Der Erste Weltkrieg

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Der Erste Weltkrieg
Hintergrundanalyse, Vor- und Nachgeschichte
Vorwort
Diese kurze Arbeit zum Ersten Weltkrieg will keine komplette Bestandsaufnahme
bieten. Es gibt eine Fülle von Materialien, die Jedermann häufig auf bequemem
Weg im Internet oder in Büchern lesen kann. Jede Dorfbücherei bietet meist
mehrere Standardwerke zur Auswahl an. Daher erspare ich es mir und Ihnen,
lediglich Fakten und Vorgänge in einer Art Auflistung chronologisch darzulegen.
Pulverdampf und Schlachtenlärm, oder unkritische Heldenverehrung werden Sie
hier nicht finden.
Als Laie ist mir aufgefallen, dass viele Darstellungen zum Ersten Weltkrieg
sozusagen „um den eigenen Bauchnabel“ kreisen. Zumal in deutschsprachiger
Lektüre ist dies praktisch die Regel. Aber auch im Ausland sind Historiker und
Biographen nicht davor gefeit, Vorgänge hauptsächlich aus landestypischem
Blickwinkel zu betrachten.
Einen Satz aus dem späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert richtig zu verstehen,
ist nicht einfach. Wir lesen zwar die Worte – aber was genau damit gemeint sein
mag, bleibt dennoch oft rätselhaft. Zum einen fehlen dem Laien häufig die
genauen Kenntnisse über die damalige Gesellschaft oder die politischen
Verhältnisse. Andererseits muss man gerade in der Vorkriegszeit den Blick auf
die internationale Situation weiten. Es genügt somit nicht, sich einigermaßen mit
Deutschland auszukennen, nein, man wird zu beachten haben, was zeitgleich im
Ausland passierte. Spätestens an diesem Punkt sind wir alle auf die Vorarbeit
von Historikern angewiesen, die für uns die komplexen Zusammenhänge filtern,
dechiffrieren und so miteinander in Beziehung setzen, dass sich ein stimmiges
Ganzes ergibt.
Warum nun also, wenn dem so ist, noch dieser laienhafte Beitrag, der gefühlt
millionste zum WK I? Aus purer Neugierde habe ich mich selbst auf die Suche
nach Zusammenhängen und Interpretationen gemacht. Dabei habe ich natürlich
viele Bücher gelesen und selbst ausgewertet. Herausgekommen ist ein Bild, das
ich so noch bei keinem Historiker gelesen hatte. Einen Anspruch auf
Letztgültigkeit, oder Alleingültigkeit hat mein Beitrag selbstverständlich nicht; im
Gegenteil, die Untersuchung wird mit Sicherheit lückenhaft und womöglich auch
mit Fehlern behaftet sein. Aber wer sich gemeinsam mit mir auf eine spannende
Reise in die Welt vor hundert Jahren begeben möchte, ist herzlich dazu
eingeladen. Hoffentlich haben Sie Freude an der Lektüre, und falls Sie neugierig
geworden sind, gehen Sie eben in die nächste Bücherei und fangen selbst an,
sich in diese ferne und doch so nahe Welt zu vertiefen.
Dirk Driesang, Januar 2014
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Internationaler Teil und Vorgeschichte
1.Das besondere Wesen im Herzen Europas
2.Tanz der Vampire
3.Aufforderung zum Tanz
Ausbruch und Verlauf
4.Kaiser Wilhelm II
5.Das deutsche Militär
6.Politische Eliten in der Julikrise
7.Ludendorff und andere Missverständnisse
8. Das Puzzle fügt sich zusammen - Epilog
Quellen
Gesamtdarstellung als pdf
1. Das besondere Wesen im Herzen Europas
Blickt man auf die Landkarte, erkennt man, dass Deutschland in etwa dort liegt,
wo sich die gewaltige eurasische Landmasse zur europäischen Halbinsel
endgültig verjüngt hat. Diese besondere Lage hat im 19. Jahrhundert einen
Engländer zur so genannten „Herzland“ Theorie inspiriert. Demnach kann
derjenige, der dieses Herzland kontrolliert den eurasischen Raum und damit
letztlich die gesamte Welt beherrschen.
Nun hatte sich aus dem frühen Mittelalter das "Heilige Römische Reich
Deutscher Nation" allmählich herausgebildet. Seine Struktur ist wirklich
hochgradig interessant, komplex und vielfältig. Als Basis moderner
Machtausübung taugte sie allerdings nicht. So war das alte Reich den anderen
Kräften hoffnungslos unterlegen. Dies lag an zersplitterten Binneninteressen, an
variablen Auslandskoalitionen und an einer mangelhaften Zentralgewalt.
So hatte der Lebensraum der Deutschen zwar einen gewaltigen geographischen
Standortvorteil, der aber in der Konkurrenz mit den entstehenden
Nationalstaaten nicht genutzt und nicht in politische Macht umgemünzt
werden konnte. Nachdem dieser Zustand 1648 mit dem „Westfälischen Frieden“
manifestiert worden war, hätte dies ewig so bleiben können und auch sollen. Das
durch den Dreißigjährigen Krieg zerstörte, vergewaltigte, ausgeblutete,
geschändete und teils entvölkerte Land sollte weiterhin Spielball äußerer
Interessen bleiben und der europäischen Machtbalance dienen. Man bediente
sich am alten Reich wie man sich auf einem Verschiebebahnhof der
herumstehenden Waggons bedient.
Dieser Zustand war eigentlich für alle recht bequem – außer für die Deutschen.
1681 nutzte, um ein Beispiel zu nennen, Frankreich die Schwäche des Reiches
aus und annektierte einfach so, mitten im Frieden, Straßburg. Das Land in dem
die Lutherbibel, ein Herzstück der Deutschen Schriftsprache, überwiegend
gedruckt worden war, welches über Jahrhunderte hinweg Reichsgebiet gewesen
war, wurde also französisch. Um diesen Vorgang möglichst einfach zu gestalten,
hatte Frankreich den Vormarsch der Osmanen gefördert. Die Situation war daher
günstig, schließlich lag die volle Konzentration des Reiches bei Wien, um dort das
christliche Abendland (1683) vor dem Untergang zu bewahren.
Da geschah etwas mit dem niemand rechnen konnte; im östlichen Teil des Reichs
etablierte sich Preußen zunächst als regionale Macht. Mit Friedrich dem Großen
erlangte dann das flächenmäßig immer noch kleine und auch zersplitterte
Königreich mit dem Siebenjährigen Krieg den Status einer europäischen
Großmacht.
[Exkurs, Leseempfehlung. Unsere Köpfe sind verstopft vom blöden Schlagwort
des „preußischen Militarismus“ und einer daraus resultierenden äußerst
einseitigen Interpretation der deutschen Geschichte. Ich möchte daher dem Leser
folgende Lektüre zum Ausgleich und zur gedanklichen Anregung ans Herz legen:
„Fridericus Rex, Friedrich der Große – Porträt einer Doppelnatur“, von Wolfgang
Venohr, erschienen im Lübbe Verlag, 1. Auflage von 1985.]
Diese unglaublich unwahrscheinliche Entwicklung wäre niemals ohne das
preußische Militär, seine Disziplin und Organisation möglich gewesen, sie legte
den Grundstein zur zweiten Reichsgründung von 1871.
1806 hatte das alte Reich aufgehört zu existieren, es ging im Deutschen Bund
auf, in dem über Jahrzehnte hinweg Preußen und Österreich um die
Vorherrschaft rangen. So unwahrscheinlich wie Friedrich der Große und seine
beiden Vorgänger als historische Figuren waren, so unwahrscheinlich war die
besondere Konstellation, die sich in dem Gespann Kaiser Wilhelms I. und Fürst
Otto von Bismarck herausbildete.
Eine andere als die von Bismarck durchgeführte Reichsgründung mit „Eisen und
Blut“ erscheint im Rückblick unwahrscheinlich. Ich schelte diejenigen naive
Romantiker, die Deutschland aus den Blütenträumen liberaler Kräfte gegen die
europäischen Mächte entstehen sehen, die Bismarck in ihrer perversen Logik
einen „Dämon der Deutschen“ nennen. Umgekehrt, Bismarck und die
Reichseinigung trieben die Dämonen aus dem Land.
Das hatte niemand klarer erkannt als der kluge Benjamin Disraeli, der am 9.
Februar 1871 vor dem Unterhaus sagte:
„Dieser Krieg bedeutet eine Deutsche Revolution, ein größeres politisches
Ereignis als die Französische Revolution im vergangenen Jahrhundert.“ Und
weiter: „Das Gleichgewicht der Mächte ist vollkommen zerstört worden.“ (cit nach
Prof. A. Rödder, FAZ Seite 7 der Druckversion vom 14.1.2013, „Dilemma und
Strategie“, oder online vom 13.01.2013: http://www.faz.net/aktuell/politik/diegegenwart/europa-dilemma-und-strategie-12023770.html)
[Exkurs: Auch wenn die Zitate aus Disraelis Rede im Original auf den russischen
Zugang zum Schwarzen Meer gemünzt sind, so nimmt dies meinem Argument
nicht die Kraft. Denn ohne das bei Sedan im September 1870 siegreiche
Deutschland und der Gefangennahme Napoleons III., hätte keine neue
republikanische "Regierung der nationalen Verteidigung" in Paris im Dezember
1870 Russland eine Verbesserung des "Pariser Friedens" von 1856 ermöglichen
können. Es zeigt sich an diesem einen Vorgang erstmals und beispielhaft,
inwiefern das neue Europa, das Europa nach der Gründung des Deutschen
Reiches von 1871, sich vom alten Europa unterscheiden wird.]
Nun war 1871, wie wir alle wissen, ja keine Revolution im herkömmlichen Sinne.
Wie der frisch ins Amt gekommene englische Außenminister Sir Edward Grey am
12. Dezember 1905 an den englischen Botschafter Cecile Spring Rice mit Blick
auf Russland nach Petersburg schrieb:
„I suppose you have no idea what the outcome of the revolution will be; the laws
of the course of revolutions are not capable of scientific analysis. A general rule is
what was at the top at the beginning is at the bottom at the end:” (cit nach
“Cecile Spring Rice”, “A Diplomat’s Life”, von David H. Burton,1990, S. 129)
[Exkurs: Die innere Situation Russlands war wegen des verlorenen Krieges gegen
Japan von 1904/05 instabil geworden. Es kam zu einer ersten Revolution, die
aber niedergeschlagen wurde. In diese Revolution waren schon alle von später
her bekannten Namen verstrickt. So taucht Lenin ebenso auf wie Trotzki, Stalin
und Parvus Helphand.]
Fügt man die Äußerungen der bedeutenden Politiker Disraeli und Grey
zusammen und erkennt an, dass die Reichsgründung keine Revolution im
ursprünglichen Sinne des Wortes war, so wird folgendes klar:
Diese Einigung Deutschlands revolutioniert die übrigen europäischen
Staaten, weil diese nicht mehr im gewohnten außenpolitischen Muster
verfahren können. Sie revolutioniert darüber hinaus auch Europa, weil sie
„nach oben bringen wird, was zuvor am Boden lag“. Sie ist dadurch mächtig
genug, auch die innenpolitischen Entwicklungen in den anderen Ländern
Europas vehement zu beeinflussen.
Das ist eine umwerfende und weit reichende Erkenntnis. Ich fordere den Leser
auf, sich deren Tragweite bewusst zu werden.
