm Henke, Stichwort: Parlament, Parlamentarismus, in: EvStLex, 3. Aufl., Spalte 2420 - 2428.
- Historische Anmerkungen
ausführlich Kurt Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus (Neue Historische Bibliothek, Band 243; knapper Peter Badura, a.a.O. § 25 Rn. 20-26)
- - Ständeversammlungen: vereinbarte Gesetzgebung („leges fundamentales“) als Form der
Rechtsbindung
- - das Beispiel England: Mutterland der „Sovereignity of Parliament“ in Überwindung des
monarchischen Absolutismus im 17. Jhd.; King in Parliament
- - das Beispiel Frankreichs der Revolution
- - das Beispiel Deutschland im 19. Jahrhundert: Warum war das duale konstitutionelle Regierungssystem kein parlamentarisches System – trotz Ministeranklage? Weil das Ernennungs- und Entlassungsrecht für die Regierungsmitglieder beim Monarchen lag; außerdem folgte dieser Parlamentarismus nicht der Idee der Volkssouveränität.
- Merkmale des parlamentarischen Systems
- - Parlamentsabhängigkeit der Bildung der Regierung
- - Verselbständigung der Exekutive → Gewaltenteilung wider Parlamentsabsolutismus
- - Notwendigkeit einer (möglicherweise sehr unterschiedlich ausgeprägten) Regierungskontrolle = parlamentarische Verantwortlichkeit; Rechenschaftspflichten der Regierung
87
- - Mehrparteiensystem als Systemvoraussetzung, einschließlich Franktionen in der Volksvertretung und Opposition
S. zu diesem Abschnitt insgesamt immer noch Ulrich Scheuner, Über die verschiedenen
Gestaltungen des parlamentarischen Regierungssystems, AÖR, 52 (NF 3) (1927), S. 209 233; 337 – 380 sowie Peter Badura a.a.O.
- Hinweise auf nichtparlamentarische Demokratien
- - Präsidentielle Demokratie: USA, Direktwahl des Präsidenten, der selbst Chef der Exekutive ist; in etwas modifizierter Form präsidentiell auch Frankreich
- - Direktorialsystem: Wahl der Regierung durch das Parlament; der Fortbestand der Regierung ist aber verfassungsrechtlich nicht vom Vertrauen des Parlaments abhängig
(Schweiz).
- - Rätesystem mit imparativem Mandat, also jederzeitigem recall (der Partei gegenüber
dem
Parlamentsmitglied)
- Das parlamentarische Regierungssystem
Zusammenfassung bei Roman Herzog, Parlamentarisches Regierungssystem, in: EvStLex,
3. Aufl., Sp. 2428 - 2434 sowie die schon oben angegebene Literatur.
- - Merkmale: Ein- oder Zweikammersystem mit der Ersten Kammer als Volksvertretung;
doppelköpfige Exekutive = Regierung + Staatsoberhaupt (s. aber den Landesparlamentarismus in Deutschland); institutionelle Verbindung von Parlament und Regierung; Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments (in diesem Sinne noch
ausdrücklich Art. 17 der Weimarer Reichsverfassung); prinzipielle Handlungseinheit
von Parlamentsmehrheit und Regierung bei verfassungsrechtlicher Anerkennung der
parlamentarischen Opposition.
b) Das parlamentarische Regierungssystem im Grundgesetz im einzelnen
- Einzelne Ausprägungen s. Art. 63 GG, Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag,
Art. 64, 65 GG - Ministerernennungsrecht und Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers,
politische Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Bundestag - Art. 67, 68 i.V.m.
Art. 69 Abs. 1 GG; zur parlamentarischen Kontrolle s. Art. 38 Abs. 1 GG als Quelle des
Kontrollrechts des einzelnen Abgeordneten oder der Fraktion nach Maßgabe der Geschäfts-
88
ordnung des Bundestags, weiter Art. 43 – Zitierrecht; Art. 44 - Untersuchungsausschuss,
45a, 45b, 45c, Art. 110 f., insbesondere auch Art. 114 GG für die Finanzkontrolle.
- Keine Festschreibung über Art. 79 Abs. 3 GG; keine Homogenitätspflicht über Art. 28
Abs. 1 GG.
8. Die Demokratie des Grundgesetzes als parteienstaatliche Demokratie
Knappe Zusammenfassung bei Konrad Hesse, Parteien, politische, EvStLex, 3. Aufl. Sp.
2434 - 2446; ausführlicher Klaus Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. S. 429 - 469; Dieter Grimm,
in: Benda/Maihofer/Vogel, 2. Aufl. 1994, § 14 Politische Parteien, S. 599 ff.; grundlegend:
Wilhelm Henke, Das Recht der politischen Parteien, 2. Aufl. 1972 sowie (in Teilen lesen!)
Henkes Kommentierung des Art. 21 im Bonner Kommentar (1991). Vgl. weiter Fritz Ossenbühl, BayVBl. 2000, S. 161 ff. sowie Philip Kunig, HdStR III, (3. Aufl.); ferner Rupert
Scholz, Verfassungswidrige Überregierung oder parteienstaatliche Nebenregime? in ders.,
Parlamentarische Demokratie in der Bewährung, 2012, S. 169 ff.
- Aufgaben und Bedeutung der politischen Parteien
- - Kreationsfunktion und Bündelungsfunktion;
Haben sich die Parteien den Staat als Beute genommen? S. Ämternepotismus, Karriereabhängigkeit des potentiellen Leitungspersonals von Parteizugehörigkeit; Fraktionszwang als Chiffre für eine prädominante Stellung
- Verfassungsrechtliche Stellung der Parteien, Rechtsquellen: Art. 21 GG, PartG,
BWahlG
→ lesen Sie das Parteiengesetz
- Begriff der Partei: § 2 Abs. 1 PartG, nicht Wählervereinigungen, nicht Rathausparteien
(BVerfGE 6, 367 (373); 11, 266 (276); krit. dazu v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GGK II,
3. Aufl. 1995, Art. 21 Rn. 14. Zum Parteibegriff s. auch BVerfGE 24, 260 ff. sowie BVerfGE 89, 266 - U.A.P. sowie BVerfGE 89, 291.
- - Gründungsfreiheit und innere Ordnung der Parteien; zur Möglichkeit des Parteiausschlusses von Scientology-Mitgliedern aus der CDU s. LG Bonn, NJW 1997, 2958; be-
89
stätigt durch OLG Köln, NJW 1998, 3721; dazu auch Stern, NWVBl. 1998, S. 34 ff. zur
Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in konkurrierenden Parteien s. die Parteisatzungen.
- - Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes
- - Chancengleichheit der Parteien (Zulassung zu öffentlichen Einrichtungen, Wahlspots
im Fernsehen etc.) zuletzt BVerfGE 104, 14 (19 f.); aber auch abgestufte Chancengleichheit BVerfGE 24, 300; s. insbesondere zu Wahlwerbesendungen und der Prüfbefugnis der Rundfunkanstalten E 69, 257.
- - Parteienfinanzierung; hierzu gibt es eine wechselvolle Geschichte der Rechtsprechung
des BVerfG - zuletzt und heute maßgeblich BVerfGE 85, 264 ff.; zuletzt BVerfGE 111,
382 zum sog. 3-Länder-Quorum: Transparenzgebot als Kehrseite privater Spendenfinanzierung BVerfGE 111, 54.
- - Wahlkampfkostenerstattung (§ 18 ff. Parteiengesetz); steuerliche Begünstigungen;
Chancenausgleich; s. dazu BVerfGE 24, 300; 52, 63; 73, 40; 85, 264, s. dazu zuletzt
Jörn Ipsen, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 20111, Art. 21 Rn. 115 ff. (übersichtliche Zusammenfassung);
zu
aktuellen
Fragen
im
Kontext
der
CDU-
Parteienfinanzierungsprobleme Morlok, NJW 2000, S. 761 ff.; H.H. Klein, NJW 2000,
S. 1441 ff. und sodann BVerfGE 111, 54.
- - Gebot innerparteilicher Demokratie
Verbot der Blockwahlen BGH NJW 1974, 183 f.
BGHZ 106, 67; HbgVerfG DVBl. 1993, 1072; BVerfGE 89, 243 – persönliches Präsentationsrecht von Wahlkandidaten.
- - Verbot verfassungswidriger Parteien
s. Verfassungsgrundsatz der streitbaren Demokratie (unten S. 81)
BVerfGE 1, 208; 4, 27; 84, 290, 85, 264 (Organstreitfähigkeit)
BVerfGE, 7,99; 67, 149; 84, 290 (Verfassungsbeschwerdefähigkeit)
- - Zur prozessrechtlichen Stellung der Parteien
Zur Frage, ob ein Streit von zwei an der Regierung beteiligten Parteien über die Herausgabe von Tonbandmitschnitten als bürgerlicher Rechtsstreit i.S.v. § 13 GVG zu qualifizieren ist, vgl. BGH, JZ 1959, S. 499 ff. (m. Anm. Carl Hermann Ule)
9. Die Demokratie des Grundgesetzes als "streitbare Demokratie"
- Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung
vgl. dazu Christoph Gusy, Die "freiheitlich-demokratische Grundordnung" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 105 (1980), S. 279 ff.; sowie Jürgen Be-
90
cker, Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR
Band 7, 1992, § 167 S. 309 - 360. Peter Badura, Legitimation des Verfassungsschutzes
heute, in: Verfassungsschutz: Bestandsaufnahme und Perspektiven (hrsgg. von BMI), 1.
Aufl. 1998, S. 13 ff.; s. dazu auch Wolfgang Löwer, Welche Anforderungen stellen der
verfassungsrechtliche Status der Parteien und der Abgeordneten an die Arbeit des Verfassungsschutzes und den jährlichen Verfassungsschutzbericht?, in: Verfassungsschutz,
a.a.O., S. 240 ff. sowie ders. Wehrhafte Demokratie, in: Hillgruber/Waldhoff (Hrsg.), 60
Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2012, S. 65-86.
- Historische Herkunft
S. Becker, a.a.O., Rn. 4 – 19; der wirkungsmächtige Vorschlag aus dem Exil: Karl Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights, in: The American Political Science Review 31 (1937), S. 417 ff., 638 ff: Wider die suizidalen Tendenzen, die der toleranten Demokratie inhärend sind.
Gab es eine solche suizidale Tendenz in Weimar? War die WRV wehrlos gegen die Feinde der Freiheit? Eigentlich nicht: RVereinsG → Verbot wegen Strafgesetzverstößen (Parteien waren Vereine!); die Vorschrift ist auch genutzt worden. Republikschutzgesetze
(Reich und Länder); i.E. faktisch wenig wirksame präsidentielle Notverordnungen. Immerhin: 1923 war NSDAP reichsweit verboten worden. Die Verbote waren deshalb nicht
besonders effektiv, weil die Parlamentsmandate der verbotenen Parteien nicht mit dem
Verbot wegfielen, sie konnten ihr verfassungsfeindliches Spiel also fortsetzen; das
BVerfG hat die Frage in Sachen SRP und KPD (deshalb?) anders entschieden.
Das eigentliche Problem lag im legalen Weg zur Macht, wie Hitlers Legalitätseid im
Reichwehrprozess v. 25 Septmeber 1930 zeigt.
„Die nationalistische Bewegung wird in diesem Staate mit den verfassungsmäßigen
Mitteln das Ziel zu erreichen suchen. Die Verfassung schreibt uns nur die Mittel
vor, nicht aber das Ziel. Wir werden auf diesem verfassungsmäßigem weg die ausschlaggebende Mehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften zu erlangen suchen,
um in dem Augenblick, wo uns das gelingt, den Staat in die Form zu gießen, die unseren Idealen entspricht.“ – Die „Ideale“ hat die Welt dann kennengelernt.
Gegen diese Form des legalen Machtgewinns über die Mehrheit hat sich Weimar nicht
gestellt; bei massenhaftem Erfolg ist das auch schwierig. Es hat auf exekutiver Ebene in
den Ländern kein homogener politischer Verbots- und Verbotsdurchsetzungswille bestanden.
91
- Ambivalenz des Institus der wehrhaften Demokratie
Problematik des Diktums: keine Freiheit für die Feinde der Freiheit. Es sei z.B. an den
Text von Thomas Mann erinnert „Über akademische Freiheit“ (jetzt in: Thomas Mann,
Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 19.1: Essays VI 1945-1950, 2009, S.
132-134 – lesen!)
- Normative Ansatzpunkte im Grundgesetz: Art. 10 Abs. 2 Satz 2, 11 Abs. 2, 18, 21 Abs.
2, 73 Nr. 10b, 87a Abs. 4 Satz 1, 91 sowie in etwas verdeckterer Formulierung: Art. 9
Abs. 2, 98 Abs. 2 Satz 1; siehe auch Art. 20 Abs. 4 GG.
- Einfachrechtlich: § 33 Abs. 1 S. 2 BeamtStG; § 95 Abs. 2 StGB; § 15 VersG, BVerfSchG (einschließlich Trennungsgebot zur Polizei)
- Inhalt
- - s. das SRP-Urteil BVerfGE 2, 1 (Leitsatz 2); BVerfGE 5, 85 – KPD-Verbot; Sie müssen
die Definition nicht auswendig lernen, sie steht in § 95 Abs. 2 StGB (vom BVerfG abgeschrieben!).
- Einzelne Sachbereiche
- - Parteiverbot: Art. 21 Abs. 2, s. dazu BVerfGE 2, 1: Sozialistische Reichspartei sowie
BVerfGE 5, 85: KPD; zum sog. Parteienprivileg - bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gilt auch eine verfassungsfeindliche Partei als erlaubt und muss deshalb
„ungestört und ungehindert agieren dürfen“ - s. BVerfGE 39, 334 (357). Das bedeutet
nicht, dass eine Partei im politischen Prozess nicht als verfassungsfeindlich bezeichnet
werden dürfte, s. BVerfGE 40, 287 - Verfassungsschutzbericht des BMI; das bedeutet
andererseits aber auch nicht, dass verfassungsfeindliche Parteien etwa bei der Wahlwerbung im Rundfunk behindert werden dürften, s. OVG Hamburg, NJW 1994, 69 (70); zur
(zulässigen) Observierung einer im Verdacht der Verfassungswidrigkeit stehenden Partei
durch Verfassungsschutz, s. VGH München, NJW 1994, S. 748 ff. Zum Ganzen s. etwa
die Kommentierung bei Philipp Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art.
21 Rn. 72 ff.
- - Zum Parteiverbotsverfahren (verfassungsprozessual) Hans H. Klein, in: Maunz/Dürig,
GG Art. 21 Rn. 536 ff.; BVerfGE 107, 339 – NPD zum Fairnessgebot im Verbotsverfahren.
92
- - Vereinsverbot: Art. 9 Abs. 2 i.V.m. VereinsG vgl. z.B. BVerwGE 61, 218 – Wehrsportgruppe Hoffman; BVerwGE 80, 299 - Hell's Angels; VGH München, NJW 1990, 62 "W.A." Motorradclub; VGH München, NJW 1990, 61 - Motorradclub "Gremium";
BVerfGE 80, 244 - zum Vereinsverbotsverfahren; zum Vereinsverbot s. zusammenfassend Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 9, Rn. 122 a.E., zur Statistik dort S. 842. Reichweite: Auch religiöse Vereine und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften? Für partiale Verbände (also z.B. den Jesuitenorden) war die Verbotsfähigkeit nie umstritten; für Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gab es
bis 2001 im Vereinsgesetz eine Privilegierung (damit niemand hätte auf die Idee kommen können die „Heilige Römische Katholische Kirche“ in Deutschland zu verbieten).
2001 ist das Vereinsrecht geändert worden. Ist es verfassungsgemäß, Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften nicht zu privilegieren? Im Ergebnis ja, s. das Verbot
des Kalifatstaates und seiner Nebenorganisationen; Hinw. bei Wolfgang Löwer, in: von
Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 9 Rn. 45.
Bedeutung des: sind verboten; gleichwohl ist konstitutiver behördlicher Feststellungsanspruch als Allgemeinverfügung erforderlich.
Ermessen? Opportunitätsermessen ist insofern anzunehmen, als es klüger sein kann, die
Organisation unterwandert zu kontrollieren als zu verbieten (nicht unstr.).
Rechtsfolge: Untergang des Vereins als Rechtssubjekt; Vermögenseinziehung, Neugründungsverbot mit vereinfachtem Verbotsverfahren und strafrechtlichen Konsequenzen.
Territoriale Schranken? Der ausländische Trägerverein in Kopenhagen strahlt rechtsextremistische Propaganda in das Inland hinein. Verbot nicht des Vereins, sondern der konkreten Tätigkeit.
- - Verwirkung, Art. 18 GG
s. dazu BVerfGE 38, 23: Das Verfahren war gegen den Verleger der National- und Soldatenzeitung Frey gerichtet (und blieb mangels Substantiierung erfolglos).
- - Beamtenrecht: s. jetzt § 33 Abs. 1 S. 2 BeamtStG; zum Thema „Radikale im öffentlichen Dienst“ s. BVerfGE 39, 334 und dazu jetzt (abweichend) EGMR vom 26. September 1993, NJW 1996, S. 375 - Fall Vogt: Es handelt sich um eine 10 : 9 Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die in vieler Hinsicht kaum
nachvollziehbar ist, s. insbesondere auch die abweichende Meinung des Richters Jambrek, a.a.O., S. 379 - 381. Lesen Sie die Entscheidung!
93
- - Bundesrechtsanwaltsordnung: § 7 Nr. 6 BRAO, dazu BGHZ 77, 331 einerseits und
BVerfGE 63, 266 andererseits
- - Politisches Strafrecht: BVerfGE 47, 130 – KBW; § 129 und § 129 StGB
- - Brief-, Post- und Fernmeldekontrolle: Lesen Sie das sog. G-10-Gesetz (Sartorius I Nr.
7); s. dazu BVerfGE 30, 1 – parlamentarische Kontrollkommission statt richterliche
Kontrolle, Grenzen der Verfassungsänderung; OVG Münster, DVBl. 1983, 1017 - Fall
Wallraff; BVerwG JZ 1991, 511 m. Anm. Gusy - RAF-Verteidiger; BVerfGE 67, 157 Strategische Kontrolle; ablehnend dazu Frankenberg, KJ 17 (1984) 437 f.; zustimmend
Klaus Arndt, NJW 1985, 107 ff.; zum Ganzen s. Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6.
Aufl. 2012, Art. 10 Rn. 62 ff.; s. § 8 Abs. 2 BVerfSchG; BVerfGE 125, 260; dazu Löwer
a.a.O. Rn. 62.
94
III. Das bundesstaatliche Prinzip
1. Struktur des Bundesstaates
Erster gedanklicher Schritt:
a) Sie wollen ein bundesstaatliches System (= Bund + Länder) gestalten und die Staatsaufgaben auf beide verteilen.
I. Sie kennen die Staatsaufgaben A – K (= Enumeration) und wissen, daneben gibt es einen großen Rest von Aufgaben, den Sie enumerativ nicht erfassen (= Residualkompetenz).
Damit sind die beiden Verteilungsprinzipien benannt, die zu einer lückenlosen Kompetenzaufteilung führen:
- Enumeration
- Residualkompetenz
Klar ist, Kompetenzen müssen lückenlos verteilt sein, sonst wäre der Bundesstaat im Vergleich mit dem Einheitsstaat in seiner Aufgabenerfüllungsfähigkeit behindert. Staatsaufgaben sind keine vorfindlichen Sachbereiche, die abschließend beschreibbar wären, es
sind solche Aufgaben, die der Staat aufgreift, alt, neu, wieder, erstmals usw; es gibt keinen Kanon von Staatsaufgaben. Für das Verhältnis von Enumeration und Residualkompetenz heißt das:
Eine Ebene muss mit enumerierter Zuständigkeit ausgestattet sein, die andere erledigt
den Rest des nicht Enumerierten.
Das ist keine Aussage über die quantitative Größe der Reichweite der Enumeration und
des Residualen. Trotz Enumeration kann das Schwergewicht bei der damit ausgestatteten Ebene liegen, wenn nämlich alles Wesentliche und politisch Interessante auf den
Zentralstaat kraft Enumeration übertragen ist.
Nicht vorgegeben ist, welche Ebene wie ausgestattet wird: Der Bund kann Empfänger
der Residualkompetenz sein, der aber bestimmte enumerative Bereiche der Länder nicht
durch seine Gesetzgebung stören darf (so grosso modo Kanada). Der Bund kann Empfänger der Enumeration sein und den Ländern kommt die Residualkompetenz zu (so das
Grundgesetz).
b) Zweiter gedanklicher Schritt:
In Ansehung der Staatsaufgaben stellen Sie fest: Ich brauche dafür Regeln (= Gesetzgebung) (Funktion I). Ich muss die Regeln vollziehen (= Verwaltung) (Funktion II). Ich
muss für die Regeln richterlichen Streitaustrag bereitstellen (= Judikative) (Funktion III).
95
Zwei Lösungsmöglichkeiten:
Sie weisen eine benannte Aufgabe A dem Bund zu mit den Funktionen I, II, III (so das
US-amerikanische System); die Staatsaufgabe wird vom Bund komplett erledigt; er setzt
die Regeln, vollzieht sie und spricht darüber Recht.
Sie weisen die benannte Aufgabe A mit Beschränkung auf Funktion I oder II oder III
dem Bund zu; also der Bund ist für Aufgabe A z.B. nur zur Gesetzgebung befugt, während die Länder für die Verwaltung dieser Aufgabe zuständig sind. Die Aufgabenverteilung findet in den Säulen der Gewaltenteilung statt. Denkbar z.B:
Gesetzgebung
Verwaltung
Rechtsprechung
Schwerpunkt der
Schwerpunkt der
Quantitativer
Gesetzgebung beim
Verwaltung bei
Schwerpunkt der
Bund
den Ländern
Rspr. bei den
Länder
Bund
Ländern
2. Die Grundaussagen des Grundgesetzes
Art. 30 als Generalnorm
Art. 70 ff. für die Gesetzgebung
Art. 83 ff. für die Verwaltung
Art. 95 u. 96 für die Gerichtsbarkeit
Enumeration (= Bund)
Residualkompetent (= Länder)
96
3. Gesetzgebungskompetenzen
Kernaussagen:
a) Art. 70 I → Länder, „… soweit nicht der Bund“
Art. 70 II → Kompetenzwanderungen sind nur in der Verfassung regelbar; KompetenzKompetenz (also die Kraft sich selbst eine Kompetenz zu verschaffen) hat nicht der einfache Gesetzgeber, sondern nur der Verfassunggesetzgeber
Art. 70 II → Kompetenzarten - konkurrierende
- ausschließliche
Gesetzgebungskompetenz
b) Ausschließliche Bundesgesetzgebung
Art. 71 → Ausschließlich der Bund
→ Mit Delegationsmöglichkeit auf die Länder „…, wenn“ (es denn der Bund so
will) (= „Das Nähere zum Verwaltungsverfahren regeln die Länder“ (als Beispiel)).
Art. 73 → Enumerierte Gegenstände der ausschließlichen Gesetzgebung = 14 Sachgebiete
c) Konkurrierende Gesetzgebung: Art. 72 i.V.m. Art. 74 GG
(1) Was heißt konkurrieren? → nachträglich ausschließende Gesetzgebung s. Art.
72: „solange und soweit“
Grundsätzlich keine Geltungskonkurrenz von Gesetzen des Bundes und der Länder,
sondern Konkurrenz in der Kompetenzinanspruchnahme; der Kompetenzinanspruchnahme durch den Bund kommt Sperrwirkung zu; s. aber seit der Föderalismusreform auch die Abweichungsgesetzgebung (dazu sogleich).
(2) 3 Typen
- Konkurrierende „Kernkompetenz“ des Bundes, Nr. 1-3, 6, 9, 10, 12, 14, 16-19,
21, 23, 24, 27 (= alles, was nicht Bedarfs- oder Abweichungskompetenz ist).
- Konkurrierende Bedarfskompetenz, s. Aufzählung in Art. 72 Abs. 2 GG
- Abweichungskompetenz der Länder, s. Art. 72 Abs. 3 GG i.V.m. Arat. 74 Nrn.
28-33
- Rückgabe der vom Bund in Anspruch genommenen Kompetenz an die Länder, s.
Art. 72 Abs. 4 GG.
97
d) Grundregeln im Umgang mit Gesetzgebungskompetenzkonflikten zwischen Land und
Bund
aa) Verfahrensarten: Normenkontrolle, Bund-Länder-Streit, Richtervorlage, Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Nr. 2, Nr. 2a, Nr. 3; Art. 100; Art. 93 Nr. 4a GG)
bb) Methodisch: 1. Frage: Bietet der Katalog der Art. 73 und Art. 74 einen Ansatzpunkt für Bundeszuständigkeit?
Beispiel: Der Bund beschließt ein Gesetz mit dem er ein Antragsverfahren schafft,
in dessen Rahmen sich Schulen um Mittel für den Ausbau als Ganztagsschulen bewerben können. Ist dieses Gesetz verfassungsmäßig?
1. Blick: Art. 73 (-)
2. Blick: Art. 74? In der Gesetzgesbegründung steht, dass solche Schulen prioritär
gefördert werden sollen, die an sozialen Brennpunkten und in Stadtteilen mit hohem
Migrantenanteil errichtet werden sollen. Vielleicht Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG? S. zur
Auslegung des Kompetenztitels BVerfGE 97, 332 (341) - Kindergartengebühren;
22, 180 (212 f.) - Jugendhilfe; 108, 186 (214) – Altenpflegeausbildungsumlage. Oder Art. 104b Abs. 2 GG?
cc) Auslegung von Kompetenzvorschriften
- Auslegung der Entstehungsgeschichte einschließlich historischer Auslegung
- Teleologische Auslegung wenig aussagefähig
- Systematische Auslegung (im Beispiel: Schule ist Landeskernkompetenz, darf Art.
74 Abs. 1 Nr. 7 denn „ausdehnend“ ausgelegt werden?) BVerfG häufiger: Kompetenzvorschriften sind „strikt“ auszulegen.
- Grammatikalische (Wortlaut-)Auslegung: Unterschiedliche Ergiebigkeit; Kompetenznormen sind eher lapidar formuliert.
dd) Verhältnis von Bundes- und Landesrecht
- Art. 71, 72 Abs. 1 als Kollisionsregel eines kompetentiellen Vorrangs: Keine echten Konkurrenzen; deshalb Sperrwirkung der Kompetenzinanspruchnahme [bei
konkurrierender Gesetzgebungskompetenz (Art. 72 Abs. 1 GG) oder Sperrwirkung
wegen ausschließender Zuweisung an den Bund (Art. 73 GG)]. Zur kompetentiellen
Sperrwirkung (bei Verstoß: Nichtigkeit des Gesetzes!) s. BVerfGE 36, 342 (364);
BayObLG NJW 1986, 1002 – Unberechtigtes Parken in Fußgängerzonen; s. dazu
auch Pietzcker, Zuständigkeitsordnung und Kollisionsrecht im Bundesstaat, HStR
(3. Aufl.) VI, § 134.
- Art. 31 GG als Norm des Geltungsvorranges des Bundesrechts
98
Beispiel: Potentieller Konflikt, z.B. zwischen Kreditwesengesetz (des Bundes) und Landessparkassenrecht → Fall für Art. 31 GG bei Normwidersprüchen oder oder wenn es um die Geltung von Landesverfassungsrecht im Widerspruch zu Art. 28 Abs. 1 GG oder nach Maßgabe von Art. 142 GG geht;
s. BVerfGE 36, 342 (365 f.)
ee) Ergänzung des Kompetenzkataloges (nur wenn keine ausdrückliche Kompetenz
eingreift)
- kraft Natur der Sache:
(= begriffsnotwendig beim Bund, weil die Länder es zwingend nicht sinnvoll können); Häufig liest man: Schlussfolgerungen aus der Natur der Sache müssen begriffsnotwendig sein und eine bestimmte Lösung unter Ausschluss anderer Möglichkeiten sachgerechter Lösung zwingend fordern; s. dazu BVerfGE 3, 407 (422); s.
auch E 11, 89 (99); 12, 205 (251 f.); 26, 246 (256).
Immer genannte Beispiele sind die Bestimmung des Sitzes der Bundesregierung
(BVerfGE 3, 407 (422)), eines Nationalfeiertags (BayVerfGH NJW 1982, 2656
(2657)) und die Bestimmung der Bundessymbole. Dafür, dass dazu ein überregionales Rundfunkprogramm für die nationale Repräsentation nach innen gehört s. BVerfGE 12, 205 (242); s. auch die Rechtschreibreform: verbindliche Schreibung in Behörden und Schulen.
- kraft Sachzusammenhang
Der Gesetzgeber greift von einer dem Bund ausdrücklich zugewiesenen Materie in
eine anderweitige, ihm nicht ausdrücklich zugewiesene Materie über, wobei das
Übergreifen unerlässlich ist, weil anderenfalls die dem Bund ausdrücklich zugewiesene Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann; grundlegend BVerfGE
3, 407 (421, 427 f.); weiter BVerfGE 12, 205 (237, 240 f.) - Fernseh-Urteil (die
kompetenzrechtlich vielleicht belangvollste Entscheidung des BVerfG); beachtlich
ist, dass die Anknüpfung an eine geschriebene Zuständigkeit möglich sein muss.
S. für solche Fälle, BVerfGE 3, 407 (421); 22, 180 (213); 11, 192 (199); negative
Fälle der Verneinung der Sachzusammenhangskompetenz: BVerfGE 15, 1 (20 f.);
12, 205 (237 f.); 4, 74 (83 f.).
- kraft Annexkompetenz
Damit werden Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes von ausdrücklich ihm zugewiesenen Kompetenzmaterien auf Stadien der Vorbereitung und Durchführung erweitert. Klassisches Beispiel: Art. 73 Nr. 6 a.F. gab auch die Kompetenz für die Bahn-
99
polizei, BVerfGE 8, 143 (149); Art. 73 Nr. 1 gibt eine Annexkompetenz für Bundeswehrhochschulen.
Unterscheidbarkeit Sachzusammenhang und Annexkompetenz? Def. bei Haratsch,
in : Sodan, GG, 2. Aufl. 2011 Rn. 17 und 18.
4. Verwaltungskompetenzen
a) Grundregel: Art. 83 GG
b) Vier Typen
- Landeseigener Vollzug von Landesrecht (vom GG vorausgesetzt)
- Landeseigener Vollzug von Bundesrecht (in Art. 84 GG beschrieben)
- Auftragsverwaltung der Länder (in Art. 85 GG als Typus geregelt)
- - entweder obligatorische Auftragsverwaltung
= im GG geregelt
= Art. 90 Abs. 2, 104a Abs. 3 Satz 2, 108 Abs. 3 GG
- - oder fakultative Auftragsverwaltung
= Auftragsverwaltung kann durch Gesetz angeordnet werden (im GG ermächtigt)
= Art. 87b Abs. 2, 87c, 87d Abs. 2, 89 Abs. 2 Satz 3 und 4, 120a
- Bundeseigene Verwaltung, Art. 86
- - entweder obligatorische Bundeseigenverwaltung
= im GG geregelt
= Art. 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2; 87b Abs. 1; 87d Abs. 1 Satz 1; 87e Abs. 1 Satz 1; 87
f Abs. 2 und 3; 88; 89 Abs. 2 Satz 1; 108 Abs. 1; 130 GG
- - oder fakultative Bundesverwaltung
= im GG ermächtigt, Bundesverwaltung kann durch Gesetz angeordnet werden
= Art. 87 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3; 87b Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 1; 89 Abs. 2 Satz 2;
90 Abs. 3; 108 Abs. 4 Satz 1; 120a Abs. 1 Satz 1.
Frage: Wie kann Ihnen das alles als praktischer Fall begegnen?
Fall 1: Der Bund erfährt, dass in NRW auch solche EU-Bürger BAföG erhalten, die ihren
Wohnsitz im EU-Ausland beibehalten. Die für die Bundesausbildungsförderung zuständige
Bundesministerin weist die nordrhein-westfälischen Vollzugsbehörden an, die Leistung von
BAföG in solchen Fällen zu unterlassen.
100
Handelt der Bund rechtmäßig? Kann das Land dies vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen?
Welcher Verwaltungstyp liegt vor? → Art. 85 Abs. 3 i.V.m. Art. 104 a Abs. 3 GG im
Grundsatz, s. aber Art. 85 Abs. 3 Satz 2 GG; Verfahren: Bund-Länder-Streit; Art. 93 Abs. 1
Nr. 3 GG.
Fall 2: Das Land NRW verweigert dem Kohlekraftwerk Datteln wegen immissionsschutzrechtlicher Bedenken die Betriebserlaubnis. Der Bundesumweltminister weist das Ministerium für Umwelt etc. in NRW an, die Betriebserlaubnis zu erteilen.
Rechtmäßig? Verfahren?
Verwaltungstyp: BImSchG → Art. 84 GG
- Art. 84 Abs. 2? → nein, Einzelweisung erteilt
- Art. 84 Abs. 5? → nein, BImSchG kein Fall von Absatz 5
- Art. 84 Abs. 4? → Verfahren nicht eingehalten.
Verfahren: Bund-Länder-Streit, Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG
Fall 3: Der Bundesumweltminister ist unzufrieden mit der Art und Weise der Reparatur an
einem Atomkraftwerk. Er weist den Betreiber an, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen und
ihm zu berichten.
Rechtmäßig? Verfahren?
Verwaltungstyp: Art. 85 i.V.m. Art. 87c GG
Eingriff in die Verwaltungskompetenz der Länder durch bundeseigenen Erlass eines Verwaltungsaktes gegenüber dem Betreiber.
Was heißt Bundesauftragsverwaltung?
Unterscheidung in Sachkompetenz (des Bundes) und Wahrnehmungskompetenz (des Landes). Einzelweisung an Land ja, aber das Land setzt die Weisung gegenüber dem Betreiber
um (und muss das tun).
Fall 4a: Der Bund beobachtet Missbrauch im Transplantationsrecht. Er beschließt ein Bundesamt zur Sicherung der Verteilungsgerechtigkeit der Organe zur Transplantationen
(BASVerT). Der Bundesrat stimmt dem nicht zu.
Ist das BASVerT wirksam errichtet? Die NRW Landesregierung möchte dagegen klagen.
Art. 87 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Art. 74 Nr. 26; Bundesratszustimmung nicht erforderlich; Art.
93 Abs. 1 Nr. 2 GG.
101
Fall 4b: In einer Novelle zum BASVerTG beschließt der Bundestag, dass das BASVerT in
jedem Bundesland eine Unterbehörde hat, die die Gesetzeszwecke vor Ort erledigen soll.
Der Bundestag stimmt der Novelle mit einfacher Mehrheit zu, während der Bundesrat nicht
zustimmt. Gleichwohl wird das Gesetz verkündet.
Die Landesregierung NRW will dagegen klagen.
Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG: Neue Aufgabe? Dringender Bedarf?
Wenn ja, Mehrheit der Mitglieder des Bundestages? Nein. Zustimmung Bundesrat? Nein.
5. Aufgabenverteilung für die Rechtsprechung
a) Prinzip der Fachgerichtsbarkeiten, s. Art. 95 und 96 GG
b) Gesetzgebungskompetenz für Gerichtsverfassung und Prozessrecht liegt beim Bund
(allerdings nicht für die Landesverfassungsgerichtsbarkeit → Teil der Staatsorganisation =
unentziehbares Hausgut der Länder); Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG
c) Exkurs: Gerichtsaufbau
- ordentliche Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte)
-- Amtsgericht (AG)
-- Landgericht (LG)
-- Oberlandesgericht (OLG)
-------------------------------- Bundesgerichtshof (BGH; Karlsruhe)
- Verwaltungsgerichtsbarkeit
-- Verwaltungsgericht (VG)
-- Oberverwaltungsgericht (OVG)
------------------------------------------ Bundesverwaltungsgericht (BVerwG; Leipzig)
- Finanzgerichtsbarkeit
-- Finanzgericht (FG)
--------------------------- Bundesfinanzhof (BFH; München)
102
- Arbeitsgerichtsbarkeit
-- Arbeitsgericht (ArbG)
-- Landesarbeitsgericht (LAG)
-------------------------------------- Bundesarbeitsgericht (BAG; Erfurt)
- Sozialgerichtsbarkeit
-- Sozialgericht (SG)
-- Landessozialgericht (LSG)
------------------------------------- Bundessozialgericht (BSG; Kassel)
d) Bundesstaatliche Grundregel
Bundesgerichte entscheiden nicht letztverbindlich über Landesrecht! S. ‚pars pro toto’: §
137 VwGO zu den zulässigen Revisionsgründen.
Für das Landesverwaltungsrecht (z.B. Polizei- und Ordnungsrecht, Kommualrecht) ist das
OVG NRW in Münster letztverbindlich zuständig – es sei denn, die Bundesverfassung wäre
entscheidungserheblich; s. etwa für das Kommunalrecht Art. 28 Abs. 2 GG oder die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG!).
Es gibt auch (verhältnismäßig schmales) Landeszivilrecht, das neben dem BGB fortgilt (s.
→ EGBGB) und auch eine Zone des Landesstrafrechts = letztverbindlich dafür zuständig
sind die Oberlandesgerichte.
Bayern hatte bis vor einigen Jahren für dieses Landeszivil- und Strafrecht (neben den Oberlandesgerichten München, Nürnberg, Bamberg) das BayObLG (das Bayerische Oberste
Landesgericht) in München; inzwischen aufgelöst, jetzt Zuständigkeit der Oberlandesgerichte; das BayObLG verdeutlichte die Letztzuständigkeit eines obersten Landesgerichts für
das Landesrecht.
e) Sonderfall Verfassungsgerichtsbarkeit
aa) Art. 93 GG → Bundesverfassungsgericht: Entscheidungsmaßstab: Exklusiv das Grundgesetz.
bb) Obligatorische subsidiäre Bundesverfassungsgerichtsbarkeit: Art. 93 Abs. 1 Nr. 4, Variante 3 GG: Ist das Landesorganstreitverfahren defizitär (= Maßstab: Grundgesetz Art. 93
Abs. 1 Nr. 4 GG, nicht BVerfGG §§ 63 ff.!!), tritt das BVerfG ein.
103
(Fiktives) 1. Beispiel: Das (noch junge) Verfassungsgericht für Schleswig-Holstein weist
einen in Prozessstandschaft gestellten Organstreitantrag zurück, weil die Verfassung diese
(angeblich) nicht vorsehe.
Daraufhin wird das Bundesverfassungsgericht nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4, Variante 3 GG
angerufen. → Prozessstandschaft nur im BVerfGG geregelt und gerade nicht im Grundgesetz, was zulässig ist, wegen Art. 93 Abs. 3 GG. Maßstab für subsidiäre Zuständigkeit ist
Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG; da die Verfassung die Prozessstandschaft nicht kennt, ist der Antrag zum BVerfG unzulässig.
2. Beispiel: Ein Landesverfassungsgericht hält den Organstreitantrag einer politischen Partei für unzulässig, obwohl die Partei ihren Status verteidigt.
Daraufhin wird das BVerfG angerufen: Das Gericht wird den Antrag für zulässig halten:
Die politische Partei ist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG „anderer Beteiligter“, also Antragsbefugnis nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG begründet; dahinter darf das Landesverfassungsprozessrecht nicht zurück bleiben.
cc) Landesverfassungsgerichtsbarkeit
= Gesetze der Länder; Landesverfassungen als Ausdruck der Eigenstaatlichkeit der Länder
(Verfassungshoheit oder Verfassungsautonomie)
6. Mitwirkung der Länder im Gesetzgebungsverfahren
S. dazu Michael Anderheiden, Mitwirkung der Länder bei der Bundesgesetzgebung, in:
HStR VI (3. Aufl.) § 140.
a) Grundaussage des Art. 79 Abs. 3 GG
Fall: Mit verfassungsändernder Mehrheit wird beschlossen, statt des Bundesrates eine (echte) zweite Kammer nach dem Vorbild des Senats der USA einzurichten. Das Volk in den
Ländern soll je zwei Senatoren wählen.
Die im Bundesrat unterlegene Landesregierung des Landes A stellt dagegen einen Antrag
aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG (= abstrakte Normenkontrolle); die Neuregelung sei mit Art. 79
Abs. 3 GG nicht vereinbar; sie lasse die Landesstaatsvölker, aber nicht die Länder, an der
Bundesgesetzgebung mitwirken.
Der Einwand ist wohl unbegründet: s. Brun-Otto Bryde in: von Münch/Kunig, GGK II Art.
79 Rn. 33 m. N. sowie Anderheiden a.a.O. Rn. 22.
104
Frage: Was schützt Art. 79 Abs. 3 GG? Es muss eine substantielle Ländergesetzgebung und
eine substanzielle Länderbeteiligung an der Bundesgesetzgebung geben (Anderheiden
a.a.O. Rn. 22) – aber nicht zwingend die Beteiligung über den Bundesrat.
b) Der Bundesrat als Bundesorgan der Länder, vgl. Art. 50, 51 GG = Landesregierungenrat
- Spezifische Besonderheit des deutschen Bundesstaatsrechts, die aus unserer bundesstaatlichen Verfassung auch nicht in andere Verfassungen „exportiert“ worden ist – im Gegensatz
zu vielen anderen grundgesetzlichen Errungenschaften (z.B. die konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit nach dem Modell des Bundsverfassungsgerichtsgesetzes).
c) Ausgestaltung der Mitbestimmung
aa) Gesetzesinitiativrecht, Art. 76 Abs. 1 GG; Verfahren Art. 76 Abs. 3 GG; etwa 20% der
Gesetzesinitiativen stammen vom Bundesrat; Gesetzesinitiativen sind auch als politisches
„Destabilisierungselement“ im Parteienbundesstaat einsetzbar. („Mal testen, wie die Regierung zu ihrem eigenen Vorschlag steht, wenn wir ihn einbringen.“!)
bb) Beteiligung bei Vorlagen anderer Vorlageberechtigter: Art. 76 Abs. 2 GG. Vorlagen
der Bundesregierung sind dem Bundesrat zuzuleiten, Vorlagen aus der Mitte des Bundestages hingegen nicht. Umgehung der Bundesratsbeteiligung durch Einbringung von Regierungsvorlagen über die sie tragende Mehrheit im Bundestag? Wohl nicht, ist aber nicht unstreitig; s. Schmidt-Jortzig/Schürman, Bonner Kommentar, Art. 76 Rn. 260 ff.
cc) Beteiligung an der Gesetzesberatung im Bundestag
- Art. 43 Abs. 2 Satz 1 GG - Anwesenheit (auch in den Ausschüssen!),
- Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG – Rederecht (auch in den Ausschüssen!).
dd) Verfahren im Bundesrat;
- Beginn Art. 77 Abs. 1 Satz 2 GG,
- Ausschussbefassung, Plenarbefassung → s. Geschäftsordnung des Bundesrates (GOBR,
lesen!)
ee) Varianten der Mitwirkung des Bundesrates für das Zustandekommen von Gesetzen
aaa) Unterscheidung von Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen:
Fall: Das Land L hält ein Gesetz deshalb für verfassungswidrig, weil es auch Fragen der
schulischen Bildung betreffe. Unbeschadet der Frage, ob der Bund überhaupt gesetzgebungsbefugt sei, hätte das Gesetz wegen seiner Bedeutung für den Bildungsförderalismus
jedenfalls nur mit Zustimmung des Bundesrates zustande kommen können. Stimmt das Argument?
105
Nein, es ist methodisch nicht haltbar: Alle Gesetze sind Einspruchsgesetze, es sei denn im
Grundgesetz wird angeordnet, es komme nur mit Zustimmung des Bundesrates zu Stande.
Regel: Zustimmungsgesetze sind nur solche, die das Grundgesetz bestimmt. Es gibt keine
Zustimmung aus der Natur der Sache etc. (BVerfGE 105, 313 (349). Zustimmungsbefugnisse finden sich an vielen Stellen im Grundgesetz. Durch die Abweichungskompetenz hat
sich die Ausweitung der Zustimmung wegen Regelung von Verwaltungsverfahren und Behördenorganisation vermindert.
bbb) Unterschied Einspruchs- und Zustimmungsgesetze
Der Einspruch ist durch Kanzlermehrheit im Bundestag überwindbar, bei versagter Zustimmung ist das Gesetz gescheitert (zu Einzelheiten des Vermittlungsverfahrens s. später).
ccc) Die Varianten im Einzelnen
(1) Einspruchsgesetze (ohne Erforderlichkeitsprüfung), Bundesgesetze aus Art. 72
Abs. 1 GG unterliegen nicht der Zustimmung, mit Ausnahme der in Art. 74 Abs. 2
GG genannten Materien.
Der Bund ist also zur Gesetzgebung befugt aus Art. 71 oder Art. 72 Abs. 1 GG; eine
Zustimmungsbefugnis ist nicht gegeben (z.B. aus den Art. 83 ff. GG).
Art. 77 Abs. 3 GG beschreibt die Entscheidungsvarianten
- Kein Einspruch: Gesetz zu Stande gekommen.
- Anrufung des Vermittlungsausschusses, Art. 77 Abs. 2; Konsequenz für den Bundestag: Art. 77 Abs. 4 GG; Kanzlermehrheit/ gegebenenfalls 2/3-Mehrheit (sogar
qualifiziert).
- Alternativen: Einspruch kraft Mehrheit / kraft 2/3-Mehrheit der Mitglieder
Faktisch geringe Bedeutung der Vermittlungsausschuss-Variante bei Einspruchsgesetzen.
(2) Zustimmungsgesetze in der Situation der Art. 71, 74 und Art. 72 Abs. 1 GG als
Kompetenzübertragungsvoraussetzung
- Worauf bezieht sich die Zustimmung? Auf das Gesetz als Ganzes (h.M.), nicht nur
auf
die
zustimmungspflichtigen
Normen
(Mitverantwortungstheo-
rie/Einheitstheorie): BVerfGE 8, 274 (294); 55, 274 (319); vorsichtiger BVerfGE
105, 313 (339); aber str.; der Auslegungsstreit ist für die Befähigung der Blockadepolitik des Bundesrates essentiell!
Zur (grundsätzlich zulässigen) Teilung von Bundesgesetzen s. BVerfGE 77, 84
(103).
- Entscheidungsalternativen
106
- - Zustimmungsverweigerung: Kompetenz → Art. 78, das Gesetz ist gescheitert; s.
auch Art. 77 Abs. 2a) GG
- - Anrufung des Vermittlungsausschusses (auch durch Bundesregierung und Bundestag möglich!) s. GO VA;
s. Art. 77 Abs. 2
Variante 1: Der Vermittlungsausschuss (VA) schlägt Änderungen des Gesetzesbeschlusses vor: Bundestag → Art. 77 Abs. 2 Satz 5 GG mit Ratifikationslage für den Bundestag: „Friss oder stirb“; keine Änderungsbefugnis →
BVerfGE 112, 118 (139)
Stimmt der Bundestag zu = neuer Gesetzesbeschluss, Zuleitung an Bundesrat, der zustimmen kann, oder er verweigert die Zustimmung.
Variante 2: Der VA kann sich nicht einigen und macht keinen Kompromissvorschlag
→ Art. 77 Abs. 2a) GG; keine erneute Zuleitung an den Bundestag; sein Gesetzgebungsbeschluss ist der, der dem Vermittlungsverfahren (ohne Kompromissfindung) erfolglos zugrunde gelegen hat.
→ Bundesrat entscheidet (stimmt zu oder nicht).
(3) Bundesgesetze nach Art. 74 Abs. 1 i.V.m. Art. 72 Abs. 2 GG
Kompetenzausübungsvoraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG: Länder erhalten zusätzliches Gewicht im Verhandlungsprozess über Art. 93 Art. 1 Nr. 2a GG – s.
BVerfGE 106, 62 (135 ff.); 111, 10 (31); 111, 226 (269) und die Entscheidungsmöglichkeiten entweder aus (1) oder (2).
(4) Bundesgesetze und Art. 74 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 72 Abs. 3 GG
Gewichtssteigerung der Länder durch Abweichungsdrohung (was den Bund zu
Kompromissen „zwingt“) und die Handlungsmöglichkeiten aus (1) oder (2).
ddd) Grenzen des Vermittlungsverfahrens
- aus der Literatur: Christoph Möllers, „Vermittlungsausschuss und Vermittlungsverfahren“, Jura 2010, 401
- aus der Judikatur: BVerfGE 101, 297; 120, 56; 125, 104
7. Aufgabenverteilung in der Vertragsschlusskompetenz von Bund und Ländern bei
den auswärtigen Beziehungen
107
a) Grundlagen
aa) Kompetenzverteilungsnorm ist Art. 32 GG. Aber auch Art. 59 GG – an sich nur eine
Norm, die das Zustandekommen von völkerrechtlichen Verträgen regelt (4 Phasen: (1)
Aushandeln – häufig Bundesminister des Äußeren – mit „Paraphierung“ am Schluss; (2)
Vertragsschluss = Unterschrift in Vertretung für die BRD (an sich Bundespräsident, aber
delegiert an Bundesminister des Äußeren oder Bundeskanzler oder Fachminister) ; (3) Ratifikation durch Zustimmungsgesetz (Art. 59 GG); (4) Nach Ausfertigung des Ratifikationsgesetzes Vertragsschluss durch Austausch der Ratifikationsurkunden) -, hat eine kompetenzzuteilende Wirkung: Politische Verträge sowie solche, die sich auf die Gegenstände der
Bundesgesetzgebung beziehen, kann – trotz der völkerrechtlichen Vertragsschlusskompetenz der Länder aus Art. 32 Abs. 3 GG – nur der Bund schließen, weil sie nur durch Bundesgesetze ratifiziert werden können.
Frage: Was sind also politische Verträge? → Solche, die wesentlich und unmittelbar die
Existenz des Staates, seine territoriale Integrität, seine Unabhängigkeit oder seine Stellung
in der Staatengemeinschaft betreffen (s. BVerfGE 1, 372 (381 f.); 36, 1 (13 ff.); 40, 141
(164): 90, 286 (354); 104, 151 (194)).
Also: Verteidigungsbündnisse, Friedens- und Abrüstungsverträge und vergleichbar Existentielles.
Politische Verträge können die Länder ebenso wenig abschließen, wie Verträge, die sich
auf Gegenstände der Gesetzgebung des Bundes beziehen.
bb) Der Bund hat aber kein Monopol zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge (wohl
aber bei politischen Verträgen), wie Art. 32 Abs. 3 GG zeigt.
Beispiele:
(1) Die Landesregierung von NRW vereinbart mit den Niederlanden und Belgien, dass die
deutsche Polizei 30 km im Staatsgebiet der Niederlande und Belgien zur Nacheile bei der
Strafverfolgung berechtigt ist.
(2) Das Land NRW schließt mit seinen Grenznachbarn einen Vertrag, dem zufolge wechselseitig darauf verzichtet wird, für den grenzüberschreitenden Schulbesuch Kostenerstattung zu verlangen.
(3) Das Land NRW schließt mit Belgien einen Vertrag über den Austausch von Steuerdaten
nordrhein-westfälischer Steuerbürger ab.
Zu (1): Nach Art. 32 Abs. 3 GG unproblematisch; Polizeirecht = Landeszuständigkeit
108
Zu (2): Ebenso: Schulrecht ist „ausschließliche“ Landeskompetenz
Zu (3): Wohl unzulässig; Land hat keine Gesetzgebungskompetenz für das Steuerrecht!
Frage: Was wird aus dem Vertrag zu (1), wenn das Unionsrecht solche Nacheile-Befugnisse
im Rahmen des Schengen-Abkommens regelt? → Der Vertrag verliert bei Identität seine
Geltung durch eine in nationales Recht übersetzte lex-posterior in Umsetzung des Unionsrechtsaktes.
b) Die Schwierigkeiten im Umgang mit der Vertragsschlusskonkurrenz im Rahmen
von Art. 32 Abs. 3 GG
aa) Die Norm zeigt: Die Länder sind (partielle) Völkerrechtssubjekte; sie sind vertragsschlussfähig mit anderen Völkerrechtssubjekten, also mit Staaten und internationalen Organisationen.
bb) Notwendige Differenzierungen:
- Vertragsbereich der Länder (Art. 32 Abs. 3 GG) (aaa) und
- Vertragskompetenz des Bundes bei ausschließlicher Gesetzgebung der Länder (Art. 32
Abs. 1 GG ) (bbb)
aaa) Vertragsbereich der Länder → Art. 70 ff. GG
Typischer Weise (nach Rojahn in: von Münch/Kunig, GGK I, a.a.O. Art. 32 Rn. 32)
- Verwaltungszusammenarbeit im Grenzgebiet (s. oben Beispiel (1))
- Polizei- (s. oben Beispiel (1)), Jagd- und Fischereiwesen
- Wasserwirtschaft, Wasserkraftwerke und Deiche
- Verkehr, Brücken- und Straßenbau
- Umwelt- und Naturschutz
- Wissenschaft, Bildung und Kultur
- Gesundheitswesen
- Steuern (m.E. zweifelhaft); (materielles Steuerrecht und Doppelbesteuerungs-Abkommen
(DBA) sind längst durch den Bund geregelt).
Kompetenziell ausdifferenziert:
- Ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes Art. 71 GG
→ Grundsätzlich kein Vertragsschluss, es sei denn der Bund ermächtig das Land zur Gesetzgebung, s. Art. 71 „ … wenn und soweit“.
Beispiel: Bayern verabredet mit der Schweiz, dass deutsche respektive Schweizer Antiquitäten mit einem Handelswert über 500.000 € in das jeweilige Gebiet wechselseitig verbracht
109
werden, wenn der Erwerb zuvor der je zuständigen Stelle gemeldet worden ist. Der Bund
hat Bedenken wegen Art. 73 Abs. 1 Nr. 5a GG, hält die Regelung aber für sinnvoll und
stimmt ihr deshalb nach Art. 32 Abs. 3 GG zu.
Frage: Ist der Vertrag wirksam? → Nein, die Zustimmung vermag den Kompetenzmangel
nicht zu heilen (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5a GG = ausschließliche Bundeskompetenz) (s. Rojahn,
a.a.O. Rn. 32 m. Fn. 201).
- Konkurrierende Gesetzgebungskompetenz (Art. 72 i.V.m. Art. 74 GG)
Vertragsschlusskompetenz, wenn der Bund noch keine Regelung getroffen hat. Auch im
Rahmen von Art. 80 Abs. 1 GG, wenn die Länder Delegationsadressaten der VerordnungsErmächtigung sind, besteht die Vertragsschlusskompetenz der Länder. Beachten Sie aber
das Zustimmungserfordernis zugunsten der Bundesregierung = „Es kann nichts passieren“,
der Bund hält das Heft der Außenpolitik in der Hand. Erweiterung der Abschlusskompetenz
neuerdings durch die Abweichungskompetenz nach Art. 72 Abs. 3 GG; in deren Rahmen
können auch Verträge geschaffen werden (z.B: in den Alpenländern zum Jagdrecht in den
Alpen, indem grenzüberschreitende Jagdbezirke geschaffen werden.)
Frage: Was ist mit dem geschlossenen Vertrag (Bundesrecht aus Art. 74 GG „stört“
kompetentiell beim Abschluss nicht), wenn der Bund später seine Kompetenz ausübt? (Bedenken Sie: Bei allen völkerrechtlichen Verträgen haben Sie zwei Bindungen: dem Vertragspartner gegenüber völkerrechtlich, dem Bürger gegenüber innerstaatlich durch den Anwendungsbefehl des Ratifikationsgesetzes!)
Alternativen:
- Der Vertrag bleibt völkerrechtlich wirksam
- Der Vertrag wird „Opfer“ von Art. 72 resp. Art. 31 GG
Richtig ist die Lösung über Art. 72 Abs. 1 /Art. 31 GG.
- Ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder
Bedenken Sie: Auch jetzt gilt die Zustimmung der Bundesregierung!
Frage: Was ist mit dem Vertragsschluss, wenn die Zustimmung fehlt? → Art. 46 WVK Evidenzvorbehalt: fehlende Zustimmung = offenkundiger Mangel; oder: Vertrag ultra vires
und deshalb nichtig; Land ist nur partielles Völkerrechtssubjekt (die Lösung ist nicht unstr.,
s. Rojahn, a.a.O., Rn. 40).
110
bbb) Ist der Bund auch im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz der
Länder konkurrierend zuständig? Oder sind die Länder dafür allein zuständig?
→ Zentralistische Lösung v. föderalistische Lösung (süddeutsche Lösung)
- Zentralistisch: Der Bund darf alles: Vertrag abschließen, ihn transformieren und vollziehen wegen Art. 73 Abs. 1 Nr. 1, Art. 32 Abs. 1, Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG
- Föderalistische Lösung: Der Bund darf nichts!
- Norddeutsche Lösung: Der Bund darf Vertrag abschließen, aber sonst nichts.
Richtig zu sein scheint mir, dem Bund die Abschlusskompetenz nur dann zuzugestehen,
wenn der Bund zuvor das Einverständnis der innerstaatlich zum Vollzug verpflichteten
Länder eingeholt hat. Die zentralistische Auffassung kann nicht uneingeschränkt richtig
sein. (s. Rojahn, a.a.O. Art. 32 Rn. 38 ff)
→ Lösung in der Praxis: Lindauer Abkommen von 23./25. 10 und 14.11.1957 (bei Rojahn
S. 2045) Das Abkommen ist kein Vertrag und nicht rechtlich bindend! Warum nicht? →
Kompetenzen sind unverrückbar und unverzichtbar; ein Vertrag darüber ist nicht möglich.
8. Eine Regelungslücke im Grundgesetz: Verträge der Länder mit dem Bund und Verträge der Gliedstaaten untereinander
s. dazu Walter Rudolf, HStR VI (3. Aufl.) Kooperation im Bundesstaat, § 141 Rn. 54 ff.
a) Staatsverträge sind in beiden Verhältnissen möglich; ebenso Verwaltungsabkommen (=
Gegenstand solcher der Gesetzesvollzug)
b) Sie werden aber nicht Kraft Völkerrechtssubjektivität abgeschlossen, sondern im Staatsrechtsverband von Bund und Ländern.
c) Staatsverträge können nur mit parlamentarischer Zustimmung abgeschlossen werden (=
Parlamentsvorbehalt)
d) Zuständigkeit zum Abschluss: Regierungschefs kraft Außenvertretungskompetenz oder
Landesregierung, s. Art. 57 Abs. 1 LV NRW oder delegiert auf Fachminister (in Bremen
unmittelbar kraft der Regelung in der LV: Art. 120 S. 2 BremVerf)
e) Praktisches Beispiel: Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung
für Hochschulzulassung vom 05. Juni 2008.
111
9. Kompetenzverteilung bei gesetzesfreier Verwaltung
Fall: Denken Sie sich an den Beginn der 60er Jahre. Es gibt keine Satelliten, nur terrestrischen Funkverkehr. Das Giga-Hertz-Band ist noch nicht erschlossen, UMTS noch gar nicht
denkbar. Es gibt die ARD für Rundfunk und Fernsehen und sonst nichts.
Immerhin würde das Frequenzband einen zweiten Fernsehkanal hergeben. In einer Nacht
und Nebelaktion wird durch notariellen Vertrag die Deutschland-Fernseh GmbH gegründet
(Kapitalgeber der GmbH ist die Bundesrepublik, in der Gesellschaft organschaftlich vertreten durch die Bundesregierung).
Die Länder bestreiten dem Bund die Kompetenz so zu handeln. Sie rufen das Verfassungsgericht an. Statthafte Verfahrensart?
Leitentscheidung BVerfGE 12, 205
a) Der Bund macht dann eine Verwaltungskompetenz für sich geltend, wenn die Veranstaltung von Rundfunk und Fernsehen öffentliche Verwaltung ist.
Ja → Rundfunk und Fernsehen ist öffentliche Aufgabe, wenn der Staat sich ihrer annimmt
(s. Rundfunkanstalten; Rundfunkgesetze der Länder!)
b) Gesetzgebungskompetenz für den Rundfunk? → Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 (früher: Fernmeldewesen) Auslegung der Vorschrift: Sendetechnik, Übertragung ja, Programmverantwortung und Produktion nicht.
c) Verwaltungskompetenz: Art. 87 Abs. 1 GG a.F. → danach Post- und Fernmeldewesen:
Die Aufgabe würde durch die Deutsche Bundespost als Anstalt wahrgenommen, aber äußerste Grenze Gesetzgebungskompetenz (s.b). Art. 87 Abs. 1 GG a.F. trägt nicht, weil dem
Bund die Gesetzgebungskompetenz fehlt.
d) Einwand: Aber es geht doch gar nicht um Gesetzesvollzug, sondern um gesetzesfreie
Verwaltung; also kann der Bund doch machen, was er will? Gegebenenfalls könnten auch
die Länder machen, was sie wollen!
→ Nein: „Verbot der Doppelkompetenz“; Art. 30 GG gilt für gesetzesakzessorische und
gesetzesfreie Verwaltung, soweit nicht Art. 83 ff. GG dem Bund einen Kompetenztitel geben.
Da der Bund keinen Kompetenztitel für die Veranstaltung von Rundfunk und Fernsehen
nachweisen kann, war die Gründung der Deutschland-Fernseh GmbH verfassungswidrig
und damit der Weg für das ZDF als gemeinsame Länderanstalt frei.
112
10. Bundestreue
a) Verbreitete Einsicht in die Notwendigkeit, im bündischen Verhältnis eine Rücksichtnahmeregel zu haben: USA federal comity, Schweiz freundeidgenössische Gesinnung; die
Pflicht wirkt stets wechselseitig.
- Sie ist überall ungeschriebenes Verfassungsrecht.
b) Inhalt: Treue halten und sich verständigen, Zusammenwirken im Sinne der Festigung
und Wahrung des gemeinsamen Bundesinteresses als föderative Grundpflicht des Bundes
und der Glieder (BVerfGE 1, 292 (315)).
Außerdem: Bund und Länder werden wechselseitig verpflichtet.
Fall: Das Bundesland A erhebt einen Normenkontrollantrag, weil das Bundesland B ein
verfassungswidriges Landesgesetz verkündet habe.
B sagt, der Antrag sei schon deshalb unzulässig, weil er gegen die Bundestreue verstoße. So
etwas tue man nicht. Das Argument trägt nicht, weil das Grundgesetz die Normenkontrolle
gegen Landesrecht auf Antrag einer Landesregierung ausdrücklich vorsieht. Allenfalls kein
Rechtsschutzbedürfnis, wenn das angegriffene Gesetz das angreifende Land in keiner Weise
berührt oder angeht (aber sehr zw.).
c) Voraussetzungen
- Die Bundestreue ist rein akzessorisch; sie wirkt nicht selbst rechtsverhältnisbegründend,
sondern sie wirkt kompetenzausübungslimitierend innerhalb eines verfassungsrechtlichen
Bund-Länder-Rechtsverhältnisses.
Prozessual: Sie können einen Bund-Länder-Streit nie nur auf die Verletzung der Bundestreue stützten; das wäre prozessual unzulässig.
- Die Bundestreue begründet deshalb auch keine Handlungsermächtigung, sie ist nicht
Kompetenztitel; sie ist nur Kompetenzausübungsschranke.
- Die Bundestreue ist subsidiär zu den expliziten Kompetenznormen.
- Die Bundestreue ist objektiv-rechtliches Prinzip; sie setzt keine Vorwerfbarkeit etc. voraus.
d) Positive Rechtpflichten
(s. Isensee, a.a.O., Rn. 167)
- z.B. Unbeachtlichkeit obstruktiven Verhaltens
113
- Ausschluss des tu quoque-Einwandes
- Rücksichtnahme auf Bundesaußenpolitik, wenn Land selbst auch anderen Völkerrechtssubjekten gegenüber Politik macht.
s. dazu Josef Isensee, in: HBStR VI (3. Aufl.), Idee und Gestalt des Föderalismus im
Grundgesetz, § 126 Rn. 160 ff.; grundlegend Rudolf Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat (1916), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2.
Aufl. 1968, S. 39 ff.
11. Zusammenfassende Bemerkungen zum Bundesstaatsprinzip / Zusammenfassung
a) Grundbegriffe
Konzentration – Dekonzentration
Zentralisation – Dezentralisation
Föderalismus – Zentralismus
Einheitsstaat – Bundesstaat – Staatenbund
Unitarismus - Föderalismus
b) Das Problem der Qualifikation der EU
c) Souveränität im Bundesstaat
Gesamtstaat – Oberstaat – Gliedstaaten
d) Geschichte der Bundesstaatlichkeit in Deutschland
Lit. : Hans Meier, Der Föderalismus – Ursprünge und Wandlungen, AöR 105
(1990), S. 213 ff. (lesen!)
e) Rechtfertigung des Bundesstaates
-
Bundesstaatlichkeit und Gewaltenteilung
-
Bundesstaatlichkeit als Entscheidungsverfahren für die bessere Lösung
(nicht: competitive conception of federalism)
-
Bundesstaatlichkeit als Element der gesamtdeutschen Verfassung (Parteienbundesstaatlichkeit und Bundesrat)
f) Bundesstaatlichkeit und Europäische Union
114
g) Das System der Kompetenzausscheidung
Art. 30, Art. 70 ff., Art. 83 ff, Art. 95, 96 GG
12. Anhang: Kommunale Selbstverwaltung
a) Art. 28 Abs. 2 GG: Gebietskörperschafen; Selbstverwaltung in Gemeinden und Gemeindeverbänden (= Kreise) i.V.m. Art. 106 Abs. 6, 106 Abs. 5, Abs. 5a, Abs. 7, Abs. 8 GG
b) Art. 28 Abs. 2 GG als Homogenitätsvorschrift und Durchgriffsnorm für den Bund.
c) Garantie der autonomen Erfüllung gemeindlicher Aufgaben (aa) und Garantie einer bestimmten Verhaltensweise (bb).
aa) Örtlich sind solche Aufgaben, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie
einen spezifischen Bezug haben, die das Zusammenleben der Gemeindebürger spezifisch
betreffen.
BVerfGE 79, 127 – Rastede
Aber: Art. 28 Abs. 2 GG ist „institutionelle Garantie“ – der Gesetzgeber kann Aufgaben aus
Gründen des Gemeininteresses „hochzonen“, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sichergestellt ist.
Gründe: Bei institutioneller Garantie → Kernbereichsschutz, Schutz des Wesensgehaltes.
Problemantik: Verletzung wird erst erkennbar, wenn der Kern vernichtet ist.
Deshalb: Rastede → BVerfGE 79, 127: Unentziehbar ist die Universalität des gemeindlichen Wirkungskreises; Aufgaben dürfen mit entsprechender Rechtfertigung entzogen werden.
bb) Schutz der Verwaltensweise
sog. Gemeindehoheiten:
- Personalhoheit
- Organisationshoheit
- Finanzhoheit
- Satzungshoheit
- Planungshoheit
- Kooperationshoheit
115
Auch die Hoheiten dürfen nicht als Ganzes entzogen werden.
d) Rechtschutz für die Gemeinden
- Kommunalverfassungsbeschwerde, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG als Schutz gegen den Bundesgesetzgeber und als subsidiärer Schutz gegen die Landesstaatsgewalt.
e) Besonderheiten des landesverfassungsrechtlichen Schutzes der Gemeinden
Art. 78 LVerf NRW einschließlich des dortigen Schutzes vor Aufgabenübertragung durch
das Konnexitätsprinzip. S. VerfGH NRW, Urteil vom 23. März 2010, VerfGH 19/08. Zum
Ganzen: G. Püttner, HStR IV, (3. Aufl.) § 144 zur kommunalen Selbstverwaltung; Einzelheiten sind Gegenstand der Vorlesung Kommunalrecht.
IV. Das Rechtsstaatsprinzip
1. Begriffliches
Keine ausdrückliche Erwähnung in Art. 20 GG. Aber: Ausdrückliche Bezugnahme
im Homogenitätsgebot, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG.
Die grundgesetzliche Verankerung des Rechtsstaatsprinzips wird nicht einheitlich
gesehen. Teilweise wird Bezug genommen auf Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG sowie Art.
20 Abs. 3 GG, teilweise auch nur auf Art. 20 Abs. 1 GG in Verbindung mit der
Homogenitätsvorschrift (Art. 28 Abs. 1 GG) (s. Schmidt-Aßmann, in: HStR II
(3. Aufl.), § 26 Rn. 3). Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich auf eine „Zusammenschau der Bestimmungen des Art. 20 Abs. 3 GG über die Bindung der
Einzelgewalten und der Art. 1 Abs. 3, 19 Abs. 4, 28 Abs. 1 S. 1 GG, sowie aus der
Gesamtkonzeption des Grundgesetzes“ (BVerfGE 2, 380 (403); 45, 187 (246)), Art.
20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG (BVerfGE 63, 343 (353)) oder nur auf Art. 20 Abs. 3
GG (BVerfGE 101, 397 (404)).
116
Quelle: Gröpl, Staatsrecht I, Rn. 450
2. Die Begriffe formeller und materieller Rechtsstaat
Vielfach wird unterschieden zwischen formellem und materiellem Rechtsstaat;
zwingend ist diese Unterscheidung nach der grundgesetzlichen Struktur nicht. Der
„formelle Rechtsstaat“ bindet die staatliche Gewalt an Recht und Gesetz. Dies wird
durch unterschiedliche verfahrensmäßig und organisatorisch ausgestaltete Regeln
der Verfassungsordnung gewährleistet. Materielle Rechtsstaatlichkeit wird vorwiegend durch staatlich gesetztes positives Recht garantiert; verfassungsmäßiger Ausdruck ist etwa die Bindung staatlicher Gewalt an die Grundrechte, Art. 1 Abs. 3 GG.
Aus dem Rechtsstaatsprinzip werden insbesondere die folgenden Prinzipien (s.
auch das Schaubild von Gröpl S. 108) abgeleitet. (Vgl. zum Nachfolgenden ausführlich Gröpl, Staatsrecht I, Rn. 451 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20
Rn. 28 ff.; Sodan/Ziekow, Grundkurs, § 7):
117
„Formelle Elemente“
•
Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG)
•
Vorbehalt des Gesetzes
•
Vorrang von Verfassung und Gesetz sowie Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
Nach dem Vorbehalt des Gesetzes muss der Gesetzgeber Eingriffe in Freiheit oder
Eigentum („durch oder aufgrund Gesetzes) und überdies alle „wesentlichen“ Entscheidungen selbst treffen (Wesentlichkeitstheorie). Damit sind die wesentlichen
Aspekte dem Parlament vorbehalten (Parlamentsvorbehalt). (Näher hierzu Jarass,
in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 46 ff. sowie unten)
Zum Vorrang des Gesetzes vgl. die Normenhierarchie; auch Rechtsprechung und
Exekutive sind an Gesetz (und Recht) gebunden
•
Justizgrundrechte und Verfahrensgarantien (z.B. Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1
S. 2, Art. 103 GG, Recht auf ein faires Verfahren); allgemeiner Justizgewährleistungsanspruch; Unabhängigkeit der Gerichte
•
Staatshaftung
„Materielle Elemente“
•
„Materielle Gerechtigkeit“ (insb. Grundrechtsgarantien, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz)
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besagt, dass der Staat bei allen Handlungen
ein legitimes Ziel verfolgen und das gewählte Mittel geeignet, erforderlich und
angemessen sein muss. Die Verhältnismäßigkeit muss insbesondere bei Eingriffen
in die Rechte anderer (insb. bei Grundrechtseingriffen) beachtet werden. Die Einzelheiten hierzu werden bei der Grundrechtsprüfung (zweites Semester) behandelt.
Das Bundesverfassungsgericht begreift das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit
umfassend. Die materielle Komponente des Rechtsstaatsprinzips ziele „auf die ‚Erlangung und Erhaltung materieller Gerechtigkeit im staatlichen und staatlich beeinflussbaren Bereich‘ […]. Hierzu gehört auch der Zivilprozess; das verfassungsrechtliche Gebot erstreckt sich deshalb auch auf ihn. Auch im Zivilverfahren hat der
Richter durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung den materiellen Inhalten der
118
Verfassung, insbesondere den Grundrechten, Geltung zu verschaffen […]. Im Rahmen dieser Verpflichtung hat er für ein gehöriges, faires Verfahren Sorge zu tragen
[…]. Zu diesen Erfordernissen zählt eine grundsätzlich faire Handhabung des
Rechts, insbesondere der Beweislastregeln, die als Entscheidungsnormen im
Schnittpunkt von sachlichem und Verfahrensrecht stehen.“ (BVerfGE 52, 131
(145))
In seiner Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe führt das Bundesverfassungsgericht aus, „dass das Prinzip der Rechtssicherheit als auch die Forderung nach
materieller Gerechtigkeit [gebieten], dass die Voraussetzungen, unter denen die lebenslange Freiheitsstrafe ausgesetzt werden kann, und dass dabei anzuwendende
Verfahren gesetzlich geregelt werden.“ (BVerfGE 45, 187 (246))
Erkennbar wird jeweils eine enge Verzahnung zwischen „formeller“ und „materieller“ Gerechtigkeit.
•
Rechtssicherheit
•
Bestimmtheitsgebot
Eine Norm muss eine ausreichende Bestimmtheit aufweisen. Dies stellt vielfach
bei den sogenannten unbestimmten Rechtsbegriffen („Treu und Glauben“, Öffentliche Sicherheit und Öffentliche Ordnung“) ein Problem dar. Das BVerfG
akzeptiert aber dann noch eine Norm als hinreichend bestimmt, wenn sie bestimmbar ist, was bei den genannten Beispielen der Fall ist.
•
Klarheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung
•
Vertrauensschutz, insb. Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG und allgemeines Rückwirkungsverbot)
Man unterscheidet grds. zwischen echter und unechter Rückwirkung. Unechte
Rückwirkung (bzw. tatbestandliche Rückanknüpfung) kennzeichnet sich durch
den Bezug einer Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte. Bei der unechten Rückwirkung wird ein Tatbestand geregelt, der zum Zeitpunkt der Gesetzesverkündung noch nicht vollständig abgeschlossen war. (Beispiel: Einführung von Studiengebühren auch für Studierende, die ihr Studium
bereits begonnen hatten).
Die echte Rückwirkung (bzw. Rückbewirkung von Rechtsfolgen) liegt vor,
wenn der Gesetzgeber nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt än-
119
dernd eingreift. Eine echte Rückwirkung liegt beispielsweise dann vor, wenn ein
Steuergesetz an einen bereits abgeschlossenen Veranlagungszeitraum anknüpft.
Die unechte Rückwirkung ist grds. erlaubt, außer es steht ein schutzwürdiges
Vertrauen des Bürgers entgegen (Abwägung zwischen Gemeinwohlinteresse
und Interesse des Bürgers). I.d.R. müssen ausreichende Übergangsfristen installiert werden. Die echte Rückwirkung ist hingegen grds. verboten und nur ausnahmsweise erlaubt, wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls oder ein nicht –
oder nicht mehr – schutzwürdiges Vertrauen des Einzelnen eine Durchbrechung
gestatten (z.B. Rechnen müssen mit der Änderung; geltendes Recht ist unklar
und verworren; Änderung der Rechtsprechung wird durch Gesetzgeber korrigiert; Rechtsnorm erweist sich im Nachhinein als ungültig; Bagatelle).
•
Willkürverbot
3. Ausprägung des Rechtsstaats: Vorrang von Verfassung und Gesetz und Vorbehalt des Gesetzes
a) Vorrang der Verfassung, Art. 20 Abs. 3 GG
o Bindung des förmlichen Gesetzgebers an die verfassungsmäßige
Ordnung (= gesamter Normbestand des GG)
o Soweit eine Bindung des Gesetzgebers an überpositives Recht für möglich gehalten wird, wird diese Frage von Art. 20 Abs. 3 GG nicht beantwortet (vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 32).
o Str., ob auch Bindung an Landesverfassungsrecht umfasst wird.
o Folge bei Verfassungsverstoß: Das Bundesverfassungsgericht kann die
jeweilige Norm im entsprechenden Verfahren für nichtig oder für mit
dem GG unvereinbar erklären.
b) Vorbehalt des Gesetzes
Braucht die Verwaltung eine gesetzliche Grundlage für ihr Verhalten?
o Zahlreiche Spezialvorbehalte (Näher Ossenbühl, HStR V (3. Aufl.), § 101
Rn. 35 ff.) in der Verfassung, z.B.
120

Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte (Krit. Sachs, in: Sachs, GG,
Art. 20 Rn. 113; vgl. auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20
Rn. 45; Ossenbühl, HStR V (3. Aufl.), § 101 Rn. 17, 21, 36)

Institutionell-organisatorische Gesetzesvorbehalte (z.B. Art. 87
Abs. 1-3, 87d Abs. 1 GG)

Finanz- und Haushaltsrechtliche Gesetzesvorbehalte (z.B. Art. 110
GG)

Gesetzesvorbehalte für internationale Beziehungen (z.B. Art. 59 Abs.
2 GG)
o Kein Totalvorbehalt (Die so genannte Lehre vom Totalvorbehalt wird heute (wohl) nicht mehr vertreten, näher Ossenbühl, HStR V (3. Aufl.), § 101
Rn. 23 ff.). Insbesondere im Bereich der Leistungsverwaltung ist staatliches
Handeln ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung häufig zulässig. Anders kann das aber beurteilt werden, wenn etwa eine Subvention zu einer
Beeinträchtigung von Konkurrenten führt (Schmidt-Aßmann, in: HStR II (3.
Aufl.), § 26 Rn. 65). Daher ist die Vergabe von Subventionen jedenfalls im
Grundsatz im Haushaltsplan zu verankern (Näheres dazu im dritten Semester).
o Nicht einheitlich beantwortet wird die Frage, ob der Begriff des Vorbehalts
des Gesetzes nur Gesetze im formellen Sinne oder auch lediglich materielle
Gesetze meint (für nur formelle Gesetze Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG,
Art. 20 Rn. 44; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20
Rn. 273; a.A. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 118).
Die Frage ist von geringer praktischer Relevanz. Nach der so genannten Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 108, 282
(311); 116, 24 (58)) (bzw. Lehre vom Parlamentsvorbehalt (Ossenbühl,
HStR V (3. Aufl.), § 101 Rn. 53: „Der Parlamentsvorbehalt wird durch die
Wesentlichkeitstheorie substantiiert.“) verpflichten das Rechtsstaatsprinzip
und das Demokratieprinzip (Ossenbühl, HStR V (3. Aufl.), § 101 Rn. 46 ff.)
den Gesetzgeber, alle maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen. Wesentlich sind hiernach insbesondere staatliche Eingriffe in Grundrechte, so dass
nur aufgrund einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage Grundrechte beschränkt werden dürfen (zur Problematik des ausufernden Eingriffsbegriffs
121
siehe Ossenbühl, HStR V (3. Aufl.), § 101 Rn. 44 f.). Wesentlich war nach
einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1977 etwa die Entscheidung über die Einführung eines Sexualkundeunterrichts (BVerfGE 47,
46), unwesentlich dagegen die Rechtschreibereform (BVerfGE 98, 218).
Wesentlich kann aber auch die Zusammenlegung von Innen- und Justizministerium sein (so jedenfalls der VerfGH NRW, NJW 1999, S. 1243 in einer
hochumstrittenen Entscheidung).
Problematisch bei der Begriffsverwendung ist, dass der Parlamentsvorbehalt
nicht nur Bereiche der Gesetzgebung umfasst, sondern als „Sachvorbehalt“
etwa auch Auslandseinsätze der Bundeswehr. Er reicht also weiter als der
„Vorbehalt des Gesetzes“, da ihm nicht notwendigerweise nur durch Gesetze
genügt werden kann (näher Ossenbühl, HStR V (3. Aufl.), § 101 Rn. 14, 50).
Eng hiermit verbunden ist auch das rechtsstaatliche Bestimmtheitserfordernis (so ausdrücklich Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 54; vgl.
Ossenbühl, HStRV (3. Aufl.), § 101 Rn. 30..
Kritik an der Wesentlichkeitstheorie: Auch „Unwesentliches“ wie etwa
geringe Bußgelder müssen durch Gesetz geregelt werden. Andererseits wird
„Wesentliches“ wie etwa im Umweltrecht (z.B. Festsetzung von Grenzwerten, s.u.), im Staatshaftungsrecht oder im Arbeitskampfrecht nicht durch Gesetz geregelt. Letzteres ist u.a. der Flexibilität und der größeren Sachkompetenz der Exekutive geschuldet (näher Ossenbühl, HStR V (3. Aufl.), § 101
Rn. 56 ff..
o Fall: BVerfGE 108, 282 – Kopftuchverbot
o Grenzen des Vorbehaltes des Gesetzes (Näher Ossenbühl, HStR V (3.
Aufl.), § 101 Rn. 66 ff.), z.B.

Regierungsvorbehalte („Kernbereich exekutivischer Eigenverantwortung“)

Verwaltungsvorbehalte (Selbstverwaltung, Gesetzesvollzug, Organisationsgewalt, etc.)

Unmöglichkeit einer gesetzlichen Regelung (z.B. Verweis auf den
„Stand von Wissenschaft und Technik“, s.o. zur Kritik an der Wesentlichkeitstheorie)
122
c) Vorrang des Gesetzes
o Ausgangspunkt: Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“
o
Gesetz im Sinne der Vorschrift

Jedenfalls jedes Gesetz im „formellen“ bzw. „förmlichen“ Sinne
(Parlamentsgesetz, auch GG)

Umstritten, ob auch Gesetze im nur materiellen Sinne erfasst werden
(insb. Rechtsverordnungen (Art. 80 GG) und Satzungen); bejahend
etwa BVerfGE 78, 214 (227). Anders liest sich noch BVerfGE 40,
237 (248 f.). A.A. Schmidt-Aßmann, in: HStR, Bd. 2, § 26 Rn. 37 f.,
der entsprechenden Vorrang nur auf der Ebene des einfachen Rechts
durch die Lehre von der Bestandskraft und dem Rang der Rechtsakte
gewährleisten will.

Ferner Gewohnheitsrecht, innerstaatlich geltendes Völkerrecht
und unmittelbar geltendes EU-Recht (im Einzelnen str., s. Jarass,
in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 38).

Beachte: Fachgerichte dürfen vorkonstitutionelles und bloß materielles Recht aus eigener Kompetenz außer Anwendung lassen. Das
Normverwerfungsmonopol gemäß Art. 100 GG (konkrete Normenkontrolle) gilt (i.d.R.) nur für formelles nachkonstitutionelles
Recht. (S. aber auch unter 4. unten)

Kein Gesetz in diesem Sinne sind Verwaltungsvorschriften (reines
„Innenrecht“, beachte aber auch etwaige Bindungswirkungen über
Art. 3 Abs. 1 GG) und Richterrecht (BVerfGE 84, 212 (227); vgl.
aber auch BFHE 232, 121, zum Sonderproblem des Nichtanwendungserlasses bzgl. Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes als möglicher Verstoß gegen Vertrauensschutz (Vorlagebeschluss); Problem: Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung; erlaubt sind z.B.
Analogien und teleologische Reduktionen, vgl. BVerfGE 34, 269
(286 ff.); 111, 54 (81 f.).
123
Allerdings sieht das Bundesverfassungsgericht eine nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung verfassungswidrige Normauslegung durch die Fachgerichte als Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG an
(vgl. § 31 BVerfGG, hierzu BVerfGE 40, 88 (94); vgl. auch BVerfGE
115, 97 (108); Ossenbühl, HStR, Bd. 5, § 101 Rn. 8).
o Recht im Sinne der Vorschrift

Idee der Gerechtigkeit

Nicht zu verkennen ist insbesondere auch die historische Dimension
des Gerechtigkeitsgedankens bei der Entstehung des Grundgesetzes
nach dem Nationalsozialismus.

Exkurs: Was ist gerecht?
•
Formelle und materielle Gerechtigkeit
•
Probleme bei der Maßstabsbildung (z.B. Angemessenheit von
Schuld und Strafe)
•
Enge Verzahnung des Gerechtigkeitsbegriffs mit dem Gleichheitsbegriff (vgl. Art. 3 Abs. 1 GG)
•
Religion, Naturrecht vs. Rechtspositivismus
o Wie kann das Spannungsverhältnis zwischen positivem Recht und überpositiven Gerechtigkeitsvorstellungen aufgelöst werden („Legalität“ vs. „Legitimität“)?
Wollte man über Art. 20 Abs. 3 GG in bestimmten Fällen die Bindung an das
positive Recht aushebeln, entstünde ein direkter Widerspruch zu Art. 97
Abs. 1 GG. Das ist aber nicht notwendig, da wegen der Bindung an die
Verfassung insbesondere die Achtung der Menschenwürde und der anderen
Grundrechte zwingend geboten ist. Kollisionen mit einer wie auch immer
gearteten „Gerechtigkeitsvorstellung“ können über Ermessenserwägungen,
Verhältnismäßigkeitsprüfungen oder verfassungskonforme Auslegungen gelöst werden. Auch unbestimmte Rechtsbegriffe bieten Möglichkeiten, dem
Gerechtigkeitsgedanken Sorge zu tragen.
Nicht zu vergessen sind die verschiedenen Normenkontrollen vor dem
Bundesverfassungsgericht (insb. abstrakte Normenkontrolle, konkrete Normenkontrolle, Rechtssatzverfassungsbeschwerde).
124
Teilweise wird „Recht“ auch verstanden als Gewohnheitsrecht, die Verfassung selbst, oder als nur materielles Recht bzw. grundlegende Prinzipien der
Rechtsordnung (Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 106). Folgt man diesen
Auffassungen, stellt sich das soeben geschilderte Problem nicht.
o Ausnahme: z.B. BVerfGE 95, 96 (134 f.) – Mauerschützen: Hier hat das
Bundesverfassungsgericht entschieden, dass in einem offensichtlichen, unerträglichen Verstoß gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit im Sinne der
Radbruch‘schen Formel und gegen die völkerrechtlich geschützten Menschenrechte positives Recht der Gerechtigkeit weichen müsse. Demnach
blieben Rechtfertigungsgründe bei der Tötung von DDR-Flüchtlingen unberücksichtigt.
4. Rechtsstaatsprinzip und Rechtsquellenlehre
a) Der Rechtsstaatsbegriff als gewaltenteilende Kategorie im Blick auf den Staat
aa) Wer darf oder muss im Rahmen der Verfassung Recht setzen?
o Legislative (durch Parlamentsgesetz) (s. oben Vorbehalt des Gesetzes)
o Exekutive
o Zentral (oder dekonzentriert): Durch Rechtsverordnung (Art. 80 GG), also nur kraft Delegation; kein originäres Verordnungsrecht der Exekutive
o Dezentral: Durch Satzungen originär kraft verfassungsrechtlich verliehener Autonomie (z.B. Art. 28 Abs. 2 GG)
→ Originär oder kraft Delegation: Verwaltungsvorschriften (Sonderproblem,
s. u. b))
bb) Parlamentsgesetze
o Kraft universalem Zugriff (wenn das Parlament regeln will) (aaa)
o Als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für einen Staatsakt
o Kraft Eingriffsvorbehalt (bbb)
o Kraft Wesentlichkeit (ccc)
o Kraft expliziter verfassungsgesetzlicher Anordnung (ddd)
o Zur Durchsetzung der Organisationsgewalt unterhalb der Geschäftsleitungsgewalt des Ministerpräsidenten (eee)
125
aaa) Das Parlament macht zum Gegenstand seiner Regelungen, was es
für regelungsbedeutsam hält.
Beispiel: Der Gesetzgeber beschließt auf jedes Lebensmittel eine Ampel aufzudrucken; Salz und Zucker werden mit „Rot“ versehen.
1. Einwand der Nahrungsmittelproduzenten: Ein solcher Paternalismus
sei unangemessen. Die Verbraucher wüssten schon Bescheid. Es brauche keine solche Regelung. Kein Verfassungsrechtsargument.
2. Einwand: Salz und Zucker seien lebensnotwendig; deshalb sei „Rot“
falsch. Jedenfalls ein Verfassungsargument. Prüfungsmodell (s. dazu
sogleich): Ist staatliche Informationspflicht durch Verpackungsgestaltung ein Eingriff in die Berufsfreiheit? → Ja! Also rechtfertigungsbedürftig wegen Art. 12 Abs. 1 GG; Informationsrichtigkeit als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung; Verhältnismäßigkeit (s. aktuell den Streit um
die je neuen europäischen Tabakrichtlinien mit je erweiterten Anforderungen).
Wenn die Rechtschreibreform auch nicht zwingend vom Gesetzgeber
zu verantworten war – sie ist exekutives Regelwerk – (BVerfGE 98,
218), so hätte sie der Gesetzgeber doch regeln dürfen. Zwar gehört die
Sprache dem Volk (es formt sie durch seinen Gebrauch), die Schreibung in Schule und Behörde wie auch in Gerichten ist sehr wohl staatlich regelbar.
bbb) Eingriffe in Freiheit oder Eigentum bedürfen der gesetzlichen
Grundlage, müssen also durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes
ermächtigt sein. Handelt die Exekutive in Freiheit oder Eigentum eingreifend ohne Gesetz, ist dies rechtswidrig (s. § 42 I i.V.m. § 113 I
VwGO; fehlen der gesetzlichen Ermächtigung als Rechtswidrigkeitsgrund).
- Historischer Hintergrund
- Beispiel: A ruft täglich die Behörde an, um ihr mitzuteilen, dass die
Zeitung der Nachbarn, weil nicht ordentlich in den Briefkasten gesteckt, durch die Gegend fliege.
Nach dem 20. gleichartigen Anruf teilt die Behörde dem Anrufer mit,
er verursache jeden morgen zwei Minuten Amtsverzögerung. Die
126
Amtsstunde koste kalkulatorisch 60 €, zwei Minuten also 2 €. Sie werde zukünftig immer wenn ein Betrag von 10 € erreicht sei, diesen in
Rechnung stellen.
Prüfprogramm: Eingriff? → hier ja, Belastung des Vermögens mit einer Zahllast kraft Hoheitsaktes (Art. 2 Abs. 1 GG oder Art. 14 Abs. 1
Satz 2 GG). Rechtfertigung: Gesetz (s. Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1
Satz 2 GG). Hier? Gebühr? Gesetzlich ermächtigt? „Auslagenerstattung“? Das staatliche Abgabenrecht sieht dafür jedenfalls nichts vor;
also rechtswidrig.
Merke: Für den Eingriffsvorbehalt kommt es auf die Wesentlichkeit einer Belastung nicht an.
„Sitz“ des Gesetzesvorbehaltes:
- Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte (bitte aufsuchen; S. etwa Art. 2 Abs. 1, Abs. 2, Art. 5 Abs. 2, Art. 8, Art. 9 Abs. 2,
Art. 10, 11, 12, 13 ,14; S. aber auch Art. 1, 4, 5 Abs. 3, Art. 9
Abs. 1 GG; die vorbehaltslos gewährt sind, was aber nicht
Schrankenlosigkeit bedeutet → Staatsrecht II (Grundrechte).
- Rechtsstaatsprinzip als „Sitz“ des Gesetzesvorbehalts (s. oben
S. 114 – 116).
- Ausweitung zum „Totalvorbehalt“? = Gesetzesabhängigkeit jeglichen
Verwaltungshandelns? (s. schon oben S. 117)
Beispiel 1: Universität beschließt allen „overseas“ ohne Nachweis ihrer
Bedürftigkeit ein Stipendium zu gewähren – auch ohne dass sie ihre
Begabung und Studierfähigkeit in concreto nachweisen müssten.
Reine Begünstigung (Leistungsverwaltung) bedarf keiner speziellen
gesetzlichen Ermächtigung. Die haushaltsmäßige Mittelverteilung
reicht aus. Allerdings stellen sich gleichheitsrechtliche Fragen sowie
die etwaige Verletzung des „Verbots staatlicher Geschenke“ (= keine
Gemeinwohlnützigkeit einer solchen „Gießkanne“ als Problem).
Beispiel 2: Die Landesregierung beschließt, den Verkauf eines Opelneuwagens mit 5000 € zu subventionieren, damit Opel-Bochum erhalten bleibt. Daraufhin droht Ford in Köln die Insolvenz, weil die Autos
der Ford AG praktisch nicht mehr verkaufsfähig sind.
127
Problem: Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten von Ford waren vorhersehbar; die Subvention pro Opel verzerrt die Konkurrenzverhältnisse,
sie ist ein mittelbarer Eingriff, so dass ein Gesetz erforderlich wäre.
ccc) Gesetzgeberische Regelungspflicht kraft Wesentlichkeit: Wesentlich grundrechtsprägende oder wesentlich staatsleitende Entscheidungen bedürfen der gesetzlichen Grundlage. (s. BVerfGE 49, 89 (126 f.);
58, 257 (274); 83, 130 (142); 98, 218 – Rechtschreibreform)
Beispiel 1: Einführung der Sexualkunde in der Schule durch Änderung
der Stundentafel auf der Basis von Käthe Strobels Sexualkundeatlasses.
Grundrechtswesentlichkeit des neuen Lehrfaches ( - eigentlich schon
eingriffsrechtlich zu beurteilen, weil elterliches Erziehungsrecht betroffen ist).
Beispiel 2: Einführung des 8-jährigen Gymnasiums durch Änderung
der Stundentafel (= gesetzeswesentlich, ebenso gesetzesabhängig wie
Oberstufenreform (BVerfGE 58, 257 (274)).
Beispiel 3: Durch Organisationserlass des Ministerpräsidenten NRW
werden Justiz- und Innenministerium zusammengelegt (also Justiz einschließlich der Staatsanwaltschaften mit der Polizei in einem Ressort).
VerfGH NRW, NWVBl. 1999, 176 ff. = DVBl. 1999, 714 ff. = NJW
1999, 1243. Der Verfassungsgerichtshof geht von der Wesentlichkeit
der Regelung (und damit von ihrer Gesetzesabhängigkeit aus; damit
verletzt das Gericht die Organisationskompetenz des Ministerpräsidenten; insgesamt stellt sich die Entscheidung als Missbrauch der Wesentlichkeitstheorie dar. Sie wird deshalb fast unisono kritisiert.
Beispiel 4: Die Exekutive (= Regierung) beschließt, Soldaten der Bundeswehr im Ausland in Kampfeinsätzen einzusetzen.
Wesentliche Frage der Staatsleitung; die Bundeswehr ist „Parlamentsheer“. S. BVerfG 90, 286, s. verfassungsunmittelbar auch Art. 115a
GG.
Zur Rechtfertigung der Wesentlichkeitstheorie wird ergänzend das
Demokratieprinzip herangezogen. Dass Wesentliches immer im Gesetz
steht, stimmt im Übrigen nicht: Referenzbeispiele im Umweltrecht mit
den wesentlichen Grenzwertfestsetzungen im exekutiven Recht. (Insofern spricht man auch von einer umgekehrten Wesentlichkeitstheorie:
128
Das Wesentliche steht gerade nicht in Parlamentsgesetzen, sondern in
exekutiv erzeugtem Recht (was manchmal unvermeidlich ist – im Umwelt- und Technikrecht)).
ddd) Die Verfassung verlangt für bestimmte Entscheidungen formelle
Gesetze; der Gesetzesvorbehalt ergibt sich explizit aus der Verfassung:
- s. die zahlreichen „Das Nähere ist einem Bundesgesetz vorbehalten“,
o.ä. z.B. in Art. 38 GG für das Bundeswahlrecht.
- z.T. sind solche Gesetze „bloß“ formell
- - z.B. Art. 110 GG – Haushaltsgesetz (historischer Hintergrund)
- - oder Art. 59 Abs. 2 GG – völkerrechtliche Verträge
= bloß formelle Gesetzesvorbehalte
eee) Institutioneller Gesetzesvorbehalt
Organisationsrechtsmaßnahmen unterliegen einem Gesetzesvorbehalt,
- weil „Zuständigkeitt“ sich aus dem Gesetz (gegebenenfalls in einer
Verordnung) ergeben muss,
- weil juristische Personen des öffentlichen Rechts nur durch Gesetz
errichtet werden können,
- weil das Grundgesetz es befiehlt (z.B. Art. 87 Abs. 1-3, 87 d Abs. 1
GG).
cc) Die Bedeutung von „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes“
Der Gesetzgeber hat zwei Handlungsoptionen:
- selbst eine Vollregelung zu treffen
- selbst die Grundlinien zu regeln und die Einzelheiten zu delegieren (= Art. 80 Abs. 1
GG); s. schon oben zur Bestimmtheit.
Immer muss der Bürger bei Grundrechtseingriffen aus dem Gesetz wissen, was auf
ihn zukommt (= Programmformel); Art. 80 Abs. 1 GG sichert dies mit der Trias: Inhalt, Zweck und Ausmaß.
b) Gesetzgeberische Bindungen
aa) Normative Bindungen
- Vorrangregeln
129
- - Vorrang des Unionsrechts
- - Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts
- - Vorrang der Verfassung (Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 2 GG)
- - Selbstbindungen des Gesetzgebers? z. B: Maßstabsgesetz in der Finanzausgleich
(eher schwierig zu begründen)
- - Überpositives Recht?
- Rechtsfolgen eines Verstoßes des Gesetzes gegen solche Bindungen
- - Unionsrecht: Nationales Recht bleibt außer Anwendung
- - Allgemeine Regeln des Völkerrechts: Wohl Nichtigkeit
- - Vorrang der Verfassung: Ex tunc Nichtigkeit; Unvereinbarkeit (s. § 31 Abs. 2
BVerfGG)
- - Selbstbindungen: Wohl zu verneinen
- - Überpositives Recht: Historische Funktion, abgelöst durch den Vorrang der Verfassung; „Kollisionsproblem“ kaum mehr denkbar.
- - Gewohnheitsrecht: Geschriebenes Recht beendet die Wirkung von Gewohnheitsrecht - außer es handelt sich um gewohnheitsrechtliche Regeln des Unionsrechts oder
der allgemeinen Regeln des Völkerrechts.
bb) Bindung an die Rechtsprechung
- Fachgerichte: Rechtskraftbindung; ja, ansonsten keine Bindung; rechtsprechungskorrigierender Richterspruch ist ohne Weiteres zulässig.
- Ansonsten ist zu differenzieren:
- - EuGH = Gerichtshof für bindende Rechtsauslegung; die Judikate nehmen am Vorrang des Unionsrechts teil, Art. 19 EUV i.V.m. Art. 260 AEUV.
- - EGMR = Berücksichtigungspflicht, keine strikte Bindung
- - BVerfG = § 31 Abs. 2 BVerfGG → Gesetzeskraft; § 31 Abs. 1 BVerfGG → Bindungswirkung der tragenden Gründe; Fehlerwiederholungsverbot – außer bei Verhältnisänderung oder überzeugenden neuen Gründen.
- Der Gesetzgeber kann eine rechtsprechungskorrigierende Neuregelung schaffen, jedenfalls pro futuro unter Respekt vor der Rechtskraft der korrigierten Entscheidung.
130
c) Bindung an Recht und Gesetz für die Verwaltung
aa) Bindung an die Normen aller Rechtserzeuger
- Völkerrecht = allgemeine Regeln + ratifiziertes Völkervertragsrecht; ob noch nicht
ratifizierte völkerrechtliche Verträge Vorwirkung entfalten, ist umstritten.
- Unionsrecht aller Geltungsstufen
Primärrecht (also EUV und AEUV)
Verordnungen = unmittelbar im nationalen Recht wirksam wie innerstaatlich selbst
gesetztes Recht (Art. 288, 142 AEUV).
Richtlinien = bei richtlinienkonformer Umsetzung in nationales Recht; „erledigen“
sich die Richtlinien (außer, dass sie als Auslegungshilfe herangezogen werden können, gegebenenfalls müssen). Bei nicht-rechtzeitiger Umsetzung kann es zu beachtlicher Durchgriffswirkung kommen, soweit diese nicht zu Lasten der Bürger geht (Art.
288 Abs. 3 AEUV).
Delegierte Rechtsetzungsakte mit dem Delegationsadressaten Kommission (Art. 290
AEUV)
- Bundesverfassung (soweit es um die Bundesexekutive geht), Bundes- und Landesverfassung (soweit es um die Landesexekutiven geht).
- Parlamentsgesetze
- Selbstgesetztes Recht:
Verordnungen, bei Autonomen Körperschaften Satzungen, Sonderfall: Verwaltungsvorschriften: keine Außenrechtsakte, wohl aber Binnenverpflichtung
- Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften
- Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften: Normergänzungs recht in der Form von Verwaltungsvorschriften.
bb) Bindung an die (höchstrichterliche) Rechtsprechung
- Rechtskraft (gilt für alle Urteile)
- Bindung über den Einzelfall hinaus? → Kein System des case law angelsächsischer
Prägung, wohl: faktische Bindungswirkung über die persuasive authority einer
höchstrichterlichen Entscheidung; rechtlich besteht keine strikte Befolgungspflicht →
s. die Nichtanwendungserlasse im Steuerrecht (die jeweils im Erlass benannten Urteile des BFH sind „über den entschiedenen Einzelfall nicht anzuwenden“); regelmäßig
folgt dann gewissermaßen eine Korrektur des BFH im Wege der Gesetzesänderung.
131
Aber: Grundloses Abweichen von der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung
ist Amtspflichtverletzung (§ 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG).
cc) Bindung auch an „rechtsfehlerhafte“ Normen?
Im Grundsatz gilt: Die Verwaltung ist normprüfungsverpflichtet (im System der exekutiven Hierarchie), aber nicht verwerfungsbefugt (wegen Art. 20 Abs. 3 GG), auch
nicht berechtigt, eine Norm außer Anwendung zu lassen. Das gilt auch für völkerrechtliche Normen. Wohl ist die Verwaltung berechtigt, Normengeltungskonflikte im
Wege einer (soweit methodisch zulässig) „konform“- Auslegung zu lösen: Unionsrechts-, völkerrechts-, verfassungskonforme Auslegung, gesetzeskonforme Auslegung
von Verordnungen und Satzungen, bundesrechtskonforme Auslegung von Landesrecht.
Ausnahme: Im Normgeltungskonflikt von Unionsrecht und nationalem Recht ist auch
die Verwaltung berechtigt und sogar verpflichtet im Sinne des effet utile des Unionsrechts, solche nationalen Normen außer Anwendung zu lassen, die mit Unionsrecht
unvereinbar sind.
d) Zeitliche Geltungsbeschränkungen
aa) Vorkonstitutionelles und nachkonstitutionelles Recht
- Art. 123 Abs. 1 GG als Grundsatznorm (i.V.m. Art. 124 u. Art. 125 GG)
- parallel Art. 9 Einigungsvertrag (EV) für das Recht der DDR
aaa) Tatbestandsfragen
- Zeitpunkt? → 07. September 1949 = Zusammentritt des ersten deutschen Bundestages
- Was ist Recht i.S.v. Art. 123 GG? → Rechtsnormen jeder Art und
Geltungsstufe
- Kann eine vorkonstitutionelle Regelung zu einer nachkonstitutionellen Regelung werden? → Ja, sie kann, wenn der nachkonstitutionelle
Gesetzgeber, z.B. bei einer Novellierung eines vorkonstitutionellen Gesetzes dieses „geändert oder in sonstiger Weise in den Willen des
nachkonstitutionellen Gesetzgebers aufgenommen worden ist“ (z.B. in
einer Gesetzesbegründung: „ an § XY halten wir fest“ oder „ … für §
XY besteht kein Änderungsbedarf“).
132
Beispiel: § 1300 BGB a.F.:
(1) Hat eine unbescholtene Verlobte ihrem Verlobten die Beiwohnung gestattet, so kann sie, wenn die Voraussetzungen des § 1298 oder des § 1299 vorliegen [i.e. Schaden nach Rücktritt von der Verlobung], auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist,
eine billige Entschädigung in Geld verlangen.
(2) Der Anspruch ist nicht übertragbar und geht nicht auf die Erben
über, es sei denn, daß er durch Vertrag anerkannt oder daß er rechtshängig geworden ist.
(aufgehoben durch Gesetz vom 4.5.1998 (!))
→ Vorkonstitutionell (die Norm gilt (galt) seit dem 01. Januar 1900
oder nachkonstitutionell? Das BGB wurde zahllose Male geändert, also
ist die Kodifikation in den Willen des nachkonstitutionellen Gesetzgebers aufgenommen? → Nein, Kodifikationen werden regelmäßig nicht
als Ganzes nachkonstitutionell „adoptiert“ (s. BVerfGE 32, 296 auf
Vorlage des LG Kaiserslautern in: NJW 1971, 264).
Fallbeispiel: Ist das Gesetz über akademische Grade aus dem Jahre
1935 noch geltendes Recht (inzwischen bei einer Rechtsbereinigung
aufgehoben), soweit es gestattet, den Grad wegen Unwürdigkeit zu entziehen?
- Ratio 1935?
- Denkbare verfassungsmäßige Ratio heute?
- Zur Entscheidung wegen Unwürdigkeit heute s. VGH BadenWürttemberg, v. 14.09.2011, bestätigt vom BVerwG, v. 31.07.2013 –
6 C 9.12.
bbb) Kognitionsfragen
Merksatz als Grundsatz: Über die zeitliche Geltung eines Rechtssatzes
zu entscheiden ist Sache des erkennenden Richters.
Deshalb: Die Frage der Geltung eines vorkonstitutionellen Gesetzes
kann nicht nach Art. 100 GG vorgelegt werden; Gegenstand der Richtervorlage sind nur nachkonstitutionelle Gesetze.
Aber: Wenn über die Frage der Fortgeltung Streit besteht, entscheidet
das Bundesverfassungsgericht, Art. 126 GG i.V.m. § 86 BVerfGG. Antragsberechtigt: Verfassungsorgane und Gerichte,
133
bb) lex posterior derogat legi priori
- gilt aber nur nach Maßgabe des Ranges der jeweiligen Norm in der Rechtsquellenhierarchie: Nur ein Gesetz kann ein Gesetz außer Kraft setzen, nicht eine Verordnung
(jedenfalls im Grundsatz nicht); Landesrecht lässt Bundesrecht unberührt, nationales
Recht lässt Unionsrecht unberührt usw. Die lex posterior muss denselben Rang haben
wie die lex prior. Im Übrigen gilt auch: Lex posterior specialis non derogat legi priori
genreali. (Ein späteres Spezialgesetz setzt eine generellere Norm nicht außer Kraft.)
Verfahren des Außerkraftsetzens: Explizite Anordnung oder implizite Aufhebung
durch inhaltlich entgegenstehendes späteres Recht.
cc) Der atypische Fall:
Cessante ratione legis cessat ipsa lex: bei Zweckverlust verliert die Norm ihre Geltung (aber Vorsicht bei der Anwendung der „Regel“!). Zumeist werden solche Probleme über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit heute gehört werden können.
Bespiel 1: Die Schorch-Meier GmbH will für den nach London gelieferten BMW einen Schuldtitel in (damals noch) D-Mark und nicht in britischen Pfund vor einem
englischen Gericht.
Beispiel 2: § 1300 BGB a.F. als Beispiel für Geltungsverlust wegen gesellschaftlicher
Verhältnisänderung. § 1300 BGB a.F. (sog. Kranzgeld). S. oben.
Dazu: Wolfgang Löwer, Cessante ratione legis, cessat ipsa lex, 1989
dd) Rückwirkung von Rechtsnormen
aaa) Der Grundfall: nullum crimen sine lege, Art. 103 Abs. 2 GG,
meint auch: nulla poena sine lege. Ausstrahlung auf ein Analogieverbot
mit Konsequenzen für die Bestimmtheit von Strafnormen, s. BVerfGE
126, 170 (195).
Aktuell von Bedeutung: Sicherungsverwahrungsjudikatur des EGMR
(dazu BVerfGE 128, 326 f. (Rechtswidrigkeit des Rechtes zur Sicherungsverwahrung).
134
Grund für die Divergenz zwischen EGMR u. BVerfG: Divergenz zwischen EMRK (jede Belastung, die ihren Grund in der Tat hat) und Art.
103 Abs. 2 GG = Strafe nur die Sanktion für die Tat.
Gilt nicht für strafprozessuale Normen, etwa Verjährungsfristen.
bbb) Im Allgemeinen
- Rechtsvergleichender Ausgangspunkt: Der Greenback-Fall in der
Rechtsprechung des US Supreme Court nach dem Ende des Bürgerkrieges in der „Reconstrucion-Phase“: Union wie Federal States hatten
den Bürgerkrieg mit Goldanleihen finanziert. Der Kongress beschloss,
die Gold-Darlehen mit Papiergeld („greenbacks“) zurückzuzahlen. Papiergeld stand im Wert zum Golddollar im Verhältnis 1:4!
Argument dagegen: Verbot des ex-post-facto-laws der US Constitution.
Der Darlehenvertrag dürfe nicht verletzt werden.
US Supreme Court gab die Antwort: Das Verbot des ex-post-facto-law
gilt nur für das Strafrecht. So „radikale“ Lösungen kennt das Grundgesetz nicht.
- Vertrauen in den Fortbestand von Rechtsordnungen wird differenziert
geschützt entlang der Linie echter und unechter Rückwirkung (s. auch
schon oben).
Beispiel 1: Der Gesetzgeber ändert mit Inkrafttreten zum 31. Dezember
2016 das Einkommensteuergesetz (EStG) für 2016 dahingehend, dass
die Fahrt zur Betriebsstätte weder Werbungs- noch Betriebskosten seien.
Beispiel 2: A hat zwei Millionen Euro am 31.12.2015 als Lottogewinn
steuerfrei vereinnahmt. Der Gesetzgeber ändert 2016 das EStG dahingehend, dass die Lottogewinne steuerpflichtig werden. Das gelte für alle Gewinne seit dem 1.1. 2015, weil er die Änderung schon lange publikumswirksam angekündigt habe.
Unterschied der Fälle?
Beispiel 1 → Eingriff in einen gegenwärtigen und noch nicht abgeschossenen Sachverhalt (die Jahressteuerschuld entsteht erst zum
31.12.2016 = noch nicht abgeschlossener Tatbestand), der die betroffene Rechtsposition (Disposition über die Wegekosten als Betriebsaus-
135
gabe etc. in der Lebensführung) entwertet = unechte Rückwirkung
(BVerfGE 123, 186 (257); 127, 1 (17), BFHE 148, 272 (276 f.)).
Beispiel 2 → Rückbewirkung einer Rechtsfolge: 2016 keine Steuerpflicht für einen bestimmten Lebenssachverhalt. Jahressteuerschuld
stand zum 31.12.2015 fest; 2016 wird die Rechtsfolge für 2015 geändert. Der Gesetzgeber greift nachträglich ändernd in einen abgeschlossenen Sachverhalt ein (BVerfGE 114, 258 (300)) oder: Rückbewirkung
der Verlängerung der Frist für Veräußerungsgewinne (BFHE 204, 228
(243 ff.).
Frage: Wie wäre der „greenback“-Fall zu beurteilen? → unechte Rückwirkung.
ccc) Rechtsfolgen (= Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Rückwirkung)
Zu aaa):
Der Verstoß: Gesetz ist nichtig; keine Rechtfertigungsmöglichkeit.
Zu bbb):
Echte Rückwirkung: grundsätzlich unzulässig, kann aber gerechtfertigt
werden bei zwingenden Gründen des gemeinen Wohls oder bei fehlender Schutzwürdigkeit des Vertrauens.
5 Fallgruppen (s. z.B. Jarass/Pieroth, 14. Aufl. 2016, Art. 20 Rn. 103)
(1) Wegfall des Vertrauens, weil der Normadressat mit der Regelung
(bereits) rechnen musste (z.B. weil sie angekündigt war oder sich die
Verpflichtung aus dem Unionsrecht ergibt).
(2) Klärung einer unklaren und verworrenen Rechtslage, z.B. korrigiert
der Gesetzgeber eine Rechtsprechungsänderung (BVerfGE 72, 302
(325 ff.)).
(3) „Fehlerreparatur“ in Folge einer im Nachhinein als ungültig erkannten Norm, Bsp.: Erschließungsbeitragsgesetz ist fehlerhaft. Der Abgabeschuldner zahlt nach Fehlberechnung trotzdem (nach Beseitigung des
Fehlers); es kann auch teurer werden!
(4) Bagatellvorbehalt: kein „spürbarer“ Eingriff
(5) Zwingende Belange des Gemeinwohls (BVerfGE 97, 67 (81)); 101,
239 (263 f.), 122, 374 (394 f.); 135, 1 Rn. 62. Hauptanwendungsfall:
136
Ankündigung der Änderung von staatlich administrierten Preisen (Unterfall von (1)).
e) Übermaßverbot (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit)
- Herkunft schon aus dem staatsvertraglichen Denken der Aufklärung
- Herkunft aus dem preußischen Polizeirecht
- Inhalt: Die Eingriffsmaßnahme muss
- einen legitimen Zweck verfolgen (BVerfGE 124, 300 (331))
- geeignet sein
- erforderlich sein
- zumutbar/angemessen/verhältnismäßig i.e.S. sein.
- Zur Terminologie: Übermaßverbot = Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Zumutbarkeit =
Angemessenheit = Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne = Proportionalität
- Normativer Sitz: Rechtsstaatsprinzip, konkurrierend: Aus dem Wesen der Grundrechte =
nur unerlässliche Freiheitseingriffe müssen hingenommen werden.
Einzelheiten: Staatsrecht II: Grundrechte
f) Rechtschutz als rechtsstaatliches Gebot
aa) Differenzierung: Justizgewährleistungspflicht = Rechtsstaatsprinzip; rechtsstaatliche
Strafrechtspflege = Rechtsstaatsprinzip; speziell gegen den Staat Art. 19 Abs. 4 GG.
bb) Justizgewährleistungsanspruch zwischen Privaten
Gewaltmonopol und Justizgewährleistung, bedingen einander, also:
- Zugang zum Gericht
- unfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes
- Entscheidung durch den Richter
- insgesamt unter dem Gebot der Effektivität
cc) Recht auf ein faires Strafverfahren
- Waffengleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem
- Recht auf Verteidigung durch Verteidiger
- Gebot der Wahrheitsfindung
137
dd) Besonderheit des Grundgesetzes: Art. 19 Abs. 4 GG
- umfassender Rechtschutz gegen den Staat
- keine Berufung auf Ausnahmeklausels = Lückenlosigkeit des Rechtschutzes gegen den
Staat
- die Garantie des Art. 19 Abs. 4 GG verspricht auch effektiven (= zeitgerechten) Rechtschutz; s. §§ 80, 80a u. § 123 VwGO als Beispiele sowie das StrEG (Gesetz über die Entschädigung von Strafverfolgungsmaßnahmen)
- Erfüllung der Versprechen durch VwGO, SGG und FGO
- Gebot der Wahrheitsfindung
V. Sozialstaatsprinzip („sozialer Bundesstaat)
1. Unmittelbar geltendes Recht mit schwachem normativen Aussagegehalt
-
konkretisierungsbedürftig durch den Gesetzgeber (BVerfGE 65, 182 (193)
-
kein Gebot, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren (BVerfGE
110, 412 (445)
-
Untergrenzen sozialer Leistungspflichten folgen allerdings aus der Menschenwürdegarantie (Art.1 Abs. 1 GG). BVerfGE 125, 175 (222); 132, 134 Rn. 67, 81 ff. – Asylbewerber: Schutz des Existenzminimums; aber: der Leistungsanspruch ist gesetzesvorbehaltspflichtig (Gewaltenteilung).
2. Gewährt aber der gesetzlichen Vermittlung kein subjektives Forderungsrecht. Bei Nichtsicherung des Existenzminimums aber VB wegen „gesetzlicher Schlechterfüllung“ der
Würdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG).