Das politische Europa, wie es sich in Jahrhunderten zuvor herausgebildet hatte
und im ausgehenden 19. Jahrhundert vor unseren Augen liegt, war unmittelbar
an das Wesen des „Herzlandes Deutschland“ geknüpft. Änderte sich das Wesen
Deutschlands, so folgte notwendig auch eine Änderung der gesamten
europäischen Situation. Diese Änderung der Wesenhaftigkeit hat überhaupt
nichts zu tun mit der Annexion von Elsass Lothringen. Die Bedeutung dieser
„Reichslande“ für den späteren Kriegsausbruch ist daher im Allgemeinen weit
überschätzt worden. Zwar war es für den französischen Nationalstolz wichtig,
diese Gebiete zurückzuerhalten, aber europaweit gesehen war dies eher ein
Nebenaspekt, ein willkommener Anlass, nicht mehr. Diese Schlussfolgerung lässt
sich einfach aus der Tatsache ableiten, dass schon 1988 die kleine BRD
wirtschaftlich in einem für die europäischen Partner unerträglichen Maße
erstarkt war. Die Folge war ein enormer Druck seitens Frankreichs und
Großbritanniens auf Kanzler Kohl. Es war noch vor der Wiedervereinigung, vor
dem Zusammenbruch der DDR die Geburtsstunde der Währungsunion, mit dem
Aufgehen der DM im Euro, also ein fortgesetzter Aderlass Deutschlands
zugunsten anderer Länder der EU. Die Zusammenhänge sind im bereits o.g. FAZ
Artikel von Prof. A. Rödder „Dilemma und Strategie“ nachzulesen. Wer an dieser
obigen Formulierung vom "Aderlass" zweifelt, dem sei das Buch "Die letzten Jahre
des Euro" von Bruno Bandulet S. 52 ff empfohlen (Kopp Verlag 2011), oder auch
die umfangreiche Untersuchung zur Geburt des Euro von David Marsh: "David
Marsh, Der Euro, Die geheime Geschichte der neuen Währung", Murmann Verlag
2009.
Wenn aber selbst die kleine BRD ohne „Mitteldeutschland“, ohne die großen
Ostgebiete von 1871 und auch ohne Elsass Lothringen in eine solche Situation
geraten war, dann erkennt man, wie sehr „Elsass Lothringen“ bestenfalls ein
Anlass, aber kein Grund für den WK I war.
Nein, mit dem Urknall der Reichsgründung von 1871 hatte ein neuer Mitspieler
die Bühne betreten. Aus dem schwachen, innerlich zerstrittenen Flickenteppich
war ein starker, unabhängiger teilzentralisierter Nationalstaat entstanden. Das
Wesen des „Herzlandes“ hatte sich von Grund auf verändert. Und dies musste
seine Folgen zeitigen.
2 Tanz der Vampire
Wie im Kapitel 1 klar wurde hatte die Änderung der Wesenhaftigkeit
Deutschlands enorme Auswirkungen. Wer wachen Blickes auf das letzte Viertel
des 19. Jahrhunderts und die noch verbleibenden Jahre bis 1914 schaut,
erkennt wahrhaft einen Tanz der Vampire, der rund um das Deutsche Reich
aufgeführt wird. Die Choreographie ist wirklich beeindruckend.
Natürlich wurde dieser Tanz propagandistisch mit großem Aufwand begleitet und
mit Schlagworten versehen, die das tatsächliche Geschehen vernebeln sollten
und gleichzeitig schon die Grundlage für den seltsamen Versailler Vertrag von
1919 lieferten.
Noch aber stand er da, der Fels, Bismarck. Er durchschaute das Spiel seinerzeit
nicht nur, er beherrschte es auch. Ein großartiger, unabhängiger Geist. Dies ist
gleichzeitig der Grund dafür, warum nachlässige Historiker sein Bild zu verzerren
suchen. Nachlässig deswegen, weil sie aus Desinteresse nicht wissen, wessen
Spiel sie da spielen. Dann geschah es: „Der Lotse geht von Bord“, natürlich
stammt dieses Bild aus der englischen Presse, wo man die wahre Bedeutung
Bismarcks noch heute besser versteht als hier.
1890 war dies das Signal zum Aufbruch, der Tanz konnte beginnen. Denn unter
dem neuen Kanzler Caprivi und dem jungen Kaiser Wilhelm II. geschah etwas
worauf man im Ausland lange vergeblich gewartet hatte. 1890 tat sich ein Spalt
auf. Die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages. Sofort wurde, wie
Bismarck es vorhergesagt hatte, Frankreich aktiv und konnte schon 1892 einen
Vertrag mit Russland schließen. Dies ist der Beginn von etwas, das ich in ein
eindrückliches Bild kleiden möchte: Deutschland wurde, wie ein zu bearbeitendes
Werkstück, in den Schraubstock eingespannt. Wie ein Ringer, dessen Gegner den
entscheidenden Griff angebracht hatte, war Deutschland jetzt in der Klemme. Die
Aussichten sich aus diesem Klammergriff noch einmal befreien zu können waren
von vorneherein gering, ja beinahe aussichtslos. Und mit jedem Jahr wurde der
Schraubstock nun fester gespannt.
Es hätte die einzige Alternative der Selbstaufgabe gegeben. D. h. des aktiven
Verzichts auf eine eigenständige Politik sowie einer wehrhaften Armee. Mit
anderen Worten, man hätte wiederum die Wesenhaftigkeit Deutschlands ändern
müssen, um erneut zum Spielball ausländischer Interessen zu werden. Das ist zu
viel verlangt, nur wer im Rückblick das schauderhafte 20. Jahrhundert schon
kennt, kann sich vielleicht zur Größe des Verzichts aufschwingen. Für die
Zeitgenossen war dies absolut unmöglich.
Deutschland war, zum Verdruss seiner Gegner, politisch stabil, es war außerdem
wirtschaftlich zunehmend erfolgreich,
ein aufstrebender Konkurrent auf dem Weltmarkt. Allerdings war es nicht diese
bekannte Art der Konkurrenz allein,
die in England für Unruhe sorgte. Wir erfahren von einem anderen, verborgenen
Aspekt der Konkurrenz durch den
Deutschland Experten im englischen Foreign Office, Hilfsunterstaatssekretär
Crowe, der 1907 feststellte, Deutschland
sei wegen seiner Ideale, also "Kraft und Lauterkeit des Anliegens",
"Wettbewerbsfähigkeit und Aufrichtigkeit
der Verwaltung", "Erfolg von öffentlichen und wissenschaftlichen
Anstrengungen", die es überdies auch noch in die
Welt hinaustragen wolle, so gefährlich geworden. (zitiert nach FAZ „Dilemma und
Strategie“) Dies erlaubt im
Umkehrschluss erschreckende Einblicke in Selbstverständnis und
Handlungsweisen Englands.
Warum sollte irgendein Land Angst vor solchen Idealen haben? Das war doch
friedlich gedacht, das war doch eben jener
Liberalismus für den gerade die angelsächsische Welt, jedenfalls offiziell, immer
eintrat.
Die Ergebnisse dieser englischen Analyse waren enorm wichtig, allerdings
eigneten sie sich definitiv nicht für irgendwelche
laute Propaganda gegen das Deutsche Reich.
Immer wieder wurden und werden daher von Deutschlands Gegnern der
„preußische Militarismus“ beschworen. Gleichzeitig wird das Kaiserreich
monströs als Hort der Unfreiheit verzerrt. Die Einseitigkeit, ja Verlogenheit dieser
Anschuldigungen ist offensichtlich. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass sie
bis heute vielfach geglaubt und immer wiederholt werden. Manchem Leser der
jetzt vielleicht zweifelnd den Kopf schüttelt, möchte ich den Rat geben, ein wenig
die damaligen Äußerungen von Politikern außerhalb Deutschlands zu studieren.
Vieles von dem, was irritierend repetitiv als „Deutscher Sonderweg“ bezeichnet
wird, muss dann nämlich ad acta gelegt werden. Dies gilt auch und besonders
für die Marine.
„Deutsche Fabriken stellen mehr her, als das deutsche Volk verbrauchen
kann. Schicksal hat unsere Geschichte geschrieben, der Handel der Welt
kann und muss unser sein. Und wir werden dies erreichen, wie wir es von
England gelernt haben. Wir werden den Ozean mit unserer Handelsflotte
bedecken. Wir werden eine Kriegsmarine bauen, die unsere Großartigkeit
widerspiegelt. Große Kolonien, sich selbst regierend, aber unsere Fahne
tragend entstehen. Sie werden um unsere Häfen herum wachsen, indem sie
mit uns Handel treiben. Unsere Einrichtungen werden dem Handel
genauso folgen wie deutsches Gesetz, deutsche Ordnung, deutsche
Zivilisation und die deutsche Fahne; all dies wird sich von selbst dort
pflanzen wo bis dahin blutige und gottverlassene Küsten waren, dort
werden fortan die Agenten Gottes für Schönheit und Licht sorgen.“
Hier das Original:
„American factories are making more than the American people can use
[...]. Fate has written our history [...], the trade of the world must and can
be ours. And we shall get it, as our mother England has told us how [...].
We will cover the ocean with our merchant marine. We will built a navy to
the measure of our greatness. Great colonies governing themselves, flying
our flag and trading with us will grow about our ports of trade. Our
institutions will follow [...] and American law, American order, American
civilization and the American flag will plant themselves on shores hitherto
bloody and benighted by those agents of God henceforth made brightful
and bright.” (cit. in: Ralph Dietl: „USA und Mittelamerika, Die Außenpolitik
von William J. Bryan 1913-1915" Steiner Verlag Stuttgart, 1996, Seite 43)
Wie der Leser bemerken wird, habe ich mich um eine plausible Übersetzung
bemüht, lediglich das Wort „Mutter“ nicht übersetzt und die Klammern
weggelassen sowie „American“ jeweils durch „deutsch“ ersetzt. Das Original
stammt eben nicht von Kaiser Wilhelm II. oder einem eifrigen deutschen
Marinevertreter mit übergroßen Plänen, sondern von dem US-Senator Jeremiah
Beveridge. Ein genaues Datum der Äußerung ist bei Dietl nicht angegeben, aber
J. Beveridge wurde erstmals 1899 in den Senat gewählt.
Dabei muss man eine klare Trennlinie ziehen. In allen Ländern gab es loyale
Politiker und einflussreiche Personen, die aber den Suggestionen und Phrasen
unterlagen. Sie haben das große Spiel nicht wirklich durchschaut und sind auf
patriotische und andere Phrasen hereingefallen. Dabei haben sie in der Regel
wirklich geglaubt, lediglich die berechtigten Interessen ihrer Länder aufrichtig zu
vertreten. Als Beispiele für solche aufrechten Personen möchte ich Cecile Spring
Rice, der lange Jahre England als Botschafter gedient hat und den USamerikanischen Politiker Lansing anführen. Liest man beider Äußerungen, so
wird klar, dass sie in Deutschland wirklich die Quelle allen Übels sehen.
Allerdings sind beide genannten Personen gleichzeitig auch Vertreter eines
ehrlichen Typus', sie mögen zwar verblendet gewesen sein, aber sie hatten ihre
Prinzipien und waren nicht bereit, eine unehrenhafte, verlogene Politik zu
betreiben. Und daher wurden beide folgerichtig aus den großen Entscheidungen
ausgeklammert, sie waren für die wahrhaft hohe Politik ungeeignet.
Auf der anderen Seite der Trennlinie stehen wiederum Politiker, die offenbar
weniger Hemmungen hatten. Diese Politiker haben das große Spiel verstanden,
ihr „Blick reichte weiter“ und sie sind geschickt in der Lage, die beschränkende
Naivität der Anderen für ihr Werk einzuspannen. Zu diesen Politikern muss man
Sir Ernest Grey rechnen, der von 1905 bis 1916 als Außenminister Englands
große Macht und Einfluss hatte. Weiterhin zählt dazu die Kombination Wilson
House, die eine einzigartige Variante darstellt und die eine ganz eigene
Untersuchung rechtfertigen würde.
[Exkurs: Da vielen Lesern das Eigenartige dieser Situation nicht ganz klar sein
mag, hier eine kurze Erläuterung. Der Mythen umwobene so genannte „Colonel“
House hatte in Wilson früh einen geeigneten Kandidaten für das Präsidentenamt
ausgemacht. Geeignet meint hier selbstverständlich beeinflussbar. Die Details
sind eigentlich unglaublich. Etwa das Buch, welches House geschrieben hatte
und in dem er detailliert einen Präsidenten als Geschöpf eines andern, im
Hintergrund wirkenden Menschen, schildert. Dieses Buch wurde seltsamerweise
sogar gedruckt, es stimmt bis ins Detail mit dem überein, was anschließend
passieren sollte und schilderte im Vorhinein das Verhältnis zwischen Wilson und
House. Mehr noch, es sickerte während der ersten Amtszeit Wilsons durch, wer
tatsächlich hinter dem Pseudonym stand. So mag Wilson einerseits als einer der
o.e. Naiven dastehen, aber andererseits war er der Präsident und ich kann die
beiden nicht anders als in Symbiose, als in gemeinsamer Verantwortung stehend,
betrachten.]
Die hemmungslose Unehrlichkeit des Colonel House ist bedrückend. Ich möchte
dafür ein Beispiel geben.
House schreibt im August 1915 an den englischen Außenminister Grey in einer
eigenen, geheimen Korrespondenz:
"It goes without saying that I will not let the Germans know we [die
USA] are in agreement with the Allies, but I will attempt on the
contrary to convince them they [the Allies] will reject our proposals.
This could influence them in accepting them. If they did not, their
refusal would be enough to justify our intervention."(aus: "Intimate
Papers of Colonel House", Bd. II S. 107)
Edward Mandell House bezieht sich hier auf Bedingungen, die die USA an
Deutschland stellen sollten und die so zu formulieren seien, dass das kaiserliche
Deutschland diese erwartungsgemäß ablehnen musste, was dann wiederum als
Rechtfertigung für den offenen Eintritt der USA in den Krieg herhalten sollte. Ich
kann nicht anders, als die gedankliche Haltung, die Houses Argumentation ganz
offenbar zugrunde liegt, als vollkommen pervers zu bezeichnen. Aber hier wird
deutlich, dass wir uns von normalen moralischen Kategorien verabschieden
müssen, wenn wir wirklich verstehen wollen, was damals passierte. Der Einwand,
im Krieg und in der Liebe seien eben alle Mittel erlaubt, ist unglaubwürdig, denn
dieses geheime Spielchen zwischen House und Grey reicht bis in das Jahr 1913
zurück.
[Exkurs, Leseempfehlungen. Wer sich über das innig komplizierte Verhältnis von
House und Wilson näher informieren möchte, kann das Buch von Jennings C.
Wise "Woodrow Wilson: Disciplin of Revolution", New York: Paisley Press,
erschienen 1938, lesen. Wem dies zu weitschweifig ist und wer sich überdies
lieber in deutschsprachiger und wissenschaftlicher Literatur informiert, dem
kann ich nur eindringlich das unglaublich gut recherchierte und oben schon
erwähnte Buch von Ralph Dietl: "USA und Mittelamerika, Die Außenpolitik von
William J. Bryan 1913-1915" Steiner Verlag Stuttgart, 1996, empfehlen. Dort
genügt es, im Register nach „House“ zu suchen und die entsprechenden Seiten zu
lesen. Allerdings ist das gesamte Buch lesenswert.]
In der Nachfolge der Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages gelang
schon 1892 eine vertragliche Bindung zwischen Frankreich und Russland. Dieses
militärische Bündnis verfestigte sich in den kommenden Jahren immer weiter. Es
sollte Deutschland nicht mehr gelingen es aufzubrechen. Bülow und Bethmann
Hollweg versuchten dies auf die unterschiedlichste Art und Weise, etwa bei den
Marokko-Krisen, oder dem Balkan Krieg, oder indem sie England
entgegenkamen, all dies blieb immer vergebens. Auch Kaiser Wilhelm II.
scheiterte 1905 höchstpersönlich, als er mit seinem berühmten Vertrag von
Björkö, der quasi „privat“ zwischen ihm und dem Zar geschlossen worden war,
versuchte, dass Verhältnis zu Russland neu zu ordnen. Die russischen
Verantwortlichen waren entsetzt über das vom deutschen Kaiser angebotene
Freundschaftsbündnis, da es in krassem Gegensatz zu den Verträgen stand, die
mit Frankreich geschlossen worden waren. Wie sollte dies also politisch
umgesetzt werden? Aber auch der deutsche Reichskanzler Bülow sah die
Problematik ähnlich, wie er ausführlich in seinen Memoiren darlegt. (Bernhard
von Bülow, „Denkwürdigkeiten“, Ullstein Verlag 1930, Band II, Kapitel 9, Seite
136 ff, Faksimile des Björkö Vertrages auf Seite 141) Allerdings befürchtete er
darüber hinaus ernsthaft, dass England, falls es doch irgendwie zu einer
russisch-deutschen Verständigung kommen sollte, militärisch eingreifen würde.
Dies wirkt aus zwei Gründen überzeugend. Erstens hatte der Björkö Vertrag eine
„Ostseekomponente“, man wollte, auch mit der Hilfe Dänemarks, die Ostsee für
England sperren. Zweitens, ich erinnere an das Erste Kapitel, war aus englischer
Sicht die strategische Zusammenarbeit Russlands und Deutschlands der
Albtraum schlechthin. Denn dadurch würde der gewaltige eurasische Kontinent
gewissermaßen unter eine einheitliche Führung fallen, was es England
unmöglich gemacht hätte, die Gegner zu separieren und einzeln, bzw. trickreich
gegeneinander, abzufertigen. Gelegentlich liest man ja, Russland sei damals
Englands „Endgegner“ gewesen, auch haben wir schon vom „Herzland“ Konzept
gehört. Ich denke allerdings, dass die wirkliche Herausforderung für das
grenzenlose englische Machtstreben, die Verhinderung einer Zusammenarbeit
zwischen jenem Herzland und Russland war. Natürlich war es nebenbei geboten,
beide Länder auch einzeln nicht zu stark werden zu lassen. Eigentlich erlahmten
die deutschen Versuche, den Klammergriff der Entente zu lockern, erst im Mai
1914, als man durch einen Spion, den man in London platziert hatte, von der
geplanten russisch-englischen Marinekonvention und dem schon länger
geschlossenen Militärbündnis Englands mit Frankreich erfuhr.
[Exkurs, Leseempfehlung: „Fürst von Bülow, Denkwürdigkeiten“, Berlin, Ullstein
Verlag 1930, vier Bände. Wer genug Zeit und Muße hat, sollte sich dieses
einzigartige Dokument deutscher Geschichte wirklich nicht entgehen lassen. Es
gibt einige unausrottbare Vorurteile über von Bülow. Darunter jener, übrigens
historisch falsche, Vergleich vom „Aal und Igel“. Wer die Memoiren selbst liest,
hat nicht nur das Lesevergnügen, wie es sich eben bei einem guten Autor
einstellt, sondern er gewinnt auch einen reichhaltigen Einblick in das
wilhelminische Deutschland. Natürlich ist dies eine persönlich gefärbte
Darstellung, etwa wenn Bülow an seinem Nachfolger beinahe kein gutes Haar
lässt. Dennoch, wer eine „etwas andere Urlaubslektüre“ sucht, sollte sich alle
Bände nicht entgehen lassen. Sie sind antiquarisch - noch - zu einem erstaunlich
günstigem Preis zu haben. Es muss ja nicht immer Gold sein.]
Nachdem also Russland und Frankreich in inniger Harmonie ihren jeweiligen
Nationalismen, also einerseits Elsass Lothringen und Rache sowie andererseits
dem Panslavismus und – endlich – Zugang zum Mittelmeer, frönten, legte
England überraschend unter seinem neuen Außenminister Grey 1907 die
strittigen Fragen mit Russland bei. Dabei ging es vor allem um Persien und
Afghanistan, welches in den schon 1906 begonnenen Verhandlungen schließlich
dreigeteilt wurde. An diesem Punkt wird exemplarisch und überzeugend deutlich,
wie sich dieser Politiker- von jenem Politikertyp unterschied:
Spring Rice, der inzwischen, also 1906, als Erster Botschaftssekretär von St.
Petersburg als Botschafter nach Persien versetzt worden war, schrieb an seinen
Vorgesetzten Grey:
"We are worse off in Persia than the Russians because we are not
feared as they are, and because we are regarded as having betrayed the
persian people."(Spring Rice an Grey am 13. September 1907,
wiedergegeben in o.g. Biografie Burtons: „Cecil Spring Rice“, Seite 142)
Die englische Politik gegenüber Russland auf Kosten Persiens lehnte Spring Rice
also konsequent ab, man habe die Perser wegen der Einigung mit Russland
verraten. Das ist „starker Tobak“, sehr direkte Worte an seinen Vorgesetzten.
Während bei Grey also strategische Überlegungen obsiegten, hält Spring Rice an
klassisch „idealistischer“ Machtpolitik fest. Dies wird übrigens auch bei Rices
Beurteilung der russischen Revolution von 1905 deutlich, als er zwar mit
gebremsten Schaum die englisch-jüdischen Subsidien vermittelte, gleichzeitig
aber der Anglo-Jewish-Assoziation deutlich sagt, sie wäre schlecht beraten, wenn
sie revolutionäre Strömungen ihrer Glaubensgenossen in Russland unterstütze.
In einem Brief an Sir John Simon von der Anglo-Jewish-Assoziation schreibt Rice
nämlich am 20. Januar 1906:
„ Your friends here are numerous. But in trying to befriend you, they very
often advocate a course which would be more fatal to you than the advice of
your worst enemies. Like many Russians they believe that a new world can
suddenly be created out of chaos and that the old world will die without
leaving a wrack behind. That is quite wrong.” („Cecile Spring Rice“, Seite
134)
Das bedeutet übersetzt, die jüdischen Kräfte in Russland arbeiten auf eine
Revolution hin, die letztlich in ihrer Rückwirkung auch den alteingesessenen
Juden der Anglo-Jewish-Assoziation in England schaden würde.
Spring Rice propagiert stattdessen nicht die Revolution, sondern die Kraft des
Liberalismus und würde eine parlamentarische Monarchie in Russland gerne
sehen. Dabei erkennt er - warum sonst die deutliche Warnung an die englischen
Juden - dass die Ansätze von Liberalisierung in Russland regelmäßig in die Luft
gesprengt werden. Hinter den Anschlägen gegen den Zar 1881, gegen liberale
Minister, sowie hinter der Revolution von 1905 stehen in erster Linie russische
Juden. Diese wollen, wie Spring Rice richtig bemerkt, gerade keinen allmählichen
Umschwung, sondern Rache, Macht und Revolution. Für diesen Fall prophezeit
Spring Rice verheerende und weit reichende Spätfolgen.
Während Frankreich und Russland ein militärisches Bündnis eingehen, belässt
England es offiziell bei politischen Ententen. Allerdings schließt dies militärische
Zusammenarbeit nicht aus. Gerade mit Frankreich, mit dem England 1904 die
„entente cordial“ geschlossen hatte, wurden ab 1906 militärische Absprachen im
Hinblick auf einen europäischen Krieg getroffen, mit Russland gab es militärische
Absprachen ab November 1907. Dass es kein offizielles, gefestigtes
militärisches Bündnis der drei Staaten gab, ist notwendige Voraussetzung
für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Diese englische Haltung ist also
keineswegs, wie oft fälschlicherweise behauptet wird, einer „splendid isolation“,
oder traditioneller englischer Politik, die sich grundsätzlich nicht binden wollte,
geschuldet. Im „Tanz der Vampire“ spielte es, wie wir noch sehen werden, eine
ganz entscheidende Rolle, dass England offiziell in Neutralität verharren konnte.