3. Ist von der Exekutive als Auslegungsdirektive bei der Anwendung des Rechts zu berücksichtigen.
4. Strahlt auch in das Privatrecht bei der auslegenden Kontrolle von Privatautonomie aus.
5. Inhalte
-
Fürsorge für Hilfsbedürftige
-
Pflicht zur Errichtung und Erhaltung sozialer Sicherungssysteme
-
sozialer Ausgleich zur Herstellung von Chancengleichheit (BaföG z.B.)
138
aber: immer durch den Gesetzgeber zu verwirklichen.
6. Kein Verbot sozialrechtlichen Rückschritts
VI. Staatszielbestimmung Art. 20a: Umwelt (natürliche Lebensgrundlagen) und Tierschutz
1. Staatsziele
-
Verpflichtungsadressat ist der Gesetzgeber
-
keine subjektiven Recht Dritter oder der Natur
2. Anthropozentische Sicht des Art. 20a GG
-
keine subjektiven Rechte etwa der Tiere
-
wohl aber Verbandsklagen (die Art. 20a GG allerdings nicht fordert)
3. Gesetzlich zu verwirklichende Schutzpflichten für die Rechtsgüter des Art. 20a GG
139
4. Teil: DAS RECHT DER VERFASSUNGSORGANE
A. Der deutsche Bundestag (Art. 38 – 48 GG)
Rechtstatsachen über den Deutschen Bundestag bietet Peter Schindler (Hrsg.), Datenhandbuch Bundestag, bisher fünf Bände: 1949 - 1982; 1980 - 1984, 1980 - 1987; 1983 1991;
1990 – 2010; zusammenfassend aus auch politologischer Sicht: Wolfgang Ismayr, Der Deutsche Bundestag. Funktionen, Willensbildung, Reformansätze, 1992 sowie Joachim Jens
Hesse/ Thomas Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl.
2012, S. 361 ff.
I. Verfassungsrechtliche Charakteristik des Deutschen Bundestages
s. dazu Hans Hugo Klein, Aufgaben des Bundestages, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HBStR
III, 3. Aufl. 2005, § 50 (S. 711 -740).
1. Rechtsstellung
- Verfassungsorgan (ohne „Organsouveränität“ – also keine angelsächsische ‚sovereignty of
Parliament’)
- Repräsentationsorgan
- - Repräsentation der Bundesrepublik Deutschland durch den Bundespräsidenten, Repräsentation des Volkes durch den Bundestag – Differenzen im Repräsentationsbegriff: „Vergegenwärtigung“ der BRD durch den Bundespräsidenten, Vertretung des Volkes in Art. 20
Abs. 1 Satz 1 GG
2. Verhältnis des Deutschen Bundestages zu anderen Verfassungsorganen und sonstigen
an der Hervorbringung der politischen Willensbildung Beteiligten
a) Bundestag und Bundesregierung
- Staatsleitung zur gesamten Hand (indes ohne Verantwortungsvermischung; Begriffsprägung bei Ernst Friesenhahn, Parlament und Regierung, VVDStL 16 (1958) S. 38; der Gesamthandsgedanke – allerdings immer unter Respekt vor der Gewaltenteilung – wird in der
Judikatur der Bundesverfassungsgerichte jetzt noch verdeutlicht, wenn die rechtzeitige Beteiligung des Bundestages an Akten der intergouvernementalen europäischen Zusammenarbeit eingefordert wird (s. BVerfGE 131, 152 (194 ff.) – ESM – Rn. 106 ff.)
140
Die Staatsleitung zur gesamten Hand ergibt sich aus dem (immer weiter ausgedehnten)
Kontrollrechten des Bundestages gegenüber der Bundesregierung (s. etwa G 10, immer zeitnähere Untersuchungsausschusskompetenzen, Fragerechte – Große- und Kleine Anfrage –
und der Vertrauensabhängigkeit der Regierung von der Mehrheit).
b) Bundestag und Bundesverfassungsgericht
- Normenkontrolle und Gesetzgeber
Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 2a GG i.V.m. § 63 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG: Bundesverfassungsgericht als „negativer Gesetzgeber“. Wegen des Anspruches der Minderheit (1/4 der Mitglieder des Bundestages, beachten Sie: nicht einer Fraktion) ist die Normenkontrolle gewissermaßen die Fortsetzung des Parteienstreits mit juristischen Mitteln.
Aber beachten Sie auch: Das Gericht kann immer nur auf Antrag entscheiden, nie ex officio; es ist an die Anträge gebunden (‚ne ultra petita’ gilt auch hier (= es kann nicht über
mehr entschieden werden, als der Antrag hergibt)); sein Verfahren entspricht dem eines
Gerichtes; es ist argumentativ auf Argumente beschränkt, die juristisch formulierbar sind.
- Zur Normenkontrolle, s. Wolfgang Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: HBStR III, 3. Aufl. 2005, § 50 Rn. 55 ff.
- Zur legitimatorischen Diskussion um die Verfassungsgerichtsbarkeit, Löwer a.a.O. § 50
Rn. 1 ff. m. Nachw. zum kontroversen Meinungsbild.
- Insbesondere die sog. "Karlruhe-Astrologie"
Das Phänomen meint die ängstliche Prognose des Gesetzgebers, ob eine gewählte Lösung in
Ansehung Karlsruher Präjudizien dort einer Prüfung wohl standhalte. Die Perspektive wird
von § 31 Abs. 1 und Abs. 2 BVerfGG ein Stück weit erzwungen, darf aber nicht dazu führen, dass die Präjudizien als in steingemeißelte Wahrheiten genommen werden. Der Gesetzgeber ist weniger gebunden – wegen der sich verändernden Verhältnisse - , als er häufig annehmen mag.
S. dazu z.B. Ernst Benda, Das Verhältnis von Parlament und Bundesverfassungsgericht, in:
Uwe Thaysen u.a. (Hrsg.), US-Kongress und Deutscher Bundestag, 1989, S. 218 (219).
c) Bundestag und politische Parteien
- Insbesondere: Die Fraktionen und die Verlagerung des Willensbildungsprozesses in Parteigremien
Nicht Parteien sitzen im Bundestag, sondern Fraktionen (die aus Personen gebildet sind, die
ihre Nomination einer politischen Partei verdanken und für den erneuten Mandatsgewinn
141
im Wege der Wiederwahl auf die politischen Parteien angewiesen sind). Fraktionen sind,
wie es das Bundesverfassungsgericht und das Gesetz ausdrücken, „notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und als Gliederung des Bundestages der organisierten Staatsgewalt eingefügt.“; s. auch §§ 45 ff. AbgG.
Fraktionsführungen arbeiten naturgemäß mit Parteiführungen zusammen, so dass ein Teil
der politischen Willensbildung in einen nicht öffentlichen Bereich verlagert wird. Das ist
nicht mehr die Volksvertretung, in der im Diskurs das bessere Argument vor den Augen der
Öffentlichkeit durch Überzeugung gewinnt (falls es das je gegeben hat – schließlich kennt
schon die Paulskirche Fraktionen).
Aber: Die Parlamentsöffentlichkeit wird dadurch nicht funktionslos, weil die Argumente
pro et contra immer noch öffentlich dargelegt werden müssen.
d) Bundestag und Verbände
- Institutionalisierte Einflussnahme: insbesondere Technik der parlamentarischen Anhörung
(vgl. GOBT § 70 mit Anlage 2 (Sartorius Nr. 35). Für Einzelheiten s. Andreas Voßkuhle,
Sachverständige Beratung des Staats, HBStR III, 3. Aufl. 2005, § 43, S. 425 ff.
Entscheidend ist: Das Parlament kann und darf sich die Letztverantwortung nicht aus der Hand
nehmen lassen. Insoweit war die Mehrwertsteuersenkung durch Schwarz/Gelb für
Hotelübernachtungen ein Negativbeispiel (im Lichte einer Großspende des einschlägigen
Verbandes).
e) Bundestag und Bundesstaatlichkeit
- Bindung an die Verbandskompetenz des Bundes
- Gesetzgebung zusammen mit dem Bundesrat
- - System einer gemischten Verfassung , die wegen ihrer zusätzlichen Vermehrung koorporierender Verantwortungsträger zu mehr Gewaltenteilung führt.
3. Formen der Willensbildung
Beschlüsse (mit Rechtsverbindlichkeit)
- z.B. Gesetzgebungsbeschlüsse
- Kreationsakte(Wahlakte)
- sog. schlichte Parlamentsbeschlüsse
- - zu deren Bedeutung
142
- - Allkompetenz des Parlaments unter Respekt vor der Gewaltenteilung (deshalb
„schlicht“ – sie sind rechtlich nicht verbindlich, signalisieren der Regierung aber, wie sie
mit dem Vertrauen des Parlaments in einer bestimmten Situation rechnen kann.)
II. Aufgaben des Deutschen Bundestages
1. Gesetzgebungsfunktion
s. dazu Hans H. Klein, a.a.O. § 50 Rn. 17 ff.
- s. Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG: Voraussetzungen der Verbindlichkeit eines Gesetzesbeschlusses
- - vorgängiges Verfahren: Gesetzesinitiative, Ausschussberatung, 3 Lesungen; ‚Struck’sches
Gesetz’: Kein Gesetz verlässt den Bundestag, wie es hineingekommen ist! Zum Gesetzgebungsverfahren insgesamt: S. Sonderkapitel.
- zur Erinnerung an für den Gesetzgeber beachtliche Schranken: Kompetenzielle Schranken
aus dem Bundesstaatsprinzip (Verbandskompetenz), insbesondere Art. 70, Art. 72 Abs. 2
GG; Schranken aus den Grundrechten; Schranken für die Gesetzgebung durch andere Verfassungsorganzuständigkeiten (z.B. im Bereich der auswärtigen Gewalt: Art. 59 GG; die
Richtlinien der Politik des Bundeskanzlers nach Art. 65 GG sind keine Schranke für den Bundestag. Art. 65 GG ist ein Prinzip der Regierungsorganisation, nicht ein gewaltenübergreifendes
Prinzip.
Kernbereiche der Regierung im Sinne von Sachthemen, auf die der Gesetzgeber nicht zugreifen darf, sind bislang nicht erfolgreich entwickelt worden; s. zuletzt den (im Ergebnis
nicht weiterführenden) Versuch von Thomas Kühl, Der Kernbereich der Exekutive, 1993, S.
41 f.
- Der Gemeinsame Ausschuss als Ersatzgesetzgeber (Art. 53a i.V.m. Art. 115a Abs. 2 GG als
Notparlament im Verteidigungsfall)
2. Kreationsfunktion des Deutschen Bundestages
s. Hans H. Klein, a.a.O. § 50 Rn. 27 ff.
- Der BT wählt die eigenen Organe (s. insbesondere Art. 40 Abs. 1 Satz 1, Art. 45b GG)
- Der BT wählt seine Ausschüsse (Art. 45a, 45c, Art. 44, Art. 77 Abs. 2 GG und weitere Fälle im einfachen Recht: § 9 G-10-Gesetz als Beispiel).
143
- Der BT ist beteiligt an der Kreation anderer Verfassungsorgane (Art. 63: Bundeskanzler;
Art. 67: Misstrauensvotum; Art. 54: Bundesversammlung; Art. 61 Abs. 1 Präsidentenanklage; Art. 94 Abs. 1 i.V.m. § 6 BVerfGG = Bundestag wählt die Hälfte der Verfassungsrichter
(andere Hälfte der Bundesrat); Art. 95 Abs. 2 GG: Beteiligung an der Wahl der Bundesrichter; Art. 98 Abs. 2 Richteranklage; weitere Möglichkeiten: Missbilligungsbeschlüsse, Vertrauensfrageersuchen, dazu sogleich unten 3b).
- Vielfältige Beteiligung an der Kreation gesetzlich eingerichteter Organe, z.B. Verwaltungsrat Deutschlandfunk, Deutsche Anlagebank etc.
3. Parlamentarische Regierungskontrolle
s. Hans H. Klein, a.a.O. § 50 Rn. 33 ff.
a) Erscheinungsformen
s. dazu Walter Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen. Ein Beitrag zur
rechtlichen Analyse von gerichtlichen, parlamentarischen und Rechnungshof-Kontrollen,
1984, S. 120 f. sowie Karl Ulrich Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip. Problemstudien
zu einer legitimationsorientierten Theorie der politischen Kontrolle in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1982.
- Sie ist nicht nur nachträgliche Kontrolle am vorgegebenen Maßstab, sondern "dirigierende"
Kontrolle die auch in allen anderen Parlamentsfunktionen eingeschlossen sein kann; folglich
ist sie – was im Begriff der Kontrolle ein Stück weit anders angelegt ist – auch nicht nur
nachgängig, sondern eben auch begleitend, „dirigierend“.
- Parlamentarische Kontrolle ist nur zu verstehen als Kehrseite der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung.
- Wenn Sie das Grundgesetz lesen, gibt es „den Bundestag“ und „die Bundesregierung“;
ersterer kontrolliert die letztere. So hat man sich das im 19. Jh. in der Tat gedacht. Die ihre
Legitimation von Monarchen empfangende Exekutive wird von der Volksvertretung kontrolliert. Wie schon die Minderheitenrechte in der Kontrolle zeigen (z.B. Art. 44 GG), stimmt
diese Frontstellung so nicht (mehr). In der Öffentlichkeit des Parlaments kontrolliert die Opposition die Regierung – und nicht der Bundestag. Deshalb gilt:
- Die "neue" Frontstellung der Konkordanz von Mehrheitsfraktionen mit der Regierung gegen die Opposition; die „neue“ Frontstellung darf aber auch nicht überschätzt werden; die
Mehrheit ‚kontrolliert’ die Bundesregierung sehr wohl – im Willensbildungsprozess zwischen Fraktion und Bundesregierung. Die Fraktionssitzung ist insofern nur der Schluss-
144
punkt dieser – nicht sichtbaren – Form der Interaktion („Kontrolle“) der Regierung durch
die Fraktion.
b) Kontrollinstrumente
- sanktionierend: Misstrauensvotum, Art. 67 GG
- nicht sanktionierende Kontrollbeschlüsse: Aufforderung, die Vertrauensfrage zu stellen
sowie Missbilligungsbeschlüsse gegen Bundesminister; die Zulässigkeit solcher Beschlüsse
ist heute nicht mehr strittig; s. etwa Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 67 Rn. 37 ff.; das war
indes nicht immer so, s. die Darstellung bei Fritz Münch, Die Bundesregierung, 1954, S.
178 ff. mit interessanten Hinweisen auf die Diskussion des Problems in der Frühgeschichte
der Bundesrepublik.
- informierende Kontrollinstrumente:
- - Art. 43 Abs. 1 GG - Zitierrecht; Art. 45c GG Petitionsausschuss; Art 45b GG Wehrbeauftragter des Bundestags; Große und Kleine Anfrage nach Maßgabe der GOBT.
Frage: Wo liegt der Ursprung Antwortpflicht der Bundesregierung? Ursprünglich war streitig (im 19. Jh.), ob dem Zitierrecht des Parlaments die Pflicht zum Antwort geben entsprach. Das wurde aber ganz herrschend schließlich bejaht. Aus dem Zitierrecht wurde auch
die Basis für Kleine und Große Anfrage abgeleitet. Dann war die Antwortpflicht aber für
die Minderheit nicht erzwingbar. Also hat das Bundesverfassungsgericht auf den Abgeordnetenstatus als Rechtsgrund umgeschaltet. Aus der Information als Voraussetzung für die
Ausübung des Abgeordnetenmandates folgt die Verpflichtung der Regierung zur Antwort
(BVerfGE 57, 1 (5); 67, 100 (129)).
- - Art. 44 GG: Parlamentarische Untersuchungsausschüsse i.V.m. PUAG
Das Untersuchungsrecht ist nach Art. 44 GG (auch) ein Minderheitenrecht (s. oben zur
„Frontstellung“ zwischen Parlament und Regierung).
Das gilt – ausgeformt im PUAG – auch für das Beweisantragsrecht (in einer Demokratie für
die betroffenen Bürger alles andere als selbstverständlich, dass sie der Minderheit „untertan“ sein müssen!).
Beispiel: Die Minderheit setzt einen Untersuchungsausschuss zur steuerlichen Lage von
prominenten Sportlern ein – wegen deren unpatriotischer Schweiz- und Monaco-Flucht.
Dazu braucht der Ausschuss Informationen von hier niedergelassenen Schweizer Banken
und den Finanzbehörden. Der Beweisantrag der Minderheit wird zurückgewiesen, weil damit in das Steuer- und Bankengeheimnis eingegriffen würde. (S. dazu die „Mutter“ aller
Untersuchungsausschuss-Entscheidungen: BVerfGE 67, 100)
145
Im Ergebnis tragen die Geheimnis-Einwendungen in keiner Konstellation mehr. Geheimnisse sind heute auch solche zur gesamten Hand. Der Bundestag muss durch entsprechende
Vorkehrungen die Geheimnisse nach außen wahren (s. Geheimschutzordnung: Verschlusssache, Geheimschutzstelle etc.), nach innen werden die Abgeordneten zu Geheimnisträgern,
die zur Geheimhaltung nach außen verpflichtet sind. S. zuletzt BVerfGE 124, 78 (129).
- Verfassungsgerichtliehe Verfahren als Kontrollinstrumente (vgl. Art. 93 Abs. 1 GG)
4 . Öffentlichkeitsfunktion
- Art. 42 Abs. 1 GG, 44 GG (aber fehlende Öffentlichkeit bei den Ausschüssen: §§ 69, 70
GOBT); bei Art. 44 GG ist aus Gründen des Diskretionsschutzes ein Ausschluss der Öffentlichkeit denkbar.
III. Der Abgeordnete
S. dazu Hans H. Klein, Der Status des Abgeordneten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HBStR
III, 3. Aufl. 2005, § 41, S. 367-389; monographisch s. Wolfgang Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994.
1. Das freie Mandat (Art. 38 Abs. 2 GG)
- Der Abgeordnete als Kompetenzträger:
Konsequenzen für den Organstreit: Keine Berufung auf Grundrechte. Beispiel: Der Deutsche Bundestag will den Abgeordneten X auf seine Stasi-Verbindung untersuchen; X wendet ein, damit werde sein Persönlichkeitsrecht verletzt (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1
GG).
Im Organstreit können nur die die organschaftliche Stellung betreffenden Normen geprüft
werden, keine Grundrechte. Die Verfassungsbeschwerde ist dem Abgeordneten bzgl. seiner
Rechte als Kompetenzträger verschlossen (s. BVerfGE 94, 351 (365) – Gysi; LVerfG
Mecklenburg-Vorpommern, v. 11. Juni 1996 – LVerfG 1/96, LVerfGE 5, 203 (217) = LKV
1997, S. 94 f.)
- Formprinzipien: Amtsprinzip; vgl. BVerfGE 40, 296 (314) sowie Wolfgang Demmler,
a.a.O., S. 41 - 54, Repräsentationsprinzip, Gewissensbindung (s. BVerfGE 40, 296 (314):
146
Der Abgeordnete ist „Inhaber eines öffentlichen Amtes, Träger des ‚freien Mandats’ und
Vertreter des ganzen Volkes“).
- Die Freiheit des Mandats in der Parteienstaatlichkeit: Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG
- - Über das angebliche Spannungsverhältnis zwischen Art. 38 und Art. 21 GG: Richtig ist:
Der Abgeordnete gewinnt sein Mandat wegen seiner Nomination durch die Partei. Er wird
auch gewählt, weil er einer bestimmten Partei angehört. Frage: Muss er damit nicht seiner
Partei folgen und sein Mandatsverhalten an ihren Vorgaben ausrichten? Hat er nicht nur,
wie Norbert Achterberg formulierte, ein „Rahmengebundenes Mandat“? (1975) (ders. Parlamentsrecht, 1984, S. 222 ff.) Solche Konsequenzen verfehlen den normativen Sinn des
Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Im Ergebnis sind beide Vorschriften zusammen zu sehen, Art. 21
Abs. 1 GG will die parteienstaatliche Ordnung, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG bildet eine Grenze
für den parteienstaatlichen Zugriff auf den Abgeordneten.
- - Daraus resultieren verschiedene Problemfelder:
- - - Der sog. Fraktionszwang. Dieser politische Sprachgebrauch erweckt Zweifel: Die
Fraktionsvorsitzenden verkünden, sie wollen die Abstimmung in einer das Gewissen
betreffenden Frage (Bio-Ethik usw.) freigeben. Anschließend heißt es, es sei eine
„Sternstunde des Parlamentarismus gewesen“. Frage: Ist denn die Abstimmungn
staatsrechtlich nicht immer frei? Doch, wie Art. 38 unmissverständlich normiert. Aber es
gibt gute Gründe für die Einhaltung der Fraktionsdisziplin.
- - - Fraktionsausschluss [dazu Klein, a.a.O., Rn. 17; StGH Bremen, DöV 1970, 639 ff.;
Bbg VerfG, DöV 1997, 292; BerlVerfGH NVwZ-RR 2006, 441 (443 ff.)]; der Fraktionsausschluss ist eine im Organstreitverfahren prüfbare Maßnahme. Er setzt jedoch erhebliche
Differenzen der Fraktion mit ihrem Mitglied voraus. Abweichen von der Stimmlinie reicht
nicht aus.
- - - Ausschussrückruf (zulässig, s. BVerfGE 80, 188 (233 f.) – Wüppesahl (allerdings für
den Rückruf eines aus der Fraktion ausgeschiedenen Mitgliedes). Nach h.M. ist der Rückruf
aus Ausschüssen (s. § 57 Abs. 2 GOBT) unproblematisch nach dem Motto „Wer benennen
darf, darf auch abberufen“; so selbstverständlich ist das nicht, s. Hans H. Klein, a.a.O., Rn.
18.
- - - Nichtwiederaufstellung als Kandidat bei der nächsten Wahl (selbstverständlich zulässig).
- Die Freiheit des Mandates nach Maßgabe des Gewissensformel:
147
- - Frage: Was heißt „nur seinem Gewissen verpflichtet“? Rhetorischer Überschuss des
Gewissensbegriffes: Gilt die Freiheit nur, wenn „letzte Fragen der Moral“ (Stammzellen,
Bioethik, Schwangerschaftsabbruch) betroffen sind oder heißt „Gewissen“, Handeln nach
eigner Entschließung? → Gewissen ist die Chiffre dafür, dass der Abgeordnete in jeder
Frage nach selbstgesetzten Maßstäben entscheiden darf – nicht muss (s. oben zum
„Fraktionszwang“) (Hans H. Klein, a.a.O., Rn. 4).
2. Das freie Mandat als Beruf (BVerfGE 40, 296 - Diäten)
- Geschichte und Rechtsgrund der Diäten
- Beruf neben dem Mandat?
- - Frage: Welches Abgeordnetenbild liegt Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zugrunde: Das des Berufspolitikers, der Politik für sich zum Beruf macht oder das des Bürgers im Parlament, der
sich auf Zeit der Politik zuwendet? s. § 44a AbgG (sog. Mittelpunktsregelung)
- - Die Diäten ermöglichen den Berufspolitiker, erzwingen ihn aber nicht.
Beispiel: Der Abgeordnete X ist Rechtsanwalt. Er erscheint nur zur Hälfte der Sitzungswochen, außerhalb ist er gar nicht im Parlament anzutreffen. Der Bundestagspräsident mahnt
ihn ab; er verletze seine Pflichten, weil er noch den Anwaltsberuf ausübe. → Pflichtverletzung ja, weil er anwesenheitspflichtig ist, Pflichtverletzung wegen Berufsausübung neben
dem Mandat? Nein! Kann die Pflichtverletzung sanktioniert werden, z.B. durch Diätenkürzung? Nein, s. § 14 AbgG.
- - Die Annahme eines Vollzeitmandates ist für die Landesparlamente weniger zwingend
und überzeugend.
- - Das BVerfG verschiebt in seiner Transparenzentscheidung den Akzent hin zum Berufspolitiker, s. BVerfGE 118, 277.
3. Mandatsverzicht und Verwandtes
- Der freiwillige Mandatsverzicht ist selbstverständlich zulässig. Ein Zwang zur Mandatsausübung wäre mit der Freiheit des Mandates nicht vereinbar.
- Irrelevanz der Parteimitgliedschaft für das Mandat nach dem Mandatsgewinn; Parteiausschluss oder – austritt führt nicht zum Mandatsverlust.
- Vereinbarungsfeindlichkeit des Mandatsbestandes:
- - Zur - verfassungswidrigen - Rotationsvereinbarung der GRÜNEN Nds StGH NJW 1985,
2319 ff.; dazu die Literaturhinweise bei Hans H. Klein, a.a.O., Rn. 20, Fn. 66.
148
- - Verbot rechtsgeschäftlicher Vereinbarungen über den Mandatsbestand (BVerfGE 2, 1
(47)): „Für den Fall, dass ich über den [Datum] hinaus an meinem Mandat festhalte, zahle
ich 5.000 € in die Parteikasse.“
- - Unwirksamkeit von Blankoverzichtserklärungen (BVerfGE 2, 1 (74))
- Kein „Recall“ durch die Partei
- Unzulässigkeit des sog. ruhenden Mandats (vgl. dazu HessStGH ESVGH 27, 193) (s.
schon oben zum Wahlrecht und dem Grundsatz der Unmittelbarkeit unter 3. Teil II. 4. b))
- Zulässig ist der Mandatsverlust wegen eines Parteiverbots (vgl. § 47 Abs. 1 Nr. 5
BWahlG) s. BVerfGE 2,1 (72 ff) – SRP-Urteil; darin liegt eine Reaktion auf die Weimarer
Rechtslage, die das Parteiverbot kannte, aber gerade keinen Mandatsverlust. Deshalb waren
die ausgesprochenen NSDAP-Verbote nicht effektiv; in den Parlamenten durften sie wirksam bleiben.
- Grundsätzlich ist das Mandat aus persönlichen Gründen, die der Abgeordnete nicht offenlegen muss, auch verzichtbar (s. aber oben zur Rotation!).
- Inkompatibilitäten (vgl. Art. 137 Abs. 1 GG i.V.m. §§ 5 ff. AbgG); s. oben zum Wahlrecht
unter 3. Teil II. 4. b); außerdem: für den Bundespräsidenten vgl. Art. 55 Abs. 1 GG; für
Bundesverfassungsrichter Art. 94 Abs. 1 Satz 3 GG; für Bundesratsmitglieder § 2 GOBR;
weiterhin § 18 Abs. 2 BDSG für den Datenschutzbeauftragten und § 12 des Rechnungshofgesetzes für die Rechnungsprüfer. Mitglied eines Landtages und des Bundestages kann man
indes gleichzeitig sein.
4. Pflichten des Abgeordneten
- Nicht-sanktionierte Amtierungspflichten
s. §§ 13 f. AbgG; „faule“ Abgeordnete gibt es; wegen der dauernden Pflicht, für die Anwesenheit in Ausschüssen Listen zu unterschreiben, weiß man das auch.
- Beachtung der Gesetzes- und Verfassungsbindung aus Art. 20 Abs. 3 GG; die Gesetzesbindung der Abgeordneten aktualisiert sich z.B. bei der Untersuchungsausschusstätigkeit
des Abgeordneten oder bei Bindungen des Parlaments an einfache Gesetze im Rahmen der
Selbstbindung des Gesetzgebers (die indes eine rare Entscheidungssituation ist, da solch
einfaches Recht zu Disposition des Gesetzgebers steht: S. aber die Ratifikation
völkerrechtlicher Verträge, deren Nichtbeachtung verletzt Völkerrecht).
- Verhaltensregeln für die Mitglieder des Deutschen Bundestages; § 44a AbgG und § 44 b
AbgG, z.B. Transparenzpflichten (s. BVerfGE 118, 277 (352 ff.)).
- Bindung an das Geschäftsordnungsrecht des Deutschen Bundestages
- § 353 b StGB i.V.m. der Geheimschutzordnung als Pflicht zur Geheimhaltung
149
5. Rechte des Abgeordneten
s. dazu Hans Josef Vonderbeck, Die Rechte eines Mitgliedes des Deutschen Bundestages,
ZParl 14 (1983), S. 311 - 356; Hans H. Klein, a.a.O., § 51, Rn. 31-40
a) Recht im Sinne versubjektivierter Kompetenz zur Teilhabe an der Parlamentsarbeit
- Mitwirkungsrechte (Art. 42 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und Art. 77 Abs. 1 Satz 1 (Reden und
Abstimmen)
Fall: Der Bundestag verabschiedet eine neue Diätenregelung. Fraktion A betreibt als Prozessstandschafter für den Bundestag ein Organstreitverfahren. Die Abgeordneten seien im
Diätenrecht befangen und deshalb hätte der Gesetzesentwurf nicht verabschiedet werden
dürfen. Wie wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden? → Es würde den Antrag zurückweisen, weil der Bundestag auch in sua causa entscheiden darf und aus demokratischen
Gründen sogar entscheiden muss (Hans H. Klein, a.a.O., § 51, Rn. 32, Fn. 133).
Das Rederecht als Form der Mitwirkung besteht nach Maßgabe des autonom gesetzten Geschäftsordnungsrechts (s. §§ 27 ff. GOBT); BVerfGE 80, 188 (228 f.) – Wüppesahl für den
fraktionslosen Abgeordneten.
- Die kontingentierte Debatte; BVerfGE 10, 4 (12)
Recht auf Fraktionsbildung (Koalitionsrecht des Abgeordneten) (BVerfGE 43, 142 (149);
70, 324 (354); 80, 188 (218); dazu Demmler, a.a.O., S. 160 f.)
- Fraktion als maßgebliche Gliederung des Bundestages
Informationsrechte (§§ 100 - 105 GOBT) mit Antwortpflicht der Regierung
- Ausgangspunkt ursprünglich: Zitierrecht nach Art. 43 Abs. 1 GG, aber kein Minderheitenrecht. Deshalb → Begründung aus dem Status des Abgeordneten: Er muss die mandatsausübungsrelevanten Informationen von der Bundesregierung erbitten können. Damit wird das
Fragerecht folglich zum Informationsrecht der Opposition kraft Art. 38 GG. BVerfGE 57, 1
(5); 67, 100 (129) st. Rspr.
- Antragsrechte (z.B. § 82 Abs. 1 GOBT): Zum Teil abhängig von einem Quorum: Art. 76
Abs.1 GG, §§ 75 Abs. 1 lit. a), 76 Abs. 1 GOBT; Art 44 GG; § 101 GOBT.
b) Persönliche Rechte (= echte subjektive Rechte)
- Gleicher Parlamentszugang (Art. 48 GG)
150
Faktisch ist Gleichheit bei der unterschiedlichen Risikolage verschiedenen Berufsträger nur
schwer zu gewährleisten (s. öffentlicher Dienst v. Freiberufler mit unterschiedlicher Risikoposition)
- Angemessene Entschädigung (Art. 48 Abs. 3 GG)
BVerfGE 40, 296 – Orientierungsmaßstäbe: Richtergehälter als Vergleichsgrößen o.ä.; Fulltime-Job als Prämisse: Voll-Alimentation, Kostenpauschale, Freifahrschein, Übergangsgeld
und Altersversorgung.
Verbot der Fraktionsbesoldung für Parlamentsmitglieder; BVerfGE 40, 296 [sog. erstes
Diätenurteil] akzeptiert nur für BT-Präsident, Fraktionsführung; keine Finanzierung von
Ausschussvorsitzenden etc. aus der Fraktionskasse ─ BVerfGE 102, 224 [sog. zweites Diätenurteil]; im einzelnen noch streitig.
- Kein Verbot der Berufsausübung (wohl Verbot einer mandatsbezogenen Bezahlung durch
Dritte); a. M. für Verbot der Berufsausübung Hans Herbert von Arnim, BK (Zweitbearbeiter), Art. 48 Rn. 48 (falsch!); zu den Transparenzregeln s. §§ 44a, 44b AbgG.
c)
Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments durch den Abgeordneten mittelbar
begünstigende Privilegien (der Sache nach geht es um Parlamentsprivilegien)
Beispiel 1: Der Abgeordnete L beruft vor der Plenarsitzung eine Pressekonferenz ein, in
welcher er bekannt gibt, er werde gleich im Plenum mitteilen, dass der – namentlich
bezeichnete – Chefarzt X in einen gewaltigen Transplantationsskandal mit vorsätzlicher