Ohne hier zu sehr in die Einzelheiten eingedrungen zu sein, so ist trotzdem
hoffentlich klar geworden, dass 1907 die Entwicklung in Europa zu einem
gewissen Abschluss gekommen war. Dabei standen traditionell national
beschränkte Interessen, wie etwa die Frankreichs und Russlands, mit einem
übergeordneten Plan Englands im Einklang. Die weiteren Ereignisse, etwa beide
Marokkokrisen, oder die Annexionskrise von Bosnien Herzegowina, auch die
Balkankrise von 1912, oder die Liman von Sanders Krise 1914 lassen sich alle in
diesem Licht sehen und verstehen. Die Einzelheiten dieser Vorgänge sind leicht
überall nachzulesen. Allerdings wird der Leser dort häufig bei der Interpretation
der Vorgänge in die Irre geführt. So erscheint Deutschland bei den
Marokkokrisen in der Regel in einem schlechten Licht, dabei war es eigentlich im
Recht. Auch bei der Krise um Bosnien Herzegowina wird eigentlich immer
übersehen, dass zuvor eine Einigung zwischen den Außenministern von
Russland und Österreich-Ungarn erzielt worden war und sich die ganze Sache
letztlich als eine Fortsetzung und Erweiterung des Berliner Vertrages deuten
lässt.
1907 ist also die Party schon auf einem gewissen Höhepunkt angelangt, ihr
weiterer Verlauf steigerte sich noch bis 1914, oder um auf das oben benutze Bild
zurückzukommen, der Schraubstock um das Werkstück Deutschland wurde
schrittweise immer enger gepresst. Aber wie jeder Tänzer weiß, endet auch der
schönste Walzer irgendwann. Daher kann es nur von Vorteil sein, wenn man sein
Tanzbein auch noch auf einer anderen Party schwingt.
3. Aufforderung zum Tanz
In Kapitel 2 wurde deutlich, wie England einerseits Bündnisse schuf und
Hindernisse aus dem Weg räumte, sich aber andererseits auch eine gewisse
„Beinfreiheit“ bewahrte, indem es keinen offiziellen, militärischen Beistandspakt
einging. England konzentrierte sich nicht ausschließlich auf Europa sondern
hatte immer auch seine weltweiten Interessen, aus denen sich Englands Macht
speiste, im Blick.
Die Zusammenhänge um den Ersten Weltkrieg sind nicht ohne diese weltweiten
Interessen Englands zu verstehen. Um den kleinlichen europäischen
Nickligkeiten zu entgehen und sich überdies auch unangenehme Konkurrenz
vom Leib zu schaffen, entstand eine große, weit reichende Idee, die man mit
einigem Recht Transimperialismus nennen kann und die scheinbar die Lösung
aller Probleme bot.
Man wollte ein weltweites Netz spannen und mithilfe dessen die gesamte
Welt beherrschen, zumindest unangefochten dominieren. Von diesem
großen Plan ist der Erste Weltkrieg nur ein notwendiger Teil, als solchen
muss man ihn betrachten und kann ihn dann auch endlich verstehen.
1877 schrieb Cecil Rhodes sein erstes politisches Testament, dem jene gewaltige
Idee schon innewohnte. Mit einigen Abänderungen wurden seine Vorstellungen
erstaunlicherweise tatsächlich Realität, die in groben Zügen folgendermaßen
lauteten:
Eine anglo-amerikanische Allianz wird geschmiedet und mithilfe diverser
weltweiter Stützpunkte, die man sich in etwa wie riesige, ortsfeste Flugzeugträger
vorstellen muss, wird tatsächlich ein gigantisches Netz über den Globus
geworfen. Dazu zählten England und die USA, Kanada, Südafrika, Australien,
Kolonien Englands, Teile des englischen Dominions, sowie taktisch und
strategisch günstig liegende Inseln. Teilweise wird auch das „Heilige Land“ mit
aufgeführt. Angeblich wollte Rhodes auch Deutschland in dieses Netz mit
einbeziehen. Allerdings ist diese Idee, wenn sie denn jemals wirklich ernst
gemeint war, unter seinen Nachfolgern definitiv verloren gegangen und nicht
weiter verfolgt worden.
Um dieses Ziel zu erreichen, gründete Rhodes seine „Society of the Elect“, eine
Art Orden oder Bruderschaft, die er nach dem Vorbild der Jesuiten organisierte.
In dem Buch „Tragedy and Hope“ (“A History of the World in our Time”, New York,
Toronto, Ontario, 1966, S. 130 ff) von Caroll Quigley erfahren wir, dass diese
Bruderschaft formal 1891 gegründet wurde, wenngleich Vorläufer schon seit
1889 bestanden. Der „Äußere Zirkel“ dieser Bruderschaft, also der für das
einfache Volk sichtbare und „wirksame“ Teil, nannte sich zunächst „Association
of Helpers“, wurde später unter Lord Milner zur „Round Table Group“. Die
"Round Table Group" hatte Ableger in Form von "Round Table Clubs" sowie der
Zeitschrift "The Round Table". Neben dem „Äußeren Zirkel“ gab es auch einen
„Inneren Zirkel“. Darunter fallen die „Junta of the Three“, außerdem ein oberster
„General“ nach Jesuitenvorbild, sowie den „Circle of the Initiates“. Zunächst
übernahm Rhodes selbst als General die oberste Leitung, es sollten ihm, nach
ursprünglicher Planung, in dieser Position William T. Stead und schließlich Lord
Rothschild folgen. Als Zwischenglied innerhalb der durchdachten Organisation
gab es noch den erwähnten „Circle of the Initiates“, in dem wir uns vor allem die
Namen Lord Arthur Balfour, Lord Rothschild sowie Lord Albert Grey merken
sollten. Insgesamt verfasste Rhodes bis zu seinem Tod im Jahr 1902 sieben
Testamente, nur in den letzten beiden fehlen Hinweise auf seine geheime
"Society". Natürlich darf man daraus nicht naiverweise schließen, dass es sie
nicht mehr gab. Man wollte im Gegenteil dadurch ihren Einfluss verbergen. Nach
dem Tod Rhodes übernahm offenbar laut C. Quigley Lord Milner seine Postition,
Lord Rothschild wurde "Trustee" - also wohl Vermögensverwalter.
[Exkurs: Neben seinem bekannten "Tragedy and Hope" hat Quigley auch ein
weniger bekanntes Buch verfasst, das sich ausschließlich mit der von Rhodes
gegründeten und von Milner weitergeführten geheimen Gesellschaft befasst: "The
Anglo-American Establishment”, New York: Books in Focus, 1981 (Vorwort aus
dem Jahr 1949). Dort trägt Quigley alle Belege zusammen, die er auffinden
konnte, trotzdem ist er noch auf zusätzliche Quellen angewiesen, deren Ursprung
er nicht angeben darf. Er nennt diesen einflussreichen Zirkel "Milner Group".
Einige Zitate mögen kurz die Wichtigkeit dieses Buches belegen.
Aus dem Vorwort:
"The Rhodes Scholarships, established by the terms of Cecil Rhodes's seventh
will, are known to everyone. What is not so widely known is that Rhodes in five
previous wills left his fortune to form a secret society, which was to devote itself
to the preservation and expansion of the British Empire. And what does not seem
to be known to anyone is that this secret society was created by Rhodes and his
principal trustee, Lord Milner, and continues to exist to this day [1949]. To be
sure, this secret society is not a childish thing like the Ku Klux Klan, and it does
not have any secret robes, secret handclasps, or secret passwords. It does not
need any of these, since its members know each other intimately. It probably has
no oaths of secrecy nor any formal procedure of initiation. It does, however, exist
and holds secret meetings, over which the senior member present presides."
Seite 5 f:
"This organization [bis 1901 "The Secret Society", danach "The Milner Group"] has
been able to conceal its existence quite successfully, and many of its most
influential members, satisfied to possess the reality rather than the appearance of
power, are unknown even to close students of British history. This is the more
surprising when we learn that one of the chief methods by which this Group
works has been through propaganda. It plotted the Jameson Raid of 1895; it
caused the Boer War of 1899-1902; it set up and controls the Rhodes Trust; it
created the Union of South Africa in 1906-1910; it established the South African
periodical The State in 1908; it founded the British Empire periodical The Round
Table in 1910, and this remains the mouthpiece of the Group; it has been the
most powerful single influence in All Souls, Balliol, and New Colleges at Oxford
for more than a generation; it has controlled The Times for more than fifty years,
with the exception of the three years 1919-1922, it publicized the idea of and the
name "British Commonwealth of Nations" in the period 1908-1918, it was the
chief influence in Lloyd George's war administration in 1917-1919 and dominated
the delegation to the Peace Conference of 1919; it had a great deal to do with the
formation and management of the League of Nations and of the system of
mandates; it founded the Royal Institute of International Affairs in 1919 and still
[1949] controls it; it was one of the chief influences on British policy toward
Ireland, Palestine, and India in the period 1917-1945; it was a very important
influence on the policy of appeasement of Germany during the years 1920-1940;
and it controlled and still controls, to a very considerable extent, the sources and
the writing of the history of British Imperial and foreign policy since the Boer
War."
Seite 22:
"Charles Hardinge, although almost unknown to many people, is one of the most
significant figures in the formation of British foreign policy in the twentieth
century. [...] He was probably the most important single person in the formation
of the Entente Cordiale in 1904 and was very influential in the formation of the
understanding with Russia in 1907."
Seite 26:
"The chief exceptions were the four leaders of the Liberal Party after Gladstone,
who were strong imperialists: Rosebery, Asquith, Edward Grey, and Haldane.
These four supported the Boer War, grew increasingly anti-German, supported
the World War in 1914, and were close to the Milner Group politically,
intellectually, and socially."]
Selbstverständlichwollte man mit diesen Einrichtungen offiziell nichts anderes als
den „Weltfrieden sichern“, und man darf sicher davon ausgehen, dass viele
Mitglieder vor allem des „Äußeren Zirkels“ wirklich von Idealen beseelt waren.
Auch hier wird, ähnlich wie es weiter oben schon bei Politikern aufgefallen ist,
eine eher naiv zu nennende Mehrheit für Interessen eingespannt von denen sie
nichts ahnen. Sie dienen mit größter Überzeugung arkanen Zielen. Gerade weil
sie von der Rechtschaffenheit der ihnen bekannten Ideen vollkommen überzeugt
sind, wirken sie authentisch und sind daher für die heimlichen Lenker von
unbezahlbarem Wert. Umgangssprachlich werden sie mit dem despektierlichen
Begriff der „nützlichen Idioten“ belegt.
Damit dies funktionieren konnte müssen allerdings noch drei Elemente
hinzukommen. Erstens der Gedanke einer überlegenen Rasse, zweitens ein
gottbezogener Erwähltheitsglaube. Drittens sammelten und vereinigten sich unter
diesen Bedingungen ursprünglich heterogene und in ihren Interessen
widerstreitende Gruppen in einem „gemeinsamen Haus“.
Aus den Schriften von Rhodes quillt die Überzeugung der Überlegenheit der
angelsächsischen bzw. weißen Rasse. An der Ostküste der USA gab es eine starke
und einflussreiche Anhängerschaft dieser Idee, die in den 60er Jahren des 20.
Jahrhunderts unter dem Begriff „WASP-Elite“ („White Anglo Saxon Protestants“)
zusammengefasst wurde. In beiden Bereichen, also im anglo-amerikanischen
Großraum gab es viele einflussreiche Juden, die, erzogen in der Idee des
„auserwählten Volks“, ebenfalls dem Gedanken nicht abgeneigt waren. Jeder
dachte, indem er sich dieser Gemeinschaft anschloss, seine eigenen Ziele
solcherart besser erreichen zu können. Die Idee einer rassischen Überlegenheit
war also in diesen Kreisen weiter verbreitet, als gemeinhin vermutet.
Was den Erwähltheitsglauben angeht, so muss man ebenfalls nicht lange suchen,
um fündig zu werden. Schon der zitierte kleine Ausschnitt aus der Rede des
Senators J. Beveridge weist am Ende in diese Richtung, die sich am einfachsten
in das Schlagwort von „God’s own Country“ fassen lässt.
„Überzeugt von der Überlegenheit der protestantischen Kultur und
Religion, begannen die Vereinigten Staaten bald die Rechte ihrer südlichen
Nachbarstaaten auf Freiheit und Gleichheit den unauslöschbaren Rechten
der Amerikaner als chosen people unterzuordnen.“ („Dietl“ S. 30)
Gemäß Calvinistischer Doktrin war die Nutzbarmachung des Bodens göttlicher
Auftrag und wurde erst dadurch zum individuellen Besitz. Den Indianern etwa
stand daher nur so viel Land zu, wie sie unter den Pflug bringen konnten. Die
Expansion war Erfüllung göttlicher Vorsehung, weil das amerikanische Volk
dazu, nach dem Selbstverständnis der US-Politiker des 19. Jahrhunderts,
ausersehen war.
Bei gläubig-orthodoxen Juden wiederum ist der Erwähltheitsglaube sozusagen
Gründungs-“Mythos“ (in Anführungszeichen, weil es für diese Menschen
selbstverständlich kein Mythos ist) und Programm zugleich. Im England jener
Zeit ist außerdem zu beobachten, dass das Alte Testament der Bibel mit großem
Nachdruck unterrichtet wird. Man sah sich selbst, obwohl natürlich zumeist
anglikanischer Christ, gleichzeitig dennoch in Verbindung, als Nachfolger und als
Bundesgenosse jenes Volks der Bibel, dass schon Jahrtausende zuvor göttlichem
Willen gehorcht hatte und manifester Ausdruck göttlichen Handelns auf der Erde
sein wollte.
[Leseempfehlung: Heutzutage muss man wohl extra dazu auffordern, einmal das
Neue Testament der Bibel in die Hand zu nehmen. In der neuen Übersetzung von
Albert Kammermayer liest sich „Das Neue Testament“, „Eine Übersetzung, die
unsere Sprache spricht“ (Don Bosco Verlag) flüssig und gut verständlich. Viel
Erbauung beim Lesen!]
Jene „Aufforderung zum Tanz“ erfolgte also schon im 19. Jahrhundert. Allerdings
brauchte die Idee eine zeitlang, um sich durchzusetzen. Dies lag in erster Linie an
der noch funktionierenden Welt des Spätimperialismus. Noch gelang es England
nämlich, sein Weltreich mithilfe der Royal Navy zusammenzuhalten und dadurch
zu „expandieren“. Die Expansion war allerdings in diesen Tagen in räumlicher
Hinsicht schon an ihr Ende gelangt. 85 % der Landmasse waren unter kolonialer
Verwaltung – dies ließ sich nicht weiter steigern. Allerdings gab es durchaus noch
die quasi-Expansion durch die Intensivierung des Handels, die so gestaltet war,
dass sich der Einfluss der herrschenden Macht eben doch noch ausdehnen
konnte. Warum also sollte man mit den USA zusammenarbeiten?
In den USA bietet sich ein ähnliches Bild. Dort gab es anfangs noch die
räumliche Expansion. Nachdem man am Pazifik angelangt war, boten sich vor
allem der Süden (Mexiko) und der Norden (Kanada) als weiterer Expansionsraum
an.
Zunächst erlangte Texas die Unabhängigkeit von Mexiko, woraufhin es in die
USA eingegliedert wurde. Mexiko erklärte nun den USA den Krieg, musste aber
am 2.2.1848 in den Frieden von Guadelupe-Hidalgo einwilligen. Mexiko verliert
dadurch Utah, Nevada, Kalifornien, Neu-Mexiko und Teile Colorados sowie
Arizona an die USA. Für diesen enormen Verlust an Land (50 %) wurde
Restmexiko mit 15 Millionen Dollar entschädigt. Die Machtelite in Mexiko hatte
eingewilligt, weil sie sich durch diese Geldspritze weiterhin am Ruder halten
konnte. („Dietl“ S. 220) Eine Annexion Kanadas ist vielfach diskutiert worden,
wurde aber letztlich verworfen. Immerhin konnte man aber dem Zaren noch
Alaska abkaufen. Eine weitere räumliche Expansion nach Mittelamerika hin
wurde abgelehnt, weil man nicht zu viele fremde Elemente eingliedern wollte.
Allerdings sah man in den USA Mittelamerika und die Karibik durchaus als
unangefochtenes Einflussgebiet, welches man abwechselnd durch „bullets“ oder
„Dollars“ an sich binden wollte. Diese Haltung manifestierte sich vordergründig in
der Monroe Doktrin, zeigte sich allerdings auch in zahlreichen weiteren
Einzelbeschlüssen der Zeit.
In dieser zunehmend kleiner werdenden Welt der ersten Globalisierung wurden
der weltweite Handel und die weltweiten Einflusszonen immer wichtiger.
Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies in der Eröffnung des Suezkanals von
1869. Der Seeweg nach Indien, Ostasien und in den pazifischen Raum wurde
dadurch für die herrschende Seemacht England sicherer und schneller. In der
logischen Mechanik, die geostrategischem Denken innewohnt, wurde es dadurch
für die USA immer wichtiger, den „eigenen Seeweg“ ebenfalls zu verkürzen. Dies
klingt zunächst widersprüchlich, weil die USA sowohl an den Atlantik als auch
an den Pazifik grenzen. Aber beim Krieg gegen Spanien, bei dem es nur
vordergründig um Kuba ging, war deutlich geworden, welches Wagnis in der
Aufspaltung der US-Navy lag. Die auf der „falschen Seite“ liegende „USS Oregon“
benötigte ganze 68 Tage, um rund um Kap Horn in das Krisengebiet zu gelangen.
In Wirklichkeit ging es übrigens bei diesem fröhlichen Krieg weniger um Kuba, als
vielmehr um jene o.e. „stationären Flugzeugträger“, die in diesem Fall die Namen
„Hawaii“ und „Spanische Philippinen“ tragen und in der Nachfolge des Krieges
gegen Spanien „um Kuba“ von den USA im Jahr 1898 annektiert wurden.
Letztendlich musste jedenfalls als Folge des Suezkanals notwendig auch ein
Kanal zwischen dem Pazifik und dem Atlantik gebaut werden.
Hier geraten die Interessen der USA und Englands miteinander in Konflikt. Denn
erstens hatte auch England in Ostasien gewaltige wirtschaftliche Interessen,
zweitens hatten die europäischen Mächte im gültigen „Clayton-Bulwer-Vertrag“
nicht nur ein Mitspracherecht, welches die Monroe Doktrin konterkarierte,
sondern konnten auch die militärische Befestigung und die alleinige
Beherrschung eines die beiden Weltmeere verbindenden Kanals verhindern. Es
gelang den USA im Jahr 1901, die durch den Burenkrieg geschaffene
internationale Isoliertheit Englands ausnutzend, den 2. Hay-Pauncefote-Vertrag
zu verhandeln. Somit war der Weg frei für die militärische Sicherung eines erst
noch zu bauenden Kanals. Logischer Favorit war zunächst Nicaragua, später
wurde es aber aus verschiedenen Gründen, die hier nicht weiter relevant sind,
Panama. Dort hatte Frankreich schon mit dem Bau eines Kanals begonnen;
nachdem es in der „Abstandssumme“ den USA weit entgegengekommen war,
konnten die Bauarbeiten fortgesetzt werden. Das Datum der Eröffnung des
Panamakanals sollten wir uns merken, es war der 15. August 1914.
Wie aus diesen wenigen Beispielen schon deutlich wurde, gab es zwischen den
USA und England eine zunehmende strategische Gegnerschaft, die man entweder
in einem gegeneinander zu führenden Krieg, oder im Miteinander lösen konnte.
Da bot offensichtlich die anglo-amerikanische Allianz einen Ausweg. Allerdings
standen einer solchen Allianz immernoch bedeutende Hindernisse im Weg. Es
wäre eine eigene Untersuchung wert, diese Hindernisse genauer zu analysieren.
Ich möchte hier nur stellvertretend einige benennen.
Um seine Interessen im ostasiatischen Raum zu festigen, hatte England 1902
einen Vertrag mit Japan geschlossen. Japan war aber für die USA schon damals
in absehbarer Weise ein Konkurrent im ostasiatischen Raum, wurde darüber
hinaus aber auch als unmittelbare Bedrohung für die USA selbst angesehen.
“Nachdem am 11.11.1913 auch noch Informationen aus Tokio einliefen,
dass die mexikanische Regierung Bestellungen bei der Mitsui Company
über 71000 Gewehre, die im Februar ausgeliefert werden sollten,
aufgegeben hatte, was die Gefahr einer auf dem anglo-japanischen
Bündnisvertrag von 1902 basierenden englisch-mexikanischenjapanischen Allianz vor Augen führte, stand die Linie der Vereinigten
Staaten gegenüber England und Huerta endgültig fest.“ („Dietl“ S. 301,
Hervorhebung von mir)
Die nun „endgültig“ feststehenden Linien bedeuten hier konkret im Hinblick auf
England ein Nachgeben bei der Zollfrage bezüglich des Panamakanals. Huerta,
den die USA vorher unterstützt hatten, erfuhr nun eine entschiedene Ablehnung.
[Exkurs: Die Zollfrage des noch gar nicht eröffneten Panamakanals wollten die
USA so regeln, dass die „Binnenschifffahrt“ von Abgaben befreit war. Daher
sollten US-Handelsschiffe, die durch den Panamakanal von der Ost- an die
Westküste und umgekehrt fuhren, keine Gebühren bezahlen. Für kanadische
Schiffe, die bei gleicher Nutzung von Küste zu Küste ja eigentlich auch
„Binnenschifffahrt“ betrieben, sollte diese Regelung allerdings nicht gelten. Diese
offensichtliche Benachteiligung und einseitige Auslegung führte zu einem
scharfen und länger andauernden Konflikt zwischen England, das für Kanada
verhandelte, und den USA.]
Weitere Konfliktfelder zwischen den USA und England sind etwa rein
wirtschaftlicher Natur, was sich am Beispiel Mexikos wunderbar studieren lässt.
Dort gab es u.a. große Ölfelder, die teils von US-Firmen („Standard Oil“) und teils
von dem englischen „Pearson Trust“ (später „Royal Dutch Shell“) unter Lord
Cowdray ausgebeutet wurden. Beide Firmen versuchten jeweils die Politik für
ihre Interessen einzuspannen, was auch gelang und ebenfalls zu erheblichen
Spannungen führte.
Noch im Jahr 1910 gerät der Nicaraguanische Politiker Dr. Madriz unter
erheblichen Druck der USA, weil er bereit ist, den Engländern die Insel „Corn
Island“ abzutreten, die strategisch günstig lag und geeignet gewesen wäre, sowohl
einen die Ozeane verbindenden Kanal in Panama als auch in Nicaragua zu
kontrollieren. („Dietl“ S.129)
Neben den militärischen und wirtschaftlichen Aspekten, die einer angloamerikanischen Allianz entgegenstanden, gab es aber auch noch den
menschlichen Faktor.
In beiden mächtigen Ländern existierten loyal aufrechte, national denkende
Politiker, die sich einem Kuhhandel widersetzen wollten und lieber eine
klassische Machtpolitik favorisierten. Noch dazu gab es in den USA
einflussreiche Strömungen und Gruppen, die überhaupt gegen eine Allianz mit
England waren. Darunter der von Iren abstammende Bevölkerungsanteil, vielfach
auch die deutschstämmige Einwohnerschaft.
Als weiteren „Störfaktor“ gab es sowohl in England als auch in den USA einen
Politikertypus, der wirklich an die Kraft der Ideen und an einen echten
Liberalismus glaubte. Erwähnung fand im Zusammenhang mit der russischen
Revolution von 1905 schon Spring Rice. Auf US-Seite erfüllt idealtypisch der
Politiker William James Bryan, der gemeinhin unter dem Schlagwort „Populist“
abgehandelt und abgehakt wird, diese Rolle. Bryan steht in meinen Augen für
das alte und gute Amerika. Er setzte sich aufrichtig gegen Sonderinteressen,
seien es nun die „Special Interests“ der Wall Street oder jene der Trusts, ein. In
seiner Zeit als Außenminister der USA von 1913 bis 1915 macht er seiner
eigenen Wilson Administration das Leben schwer. Und es ist bedrückend
aufschlussreich nachzuverfolgen, wie er zunächst benutzt und dann
ausgeschaltet wurde.