Tötung verstrickt sei. Er werde bald hinter „schwedischen Gardinen“ sitzen.
X erstattet – nachdem die Aussage im Plenum wiederholt worden ist – Strafanzeige wegen
Verleumdung. Wird die Staatsanwaltschaft ermitteln?
Alternative: Der Abgeordnete gibt nach der Plenardebatte eine Pressekonferenz, in der er
seine Anschuldigung wiederholt. Wird die Staatsanwaltschaft – nach entsprechender
Anzeige – ermitteln?
Beispiel 2: Der Abgeordnete ist zugleich Minister. Bei der Beantwortung einer mündlichen
Anfrage verleumdet er den Präsidenten des Arbeitgeberverbandes, indem er ihm eine
Stasispitzel-Tätigkeit andichtet.
Wird die Staatsanwaltschaft auf entsprechende Anzeige hin ermitteln? (s. Hans H. Klein,
Maunz/Düring, GG, Art. 46, Rn. 36 → Rolle entscheidet; hier nicht Abgeordneter, sondern
Minister)
- Art. 46 Abs. 1 GG Indemnitätsschutz (s. aus der Sicht des Bundesstrafrechts § 36 StGB).
Reichweite des Schutzes: Strafrecht, Zivilrecht, ehrengerichtliche Inanspruchnahme,
Disziplinarrecht, nicht für den Parteiausschluss (str., unrichtig in der Erstreckung auf „pri-
151
vate“ Sanktionsmaßnahmen m. E. Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6.
Aufl., Art. 46 Rn. 24); der Indemnitätsschutz bietet keine Verantwortungsfreiheit vor parlamentarischen Ordnungsmaßnahmen (§ 38 GOBT). Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG: Indemnität
wird durch Art. 40 GG spezialiter eingeschränkt.
Strafrechtsdogmatisch
handelt
es
sich
wohl
um
einen
persönlichen
Strafausschließungsgrund. Sachlich erfasst der Indemnitätsschutz (außerhalb der verleumderischen Beleidigung) die Tätigkeit des Abgeordneten im Plenum und in den Ausschüssen
i.w.S. des Bundestages unter Einschluss der Fraktionen. Nicht geschützt ist die Tätigkeit
außerhalb des parlamentarischen Bereichs (Partei oder Wahlveranstaltungen). Wiederholungen von im Plenum gemachten Äußerungen sind im Allgemeinen vom Privileg des Art.
42 Abs. 3 GG erfasst (BGHZ 75, 384 (387 f.)). (s. oben das Beispiel mit der Alternative).
In der ersten Alternative muss der Abgeordnete die Äußerungskonsequenzen tragen, weil er
sich zuerst in der Öffentlichkeit geäußert hat.
- Art. 46 Abs. 2-4 GG Immunität: Hier geht es um ein bloßes Verfahrenshindernis (BVerfGE 104, 310 (326)); das Immunitätsverfahren richtet sich nach § 107 GOBT i.V.m. den
einschlägigen Richtlinien. Die Immunität schützt das Parlament vor sachwidrigen Eingriffen der Exekutive. Deshalb kann der Abgeordnete auf die Immunität auch nicht verzichten
((BVerfGE 104, 310 (327)). Funktional zum Parlamentsprivileg beschränkt sich die Prüfung auf eine bloße Sachwidrigkeitskontrolle. Das Verfahrenshindernis ist durch den Deutschen Bundestag aufzuheben, wenn dieser sich von der Sachbezogenheit des Ermittlungsverfahrens überzeugt hat. Genehmigung heißt hier: vorherige Zustimmung. Art. 46 Abs. 4
GG gibt dem Bundestag das sogenannte Reklamationsrecht. Der Abgeordnete hat einen
Anspruch auf willkürfreie Entscheidung über das Verlangen auf Aussetzung des
Strafverfahrens (BVerfGE 104, 310 (331)).
- Art. 47 GG: Zeugnisverweigerung und Durchsuchungs- und Beschlagnahmeschutz
- - Rechtsgrund der Zeugnisverweigerung: Vertrauensverhältnis des Abgeordneten und
einem Dritten, das in Rücksicht auf die Mandatsausübung zustande gekommen ist
(BVerfGE 108, 251 (269)).
Beispiel: Die Staatsanwaltschaft kann den Nachweis der Korruption nur führen, wenn der
Abgeordnete, der ein vertrauliches Gespräch über Korruptionspraktiken mit dem
Angeklagten geführt hat, als Zeuge gehört wird. Muss der Abgeordnete aussagen? → Nein,
aus dem oben genannten Rechtsgrund.
Alternative: Bei dem Gespräch war auch der Mitarbeiter des Abgeordneten zugegen. Muss
dieser aussagen? → Nein, s. Rechtsgrund oben; der Mitarbeiter nimmt am
Vertraulichkeitsanspruch teil.
152
Allerdings: Der Abgeordenete entscheidet, ob von dem Vertraulichkeitsschutz Gebrauch
gemacht werden soll.
- - Rechtsgrund des Durchsuchungs- und Beschlagnahmeschutzes ist Art. 40 Abs. 2 Satz 2
GG (Schutz des Bundestages vor der Exekutive) i.V.m. Art. 47 Satz 3 GG (Rechtsgrund
wie oben).
Beispiel: Nachdem die Staatsanwaltschaft den Abgeordneten nicht als Beweismittel
gewinnen kann, beschließt sie
a) das Abgeordnetenbüro
b) das Mitarbeiterzimmer
c) die Wohnung des Mitarbeiters
zu durchsuchen. Der Bundestagsprädsident, dem der Abgeodnete wegen seiner Faulheit
schon lage ein Dorn im Auge ist, erteilt die Durchsuchungserlaubnis für a), b) und c).
Der Abgeordnete wendet sich im Organstreit gegen den Bundestagspräsidenten. Da die
Entscheidung von sachfremden, willkürlichen Motiven getragen ist, wird er Erfolg haben
(BVerfGE 108, 251 (276)).
Im Beispiel a), b) und c) beschlagnahmt die Staatsanwaltschaft Schriftstücke, die sich auf
das Gespräch des Abgeordneten mit dem Angeklagten über Korruptionspraktiken beziehen.
a) und b) → unzulässig, wegen Art. 47 Satz 3 GG
c) zulässig, weil „Mitarbeiter“ nur geschützt, soweit sich die Papiere in der
Direktionsgewalt des Abgeordneten befinden. Diese erstreckt sich nicht auf die Wohnung
des Mitarbeiters (BVerfGE 108, 251 (269 f.))
- Frage: Haben sich die Parlamentsprivilegien Immunität und Indemnität überlebt?
- - Verfassungshistorischer Hintergrund
- - Wegfall des ursprünglichen Sinnes?
6. Verfassungsprozessualer Status
§ 63 BVerfGG i.V.m. Art. 93 Abs. 1 Satz 1 GG: Parteifähigkeit des Abgeordneten als ein
mit eigenen Rechten ausgestatteter "anderer Beteiligter", soweit er Rechte aus seinem eigenen Status als Abgeordneter gelten machen will, s. etwa BVerfGE 10, 4 (10); 60, 374 (378);
62, 1 (31 f.); 70, 324 (350); 80, 188 (208 f.); zur Abgrenzung BVerfGE 90, 286 (342 f.) AWACS. Die Abgeordneten können allerdings in diesem Verfahren nur ihren Status verteidigen und nicht etwa auch ihre Grundrechte geltend machen (s. oben III 1).
153
Davon zu unterscheiden wäre die Position des Prozeßstandschafters; der Abgeordnete würde dann fremde Rechte im eigenen Namen im Organstreit geltend machen. Das BVerfG
akzeptiert den Abgeordneten aber nicht als Organteil ─ aus pragmatischen Gründen: Ausschluss von „Prozeßhanseln“ (das Gericht sagt das so nicht); der Abgeordnete kann prozeßstandschaftlich nur über die Fraktion tätig werden, indem er dort die Mehrheit für einen
Organstreitantrag der Fraktion sucht.
IV. Innere Organisation des Bundestages
s. dazu Wolfgang Zeh, Gliederung und Organe des Bundestages, in: HBStR III, 3. Aufl.
2005, § 52.
1.
Die Ordnung des Bundestages im Spiegel der Normen
des Grundgesetzes (vgl. Art. 40 Abs. 1, 44, 45a, 45b, 45c, 43, 53a Abs. 1 Satz 2 GG (Erwähnung der Fraktionen)).
2.
Die Fraktionen als bedeutendste innere Formierung des Bundestages (§ 10
GOBT)
s. Gerald Kretschmer, Fraktionen. Parteien im Parlament, 2. Auf1. 1992; Wolfgang Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994, S. 149 f.; Wolfgang Zeh, a.a.O., §
52, Rn. 6-25
a) Verfassungsrechtliche Charakteristik
- Kein Organ des Bundestages, sondern "Partei im Parlament "; Fraktionen als „notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens“ (vgl. BVerfGE 10, 4 (14); 43, 142 (147); 70, 324
(350); 80, 188 (219); 96, 264 (278 f.)); sie sind notwendig für die Funktionsfähigkeit des
Parlamentes: Bündelung der sonst individualisierten Einzelsichten zu „verständigungsfähigen Einrichtungen“ (Zeh, a.a.O., § 52, Rn. 6). „Rechtsgrund“: Art. 21 GG (BVerfGE
10, 4 (14); 43, 142 (147)), aber in erster Linie Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, was neuerdings
mehr betont wird, s. BVerfGE 70, 324 (363); 96, 264 (278).
- Für die Fraktionen als Regelungssubjekte (parlaments-)rechtlicher Regelungen gilt der
Grundsatz formaler Chancengleichheit. s. dazu BVerfGE 70, 324 (363); 80, 188 (218);
SächsVerfGH v. 17.02.1995, SächsVBl. 1995, 227; v. 26.01.1996, DÖV 1996, 783. Daraus
erklärt sich das Verbot an die Fraktionen, Abgeordneten Zusatzentschädigungen bezahlen
zu dürfen (s. die im einzelnen umstrittene Entscheidung BVerfGE 102, 224).
154
b) Rechtsnatur der Fraktionen
- Streit in der Literatur: Verein, nicht rechtsfähiger Verein, öffentlich rechtlicher Verein (?),
öffentlich-rechtliche Körperschaft (?), Organ oder Organteil des Bundestages (gewiss
falsch) oder Teil der Parteien (noch gewisser falsch).
- s. § 45 f. AbgG
Bestimmung der Rechtsnatur über § 46 AbgG hinaus ist auch nicht nötig. Soweit sie auf
den Status der Mitglieder einwirken (z.B. Fraktionsausschluss) handeln sie im verfassungsrechtlichen Rechtskreis; solche Streitigkeiten sind organstreitfähig.
c)
Innere Gliederung der Fraktionen
Geschäftsordnungen der Fraktionen = Selbstorganisation
s. dazu die Geschäftsordnungen der Fraktionen im Deutschen Bundestag, greifbar in Ritzel/Bücker/Schreiber, Handbuch für die Parlamentarische Praxis, Loseblatt in dem Fach
'Fraktionen’.
d) Finanzierung der Fraktionen
s. dazu Jürgen Jekewitz, Fraktionszuschüsse in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: ZParl 15 (1984), S. 14 ff.; Zeh, a.a.O., Rn. 11 f.: Fraktionen dürfen mit
staatlichen Zuschüssen finanziert werden, weil sie als ständige Gliederung des Bundestages
der "organisierten Staatlichkeit" eingefügt sind - so das BVerfG in ständiger Rechtsprechung: BVerfGE 20, 56 (104); 62, 194 (202), zuletzt BVerfGE 80, 188 (231). S. § 50 AbgG
– mit Oppositionszuschlag. Allerdings darf es nicht zu einer Doppeldeckung derselben
Ausgaben über Fraktionszuschüsse und Abgeordnetenpauschalen nach § 12 AbgG
kommen. Die Fraktionen finanzieren sich im Übrigen auch aus Beiträgen der Fraktionsmitglieder, von denen erwartet wird, dass sie einen Teil ihrer Diäten für die gemeinsame Arbeit
zur Verfügung stellen; zu den Rechtstatsachen s. Kretschmer, a.a.O., S. 58 - 60. Sie erhalten
heute wohl Zuschüsse in der Größenordnung von 80 Mio €. Nach § 57 AbgG prüft der
Bundesrechnungshof
die
Fraktionsfinanzen
(es
geht
um
Steuergelder);
Prüfungsschwerpunkt ist immer auch, dass die Fraktionen keine Parteiaufgaben finanzieren
(s. Problem der CDU in Rheinland-Pfalz unter dem Fraktionsvorsitz des Abgeordneten Dr.
Christoph Böhr). S. auch BVerfGE 102, 224.
e) Parlamentarische Befugnisse der Fraktionen
- Auf der Basis der Freiheit und Gleichheit sind den Fraktionen in der Geschäftsordnung
eine Fülle von Befugnissen zugewiesen.
155
f)
Verfassungsprozessualer Status
Wie der einzelne Abgeordnete kann auch die Fraktion ihren eigenen Status verteidigen, wie
auch in Prozessstandschaft Rechte des Bundestages, die einem Antragsgegner gegenüber
zustehen können, geltend machen, s. BVerfGE 68, 1 (65); Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG gewährt
die Prozessstandschaft
nicht;
sie ist
einfach-rechtliche (zulässige) Zugabe des
Bundesverfassungsgerichtes. Für die Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG sind
nicht Fraktionen in Bezug genommen, sondern Mitglieder. Der Antrag einer Fraktion muss
deshalb – auch wenn sie größer ist, als ein Mitgliederviertel – von den Abgeordneten
persönlich gestellt werden.
3. Gruppen
s. Wolfgang Zeh, a.a.O., § 52, Rn. 20
Ausgangspunkt: Die Grundmandatsklausel und das Scheitern der PDS/Die Liste in der bundesweiten 5%-Klausel. Lösung: § 10 GOBT.
Erreichen Abgeordnete gleicher Parteizugehörigkeit oder eines Wahlbündnisses nicht die
vorgegebene Fraktionsstärke, muss der Bundestag deren Zusammenschluss zu einer Gruppe
anerkennen, z.B. wenn auf sie bei gegebener Ausschussgröße auf der Grundlage des angewandten Proportionalverfahrens ein oder mehrere Ausschusssitze entfallen, sind auch
Gruppenmitglieder in den Ausschuss zu berufen.
(Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG i.V.m. § 10 Abs. 4 GOBT: Aus dem "können" in § 10 Abs. 4
wird eine Verfassungsrechtspflicht ("müssen") zur Anerkennung, wenn die genannten Prämissen erfüllt sind, s. BVerfGE 84, 304 sowie 96, 264).
Die Rechtsstellung der Gruppen (Finanzierung!) ist der der Fraktionen angenähert, aber
nicht mit ihr identisch (BVerfG, a.a.O.). Sie wird jeweils durch Beschluss des Bundestages
am Beginn der Wahlperiode festgelegt. Berücksichtigung bei der Proportionalverteilung auf
Ausschüsse (aber kein Grundmandat) – also keine zwingende Mitgliedschaft in jedem
Ausschuss (s.o.); keine Berücksichtigung beim Ausschussvorsitz (BVerfGE 84, 304 (328)),
nicht im Ältestenrat (BVerfGE 96, 264 (328)), nicht im Gemeinsamen Ausschuss nach Art.
53 a GG, (s. BVerfGE 84, 304 (334 ff.) – aber eine 4:4 Entscheidung). Initiativrechte
werden regelmäßig denen der Frakionen angeglichen.
4. Die Opposition
s. dazu monographisch Hans-Peter Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, Grundlagen, 1974; Stephan Haber-
156
land, Die Verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz, 1995;
Wolfgang Zeh, a.a.O.,§ 52, Rn. 21 ff.
- Zur Erinnerung: Bedeutung der Opposition im parlamentarischen Regierungssystem trotz
Enthaltsamkeit des grundgesetzlichen Wortlaut (auf Landesverfassungsebene sind die Dinge z.T. anders)
Erstmals wurde in die Hamburgische Verfassung vom 18. Februar 1971 Art. 23a eingeführt.
Er lautet:
"(1) Die Opposition ist ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie.
(2) Sie hat die ständige Aufgabe, die Kritik am Regierungsprogramm im Grundsatz und
im Einzelfall öffentlich zu vertreten. Sie ist die politische Alternative zur Regierungsmehrheit."
Inzwischen haben sich solche Vorschriften gemehrt: z.B. Art. 38 Abs. 3 BerlV, 59 Abs. 2
BrandV, 78 BremV, 40 SächsV, 48 SachAnhV, 26 MVV, 19 II NdsV, 12 SchlHV.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in der SRP-Entscheidung (BVerfGE 2, 1 ff.) das
Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition anerkannt; s. weiter
BVerfGE 5, 85 (199); 20, 56 (101); 24, 300 (348); Demokratie ist rechtlich nur möglich,
wenn der Mehrheitsverlust zugunsten einer Alternative als Möglichkeit gewährleistet ist;
somit gibt es auch keine freiheitlich demokratische Grundordnung.
- Institutionalisierung im Geschäftsordnungsrecht des Deutschen Bundestages im Sinne
einer Bestands- und Funktionsgarantie
- - Finanzierungszuschlag von 25 Prozent auf den Fraktionsgrundbetrag und 7 Prozent auf
den Zuschlag je Abgeordneten (Zeh, a.a.O., § 52, Rn. 11)
- - Debattengerechtigkeit (57,5 Prozent der Gesamtdauer für die "Regierungs"-Fraktion sowie 42,5 Prozent für die Opposition)
- - § 12 GO Ausschuss-Mandatsverteilung; jenseits des Schlüssels der Verteilung nach der
Fraktionsstärke gilt zusätzlich ein Verhältnis von Mehrheit zu Opposition im Verhältnis von
3:2.
- - Solches minderheitsschützendes Geschäftsordnungsrecht steht nicht zur Disposition einer einfachen Mehrheitsentscheidung geschäftsordnungsdurchbrechender Art, weil es sich
um verfassungsrechtlich zwingende Minderheitenschutzpositionen zugunsten der Opposition handelt.
s. zu den Oppositonsrechten Wolfgang Zeh, a.a.O., § 52 Rn. 23 f.
157
- Verfassungsprozessuale Stellung: Die Opposition als solche ist verfassungsprozessual
nicht erfasst. Als fraktionsmäßig verfasste Opposition stehen ihr aber die Klagemöglichkeiten als Fraktion zu Gebote, insbesondere kann sie Rechte des Deutschen Bundestages auch
gegen die Mehrheit geltend machen, s. BVerfGE 67, 100. Sie kann außerdem ihre politische
Opposition im Gewande der rechtlichen Auseinandersetzung der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG fortsetzen, soweit sie das Antragsquorum erfüllt. Die
zahlenmäßigen Quoren im Grundgesetz etwa bei der Normenkontrolle geben den
Einzelfraktionen im Falle großer Koalitionen gegebenenfalls keine Chance, weil sie das
Quorum nicht erfüllen.
5. Leitungsorgane
a) Der Bundestagspräsident (Art. 40 Abs. 1, Abs. 2 GG, Art. 54 Abs. 4 Satz 2) sowie
das Bundestags-Präsidium
dazu Josef Bücker, Präsident und Präsidium, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 27 sowie Wolfgang Zeh, a.a.O.,
§ 52 Rn. 27 f.
- Bundestagspräsident:
- Amtsgewinn: Benennungsrecht der stärksten Fraktion, Wahl durch das Plenum (§ 7 Abs. 6
GOBT als Indiz)
- Für die gesamte Wahlperiode unentziehbare Rechtsstellung
- Verpflichtung auf neutrale Amtsführung (§ 1 Abs. 1 Satz 2 GOBT)
- Er erhält einen Zuschlag von 50% auf die Diäten (im Landtag von MecklenburgVorpommern erhält der Landtagspräsident 100% Zuschlag!).
- Aufgaben: s. § 7 Abs. 1 Satz 2 GOBT, insbesondere die Leitungs- und Ordnungsbefugnis
für die Verhandlungen des Bundestages
Die Sitzungsleitungsgewalt erstreckt sich auf die Abgeordneten. Die Ausübung der Sitzungsleitungsgewalt ist grundsätzlich organstreitfähig, aber nicht für „Kleinigkeiten“, wie
den Ausschluss aus einer Sitzung. S. aus der Staatspraxis: Bundestagespräsident Stücklen
weist den Abgeordneten Fischer auf die Redezeitbeschränkung hin. Bei Fischer führte das
zu der Replik: „Mit Verlaub, Her Präsident, Sie sind ein Arschloch.“ Daraufhin erfolgte ein
Sitzungsausschluss aus der laufenden Sitzung (= keine hinreichende etwaige Rechtsverletzung, die ein Organstreitverfahren rechtfertigen würde). Für die Rüge vgl. insoweit BVer-
158
fGE 60, 374 (379); die Anordnungsbefugnis gegenüber anderen Sitzungsteilnehmern, die
von der Geschäftsordnung als Innenrecht nicht erfasst sind, stützt sich auf die Ordnungsgewalt, außerhalb von Sitzungen auf Hausrecht und Polizeigewalt (Art. 40 Abs. 2 Satz 1 GG);
zur Polizeigewalt des Parlamentspräsidenten s. G. Köhler, DVBl. 1992, 1577. Der
Bundestag hat eigene Polizeikräfte (nicht uniformiert) mit polizeilichen Befugnissen. Außerdem ist der Bundestagspräsident Vorsitzender im Ältestensrat und hat den Vorsitz im
Gemeinsamen Ausschuß inne (Art. 53a GG).
Präsidium ist ernennungsbeteiligte „Behörde“ für das Parlamentspersonal (§ 7 Nr. 4
GOBT) und Vor-„Ausschuss“ vor dem Ältestenrat (insoweit auch eine wichtige, die
Parlamentsarbeit strukturierende Tätigkeit).
b) Ältestenrat
s. dazu H.-H. Roll, Der Ältestensrat, in: Schneider/ Zeh, a.a.O., § 28; Wolfgang Zeh, a.a.O.,
§ 52 Rn. 35
- Der Ältestensrat als (in seiner Bedeutung häufig unterschätzter) interner Lenkungsausschuss des Parlaments = Bundestagespräsident + dessen Stellvertreter + 23 Abgeordnete
(von den Fraktionen nach ihrem Sitzverhältnis entsandt; darunter die Parlamentarischen
Geschäftsführer); s. § 6 GOBT.
c) Ausschüsse
s. dazu J. Vetter, Die Parlamentsausschüsse im Verfassungssystem der Bundesrepublik
Deutschland, 1986; R. Dach, Das Ausschussverfahren nach dem Geschäftsordnung und in
der Praxis, in: Schneider/Zeh, a.a.O, § 40; Wolfgang Zeh, a.a.O., § 52, Rn. 39 ff.
- Aufgaben: Der Schwerpunkt der Gesetzgebungsarbeit (s. dazu § 80 GOBT) und der
Kontrollaufgaben liegt bei den Ausschüssen. Die gelegentlich vertretene "Notariatsthese",
nach der das Parlament die von der Regierung formulierten Gesetze übernimmt, ist als Verallgemeinerung nicht haltbar (s. das sog. Struck’sche Gesetz). Das Parlament nimmt seine
Aufgabe als Gesetzgeber in den Ausschüssen mit hoher Intensität wahr.
- Arten: Fachausschüsse (dem Ressortprinzip folgend) und Querschnittsausschüsse (z.B.
Haushaltsausschuss) oder Petitionsausschuss und Ausschüsse für besondere parlamentarische Funktionen (Beispiel: Untersuchungsausschüsse).
159
- Zusammensetzung und Vorsitz: § 57 i.V.m. § 12 GOBT; Die Mitglieder werden nach dem
Geschäftsordnungsrecht des Deutschen Bundestages benannt und nicht gewählt (s. dazu
BVerfGE 77, 1 (39 ff.); das Bundesverfassungsgericht akzeptiert dieses Benennungsverfahren als verfassungsmäßig. Der Vorsitz richtet sich nach einer Vereinbarung im Ältestenrat,
s. § 58 GOBT. § 57 Abs. 2 Satz 2 klärt jetzt auch das Problem des fraktionslosen Abgeordneten und dessen Ausschussmitgliedschaft im Anschluss an BVerfGE 80, 188 - Wüppesahl.
Wenn § 12 GOBT für die Zusammensetzung auf die Fraktionen fixiert ist, ist dies unzureichend; auch die parlamentarischen Gruppen müssen entsprechend ihrem Stärkeverhältnis
so gut es geht berücksichtigt werden (BVerfGE 80, 188 (222 f.); 84, 304 (323 f.)) (s. oben
unter „Gruppen“).
Nicht geklärt ist die Frage, ob jede Fraktion in jedem Ausschuss einen Sitz haben muss
(sog. Grundmandat); § 55 Abs. 3 GOBT scheint auf diesem Standpunkt zu stehen. Verfassungsrechtlich zwingend ist dies wohl nicht (verneinend BVerfGE 70, 324, 366 (380)), weil
damit bestimmte Auschussgrößen vorgegeben wären. Wenn die GRÜNEN ursprünglich aus
bestimmten Auschüssen ferngehalten werden sollten (durch personelle Verkleinerung der
Ausschüsse), ist Missbrauch naheliegend; die Sondervoten zu BVerfGE 70, 324 halten die
anders lautende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für falsch.
V. Parlamentarisches Verfahrensrecht
s. dazu Wolfgang Zeh, Parlamentarisches Verfahren, in: Isensee/Kirchhof, HBStR III, 3.
Aufl. 2005, § 53; Norbert Achterberg, Parlamentsrecht, 1984; Hans Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, Kommentar, 1977 sowie dazu der Ergänzungsband von
1981 von Troßmann/Roll; reichhaltiges Material außerdem in dem schon zitierten von Hans
Peter Schneider und Wolfgang Zeh herausgegebenen Handbuch "Parlamentsrecht und parlamentarische Praxis", 1989; Standardkommentar: Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für
die Parlamentarische Praxis mit Kommentar zur Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages (Loseblatt) sowie jetzt
das von Martin Morlock/Utz Schliesky/Dieter
Wiefelspütz hrsgg. Parlamentsrecht, 2016.
1. Rechtsquellen des parlamentarischen Verfahrensrechts
a) Verfassungsrecht
- unmittelbare parlamentsrechtliche Regelungen (s. die Übersicht bei Wolfgang Zeh, a.a.O.,
§ 55 Rn. 3: z.B. Art. 23; 45; 39 Abs. 2, Abs. 3; 42 Abs. 1; 42 Abs. 2; Art. 77 Abs. 4; 79
Abs. 2; Art. 121; 43; 44 Abs. 2 Satz 1; 45a Abs. 2 Satz 2; 53a Abs. 1; 54 Abs. 4 Satz 2; 56
160
Satz 1; 61 Abs. 1, Satz 2 und 3; 63; 67 Abs. 1 und 2; 68 Abs 1 und 2; 76; 77; 81; 93 Abs. 1
Nr. 1 und 2; 94 Abs. 1; 95 Abs. 2; 110 Abs. 3.
- mittelbare parlamentsrechtliche Regelungen i.S.v.: Vorgaben und Regelungspflichten (s.
die entsprechende Liste bei Wolfgang Zeh, a.a.O., § 53, Rn. 5: z.B. Art. 10 Abs. 2 Satz 2
i.V.m. Art. 19 Abs. 4 Satz 3; Art. 13 Abs. 6 Satz 2; Art. 23 und 45; Art. 29 usw.
b) Geschäftsordnungsrecht
Das Geschäftsordnungsrecht ist das geborene Regelungsinstrument für das Binnenrecht des
Parlaments. Es kann immer nur intra-organschaftlich, nicht inter-organschaftlich wirksam
werden. Die Gesetzesform ist dann angezeigt, wenn der Rechtskreis zum Außenrecht überschritten wird (s. etwa das PUAG und das AbgG) oder inter-organschaftliche Pflichten begründet werden sollen. Das PUAG nimmt z.B. auch Bürger als Zeugen in Pflicht, wirkt aber
auch inter-organschaftlich. Das AbgG will auch subjektive Forderungsrechte für Abgeordnete und Fraktionen begründen.
Geschäftsordnungsrecht ist insofern flexibel, als nach § 126 GOBT zwei Drittel der anwesenden Mitglieder die Geschäftsordnung im einzelnen Fall durchbrechen können. Solche
Durchbrechung ist allerdings nur möglich, wenn höherrangiges Recht, also insbesondere die
Verfassung als lex superior nicht entgegensteht. Das ist insbesondere dann anzunehmen,
wenn es um Minderheiten schützende Rechtsvorschriften in der Geschäftsordnung geht,
also die Rechtsstellung der Opposition zu deren Nachteil unter Missachtung der entsprechenden sie schützenden Verfassungsnormen verändert werden soll.
Beispiel 1: Der Bundestag beschließt mit der Mehrheit einer Großen Koalition eine Geschäftsordnungsänderung dergestalt, dass Oppositionsfraktionen keine Rederecht haben
sollen, wenn über Verfassungsänderungen abgestimmt werden soll. Nach der Einbringungsrede der Mehrheit gebe es keine weitere Aussprache. (→ Das Recht der (Oppositions-) Abgeordneten auf Mitwirkung wäre verletzt.)
Beispiel 2: Die Ausschussgröße des die Dienste kontrollierenden Gremiums nach Art. 10
GG wird so bemessen, dass die LINKE keinen Sitz haben soll. (→ Entweder: Jede Fraktion
hat einen Grundmandatsanspruch oder die Vorgehensweise ist missbräuchlich, weil sie den
Abgeordneten der LINKEN mangelnde Amtsfähigkeit für geheimhaltungsbedürftige Vorgänge unterstellt; das Vorgehen ist jedenfalls verfassungswidrig.); anders BVerfGE 70, 324
für die Fraktion der GRÜNEN (als sie noch „neu“ im parlamentarischen System war). Die
Geschäftsordnungen gelten im Übrigen nur für die Dauer einer Wahlperiode und müssen
von dem je neugewählten Parlament übernommen (oder auch geändert) werden.
161
Zu der Frage, ob das Parlament zwischen der Gesetzesform und der Regelung durch Geschäftsordnung wählen kann s. die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur parlamentarischen Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste ((BVerfGE 70, 324 ff.), mit abweichender Auffassung der Richter Mahrenholz und Böckenförde, a.a.O., S. 367 ff. u. S.
386 ff.):
Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert, dass Vorschriften, die sich auf den Binnenbereich
des Parlaments erstrecken aus Sachgründen auch in der Form eines Gesetzes beschlossen
werden dürfen, sofern das Gesetz nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf und der
Kern der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages nicht berührt wird; vgl. zu diesem
(durchaus noch nicht ausdiskutierten) Thema auch Gerald Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, in: ZParl 17 (1986), S.
334 (337 ff.) sowie J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, in:
ZParl 17 (1986), S. 324 ff.
- Zu verfassungsgerichtlich akzeptierten Gestaltungs-Spielräumen des Geschäftsordnungsgebers s. BVerfGE 80,
188
(218 f.) ;
84,
304
(322) .
2. Verfahrensformen im Plenum des Deutschen Bundestages
s. Rechtsprechungsübersicht bei Wolfgang Zeh, a.a.O., § 53 Rn. 7
a) Verhandlungsgrundsätze
- Öffentlichkeit (§ 42 Abs. 1 Satz 1 GG)
s. dazu Leo Kißler, Parlamentsöffentlichkeit: Transparenz und Artikulation, in: Schneider/Zeh, a.a.O., § 36; Joachim Linck, Die Parlamentsöffentlichkeit, ZParl 1992, 673.
- - Die Parlamentsöffentlichkeit gilt für das Plenum, nicht auch für die Ausschüsse (§ 69
Abs. 1 Satz 1 GOBT; s. dazu Wolfgang Zeh, a.a.O., § 53 Rn. 60).
- - Die Öffentlichkeit der parlamentarischen Verhandlungen ist wesentliches Element des
demokratischen Parlamentarismus, s. BVerfGE 70, 324 (355); 84, 304 (329). Die
Parlamentsöffentlichkeit ist das Herzstück transparenten demokratischen Entscheidens. Sie
ist Debattenöffentlichkeit für Besucher und Medien. Das Parlament entscheidet und agiert in
Debatten: S. § 23 GOBT → Aussprache über Tagesordnung! § 33 GOBT → in freier Rede!
Zur Struktur der Debatten vgl. § 28 GOBT.
- Tagesordnung und Aussprache
- - § 20 GOBT
162
- - Redezeitvereinbarung, insbesondere die "kontingentierte Debatte" (BVerfGE 10, 4; 60,
374 sowie für den fraktionslosen Abgeordneten BVerfGE 80, 188 Ls. 5).
- - Parlamentarisches Ordnungsrecht (§§ 36 - 41 GOBT); zum unzulässigen Organstreitverfahren wegen einer (bloßen) Rüge des Präsidenten s. nochmals BVerfGE 60, 374.
b) Anträge und Abstimmung
- Anträge
- - Antragsprinzip - insbesondere Minderheitsanträge, denen gefolgt werden muss (häufige
Terminologie: Verlangen, s. z.B. Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG); weitere Verlangensfälle (z.B.
§ 20 Abs. 4 GOBT, §§ 52, 60 Abs. 3, 62 Abs. 2, 70 Abs. 1 usw. GOBT). Auch Art. 44 Abs.
1 GG gehört hierher; Frage: Wann darf der Bundestag die Einsetzung gleichwohl
verweigern? → Bei einer Rechtsprüfung, die die Verfassungswidrigkeit des Antrages
ergibt. Rechtsschutz der Minderheit: Organstreitverfahren; Pflicht zur Hilfe der Mehrheit,
um verfassungsmäßigen (Minderheiten)Antrag herzustellen, wenn der Ausschuss eingesetzt
ist.
- - Anträge ohne Folgepflicht heißen Vorlagen (Regelfall § 75 GOBT; Fraktionsstärke als
Voraussetzung).
- - Gesetzesanträge (regelmäßig drei Beratungen)
- - Entschließungsanträge
- - Fristen (§ 78 Abs. 5 GOBT als Regel)
- Abstimmungen
- - insbesondere Beschlussfähigkeit des Bundestages; § 45 Abs. 1 GOBT, s. aber auch Abs.
2;
vgl.
dazu
BVerfGE
44,
308;
Folgenlosigkeit
der
Unterschreitung
des
Beschlussfähigkeitsgrenze
- - Regelformen der Abstimmung (s. dazu § 48 - 53 GOBT)
- - Art. 42 Abs. 2 GG: Mehrheitsbegriffe, s. Art. 121 GG
- - Abstimmungen bei Wahlen (s. § 49 GOBT als Regel, aber auch §§ 4, 2, 113, 50 GOBT);
die Fälle der nicht öffentlichen Abstimmung – also durch Stimmzettel – sind abschließend
geregelt. S. § 4 GOBT für die Kanzlerwahl; die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG ist keine
Kanzlerwahl, also findet eine offene Abstimmung statt.
VI. Parlamentsauflösung
- s. nach dem Abschnitt über die Bundesregierung
163
B. Der Bundesrat
Leitfall: BVerfGE 106, 310 ─ Schönbohm, Stolpe und Wowereit.
I. Verfassungsrechtliche Charakteristik (Art. 50 - 53 GG)
vgl. dazu Roman Herzog, Stellung des Bundesrates im demokratischen Bundesrat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HBStR III, 3. Aufl. 2005, § 57; vgl. weiter grundlegend die FS Bundesrat (Hrsg.), Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft. Beiträge zum 25jährigen Bestehen des Bundesrates der BRD, 1974 sowie Bundesrat (Hrsg.), 40 Jahre Bundesrat, 1989; Konrad Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Verfassungsrechtliche Grundlagen, Kommentar zu Geschäftsordnung, Praxis des Bundesrates 1991.
- nochmals: föderative Gewaltenteilung (Roman Herzog, a.a.O., § 57, Rn. 43 ff.)
- der Bundesrat als föderatives Bundesorgan = ein oberstes Bundesorgan (kein Länderorgan!)
- der Bundesrat als föderatives Bundesorgan = Kammer der Landesregierungen
- der Bundesrat im Parteienbundesstaat = (abgeschwächte) parteipolitische Steuerung des
Bundesrates (A-Länder und B-Länder als Steuerungskomponente)
- Einwirkungsmöglichkeiten des Bundesrates auf den Bund:
- - Textbefund: Art. 77 Abs. 2 - 4, Art. 80 Abs. 2, 84 Abs. 2, 85 Abs. 2 Satz 1, 37 Abs. 1, 93
Abs. 1 Nr. 1 u. 2 GG u.a.m.
- Zusammenwirken des Bundes mit den Ländern außerhalb der Bundesratsstruktur: Art. 32
Abs. 2, Art. 54 Abs. 3, Art. 95 Abs. 2 GG; s. auch Art. 91a Abs. 2 GG
- Struktur des Bundesrates: zweite Kammer?
- - Vergleich Senat als zweite Kammer im US-Kongress mit dem Bundesrat
s. dazu z.B. Klaus von Beyme, Die Funktion des Bundesrates. Ein Vergleich mit ZweiKammersystemen im Ausland, in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische
Kraft, 1974, S. 365 ff. Man muss sich über die begrenzte Relevanz dieser Fragestellung klar
sein. Aus einer solchen Charakterisierung, ob man sie bejaht oder verneint, folgen jedenfalls keine rechtlichen Konsequenzen. Für die Erfassung als zweite Kammer könnte sprechen, dass der Bundesrat einen substantiellen Anteil an der Gesetzgebung hat (allerdings
keinen gleichwertigen; darauf stellt das Bundesverfassungsgericht ab: BVerfGE 37, 363
(380)) und verneint deshalb die Eigenschaft als zweite Kammer. Immerhin: bei Zustimmungsgesetzen hat der Bundesrat eine echte Vetoposition, die ihn (fast) zum gleichwertigen
Gesetzgebungsorgan macht. Wer für eine zweite Kammer Strukturen einer Volksvertretung
164
mit gewählten Abgeordneten verlangt, wird ebenfalls die Natur des Bundesrates als Zweite
Kammer verneinen. Zum Ganzen s. auch Konrad Reuter, a.a.O., Art. 50 GG, Rn. 63 - 67.
- Der Bundesrat ist auch nicht als Repräsentativorgan für die Landesstaatsvölker typisierbar
(str.); s. Konrad Reuter, a.a.O., Rn. 68 f.; er vertritt die Länder (BVerfGE 106, 310; s. auch
Art. 79 Abs. 3 GG)
- Rechtlich entscheidend ist: Der Bundesrat verfügt nicht über eine "schlechtere" demokratische Legitimation, weil der Bundesrat ein Landesregierungenrat ist (vgl. BVerfGE 62, 1
(43)), weil Legitimationsformen sich nicht qualitativ differenzieren lassen. Die Mitglieder
verfügen durch den Amtsgewinn durch Wahlakt der Landesvolksvertretung über demokratische Legitimation. Zur Rückbindung an den Willensbildungsprozess im Land s. unten III.
- Der Bundesrat als Ausdruck der parteienbundesstaatlichen Struktur (allerdings in sachlichexekutivischer und sachlich-bürokratischer Moderation) (s. dazu Konrad Reuter,
a.a.O., Art. 50 GG, Rn. 78 - 94)
- Die Stimmgewichtung im Bundesrat
II. Aufgaben und Befugnisse des Bundesrates
vgl. Roman Herzog, Aufgaben des Bundesrates, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR III,
3. Aufl. 2005, § 58
1. Mitwirkung an der Gesetzgebung
vgl. dazu Fritz Ossenbühl, Die Zustimmung des Bundesrates beim Erlass von Bundesrecht,
in: AöR 99, 1974, S. 369 ff.; Peter Weides, Mitwirkung des Bundesrats bei der Änderung
eines zustimmungspflichtigen Bundesgesetzes, JuS 1973, S. 337; Herweg, a.a.O., § 53 Rn.
6-22
- Einspruchsgesetze und Zustimmungsgesetze als Typen der Gesetzgebung (Art. 77 Abs. 2
- 4, 78 GG)
a) Zustimmungspflichtige Gesetze
s. dazu z.B. Peter Lerche, Zustimmungsgesetze, in: 40 Jahre Bundesrat, a.a.O., S. 183 ff.;
Michael Antoni, Zustimmungsvorbehalte des Bundesrats zu Rechtssetzungsakten des Bundes - die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen, AöR 113 (1988) , S. 329 ff.; die
Grundregeln haben sich durch die Föderalismusreform nicht geändert, wohl ist die Zahl der
Zustimmungsgesetze etwas reduziert worden; die Zustimmungsabhängigkeit ist über das
Grundgesetz „verstreut“.
165
- Eiserne Regel: Zustimmungspflichtig sind nur jene Gesetze, für die sich im Grundgesetz
die Zustimmungsbedürftigkeit ausdrücklich benannt findet. Es gibt keine föderale Wesentlichkeitstheorie nach dem Motto: ‚Was für die Länder wesentlich ist, bedarf der Zustimmung’! (s. BVerfGE 37, 363 (380 f.); 105, 331 (339); 108, 370 (397)) Mehr als 30 Zustimmungsfälle sind im Grundgesetz enthalten, es geht insbesondere um finanzerhebliche Gesetze (Art. 105 Abs. 2; 106 Abs. 3 Satz 2; 104 a Abs. 4 Satz 2; 107 Abs. 1 Satz 2; 106 Abs.
5 Satz 2, Abs. 6 Satz 4 GG (für Haushaltsfragen s. Art. 109 Abs. 3, Abs. 4 Satz 1 GG)), um
Fragen der Behördenorganisation und des Verwaltungsverfahrens (Art. 84 Abs. 1 Satz 5
und 6; 85 Abs. 1; 108 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 Satz 2; 87 Abs. 3 Satz 2; 87 b
Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 2 Satz 1 und 2; 87c; 87d Abs. 2; 120a Abs. 1 Satz 1 GG) sowie
um Verfassungsänderungen (Art. 79 Abs. 2 GG); dieser deskriptive Befund ersetzt aber
nicht den Nachweis der Zustimmungs-bedürftigkeit aufgrund einer expliziten Zustimmungsanordnung im Grundgesetz (Enumerationsprinzip).
- Reichweite der Bundesratszustimmung: zur sog. Einheitstheorie und Mitverantwortungstheorie: Die Zustimmung des Bundesrates gilt, obwohl sie möglicherweise nur punktuell
ausgelöst wird, dem Gesetz als Einheit (vgl. BVerfGE 37, 363 (369 ff.); 48, 127 (177 f.);
55, 274 (319); dazu z.B. Hans Hugo Klein, Das Bundesrats-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: ZParl 5 (1974), S. 485 ff.). Alternativ könnte man erwägen, die Zustimmung
gelte nur der die Zustimmungspflicht auslösenden Norm oder Normen. Bevor das Bundesverfassungsgericht darüber intensiviert nachdenken konnte, sollte das Problem durch die
Föderalismusreform entschärft werden. Partiell ist das für Art. 84 Abs. 1 GG (s. die alte
Fassung) auch gelungen. S. immerhin BVerfGE 105, 313 (339): Ob an dieser Rechtsprechung angesichts der Kritik im Schrifttum (Nachweise) festzuhalten ist, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Die Mitverantwortungstheorie führt aber nicht dazu, dass
auch spätere Änderungsgesetze eines ursprünglich zustimmungspflichtigen Gesetzes per se
zustimmungspflichtig seien (s. BVerfGE 37, 363 ff.; 39, 1 (33); 48, 127 (178); 114, 196
(231)), sondern nur dann, wenn das Zustimmungsgesetz seinerseits wegen seines Inhalts die
Zustimmungspflichtigkeit auslöst (a.A.: jede Änderung eines Zustimmungsgesetzes ist seinerseits ein Zustimmungsgesetz; vgl. die abweichende Meinung BVerfGE 37, 401 ff., 406
ff.; kritisch auch Roman Herzog, a.a.O., § 58 Rn. 16).
- Der Bundestag kann der Zustimmungsbedürftigkeit legitimer weise dadurch ausweichen,
dass er seine Regelungen auf das materielle Recht beschränkt und Verfahrens- und Zuständigkeitsnormen vermeidet, soweit ihm das sinnvoll erscheint (s. BVerfGE 105, 313 (338);
114, 196 (230)) und er nicht willkürlich handelt. Die Gesetzesteilung erscheint dem Bun-
166
desverfassungsgericht als legitime Reaktion auf die Mitverantwortungstheorie (BVerfGE
105, 313 (340 f.)).
b) Einspruchsgesetze
Alle Gesetze, die nicht Zustimmungsgesetzes sind, sind Einspruchsgesetze, über die
verfahrensrechtlichen Konsequenzen s. den Abschnitt über das Gesetzgebungsverfahren.
- Einwirkung auf die Gesetzgebung durch Gesetzgebungsinitiative und Stellungnahme des
Bundesrates (Art. 76 GG). S. weiter noch Art. 43 Abs. 2 GG und Art. 77 Abs. 2 Satz 1 GG.
2.
Mitwirkung des Bundesrates in der Exekutive
- Mitwirkung an der Verordnungsgebung; Art. 80 Abs. 2 GG, s. auch Art. 109 Abs. 4 Satz
3; 119 Satz 1; 129 Abs. 1 Satz 2; 130 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Mitwirkung ist quantitativ
durchaus bedeutsam.
- Mitwirkung an Verwaltungsvorschriften
(Art. 84 Abs. 2, 85 Abs. 2 GG als Beispiele)
- Mitwirkung an der Bundesaufsicht
(Art. 84 Abs. 3 Satz 2, 84 Abs. 4 Satz 1, 85 Abs. 4, 37 Abs. 1 GG)
- Mitwirkung beim Erlass des Zustimmungsgesetzes zu völkerrechtlichen Verträgen (vgl.
dazu z.B. Jochen Abraham Frowein, Zustimmung des Bundesrates zu politischen Verträgen?, in: JuS 1972, S. 241 ff.; Roman Herzog, a.a.O., § 58 Rn. 27)
- Zustimmungsgesetze sind die Gesetze nach Art. 59 Abs. 2 nur, wenn eine Bestimmung
des Vertrages die Zustimmungsbedürftigkeit auslöst (s. BVerfGE 8, 274 (294 f.); 55, 274
(326 f.), sonst sind es Einspruchsgesetze. Art. 59 Abs. 2 GG gilt nur für Verträge; soweit
ein Vertragsabschluss nicht vorliegt, hat der Bundesrat keinen Einfluss auf völkerrechtliches Handeln des Bundes (BVerfGE 68, 1 (80 ff.)).
3. Kreationsrechte (Art. 52 Abs. 1; 61 Abs. 1 sowie Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG)außerdem
können Kreationsrechte im Wege des Gesetzes eingeräumt werden.
4. Kontrollrechte (Art. 53 Satz 3, Art. 53 a Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 53 Satz 1 GG (Interpellation) i.V.m. § 19 GOBR: unstrittig muss des Regierungsmitglied auf die Interpellation hin
auch antworten. Weiterungen in Richtung eines Rechts der (Kleinen und Großen) Anfrage
kennt das Recht des Bundesrates nicht; als interorganschaftliche Verpflichtung könnte sie
auch nur verfassungsrechtlich begründet werden; s. Art. 114 Abs. 1 u. 2 Satz 2 GG (Finanzkontrolle)
5. Mitwirkung an den Angelegenheiten der Europäischen Union (Art. 23 GG) .
s. dazu die Vorlesung Staatsrecht III
167
III. Mitglieder und Verfahren des Bundesrates
s. dazu die umf. Kommentierung des Art. 51 GG bei Konrad Reuter, S. 200 f. sowie Roman
Herzog, HBStR III, 3. Aufl. 2005: Zusammensetzung und Verfahren des Bundesrates, § 59,
Rn. 3-10
1. Die Mitglieder
- ordentliche Mitglieder (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG; die Wählbarkeitsvoraussetzung ergeben sich aus einem Zusammenspiel von Art. 51 und Landesverfassungsrecht) Staatspraxis:
Regierungschef wird jedenfalls bestellt; wer als Kabinettsmitglied zum ordentlichen Mitglied oder Vertreter bestellt werden kann, bestimmt das Landesverfassungsrecht. In Bayern
auch Parlamentarische Staatssekretäre; Staatssekretäre in Sachsen und Staatsräte in BadenWürttemberg.
- stellvertretende Mitglieder (Art. 51 Abs. 1 Satz 2 GG).
Ob alle Kabinettsmitglieder sozusagen geborene Vertreter des ordentlichen Mitglieds sind,
ist streitig. Es spricht mehr dafür, dass auch die Stellvertretung einen Bestellungsakt durch
die Landesregierung voraussetzt (vgl. Reuter, Art. 51 GG Rn. 45).
- Amtsgewinn durch "Notifizierung" (§ 1 GOBR)
- Der Bundesrat als permanentes Bundesorgan (keine Diskontinuität)
2. Status der Mitglieder
- Statusgleichheit: s. BVerfGE 106, 310 (334): Die Stimme eines Ministerpräsidenten ist
nicht „besser“ als die eines anderen Mitglieds; divergierende Stimmabgabe ist ungültig.
- Keine Indemnität, keine Immunität (weil nicht angeordnet, aus allgemeinen Rechtsprinzipien nicht herleitbar).
- Inkompatibilität (Frage: genügt dafür eine Geschäftsordnungsbestimmung? →§ 2 GOBR
als Anhalt einer verfassungsrechtlichen ungeschriebenen Inkompatibilität (also ist § 2
GOBR bloß Deklaration); s. dazu Dimitris Tsatsos, Die Unzulässigkeit der Kumulation von
Bundestags- und Bundesratsmandat, 1965 sowie Roman Herzog, a.a.O., § 59, Rn. 9; s.
weiter Art. 55 Abs. 2; Art. 66 GG; § 3 Abs. 2 BVerfGG).
- Zum weisungsgebundenen Mandat (Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG und der Umkehrschluss aus
Art. 77 Abs. 2 Satz 3 und Art. 53 a Abs. 1 Satz 3 GG). Die Weisungsgebundenheit ist trotz
des Fehlens eines eindeutigen dahingehenden Wortlautes heute nicht mehr strittig (s. auch
BVerfGE 8, 104 (120)) . Hingegen bleibt strittig, wer Inhaber der Instruktionsbefugnis ist.
In Betracht kommen insoweit die Landesregierungen und die Landesparlamente, (zum
168
Streitstand s. Reuter, a.a.O., Art. 51 GG Rn. 70 f.). Die Fragestellung sollte in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden: Das Landesparlament hat im Rahmen der parlamentarischen
Verantwortlichkeit im parlamentarischen Regierungssystem genügend Möglichkeiten auf
das Verhalten der Landesregierung einzuwirken, ohne ein föderales Weisungsrecht für sich
reklamieren zu müssen.
In der Staatspraxis legt das Kabinett fest (mit Rücksicht auf die Mehrheitsfraktionen), wie
sie sich zu einem Tagesordnungspunkt einlassen wird. Aber nochmals: In der Sitzung kann
ein Ministerpräsident das Stimmverhalten eines Mitglieds nicht „überwältigen“.
3. Verfahren
a) Organe des Bundesrates
- Der Präsident des Bundesrates (Art. 52 Abs. 1 i.V.m. dem sog. Königsteiner Abkommen
vom 30.08.1950) wird nach einem festen Verteilungsschlüssel für das Präsidentenamt (dazu
Reuter, a.a.O., Rn. 7 ff. zu § 5 GO) gewählt - unter Verzicht auf eine an sich mögliche
Wiederwahl - vom 1.11. bis zum 31.10. des folgenden Jahres. "Wahl" bedeutet nach dem
Königsteiner Abkommen, dass nach dem sog. Degressionsprinzip vorgegangen wird,
d.h. die Reihenfolge beginnt mit dem Ministerpräsidenten des bevölkerungsreichsten Bundeslandes und wird dann jeweils mit dem Ministerpräsidenten des nach Einwohner nächst
kleineren Bundeslandes fortgesetzt.
- Funktion: s. § 6 GOBR
- Vizepräsidenten und Präsidium des Bundesrates (§ 5 Abs. 1 GOBR i.V.m. dem Königsteiner Abkommen)
- 1. Vize ist immer der aus dem Amt ausgeschiedene vorherige Präsident; 2. und 3. Vize
bestimmen sich nach dem Königsteiner Abkommen.
- Ständiger Beirat (§ 9 GOBR)
- Fachausschüsse (§ 11 GOBR) Die Ausschüsse fassen ihre Beschlüsse nicht nach Stimmgewichtung. Deshalb präformiert das Ausschussergebnis nicht die Entscheidung des Plenums.
- Europakammer (Art. 52 Abs. 3a GG)
b) Arbeitsweise
- s. die Geschäftsordnung des Bundesrates (in Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GG ausdrücklich ermächtigt)
- insbesondere bedeutsam ist die einheitliche Stimmabgabe (Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG); s.
dazu jetzt BVerfGE 106, 310 (332 f.) Schönbohm v. Stolpe: gesplittete Stimmabgabe, Ver-
169
such den Vorrang des Ministerpräsidenten zu etablieren, nur begrenztes Recht des Sitzungsleiters zur Nachfrage (nur bei Unklarheiten berechtigt).
C. Der Bundespräsident
s. dazu Ulrich Scheuner, Das Amt des Bundespräsidenten als Aufgabe verfassungsrechtlicher Gestaltung, 1966; Otto Kimminich, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, in: VVDStRL 25 (1967), S. 2-94; Klaus Stern, Staatrecht II, 1980, § 30; Klaus
Schlaich, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HBStR II, 2. Aufl. §§ 47-49; Martin Nettesheim,
HBStR III, 3. Aufl. 2005, § 61-63
Zum „Amts-Design“ s. jetzt BVerfGE 136, 277 Rn. 92 ff.
I. Amtsgewinn und Amtsverlust
s. Martin Nettesheim, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten,
a.a.O., § 62
1. Die Wahl durch die Bundesversammlung als Verfassungsorgan mit föderaler Konzeption
- s. dazu jetzt BVerwGE 136, 277: Organstreit von Mitgliedern der Bundesversammlung
gegen die 13. Bundesversammlung.
- Absage an die Volkswahl im Kontrast zur Weimarer Reichsverfassung.
- Sollte es eine Direktwahl geben? Status, Aufgaben und Legitimationsverfahren im Zusammenhang
- Art. 54 GG i.V.m. BPräsWahlG v. 25. April 1959 i.d.F. v. 12. Juli 2007
(Art. 54 Abs. 7 GG)
- Status der Bundesversammlungsmitglieder: Freies Mandat; Rechtsstellung entspricht
nicht der von Bundestagsabgeordneten (BVerfGE 136, 277 Rn. 90 ff., 99); Wahl ohne
Aussprache – sogar ohne Selbstpräsentation der Kandidaten (BVerfGE 136, 277 Rn. 108
f.)
2. Wahl des Bundespräsidenten
- Wählbarkeit: Art. 54 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. § 9 Abs. 3 Satz 3 WahlG BPräs; keine
Inkompatibilität im Wahlzeitpunkt
- Wahlvorgang ohne Aussprache und geheim (i.S.v. verdeckte Stimmzettel)
170
- Wahlvorschlagsrecht jedes Mitglieds der Bundesversammlung (auch ohne Motivierung
des Vorschlages (s.o.))
- - Mehrheit = i.d.R. 598 x 2 = 1096; Mehrheit also 598 + 1 (s. § 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG)
3. Amtsverlust
- insbesondere die Präsidentenanklage vor dem Bundesverfassungsgericht (Art. 61 GG
i.V.m. §§ 49 - 57 BVerfGG)
- Erklärung aus dem republikanischen Prinzip; historische Parallelen
- Exkurs: Die Ministeranklage vor dem VerfGH NRW
II. Status des Bundespräsidenten
s. dazu Martin Nettesheim, Amt und Stellung des Bundespräsidenten in der grundgesetzlichen Demokratie, a.a.O., § 61; BVerfG 136, 277
1. Amtsdauer (Art. 54 Abs. 2 GG - allenfalls 10 Jahre)
2. protokollarisch: Der Bundespräsident vergegenwärtigt im Sinne der repraesentatio die
Bundesrepublik Deutschland. Folglich gebührt ihm die erste Rangstelle im Protokoll.
3. Inkompatibilitäten: Art. 55 GG
- Parteimitgliedschaft ruht (keine Verfassungsrechtspflicht, aber durchgängig Praxis aller
Präsidenten; Verfassungsgewohnheitsrecht?)
- Keine Vorwirkung beim Designatus, keine Nachwirkung beim ehemaligen Bundespräsidenten (wiewohl der Wiedereintritt in die parteipolitische Auseinandersetzung bei den nicht
mehr amtierenden Bundespräsidenten nicht üblich ist) .
4. Amtseid (Art. 56 GG); s. dazu Ernst Friesenhahn, Der politische Eid, 1928; Martin Nettesheim, a.a.O., § 61, Rn. 51. Der Eid hat keine konstitutive Bedeutung für den Amtsgewinn; also keine Unwirksamkeit der Präsidialakte vor Eidesleistung.
5. Immunität (Art. 60 Abs. 4 GG) keine (innerstaatliche) Indemnität; die Verurteilung zu
einer Strafe, die den Verlust öffentlicher Ämter zur Folge hätte, würde auch die Amtszeit
des Bundespräsidenten beenden.
6. Persönliche Rechtsstellung: nicht Minister, nicht Beamter, Rechtsstellung eigener Art,
mit gesetzlich geregeltem Ehrensold (lebenslang mit Ausstattung).
7. Vertretung des Bundespräsidenten (s. Art. 57 GG) - Ersatzvertretung oder Nebenvertretung? (zur Ersatzvertretung vgl. Axel Hopfauf, Ärger mit dem Bundespräsidenten, JuS
1984, 633); Art. 57 GG regelt eine Ersatzvertretung, gibt also dem Vertreter die vollen
171
Amtsbefugnisse zur vorübergehenden Wahrnehmung. Es ist aber nur ein Fall der Verhinderungsvertretung. Zum Ganzen s. Rainer Wahl, Stellvertretung im Verfassungsrecht, 1971.
8. Verfassungsprozessuale Stellung: Der Bundespräsident ist (aktiv und passiv) parteifähig
für Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 13 Nr. 5 und §§ 63 ff. BVerfGG. Bislang hat es nur zwei praktisches Beispiele gegeben: Der Streit um die Bundestagsauflösung BVerfGE 62, 1 (33) – Kohl und BVerfGE 114, 121 – Schröder.
III. Aufgaben und Zuständigkeiten des Bundespräsidenten
s. dazu z.B. Martin Nettesheim, Die Aufgaben des Bundespräsidenten im Verfassungsgefüge, a.a.O., § 62; Günter Scholz, Die Bundespräsidenten. Biographien eines Amtes, 2. Aufl.
1992, dort S. 3 - 95 über Funktion und Rechtsstellung, S. 101 ff. mit lesenswerten Präsidentenportraits
1. Punktuelle Regelgungen im GG
Der Bundespräsident findet für sein Wirken nur punktuelle grundgesetzliche Regelungen;
insbesondere die Wahrnehmung der Intergrationsfunktionen erfährt ihre Indensität in Abhängigkeit von der Persönlichkeit des jeweiligen Präsidenten; Konrad Adenauer: "Der Bundespräsident hat so viel Macht wie der Bundeskanzler schlechte Nerven" (was
staatsrechtlich nicht stimmt!).
2 . Die Funktionen im Einzelnen
a) Integration durch öffentliche Rede, öffentliches Erscheinen und Gespräche mit den anderen Verfassungsorganen und dem Bürger (s. Martin Nettesheim, a.a.O., § 62, Rn. 25 f.)
- zu den Grenzen der Redefreiheit s. BVerfGE 136, 323 Rn. 27 ff., 36
b) Aufgaben im Bereich der Setzung staatlicher Symbole; Prärogative des Staatsoberhauptes? Sie wurde von der Staatspraxis jedenfalls nicht bestätigt. BuPrä (Abk. durch Theodor Heuß) und Regierung handeln hier regelmäßig im Konsens, der Bundespräsident verlautbart aber die entsprechenden Entscheidungen zu Flagge, Wappen und Hymne.
c) (Begrenzte Bedeutung der) Begnadigung (Art. 60 Abs. 2 GG) Das Begnadigungsrecht
dem Straftäter gegenüber steht im allgemeinen den Ministerpräsidenten der Länder zu; der
Bundespräsident ist nur dort zuständig, wo die Bundesgerichtsbarkeit (ausnahmsweise)
172
erstinstanzlich zuständig ist. Deshalb landen die Begnadigungsfälle der RAF-Täter auf
seinem Schreibtisch.
d) Beteiligung an der Kreation anderer Verfassungsorgane
- Insbesondere Freiheit und Bindung beim Kanzlervorschlag (Art. 63 Abs. 2 GG, Art. 63
Abs. 4 Satz 2 GG: Pflicht zur Ernennung des gewählten Kanzlers, wenn die Wahlvoraussetzungen vorliegen; insofern allerdings strikte Rechtskontrolle; Evidenzkontrolle wäre zu
wenig (s. Martin Nettesheim, a.a.O., § 62, Rn. 7)).
- Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG: Ernennung oder Auflösung? Hier greift eine politische Reservefunktion des Bundespräsidenten!
- Minderheitenkanzler ist denkbar, wenn eine gewisse Stabilitätserwartung besteht.
- Parlamentsauflösung: Art. 68 Abs. 1 GG; vgl. dazu Wolfgang Heyde/Gotthard Wöhrmann
(Hrsg.), Auflösung und Neuwahl des Bundestages 1983 vor dem Bundesverfassungsgerichts, 1984; Werner Heun, Die Stellung des Bundespräsidenten im Lichte der Vorgänge
um die Auflösung des Bundestages, in: AöR 109 (1984), S. 13 ff.; zum Ergebnis s. BVerfGE 62, 1 sowie BVerfGE 114, 121; Kanzlerkrise ist insgesamt Präsidentenstunde (politische Reservefunktion des Bundeskanzlers); weiter Einzelheiten hierzu noch sub „Bundesregierung“.
- Gesetzgebungsnotstand, Art. 81 Abs. 1 GG; bisher (glücklicher Weise) toter Buchstabe
- Ausfertigung von Gesetzen, Ernennungen usw. (Art. 82 Abs. 1, 64 Abs. 1, 60 Abs. 1 GG;
sowie einfachrechtliche Ernennungsvorschriften)
- Frage: Bloße Notarfunktion (also bloße Rechtsförmlichkeitsprüfung) oder Integrationsleistung (eigener politischer Entscheidungsanteil) oder Verfassungskonformitätskontrolle?
- - politische Entscheidungsfreiheit des Bundespräsidenten in Differenzierung nach dem
einschlägigen Normtext; vgl. miteinander Art. 94 GG i.V.m. §§ 6, 7 BVerfGG und Art. 63
Abs. 2 Satz 2 GG "ist zu ernennen" einerseits mit andererseits Art. 64 Abs. 1 GG "Vorschlag des Kanzlers". Gleichwohl: Ein politisches Gestaltungsermessen steht dem Bundespräsidenten bei Ernennungen nicht zu. Nur eine Rechtmäßigkeitskontrolle (z.B. Staatsangehörigkeit, Alter, Amtseignung).
- - Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der auszufertigenden Gesetze?
Ausgangspunkt: Art. 82 i.V.m. Art. 78 GG
Frage: Was heißt: „nach den Vorschriften dieses Gesetzes zustande gekommen“? → S. Art.
78 GG
173
(1) Danach ist das formelle Prüfungsrecht klargestellt. Frage: Was umfasst es? → Jedenfalls
(und nur) Art. 78 GG; die Frage nach der Gesetzgebungskompetenz ist in diesem Sinne materiell.
(2) Frage: Was ist mit dem sog. materiellen Prüfungsrecht? → Anspruch: Umfassende Prüfung der
Verfassungskonformität (allerdings – so die Staatspraxis – nur bei Evidenz)
Argument: Art. 20 GG → Bindung an die Verfassung Art. 20 Abs. 3 GG; Gegenargument: Dafür
haben wir doch das Bundesverfassungsgericht; aber Differenz: Bundespräsident amtswegig, Bundesverfassungsgericht nur auf Antrag; Bundespräsident also präventiv, Bundesverfassungsgericht
repressiv.
Gegenargument: Das kann der Bundespräsident doch gar nicht! Das stimmt, wenn man auf Prüfungsbilanz schaut: Der Bundespräsident hat ganz viele Verfassungswidrigkeiten nicht „bemerkt“.
Argument: Amtseid; Gegenargument: Der Eid begründet keine Pflichten, er bekräftigt sie; s. Wahrheitspflicht im Strafprozess, uneidliche Falschaussage/Meineid.
Vgl. dazu (lesen!) Ernst Friesenhahn, Zum Prüfungsrecht des Bundespräsidenten, in: Fs. f.
Gerhard Leibholz, Band 1, 1966, S. 679 - 694 sowie Karl Heinrich Friauf, Zur Prüfungszuständigkeit des Bundespräsidenten bei der Ausfertigung der Bundesgesetze, in: Fs. f. Carl
Carstens, 1984, S. 545 - 568; in der Staatspraxis übt der Bundespräsident seine Prüfungskompetenz aus; seit Bundespräsident Carl Carstens allerdings nur im Rahmen einer Evidenzprüfung, zuletzt s. Tobias Linke, Der Bundespräsident als Staatsnotar oder das vermeintliche „formelle“ und „materielle“ Prüfungsrecht, in: Die Öffentliche Verwaltung
2009, S. 434-444 (kritisch zur „herrschenden“ Meinung und Staatspraxis).
- Völkerrechtliche Vertretung durch den Bundespräsidenten; Bedeutung von Art. 59 Abs. 1
Satz 1 u. 2 GG.