Bryan war ungemein einflussreich in Teilen der Demokratischen Partei. Als
Wilson die Wahlen im November 1912 erstmals gewann, gelang dies nur unter
Einbeziehung und mit Unterstützung Bryans. Allerdings musste auch noch die
Aufspaltung der Republikanischen Partei hinzukommen. Durch die
überraschende Neugründung einer dritten Partei spaltete sich die Wählerschaft
der Republikaner auf. So wurde der Weg für die Demokraten letztlich frei. Bryan
bekommt im Kabinett den Posten des „Secretary of State“, also des
Außenministers. Er steht dort allerdings mit seinen Ansichten vollkommen
isoliert dar und der Mehrheit der von Wilson und House handverlesenen
Kabinettsmitglieder letztendlich machtlos gegenüber. Trotzdem wird auch sein
ureigenstes Politikfeld noch zusätzlich beschnitten. Bryan darf sich in
Mittelamerika betätigen, die europäische Politik bleibt allein Wilson und House
vorbehalten. Damit wird nicht nur Bryan als Person ausgeschaltet, sondern
gleichzeitig auch das gesamte Ministerium mit seinen erfahrenen Mitarbeitern.
Besonders interessant und wiederum höchst aufschlussreich ist allerdings die
Tatsache, dass es Bryans Nachfolger Lansing, der bis dahin sein Stellvertreter
gewesen war und der keinesfalls so „zimperlich“ wie Bryan vorgehen wollte, ganz
genauso erging. Zwischen Bryan und Wilson hatte es nämlich schon immer
deutliche Diskrepanzen auf verschiedenen Politikfeldern gegeben, man konnte
ihn also in einer international spannungsvoll aufgeladenen Zeit vielleicht mit
einigem Recht in seinem „Wirkungskreis“ beschneiden und die Außenpolitik zur
Chefsache machen. Bei Lansing verhielt sich dies allerdings vollkommen anders.
Obwohl Lansing, anders als Bryan, Deutschland als die Wurzel allen Übels sah,
durfte auch er nicht „ran“. Die transatlantische Politik blieb auch unter ihm, man
mag es kaum für möglich halten, eine Privatangelegenheit.
Denn wenn es brenzlig wurde nutzte auch der englische Außenminister Grey
nicht die offiziellen Wege seines Ministeriums, sondern er schickte seinen
Privatsekretär Sir Tyrrell, womit auch der englische Apparat des
Außenministeriums ausgeschaltet war.
„In 1913 it was Tyrrell; in 1916 it was Sir Horace Plunkett; in 1917 it was
Sir William Wiseman. The American secretaries of state , Bryan and
Lansing, and the british ambassador were sidestepped. For Spring Rice,
Tyrrell’s coming was an ill omen.” (Burton, Spring Rice, S. 149)
1917 war allerdings schon Greys Nachfolger Lord Balfour im Amt als
Außenminister, die Rolle des „Privatsekretärs“ nahm laut Burton bei ihm Sir
William Wiseman ein. Dieser Wiseman allerdings war niemand anderer als der
Chef des englischen Geheimdienstes, „head of british intelligence“. (Jennings C.
Wise, „Woodrow Wilson, Disciplin of Revolution“, New York: Paisley Press. 1938,
S. 485) Es stimmt selbst in Kriegszeiten bedenklich, wenn der Träger und
Vermittler der Außenpolitik eines Landes gleichzeitig Geheimdienstchef ist.
Aber noch ist es nicht so weit. Zwei Zitate von 1914 und 1915 können und sollen
meine Sichtweise zusätzlich belegen.
„England is fighting our fight […], you may well understand that I shall not,
in the present state of world affairs, place obstacles in her way […]; she is
fighting for her life and the life of the world.” (Wilson an seinen
Privatsekretär Tumulty im Herbst 1914, cit. nach „Dietl” S. 415)
„that Germany is hostile to all nations with democratic institutions […] It is
that Germany must not permitted to win this war [...] though to prevent in
this country [Anmerkung: die USA] is forced to take an active part.”
(Lansing, “Confidential Memo”, vom 11.7.1915, cit. nach “Dietl” S. 415)
Ich erinnere daran, dass, wie ich schon weiter oben geschildert habe, diese
aufgeblasene Dämonisierung des Deutschen Reiches keinesfalls den Realitäten
entsprach, zunächst als autosuggestive Begründung und dann zur
Propaganda herhalten musste. Wir kennen diese verzerrenden Argumentationen
des „gerechten Krieges“, oder des Krieges „um einer gerechten Sache willen“, bis
heute sehr gut.
Nachdem Wilson im November 1912 gewählt, „President elected“ worden war,
wurde er erst am 1. März 1913 Präsident und übernahm am 4. März offiziell die
Amtsgeschäfte. Für diesen Fall hatte Außenminister Grey schon lange
vorgearbeitet. 1907 wäre es eigentlich der natürliche Lauf der Dinge gewesen,
dass Spring Rice Botschafter in Washington geworden wäre.
„The naming of Bryce – or the passing over of Spring Rice – undercuts the
contention that Sir Cecil [Spring Rice] was destined to be Britain’s
ambassador to the United States. Nineteen seven, not 1913, was the prime
time for such a promotion. (...) After all, 1907 was the year Grey was
circling the waggons.” (Burton, Rice, S. 142) [„circling the waggons = eine
Wagenburg bilden]
Aber Grey bestimmte absichtsvoll den Quereinsteiger und Literaten Bryce für
diese Aufgabe. Bryce hatte beste Kontakte zur schon erwähnten WASP Elite und
war daher für den geplanten engen Schulterschluss zwischen den Vereinigten
Staaten und England immens wichtig. Anknüpfungspunkt wurde der schon
erwähnte elitäre „Round Table Club“ von New York, einer ursprünglich auf Cecile
Rhodes zurückgehenden Einrichtung ("Assoziation of the Helpers"). Anlässlich
eines Essens traf dort Woodrow Wilson auf den geballten Sachverstand der angloamerikanischen Überzeugungstäter. Bei dieser Gelegenheit setzte sich die Gruppe
lediglich aus Elihu Root, Joseph Choate, Henry White, Nicholas Murray Butler,
Charles Francis Adams, und Henry Lee Higginson zusammen. (Ions S. 238 f) Alle
waren von der Bryanschen Linie überzeugt. Wilson wurde im Januar 1913, also
sinnvollerweise noch vor Übernahme der Amtsgeschäfte, auf den richtigen Kurs
(„the right stand“) gebracht. Dies hat ihn anschließend zu folgender Äußerung
bewegt:
„this has been an illuminating discussion. I knew very little about this
sucject [Panama Canal Tolls]. I think I now understand it, and the
principles that are involved. When the time comes for me to act, you may
count on me taking the right stand.” (cit. nach “Dietl” S. 394, Original in
“Ions, Edmund, James Bryce and American Democracy, 1870 – 1922,
London 1968, S. 239)
Die im Zitat eingefügten eckigen Klammern sind von Dietl gesetzt worden. Ich
halte die Beschränkung des Gesprächs einzig und allein auf die Panama Kanal
Zoll Frage dennoch für fraglich. Die Themenfelder, die hier sonst noch
angesprochen worden sein mögen, wären logischerweise die englischamerikanischen Konflikte bezüglich Mexiko und Japan, sowie ganz besonders
eben jene schon lange geplante anglo-amerikanische Allianz. Dies erscheint mir
im Hinblick auf die Gründung der verschiedenen „Round Table Clubs“ und deren
eigentlicher Aufgabe als Promotoren einer solchen Allianz als sehr
wahrscheinlich. Besonders verweisen möchte ich auf Wilsons Satz „and the
principles that are involved“. Mit Sicherheit wurde Wilson hier „bearbeitet“, was
auch an der Wortwahl „illuminating“ ablesbar sein mag, und England wurde ihm
als Verteidiger der Freiheit geschildert, während Deutschland als Wurzel allen
Übels gebrandmarkt worden ist. Besonders schwer wiegt, dass ja auch Balfour,
der zukünftige englische Außenminister ebenfalls in diesen Kreisen beheimatet
war. Außerdem ist es gut möglich, dass Lord Albert Grey, der ja in der mit
Geheimstrukturen versehenen inneren Organisation eine hohe Position besetzte
(„Circle of Initiates“), als Verwandter des englischen Außenministers
Vermittlerdienste und Überzeugungsarbeit geleistet hat.
[Exkurs: Unter den o. g. Namen fällt besonders der von Elihu Root auf. Wir stoßen hier auf eine
geheimnisumwitterte Organisation, die von Antony Sutton in dem Buch "America's Secret Society,
An Introduction to the Order of Skull & Bones", Trine Day, Updated Reprint 2002, untersucht
wurde.
Die Organisation nennt sich "The Order" und akkreditiert Neulinge nur über die Yale
Universität. Seit 1832 in jedem Jahr genau 15 Personen. Elihu Root war kein Mitglied von "The
Order", aber, wie Sutton schreibt: "Whitney's attorney and close associate was Elihu Root.
Although not a member of The Order, Root has been called 'Whitney's artful attorney'. Root , one
of the sharpest legal minds in American history and a power in his own right, worked along with
the purposes of The Order." (Skull & Bones, Seite 46)
Root war übrigens Leiter der von Wilson 1917 nach Russland geschickten Kommission. Der
genannte Whitney war höchst einflussreiches Mitglied in der Organisation "The Order". Um noch
ein klein wenig mehr Licht in diese verwinkelten und düsteren Gassen zu bringen, sei hier auch
der Hinweis gestattet, dass der an anderer Stelle genannte Prof. Charles Seymour, der ja die
House Papiere veröffentlichen durfte, laut Sutton ebenfalls Mitglied von "The Order" war. Weitere
Einflusslinien von The Order kann man beispielsweise an der Person Stimson, der ebenfalls
Mitglied der Organisation war, sichtbar machen (s.u.). Prominente Mitglieder der Organisation
aus jüngererer Zeit sind beispielsweise beide Ex-US-Präsidenten Bush, Junior und Senior. Zu
Stimson hier noch ein längeres Zitat aus
"Skull & Bones", S. 46 f. Sutton versucht mittels Großbuchstaben anschaulich die Verhälnisse
und Verbindungen deutlich zu machen. Buchstabe "A" wäre dabei der o.g. Elihu Root:
"In 1890 along comes young Henry Stimson, fresh out of Yale, The Order, and Harvard Law
School. Stimson joins Root's law firm ("B"). then called Root & Clark. After a while, in 1897, it
became known as Root, Howard, Winthrop & Stimson and by 1901 it became Winthrop and
Stimson. In the meantime ("C"), Stimson married Mabel White daughter of Charles A. White (The
Order). Stimson proved he was capable in the law and when Taft (The Order) was looking for a
Secretary of War in 1911, he appointed Stimson (The Order), which brings us to Point "D." Then
Stimson's career went like this:
As Secretary of War Stimson completed a reorganization begun by his predecessor none other
than Elihu Root.
From 1917 to 1922 Stimson was in the Army, with ranks up to Brigadier General.
In 1927 Coolidge appointed Stimson Governor-General of the Philippine Islands.
In 1929 Herbert Hoover appointed Stimson Secretary of State (Point "E" on the chart).
In 1940 Franklin D. Roosevelt appointed Stimson Secretary of War (Point "F" on the chart).
In 1945, as Truman's Secretary of War, Stimson recommended the atomic bomb drops on Japan.