Beachten Sie insbesondere: Dem Bundespräsidenten kommt zwar - in der Praxis nicht
durchzuhalten - das Monopol zur Abgabe der rechtsgeschäftlichen Erklärungen und der
sonstigen Kundgaben im Rahmen von Art. 32 Abs. 1 GG zu; ihm kommt aber jedenfalls
nicht die materielle Entscheidungsbefugnis im Sachbereich der auswärtigen Gewalt zu.
- Das Monopol der formellen Vertretung führt zu einem Dissens zu Art. 7 der Wiener Vertragsrechtskonvention; zu helfen ist hier wohl nur mit einer stillschweigenden Ermächtigung des Kanzler und des Außenministers.
Zusammenfassung:
- Intergrationsfunktion
- politische Reservefunktion
- rechtliche Reservefunktion
174
IV. Die Gegenzeichnung
s. dazu H. Maurer, Die Gegenzeichnung nach dem Grundgesetz, Fs. f. Carl Carstens, Band
2, 1984, S. 701 sowie zuletzt Martin Nettesheim, a.a.O., § § 62, Rn. 28-32
1. Rechtsquellen: Art. 58 Abs. 1, 82 Abs. 1 Satz 1 GG; § 29 Abs. 3 GOBReg.
2. Zur Geschichte der Gegenzeichnung
- - Verantwortungsübernahme für den entscheidungsbefugten aber nicht verantwortlichen
Monarchen durch die Exekutivspitze
- - rechtlich mögliche Konsequenz bei Verfassungsverletzung im Konstitutionalismus: Ministeranklage
3. Sinn der Gegenzeichnung heute
- Mit der Gegenzeichnung wird das präsidentielle Handeln gebilligt und dem Bundestag
gegenüber (immer noch) die Verantwortung dafür durch den Kanzler oder den zuständigen
Bundesminister übernommen; aber dem entsprechen keine Rechtsfolgen im real existierenden deutschen Parlamentarismus.
- Schließlich soll die Gegenzeichnung die Koordination des präsidentiellen Handelns mit
der Regierungspolitik gewährleisten.
4. Anwendungsbereich der Gegenzeichnung
- Rechtsakte
- Außenpolitik
- Reden? Bundespräsident Carstens: „absurd". Das Schrifttum nimmt die Gegenzeichnungspflicht für Reden zum Teil an; Stern, Staatsrecht, Band 2, S. 213 f. Die wohl h.M.
steht zu Recht auf dem Standpunkt der Gegenzeichnungsfreiheit (s. dazu Martin Nettesheim, a.a.O., § 62, Rn. 32); s. jetzt das Organstreitverfahren NPD ./. Bundespräsident
Gauck wegen mißliebiger Äußerungen des Bundespräsidenten über die NPD im
Wahlkampf.
Ausnahmen von der Gegenzeichnungspflicht
- Art. 58 Abs. 1 Satz 2 GG
5. Zuständigkeit: Art. 58 Abs. 1 GG
6. Rechtsfolge (gegebenenfalls schwebende) Unwirksamkeit des Präsidialakts
175
D. Die Bundesregierung
S.. dazu Eckard Klein, Zuständigkeiten und Rolle der Bundesregierung, in: Deutsches Landesreferat zum öffentlichen Recht und Völkerrecht, XI. Internationaler Kongreß für Rechtsvergleichung, Caracas, 1982, S. 55 ff.; Martin Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium.
Eine Studie zur Regierungsorganisation nach dem Grundgesetz, 1983; Werner Frotscher,
Regierung als Rechtsbegriff. Verfassungsrechtliche und staatstheoretische Grundlagen unter
Berücksichtigung der englischen und französischen Verfassungsentwicklung, 1975; Siegfried Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes.
Eine Untersuchung zu den Grundlagen der Stellung und Aufgaben des Deutschen Bundestages, 1979; Ulrich Scheuner, Der Bereich der Regierung, in: ders., Staatstheorie und
Staatsrecht (Gesammelte Schriften), 1978. Zusammenfassend jetzt Meinhard Schröder,
Aufgaben der Bundesregierung, HBStR III, 3. Aufl. 2005, § 64 sowie ders. Bildung,
Bestand und parlamentarische Verantwortung der Bundesregierung, HBStR a.a.O., § 65
sowie Steffen Detterbeck, Innere Ordnung der Bundesregierung, HBStR a.a.O., § 66.
I. Aufgaben der Bundesregierung
s. dazu Meinhard Schröder, a.a.O., § 64
1. Kein Aufgabenkatalog im Grundgesetz
2. Charakteristik der Bundesregierung als Quelle der Aufgabenumschreibung
- Exekutivfunktionen
Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 83 ff GG = Ausdruck der Gewaltenteilung, auch der
föderalen Gewaltenteilung
- Gubernativfunktionen
s. zur Abgrenzung das angelsächsische „government“.
Regierungsorgan mit der Aufgabe der Staatsleitung (BVerfGE 11, 77 (85); 105, 252 (270):
105, 279 (301)): Aufstellung und Verwirklichung des Regierungsprogramms (BVerfGE 45,
1 (46); von letzterem steht indes nichts im Grundgesetz; ersteres ist jedenfalls nicht exklusive Aufgabe der Regierung (s. oben zum Bundestag: Gesamthandsmodell). Die Unterscheidung von Gubernativfunktionen (= Staatsleitungsaufgaben) und Exekutivfunktionen (=
Verwaltungsaufgaben) ist sicher in den Einzelheiten nicht trennscharf; sie ist aber im Kern
erfassbar, wie auch etwa an der Diskussion um das Bonn-Berlin-Gesetz deutlich wird. Statt
einer Teilung der Ministerien nach Ihrem Hauptsitz, hätte es sich eher angeboten, die Chan-
176
ce zu nutzen, die gubernativen Teile (= Staatleitung) von den exekutiven zu teilen, indem
die exekutiven Aufgaben Bundesoberbehörden zugewiesen worden wären (und als solche in
Bonn hätten verbleiben können oder auch nicht).
- Initiativfunktionen
§ 15 GOBReg: Initiativ in allen „Angelegenheiten von allgemeiner innen- und außenpolitischer, wirtschaftlicher, sozialer, finanzieller oder kultureller Bedeutung“ (aber nicht im
Grundgesetz erwähnt!); § 15 GOBReg normiert die im Grundgesetz vorausgesetzte Gesamt
aufgabe der Bundesregierung (s. Meinhard Schröder, a.a.O., § 64, Rn. 7).
- - Art. 76 Abs. 1 GG - Gesetzgebungsinititative
- - Art. 110 Abs. 3 GG – Pflicht zur Haushaltsinitiative (s. auch Art. 106 und Art. 109 Abs.
3 Satz 4 Nr. 1 GG)
- - Art. 59 Abs. 2 GG – Gesetzgebung in auswärtigen Angelegenheiten mit Initiativmonopol
- Kein zugriffsfester Regierungsvorbehalt – das folgt schon aus dem Gesamtshandsmodell. Entschließungen des Bundestages zu programmatischen Zielen sind auch dort zulässig, wo die eigentliche Handlungskompetenz bei der Bundesregierung liegt (z.B. im Bereich
der auswärtigen Gewalt, Art. 59 Abs. 1 GG).
Gelegentlich ist vom „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung“ die Rede (BVerfGE
67, 100 (139)). Die Vokabel bezieht sich auf den Vorgang parlamentarischer Kontrolle im
Untersuchungsrecht oder bei der Beantwortung Kleiner oder Großer Anfragen; es geht darum, dass Überlegungsprozesse innerhalb der Regierung nicht jederzeit überprüft werden
können. Die „Willensbildung der Regierung selbst, sowohl hinsichtlich der Erörterungen im
Kabinett als auch bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen, die sich
vornehmlich in ressortübergreifenden und – internen Abstimmungsprozessen vollzieht“ ist
im Kernbereich geschützt (BVerfGE 124, 78 (120)).
Auch die Suche nach einem Verwaltungsvorbehalt (Hartmut Maurer/Friedrich E.
Schnapp, der Verwaltungsvorbehalt, VVDStRL 43 (1985), S. 135 f.) war nicht erfolgreich.
Beachtlich ist aber, dass die Regierung aus ihrer Staatsleitungsfunktion durch den Bundestag nicht verdrängt werden kann, weil sie gegenüber Staatsleitungsenscheidungen des Bundestages nur dann folgepflichtig ist, wenn der Bundestag sich der Form des Gesetzes bedient. Ansonsten kann der Deutsche Bundestag die Bundesregierung zu "nichts zwingen";
die Vornahme von Einzelakten ist dem Bundestag gewaltenteilungsrechtlich ohnehin vorenthalten; das gleiche gilt für außenwirksames Handeln im Bereich der auswärtigen Gewalt,
s. dazu grundlegend das AWACS-Urteil BVerfGE 90, 286 (357).
177
Das hat auch für die „Organisationsgewalt der Regierung“ Konsequenzen (s. dazu grundlegend Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung,
1964). Sie ist im Ressortzuschnitt durch den Kanzler verfassungsrechtlich diesem zugewiesen; ansonsten macht sich der organisationsrechtliche Gesetzesvorbehalt geltend, der verlangt, dass „Zuständigkeit durch Gesetze“ begründet wird und dass juristische Personen des
öffentlichen Rechts durch Rechtssatz begründet werden; für juristische Personen des Privatrechts, derer sich der Staat zur Aufgabenerfüllung bedient, gilt das nicht; sofern er sie mit
Hoheitsgewalt „beleihen“ will, greift der Gesetzesvorbehalt wieder ein.
- Teilhabe des Parlaments an der auswärtigen Gewalt s. dazu BVerfGE 68, 1 - NATONachrüstung sowie BVerfGE 90, 286 -AWACS
- Teilhabe des Parlaments an der Planung: z.B. an der Haushaltsplanung: Haushaltsplan (Art. 110 GG): der Haushaltsplan ist in einer vom Bundesverfassungsgericht rezipierten Formulierung von Johannes Heckel, staatliches Gesamtprogramm für die staatliche
Wirtschaftsführung und damit zugleich für die Politik des Landes für die Etatperiode, s.
BVerfGE 79, 311 (329); 70, 324 (355); s. weiter 45, 1 (32) zum Bundesfernstraßenausbauplangesetz und zu der Frage, ob das Parlament auch befugt ist, sozusagen planfeststellungsersetzende Plangesetze für die linienförmige Planung zu erlassen, s. BVerfGE 95, 1 (22 f.) –
Südumfahrung Stendahl (Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz).
- Die Regierung als Kollegium ist nicht Spitze der Exekutive; dies sind vielmehr die Minister als Ressortchefs.
3. Einzelaufgaben in der Übersicht
a) Kanzler: Art. 64 Abs. 1 i.V.m. § 9 GOBReg; Art. 69 Abs. 1, Abs. 3; 65 Satz 1 i.V.m. § 1
Abs. 1 Satz 2 GOBReg; Art. 65 Satz 4; Art. 39 Abs. 3; Art. 43 Abs. 2; Art. 68 Abs. 1 Satz
1; Art. 58; Art. 68 Satz 1, 2 GG.
b) Ministerzuständigkeiten
- Gelenkstelle zwischen Regierung und Verwaltung
- Parlamentarische Zutritts- und Rederechte wie der Kanzler (Art. 43 Abs. 2)
- Art. 65 Satz 2: Ressortleitungsbefugnis
- Vorzugsrechte: BMF: Art. 114 Abs. 1, 122 GG; § 36 Abs. 1 GOBReg; BMJ und BMI:
§ 26 Abs. 2 GOBReg; BMV: Art. 65 a GG
178
c) Kabinettszuständigkeiten
- Zuständigkeit der Bundesregierung als Kollegium: Mitwirkung an der Gesetzgebung (Art.
76 Abs. 1, Abs.3,77 Abs. 2 Satz 4, 80; Aufsichtsrechte im bundesstaatlichen Zusammenhang: Art. 37, 84 Abs. 2 - 5, 8 5 Abs. 2-4; Haushaltsbefugnisse: Art. 110 Abs. 3, 111, 113,
114; auswärtige Gewalt: Art. 26 Abs. 2, 32 Abs. 3, 59 Abs. 2; Kompetenzkonfliktentscheidung und Streitschlichtung sowie Geschäftsordnungsbefugnisse: Art. 65 Satz 3 u. 4 GG)
II. Amtsgewinn und Amtsverlust
s. dazu Meinhard Schröder, a.a.O., § 65
1. Textbefund: Art. 63, 64 GG
- Problem der Koalitionsvereinbarung: Faktisch sind Regierungsbildungen im Nachkriegsdeutschland auf Bundesebene ohne Koalitionsvereinbarungen nicht ausgekommen, um
Mehrheiten bilden zu können. Der Koalitions-„vertrag“ ist aus rechtlicher Sicht überschießend. Der Name hält nicht, was er verspricht. Die Partner sind rechtlich einander zu nichts
verpflichtet; es geht lediglich um eine "politische Geschäftsgrundlage im Vorfeld der von
den Staatsorganen zu treffenden Entscheidungen" (s. Meinhard Schröder, a.a.O., § 65, Rn. 1
m weit. Nachw.). Auch wenn im Schrifttum viel über über Rechtsnatur usw. gerätselt wird;
es ist eigentlich ganz einfach: Es handelt sich um eine politische Selbstverpflichtung beider
Seiten, die auch nur zu politischen Konsequenzen führt, wenn der Konsens nicht erfüllt
wird. S. etwa die Zustimmung im Bundesrat seitens des Ministerpräsidenten von
Mecklenburg-Vorpommern entgegen der Koalitionsvereinbarung („Black out“), die ohne
Konsequenz blieb, weil der politische Preis (Scheitern der Koalition) zu hoch war.
2. Kanzlerwahl im parlamentarischen Regierungssystem
- keine doppelte Legitimation für den Kanzler wie in der Weimarer Republik (durch
Reichstag und Reichspräsident)
- Zweistufiges Verfahren des Amtsgewinns: Erste Stufe Kanzlerwahl, zweite Stufe Kabinettsbildung.
-
Bedeutung des Vorschlags des Bundespräsidenten (Art. 63 Abs. 1, Abs. 2 GG) (s. Mein-
hard Schröder, a.a.O.,§ 65, Rn. 6) Der Vorschlag ist ein „Akt der Geburtshilfe“ des Bundespräsidenten für den Bundeskanzler, d.h. wenn man im Bild bleibt: Der Bundespräsident
will keine Totgeburt, also wird er den Vorgeschlagenen, der nach seiner Einschätzung die
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Chance auf Bildung einer Koalition hat, vorschlagen. Das wird regelmäßig der Kanzlerkandidat der größten Fraktion sein, muss es aber nicht (s. etwa nach der jüngsten Bundestagswahl die Möglichkeit; CDU/CSU als „Wahlgewinner“ ohne die FDP, bei erklärter Koalitionsbereitschaft von SPD und DIE GRÜNEN wird der Bundespräsident den Spitzenkandidaten der CDU vorschlagen dürfen. Wenn die Mehrheit von SPD, DIE GRÜNEN und DIE
LINKE möglich wäre, könnte der Bundespräsident aber auch den Kandidaten der SPD zum
Kanzler vorschlagen. Der Bundespräsident wird seine Entscheidung deshalb nur nach Konsultationen mit den Fraktionen treffen und nach dem Abschluss eines Koalitionsvertrages.)
-
Zeitpunkt des Vorschlags? Frist?
-
Wahl des Kanzlers durch den Bundestag ohne Debatte (Art. 63 Abs. 1 Satz 2), geheim
(§ 4 Satz 1 i.V.m. § 49 GOBT), mit dem Erfordernis der Kanzlermehrheit (Art. 63 Abs. 2
i.V.m. Art. 121 GG); Erfordernis der Annahme der Wahl.
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Bei Fehlschlagen des Präsidentenvorschlages geht die Initiative auf das Parlament über
(Art. 63 Abs. 3, 4 GG). Die politische Reservefunktion des Bundespräsidenten ist hier also
nur schwach ausgebildet. Als letzte Stufe ist somit die Wahl zum Minderheitskanzler offengehalten. (S. auch BVerfGE 114, 121 (151)). Nach Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG hat der Bundespräsident ein Wahlrecht: Ernennen oder Auflösen. Die politische Reservefunktion erstarkt wieder.
- Ernennung durch den Bundespräsidenten (Art. 63 GG und Vereidigung Art. 64 Abs. 2
i.V.m. Art. 56 GG).
3. Kabinettsbildung
- Art. 64 GG: Auswahl der Minister ist im parlamentarischen System Kanzlersache; im
Landesverfassungsrecht ist die Rechtslage gelegentlich anders; dort hängen nach einzelnen
Landesverfassungen auch die Minister vom Vertrauen des Parlamentes ab.
- Einwirkungsmöglichkeiten des Bundespräsidenten?
Im Prinzip muss der Bundespräsident den die Voraussetzungen erfüllenden Kandidaten
ernennen. Ein politisches Prüfungsrecht steht ihm nicht zu (s. aber den Fall Thomas Dehler,
den Bundespräsident Heuss nicht ernennen wollte) (s. Meinhard Schröder, a.a.O., § 64 Rn.
35)).
- Der Kanzler darf zusätzlich Minister sein. So war Konrad Adenauer der erste Außenminister der Bundesrepublik. Die Kabinettsbildung setzt die Ressorteinteilung voraus; diese ist
Sache des Kanzlers. Pflichtressorts sind wegen der im Grundgesetz erwähnten Vorzugsrechte: Finanz, Justiz und Verteidigung.
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4. Amtsverlust
s. dazu Meinhard Schröder, a.a.O., § 65, Rn. 35-44
a) Verfassungsziel der Regierungsstabilität (Art. 67 und 68 GG) im Vergleich mit der
Weimarer Reichsverfassung
b) Erschwerung des Regierungssturzes.
- Das konstruktive Mißtrauensvotum (Art. 67 i.V.m. § 97 GOBT): Das Kalkül des konstruktiven Misstrauensvotums führt der Mehrheit vor Augen, dass sie „ihren“ Kanzler halten muss, wenn sie keine Neuwahlen riskieren will; es kann das konstruktive Misstauensvotum folglich nur Erfolg haben, wenn ein Kolitionär der Mehrheit die Seiten wechselt. Wenn
das geschieht, hat das konstruktive Misstrauensvotum Erfolg. Dem alten Kanzler ist das
Misstrauen ausgesprochen, der neue ist mit Kanzlermehrheit gewählt. Allerdings entspricht
dem keine Legitimation durch Wahl. Deshalb hatte Bundeskanzler Kohl bei seinem Amtsgewinn durch das konstruktive Misstrauensvotum (gemeinsam mit der FDP) versprochen,
alsbald Neuwahlen abhalten zu lassen (s. dazu sogleich zur unechten Vertrauensfrage).
- Vertrauensfrage (Art. 68 GG)
- - echte Vertrauensfrage: Erwartung des positiven Ausgangs; die Vertrauensfrage darf auch
mit einer Sachfrage verknüpft werden, um die Durchsetzungschancen für die Streitfrage
(Gesetz) zu erhöhen.
- - unechte Vertrauensfrage: Erwartung eines Negativvotums (s. dazu als erste Entscheidung
BVerfGE 62, 1 – Kohl und dazu die Dokumentation von Heyde/Wöhrmann (Hrsg.), Auflösung und Neuwahl des Bundestages, 1983; ferner Hans H. Klein, Die Auflösung des Deutschen Bundestages nach Art. 68 GG, in: ZParl 14 (1983), S. 402 ff.; Willi Geiger, Die Auflösung des Bundestages nach Art. 68 GG, in: JöR n.F. 33 (1984), S. 40 ff. und sodann als 2.
Entscheidung BVerfGE 114, 121 – Schröder.
Beachten Sie: Was das Grundgesetz nicht will, ist die gewillkürte Selbstauflösung des Parlaments etwa nach angelsächsischem Vorbild, d.h. eine Regierung findet, jetzt wählen zu
lassen, erhöhe ihre Chancen, also löst sie das Parlament mit Mehrheitsentscheidung auf.
Das Grundgesetz will hingegen die Parlamentsauflösung nur, wenn die Regierungsfähigkeit
in der Krise steckt, es geht also um das Verhindern einer Auflösung aus bloßer politischer
Opportunität (s. BVerfGE 62, 1, Ls. 7) und die Ermöglichung der Parlamentsauflösung zur
Krisenbewältigung.
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Frage: Wie ist beides zu unterscheiden, wenn die Initiative in der Hand des Bundeskanzlers
liegt und der Bundespräsident schließlich die Frage Opportunität oder Krise beantworten
soll? Und was soll das Bundesverfassungsgericht im Organstreitverfahren eigentlich prüfen
können? → BVerfGE 114, 121 antwortet hierauf in Leitsatz 2: „Die auflösungsgerichtete
Vertrauensfrage ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Handlungsfähigkeit einer parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist. Handlungsfähigkeit bedeutet,
dass der Bundeskanzler mit politischem Gestaltungswillen die Richtung der Politik bestimmt, und hierfür auch eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich weiß.“ Die Prüfungskompetenz (Einschätzungsprärogative) dafür, ob die Vertrauensfrage gerechtfertigt ist (wegen Zweifeln an der Regierungsfähigkeit) hat der Bundeskanzler; der Bundespräsident hat
in Respekt der Einschätzungsprärogative zu prüfen (BVerfGE 62, 1 Ls. 8a) und 8b). Großzügiger noch BVerfGE 114, 121 (154 ff.); krit. abweichende Meinung BVerfGE 114, 170
(174, 178). Immerhin wird auch im 114. Band an einer Prüfung des Verhaltens des Bundeskanzlers als auf Tatsachen gestützte Einschätzung festgehalten. Bloß „gewillkürt“ darf die
Auflösung auch jetzt nicht sein (BVerfGE 114, 121 (160 f.)
III. Parlamentarische Verantwortlichkeit
Art. 65 GG: Kanzlerverantwortlichkeit; Art. 65 S. 2 GG: Ministerverantwortlichkeit; Kabinettsverantwortlichkeit z.B. in Art. 114 Abs. 1 GG.
IV. Organisation der Bundesregierung
s. Steffen Detterbeck, a.a.O., § 66
1. Textgrundlage: Art. 65 GG i.V.m. der GOBReg
Minister ist offenbar der Ressortminister Ressortführung in eigener Verantwortung).
- Darf es dann aber auch den Minister ohne Ressort geben, also den Minister ohne Geschäftsbereicht, den „für besondere Aufgaben“? Die Staatspraxis hat dies bejaht; der Geschäftsbereich entsteht gewissermaßen ad hoc mit Erteilung des besonderen Auftrages.
- Kann es auch den Minister als Chef des Bundespresseamtes geben (Fall: Hans „Johnny“
Klein, CSU)? Problem: Das Bundespresseamt ist eine Abteilung des Bundeskanzleramtes,
untersteht also den Weisungen des Bundeskanzlers. Ein Minister leitet aber sein Ressort
selbstständig, ist also weisungsfrei. Als Leiter der Abteilung Bundespresseamt ist er also
weisungsgebunden. Als Kabinettsmitglied ist er hingegen weisungsfrei. Deshalb soll diese
Konstellation verfassungsrechtlich möglich sein. Das ist zweifelhaft; es liegt näher anzu-
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nehmen, dass die Konstellation verfassungsrechtlich nicht möglich ist. Die Kabinettsfunktion ist von der übertragenen Aufgabe nicht ablösbar.
2. Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers
- Organisationsbefugnis des Bundeskanzlers als Voraussetzung seiner Richtlinienkompetenz (Ressortzuschnitt)
- Was sind "Richtlinien der Politik"?
- - jedenfalls keine Rechtsquelle; sie müssen der Kollegialkompetenz und der Ressortkompetenz Raum lassen;
- - sie gewähren richtiger Ansicht nach kein Selbsteintrittsrecht des Bundeskanzlers (str.)
- - Interpretationskompetenz darüber, was zur Richtlinienfrage gehört, mit Beurteilungsspielraum beim Kanzler; die Ressortleitungskompetenz eines Ministers darf diesen nicht
durch additive lückenlose Richtlinienenscheidung genommen werden.
- - keine bestimmte Form
- - politische Einbindung in die Koalitionsvereinbarung
- Durchsetzungsmöglichkeiten der Richtlinienkompetenz (Art. 64 Abs. 1 GG)
- Als Problem ist aufgeworfen worden, ob die Richtlinienkompetenz oder die Ressortleitungskompetenz eines Ministers durch ein Ressortleitungsgesetz unterlaufen werden darf.
Zu dem Versuch eines solchen Ressort1eitungsgesetzes s. BT-Druck. 12/2223 vom
30.08.1995.
- Richtlinienkompetenz in Zeiten der Koalitionsverträge.
3. Die Ressortleitungskompetenz der Bundesminister
- Abgrenzung der Ressortleitungskompetenz gegenüber der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers und gegenüber der Ressortkompetenz anderer Minister.
- Verordnungsbefugnis (Art. 80 Abs. 1 GG), Gegenzeichnung (Art. 58 Abs. 1 i.V.m. § 29
GOBReg)
- Organisation- und Personalgewalt des Ministers in seinem Ressort.
- Doppelfunktion des Ministers: Behördenspitze und Regierungsmitglied
- - "Pflichtressorts“ (Verteidigung: Art. 65 a, Justiz: Art. 95 Abs. 2, Finanzen: Art. 112, 114,
26 GOBReg.; trotz dieser Vorzugsstellung ist der Finanzminister der Richtlinienkompetenz
des Bundeskanzlers unterworfen.)
- Weisungsfreiheit des Ministers in Bindung an die Richtlinienkompetenz (s. auch §§ 28
Abs. 1, 2 GOBReg)
- Weisungsbefugnis des Ministers
183
- Vertretung des Ministers (§ 14 Abs. 1, 3 GOBReg)
4.
Die Kollegialkompetenz der Bundesregierung
Textbefund: Art. 65 Satz 3 GG; § 15 Abs. 1 GOBReg
- weitere Kollegialkompetenzen:
Art. 32 Abs. 3; 35 Abs. 3 Satz 1; 37; 42 Abs. 1; 52 Abs. 1 Satz 2; 53 Abs. 3 Satz 3; 65 Abs.
4; 76 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3; 77 Abs. 2 Satz 4; 80 Abs. 1; 81 Abs. 1; 93 Abs. 1 Satz 2; 111;
113; 84 Abs. 2; 84 Abs. 5.
- Organisation der Willensbildung: Mehrheitsentscheidungen, Kabinettsausschüsse als
Hilfsorgane
5.
Geschäftsführung der Bundesregierung
V. Verfassungsprozessuale Stellung
Für das Organstreitverfahren ist die Bundesregierung parteifähig (§ 63 BVerfGG); weiter
sind jedenfalls parteifähig der Bundeskanzler (wegen Art. 39 Abs. 3 Satz 3, § 64 Abs. 1, §
65 Sätze 1 u. 4, 68 Abs. 1 Satz 1, 115 b GG), die Minister mit Vorzugsstellung, also der
Bundesminister der Finanzen (Art. 112 GG, dazu BVerfGE 45, 1 (28)) sowie der
Bundesminister für Verteidigung (wegen Art. 65a GG). Ob auch die übrigen
Bundesminister parteifähig sind, ist durchaus umstritten. In Betracht kommt ihre Ressortleitungskompetenz im Verhältnis zur Richtlinienpolitik des Bundeskanzlers und ihr Mitwirkungsrecht in der Bundesregierung. Vertretbar ist hier gewiß die Auffassung, das Binnenkonflikte des Kabinetts nicht der Entscheidungszuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts unterliegen, weil der Kanzler einen Minister jederzeit entlassen kann (s. dazu Klaus
Ulsamer, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 63 Rn. 19). Für die
abstrakte Normenkontrolle s. § 76 BVerfGG, Antragsrecht der Bundesregierung.
E. Gesetzgebungsverfahren
s. dazu Klaus Stern, Staatsrecht Band II, § 37 Abs. 3; Fritz Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof(Hrsg.), HBStR III, 2005, § 102
I. Thematische Abgrenzung
- nur Gesetzgebungsverfahren (Art. 77 f.).
184
II. 3-Phasen-Modell
- Gesetzesinitiative
- Beratung bis zur Beschlussfassung durch Bundesrat und Bundestag
- Ausfertigung und Verkündung
III. Die einzelnen Phasen
1. Gesetzesinitiative
- Bundesregierung als Kollegialorgan (Art. 78 Abs. 1, §15 GOBReg)
- Aus der Mitte des Bundestages (§ 76 GOBT: Fraktion oder 5 von 100 der Mitglieder)
- Bundesrat kraft Mehrheitsbeschluss
- Weiteres Verfahren hängt vom Initianten ab (Art. 76 Abs. 2 oder Art. 76 Abs. 3 GG)
2. Beschlussfassung durch Bundestag und Bundesrat
a) Gesetzesbeschluss des Bundestages: Drei Lesungen (§ 78 f. GOBT)
- endet mit der Schlussabstimmung (Art. 77 Abs. 1 Satz 1GG, Mehrheit der abgegebenen
Stimmen)
- Probleme der Beschlussfähigkeit (§ 45 GOBT); dazu BVerfGE 44, 308
b) Beteiligung des Bundesrates
- grundlegende Unterteilung (Art. 77 Abs. 1 Satz 2 GG) in Einspruchsgesetze und Zustimmungsgesetze, s. dazu oben S. 96 ff.
aa) Verfahren bei Einspruchsgesetzen
- Dem Einspruch geht ein Vermittlungsverfahren voraus.
- Institution und Bedeutung des Vermittlungsausschusses
s. dazu M. Dietlein, Vermittlung zwischen Bundestag und Bundesrat, in: Schneider/Zeh,
Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 57; Gernot Fritz, Teilung von Bundesgesetzen,
1982; E. Hasselsweiler, Der Vermittlungsausschuss - Verfassungsgrundlagen und Staatspraxis, 1981.
- Verfahrensablauf des Vermittlungsverfahrens (s. Ossenbühl, a.a.O., § 102, Rn. 55 ff.)
- Insbesondere: Probleme der Dispositions"freiheit" des Vermittlungsausschusses; dazu
neben der bereits zitierten monographischen Literatur Klaus Stern, a.a.O., § 37 III 7 sowie
zusammenfassend Ossenbühl, a.a.O., § 102, Rn. 62 sowie BVerfGE 101, 297 (306 f.)
bb) Zustimmungsgesetze
- Vermittlungsverfahren nicht zwingend (vgl. Art. 77 Abs. 3 Satz 3 GG). Initiativberechtigt
für das Vermittlungsverfahren ist auch die Bundesregierung.
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- Gegen den Willen des Bundesrates kann kein zustimmungspflichtiges Gesetz Zustandekommen.
cc) Frage: Was ist beim Dissens über die Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzes?
- Formelles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten mit der Möglichkeit der Verweigerung
der Ausfertigung.
- Organstreitverfahren, Normenkontrollverfahren als Möglichkeit
- Keine Umdeutung der verweigerten Zustimmung in einen Einspruch
- Grundsatz der Diskontinuität der Gesetzesvorlagen
3. Das verfassungsändernde Gesetz (Art. 79 GG)
- Schutz der Wesenszüge des Grundgesetzes
dazu Paul Kirchhof/ Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR I, § 19; Hans Peter Schneider, Die verfassunggebende
Gewalt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdBStR VII, § 158:
- Verbot der Verfassungsdurchbrechung
- Gebot der Verfassungstextänderung
- Qualifizierte Mehrheiten
4. Ausfertigung und Verkündung (Art. 82 GG)
s. Fritz Ossenbühl, a.a.O., Rn.58-63 GG
- Gegenzeichnungspflicht (Art. 58 GG)
- Ausfertigung: Bescheinigung der Übereinstimmung des zu verkündenden mit dem beschlossenen Gesetz und Beglaubigung des ordnungsgemäßen Verfahrensgangs
- Inkrafttreten (Art. 82 Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. Art. 82 Abs. 2 Satz 2 GG) s. Fritz Ossenbühl, a.a.O., Art. 64 - 67.
F. Das Bundesverfassungsgericht
… ist Gegenstand einer besonderen Vorlesung
Im Überblick:
- Normenkontrolle
- Organstreitverfahren
- Bund-Länder-Streit
- Verfassungsbeschwerde
- Kommunalverfassungsbeschwerde
Zugehörige Unterlagen
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