(3) During World War II Stimson had a special assistant - Harvey Hollister Bundy (The Order),
(Point "G"). Special Assistant Harvey Bundy was the key Pentagon man on the Manhattan Project
and was Stimson's constant companion to conferences in North Africa, Italy and Germany. (4)
While Stimson was still Secretary of War he brought Harvey Hollister's son, McGeorge Bundy (The
Order), into the Pentagon to work on a book manuscript ("H" on the chart). This was published in
1948, entitled On Active Service In Peace And War. The joint authorship (see illustration) gave
McGeorge Bundy a quick start in his career, as we shall describe in the next Memorandum when
we pick up the career of the two younger Bundys, both members of The Order.
In a nutshell:
Stimson was appointed to government offices by every President, except Harding, from 1911 to
1946, i.e., Taft, Wilson, Coolidge, Hoover, Roosevelt, and Truman.
Stimson used his office to advance the career of fellow members of The Order, in particular
Harvey Hollister Bundy and his son, McGeorge Bundy."]
Jedenfalls machte sich jetzt die Voraussicht Houses bezahlt, der in seiner
Auswahl des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Wilson Bryan
vorgezogen hatte:
„he [Wilson] is going to be a man one can advice with some degree of
satisfaction. This [...] you could never do with Mr. Bryan.”(Colonel
House, November 1911, Seymour, Vol I, S. 46)
Es gibt mehrere Hinweise darauf, dass bei dieser Gelegenheit im Januar 1913,
mithilfe nichtöffentlicher, ja geheimer und undemokratischer Strukturen, schon
grundlegende Einigkeit zwischen den USA (Wilson) und England (Grey) erzielt
worden ist.
Wir erinnern uns an den 11.11.1913, an dem wie oben zitiert eine englischjapanisch-mexikanische Allianz drohend an der Wand zu stehen schien. Am
13.11.1913 trifft Greys Privatsekretär Sir Tyrrell in Washington ein und es gelingt
sofort, d.h. noch am gleichen Tag, eine Einigung im Hinblick auf die Panama
Kanal Zollfrage, womit sich natürlich gleichzeitig auch eine Allianz Englands mit
Mexiko und Japan gegen die USA zerschlagen hat. Die USA kommen England bei
der Zollfrage entgegen. Dies ist wohlgemerkt ein Punkt, über den zuvor jahrelang
erbittert gestritten worden ist. Darüber hinaus erzielen die USA und England
auch eine rasche Einigung im Hinblick auf Huerta, denn es erscheinen schon am
14.11.1913 alle europäischen Botschafter, angeführt vom englischen, bei Huerta,
um diesen zum Rücktritt aufzufordern. Huerta war zwischendurch durchaus
auch „Kandidat“ der USA gewesen. Schließlich hatte Wilson ihn aber im Verlauf
des Jahres 1913 fallengelassen, weil er sich in den Augen der USA mittlerweile
als augenscheinlicher Vertreter ausländischer – besonders englischer – Interessen
diskreditiert hatte. Um jeglichen Konflikt zwischen England und den USA zu
vermeiden, war England also bereit, Huerta fallen zu lassen und signalisierte so
den Verzicht auf Durchsetzung seiner wirtschaftlichen Interessen in Mexiko.
Auch wenn es in den kommenden Monaten immer mal wieder einen gewissen
Stress in den Beziehungen zwischen den USA und England geben wird, etwa
beim Tampico Zwischenfall („Dietl“ S. 315), so wird doch der Grundkonsens ab
jetzt nie mehr ernsthaft in Frage gestellt. Auch die Wirtschaftsinteressen werden
nun klaglos der Staatsraison untergeordnet. England gibt durch die Einigung
zudem zu erkennen, dass es prinzipiell bereit ist, den japanisch-englischen
Vertrag zu ignorieren. In der Tat sollte es zu einem solchen Konflikt noch nicht im
Ersten Weltkrieg kommen. Japan trat sogar, obwohl es laut Vertrag dazu nicht
verpflichtet gewesen wäre, an der Seite Englands gegen die Mittelmächte in den
Krieg ein. Dies sicherlich aber auch im Hinblick auf die Sicherung eigener
Interessen und als Rache für manch unbedachte Äußerung Wilhelms II.
Erscheint die schnelle Einigung in der Panamakanal Zollfrage und den damit
unmittelbar verknüpften Problemfeldern, wie etwa Mexiko, trotz allem zunächst
ein wenig rätselhaft, so hilft es, die Europareise von Edward M. House im
Sommer 1913 nicht aus den Augen zu verlieren. Am 3. Juli 1913 hatte er sich,
auf Vermittlung Pages, mit Außenminister Grey getroffen. Wise und der Page
Biograph vermitteln interessante Ergebnisse des Treffens:
„House dicussed the matter of a league of nations with Grey.
Wilson might render Britain a very great service, should Germany
assail the Triple Entente.
The upshot was that Sir Edward Grey expressed his willingness to
leave the Panama matter to Wilson, so far as was in his power. ‘Thus,’
says Page’s biographer, ‘from July 3, 1913 there was a complete
understanding between the British Government an d the Washington
Administration on the question of the tolls. But neither the British nor
the American public knew that President Wilson had pledged himself
to a policy of repeal.’ ”(Jennings C. Wise „Woodrow Wilson“, Seite 140)
Hier liegt für mich die eigentliche Geburtsstunde des anglo-amerikanischen
Bündnisses. Wilson hatte sich also insgeheim „für eine Politik des Widerrufs
verpfändet“, wie der von Wise zitierte Page Biograph es ausdrückt. Mit anderen
Worten, er war im allgemeinen Sinne bereit, die bisherige, eigenständige Politik
der USA einer gemeinsamen Politik Englands und der USA unterzuordnen. Im
speziellen Sinn des Wortes ist hier Wilsons Widerspruch ("repeal") zu einem
Kongressbeschluss aus dem Jahr 1912 zu verstehen. Dieser hatte, trotz des HayPauncefote Vertrages von 1901 mit England, der gebührenfreien
Ausnahmeregelung für US-amerikanische Küstenschiffahrt zugestimmt. Wilson
setzte den Punkt schon auf der ersten Kabinettssitzung vom 5.4.1913 auf die
Tagesordnung und hat in der nachfolgenden, scharfen Auseinandersetzung
mit Senat und Kongress sogar mit Rücktritt gedroht.
Im Gegenzug lässt sich auch Grey auf die Zusammenarbeit ein, wie der Verzicht
auf die Unterstützung Huertas deutlich macht. Die erste Aufgabe der genannten
„league of nations“, die selbstverständlich nicht neutral sein, sondern unter
anglo-amerikanischer Herrschaft stehen soll und daher für mich hier als
Synonym für eben jene „Allianz“ taugt, wird es sein, in diesem Krieg
zusammenzustehen.
Dies ist ein gewaltiger geheimer „Kuhhandel“, einer jener Momente der
Weltgeschichte, wo bei einem privaten Frühstück „gekungelt“ und letztendlich
über Millionen Menschenleben entschieden wird. Jene tapferen Soldaten, die gut
ein Jahr später mit naiv-patriotischem Sinn in den Krieg zogen, sind natürlich
nie über diese arkanen Hintergründe informiert worden. Jenen mutigen Soldaten
aller Länder und Nationen, aller Religionen und Völker verdienen Anerkennung,
insofern sie ehrlich für etwas kämpften und oftmals auch starben, an das sie
wirklich geglaubt haben. Trotzdem war ihr Opfer doppelt sinnlos. Denn hätte
man dieses anglo-amerikanische Bündnis offen vertreten, so wäre es zum WK I
erst gar nicht gekommen.
"One must conclude from the evidence that the great evil in 1914 was
not soldiers, but professors and peacemakers who, by suppressing the
truth and trying to introduce an internationalism involving
interference with existing forms of government, had set nation against
nation. Their elaborate trickeries brought on a world conflict which a
simple, honest entente, frankly proclaimed between Britain and
America, as urged by Page, could probably have prevented."(Wise, S.
178)
Und unmittelbar darauf deutet Wise ebenfalls auf folgenden Zusammenhang hin:
"If only Wilson had possessed the vision and the courage to say to the
Kaiser in 1914, what Sims had said in 1912— that, in the hour of common
danger, America would stand by Britain, the Austrian Archduke would, in
all probability, never have been assassinated."
Wise setzt hier voraus, dass das Attentat, hinter dem ja zunächst Serbien stand,
welches sich dabei aber von Russland gedeckt wusste, absichtlich ihm Hinblick
auf die Auslösung eines großen Krieges verübt worden sei. Wenn aber ein
offizielles Bündnis zwischen den USA und England bestanden hätte, so wäre die
Wahrscheinlichkeit eines Krieges dramatisch gesunken und somit auch das
Attentat unterblieben, weil es seine erwünschten Folgen nicht hätte zeitigen
können.
In diesem 3. Kapitel habe ich mich bemüht, anschaulich darzulegen, was es mit
der „Aufforderung zum Tanz“ auf sich hatte und wer wann und warum das
Tanzbein schwang. Der Erste Weltkrieg erfüllte einen doppelten Zweck.
Es ist zunächst offensichtlich, dass eine anglo-amerikanische Allianz des Jahres
1914 die Welt nicht beherrschen kann. Dazu sind die anderen europäischen
Mächte trotz allem zu stark. Besonders Deutschland war als aufstrebendes und
„ehrliches“ Land ein echter Wirtschafts- und Ideen-Konkurrent, besonders wenn
es ihm irgendwann gelingen sollte, Allianzen zu schmieden. Aber auch Russland
ist ein großes, mächtiges und unberechenbares Reich, dessen man sich nicht
sicher sein kann. Das gegenseitige Zerstören der bestehenden europäischen
Ordnungskräfte und Machtstrukturen muss daher als ein Hauptziel der angloamerikanischen Allianz angesehen werden. Wie wir aber gesehen haben, war der
drohend am Horizont stehende Mega-Konflikt zusätzlich zweitens auch
Haupttriebfeder für die beiden Mächte USA und England, ihre strittigen Fragen
zügig zu klären und zukünftig gemeinsam „transimperiale“ Weltpolitik zu
betreiben. Wenn Wise oben den Eindruck enstehen lässt, Grey sei bei dem
Gespräch im Juli 1913 House entgegengekommen, so halte ich dies für zu kurz
gesprungen. Greys Politik seit seinem Amtsantritt deutet im Gegenteil darauf hin,
dass er genau dieses Abkommen seit je angestrebt hatte. Außerdem wusste Grey
mit Sicherheit vom erfolgreichen Verlauf des „Round Table“ Gesprächs, das
Wilson schon ein halbes Jahr zuvor geführt hatte. Wer hier also wem ein
Stöckchen zum Drüberspringen hingehalten hat ist damit noch nicht klar.
Beispielsweise ist es durchaus denkbar, dass England über Bank- und
Wirtschaftskreise Huerta im Verlauf des Jahres 1913 nur deshalb absichtsvoll
unterstützt hatte, um so Druck auf Wilson auszuüben. Wem dies zu weit
hergeholt erscheint, der sollte sich klar darüber werden, dass „doppeltes Spiel“
keineswegs die Ausnahme, sondern die Regel darstellt.
Die ganze Angelegenheit wird noch zusätzlich dadurch kompliziert, dass alle
Geheimdienste die Kommunikation Houses mit Wilson aus dem Jahr 1913
dechiffrieren konnten und die Ergebnisse des Juli Gesprächs mit Grey kannten.
Somit war in Berlin auch die Wilhelmstraße über einen möglichen Pakt Englands
mit den USA unterrichtet:
„Having learned through Bernstorff, Dumba , and translated code messages, of
the purpose of House’s visit to England, and knowing that Wilson and Grey were
negotiating an Anglo-American accord, Grand Admiral von Tirpitz (…) greeted the
british proposal [Reduzierung der Schiffsbauten] with open derision.” (J. Wise, S.
146)
4. Kaiser Wilhelm II.
Die Beurteilung Kaiser Wilhelms II. ist im Allgemeinen einseitig und ungerecht.
Und tatsächlich fällt eine genaue Charakterisierung wirklich schwer. Schon zu
Lebzeiten bot Kaiser Wilhelm II. seinen politischen Gegnern eine breite
Angriffsfläche. All seine Kritiker haben ja einerseits durchaus Recht, wenn sie auf
seine Entgleisungen, seine teils martialischen Drohungen, sein Wettrüsten zur
See gegen England oder auch auf seine zunächst bedingungslose Zusage an
Österreich-Ungarn nach dem Attentat von Sarajevo hinweisen. Trotzdem ist die
dahinter stehende Haltung oft zu bequem - sie ignoriert Ursachen und
Hintergründe, die den Kaiser zumindest teilweise entlasten würden. Außerdem
beißt sich die Kritik oftmals an einzeln herausgehobenen Äußerungen fest, die
zwar für sich genommen „schaurig“ waren, aber trotzdem keine durchdachte
Politikleitlinie definierten. Wer sich wirklich ein einigermaßen umfassendes Bild
Wilhelms machen möchte, dem empfehle ich wiederum Bülows
Denkwürdigkeiten, die den Vorteil haben, dass Bülow nicht nur seine eigenen
Wahrnehmungen schildert, sondern auch die Eindrücke anderer Personen
wiedergibt.
Wilhelm II., ein Prisma, vielfarbige Lichter erzeugend, doch beinahe niemals
einfach nur weiß strahlend.
Um beispielsweise zu verstehen, warum der Kaiser gegenüber England scheinbar
irrational auftrat, muss man sein Verhältnis zur Mutter kennen und näher
beleuchten. Die Mutter, Tochter der englischen Queen, hätte eine ganz große
Versöhnerin der angelsächsischen und teutonischen Welt werden können, hätte
sie sich wirklich zu einer Deutschen mit englischen Wurzeln gewandelt. So aber
ist sie mit ihrem eigensüchtigen Ehrgeiz neben ihrem Gatten Kaiserin zu werden
und in ihrer Verblendung die eigentliche Quelle der Seelenschäden, die der
Kronprinz davongetragen hatte.
Ob man dabei an die Geburt Wilhelms, als englische Ärzte die Verstümmelung
seines linken Armes verursachten, an den vorzeitigen Tod des Vaters, dem
deutsche Ärzte zur Entfernung des verkrebsten Kehlkopfes geraten hatten, was
ein herbeigerufener englischer Arzt dann verhinderte (dies soll nach neuesten
Meldungen allerdings angeblich unwahr sein, die Sache soll sich umgekehrt
verhalten), oder an die geheime Korrespondenz der Mutter mit der englischen
Queen während des Feldzuges 1870/71 gegen Frankreich, was einen
Geheimnisverrat darstellte, oder schlicht an die fehlende Mutterliebe denkt, bleibt
Geschmackssache.
Aber was tatsächlich äußerst ungewöhnlich war und an und für sich schon ein
Verbrechen an Deutschlands Zukunft darstellte, war die unzureichende
Erziehung des Prinzen und Thronfolgers zum späteren Kaiser. Hinzpeter, der
Erzieher des Prinzen Wilhelm, war von einem gewissen Morier, einem Engländer
mit französischen Wurzeln, empfohlen worden. Dieser Sir Robert Morier hatte das
Vertrauen der Kronprinzessin Viktoria - obwohl er im Verdacht stand 1870
militärische Geheimnisse an Frankreich verraten zu haben und ein
ausgesprochener Gegner Deutschlands war. ("Denkwürdigkeiten", Bernhard von
Bülow, Bd. IV, S. 598) Wie auch immer man so einen Schritt bewerten mag,
Hinzpeter ist es jedenfalls nicht gelungen, das widersprüchlich-vielschichtige
Wesen des Prinzen zu bändigen und angemessen zu formen. Um nicht das Bild
des "Lotsen" zu bemühen, das ja seit je auf Bismarck gemünzt ist: Man hatte auf
dem Dampfer einen jungen Mann, der später einmal - unter den Bedingungen der
erblichen Monarchie - sicher "Kapitän" werden wird, versäumt es aber vorsätzlich
und wissentlich, diesen jungen Mann wirklich hinsichtlich Wissen, Erfahrung
und Charakter, in ausreichender und umfassender Weise zum Kapitän zu bilden.
Noch bei der Erziehung von Friedrich Wilhelm IV. und dessen Bruder Wilhelm,
dem späteren Kaiser Wilhelm I., war man ganz anders vorgegangen.Deren
Erzieher Delbrück wurde nach relativ kurzer Zeit entlassen, insbesondere weil er
das aufbrausende, cholerische Wesen (!) des Kronprinzen nicht bändigen konnte.
Später und bis heute wird es viele Kritiker geben, die nicht verstehen, warum
Wilhelm II. bestimmte, ihm unbedingt sympathische Menschen um sich haben
wollte, warum er gerade England gegenüber gelegentlich eigentümlich gereizt und
überheblich war, ja fast nie das rechte Maß fand. Für all dies liegt eine erhebliche
Verantwortung bei der Mutter, die so sehr deutsche Kaiserin werden wollte und
doch immer Engländerin geblieben war.
Wilhelms II. Kritiker übersehen in der Regel geflissentlich jene positiven
Momente, in denen er weitsichtiger als seine Diplomaten und Generäle und
friedliebender denn beinahe alle Diplomaten und Politiker Europas auftrat.
1905 als die Gelegenheit wegen Russlands Schwäche relativ günstig gewesen
wäre, die Einkreisung Deutschlands militärisch zu durchbrechen, ist er, wie sein
damaliger Kanzler Bülow auch, dieser Lockung nicht erlegen. Im Gegenteil hat er,
wenn auch in der Vorgehensweise etwas naiv, im gleichen Jahr versucht, mithilfe
des Vertrages von Björkö die Freundschaft mit Russland zu erneuern und den
französisch-russischen Zangengriff zu lockern. Ganz im Gegensatz dazu hat
England die russische Schwäche benutzt, um nach einigen Verhandlungen,
schließlich im Jahr 1907 mit Russland zu einer umfassenden Übereinkunft zu
gelangen, wodurch der Druck auf Deutschland erhöht wurde. In beiden
Marokkokrisen ist Wilhelm II., trotz martialischer Rhetorik und obwohl er - bei
allem Unsinn der darüber meist geschrieben steht - eigentlich im Recht war,
zuletzt zurück gerudert. 1912 forderte er Österreich auf, auf dem Balkan "nicht
zu laut mit meinem Säbel zu rasseln". Ja, noch unmittelbar am Vorabend des
Ersten Weltkrieges hat er, anders als seine Außenpolitiker, Diplomaten und sein
Reichskanzler, sofort erkannt, dass durch die Annahme fast aller Punkte der
österreichischen Forderungen der Kriegsgrund gegen Serbien entfallen war und
mittels einer - dann doppelt verspätet weitergeleiteten - Depesche noch versucht,
zu stoppen was scheinbar nicht mehr zu stoppen war. Zunächst einmal konnte
Wilhelm die Depesche nur um einen Tag verspätet schreiben, da Jagow
(Staatssekretär des AA) ihm den originalen Wortlaut der serbischen Antwort, der
am 27. Juli in Berlin eingetroffen war, erst am 28. übergeben hatte. (Dazu:
"Reisen und Regieren, Die Nordlandfahrten Kaiser Wilhelms II." von Birgit
Marschall, 1991, Deutsches Schiffahrtsmuseum und Ernst Kabel Verlag, Seite
180) Auch danach wurde die fertige Depesche zusätzlich zweimal verspätet
weitergeleitet, einmal in Berlin und einmal in Wien. Gerade in dieser Zwischenzeit
hatte Russland Fakten geschaffen.
Übrigens hatte Wilhelm auch gegenüber dem Zaren noch buchstäblich in letzter
Sekunde in Privatkorrespondenz aber letztlich erfolglos versucht, die militärische
Eskalation zu stoppen. Über die späte und falsche Nachricht, England und mit
diesem Frankreich blieben doch neutral, freute Wilhelm sich ebenso naiv wie
unbändig, da der Krieg so doch vermieden worden wäre.
Um zu verstehen, wieso Wilhelm 1914 anders als 1912 zunächst spontan mit
einem Freibrief für Österreich reagierte, muss man den Mordanschlag auf das
Thronfolgerpaar sowohl im historischen Kontext sehen als auch aus dem Heute
heraus begreifen. Das Attentat ist gut vergleichbar mit dem Angriff der Japaner
auf Pearl Harbor, oder noch besser mit dem 11. September 2001, dem Tag als die
Terror-Flugzeuge in die beiden Türme des World Trade Centers rasten. An
symbolhaftem Gehalt sind alle drei Vorgänge erstaunlich ähnlich, auch die
heftigen Reaktionen der US-Amerikaner, die uns so begreiflich erscheinen, lassen
uns annähernd erahnen, was Wilhelm II. ebenso wie Österreich-Ungarn damals
erschütterte. Nach 9/11 stand G.W. Bush mit Megaphon im Krater der Türme
und sagte sinngemäß "wir werden sie kriegen, wir werden sie verfolgen,..." niemand hat ihm widersprochen oder ist ihm in den Arm gefallen.
Um noch einen weiteren, dem betrachteten Zeithorizont näher liegenden
Vergleich zu bemühen, zitiere ich aus John William Burgeß' Buch "Der
Europäische Krieg" (S. Hirzel Verlag, Leipzig 1915), das in den Jahren 1914 und
15 entstanden ist.
Im Kapitel 1 "Der Vorwand zum Kriege" schreibt der US-Amerikaner Burgeß mit
Bezug auf die Entwicklung in Europa nach dem Attentat auf Kronprinz und Frau
auf Seite 8 f:
"Erst vor etwas mehr als Jahresfrist (also 1913, Anm. von mir) hat unsere
Regierung (also die Regierung der USA, Anm. von mir) die Forderung
gestellt, daß eine mexikanische Regierung abzutreten hätte, weil unser
Präsident der Meinung war, daß Huerta bei der Ermordung seines
Vorgängers Madero beteiligt gewesen sei, und damals hat unsere Regierung
diese Forderung sehr nachdrücklich vertreten. Wir wollen nun einmal
annehmen, unser eigener Vizepräsident und seine Gemahlin hätten sich zu
einem offiziellen Besuch nach Austin in Texas begeben und wären dort
infolge einer in der Stadt Mexiko ausgeheckten Verschwörung ermordet
worden, in die, nach dem Ergebnisse der Untersuchung, die höchsten
mexikanischen Beamten verwickelt gewesen wären, und zu deren
Ausführung die Waffen aus dem Arsenal der mexikanischen Regierung
geliefert worden wären, und wir wollen weiter annehmen, dies alles wäre
infolge einer Verschwörung geschehen, die in Mexiko von den leitenden
Persönlichkeiten des Landes innerhalb und außerhalb der Regierungskreise
angezettelt worden wäre, mit dem Zwecke, Texas, Arizona, Neu-Mexiko und
Kalifornien von den Vereinigten Staaten loszureißen und sie wieder mit
Mexiko zu vereinigen, - was würden die Vereinigten Staaten dann getan
haben? Angesichts dessen, was sie wirklich getan haben, halte ich mich für
berechtigt, zu sagen, sie würden Mexiko von der Landkarte hinweggewischt
haben, und falls irgendeine andere Macht auf Erden dazwischen getreten
wäre, würde sie diese geheißen haben, sich um ihre eigenen
Angelegenheiten zu kümmern und sich nicht einzumischen, andernfalls sie
ebenfalls hinweggefegt werden würde."
Gegen diese Argumentation läßt sich nicht viel einwenden, die gezogenen
Vergleiche sind durchweg erstaunlich zutreffend. Die Idee der "Lokalisierung des
Konflikts" war also, zumindest aus diesem Blickwinkel, so abwegig wie meist
geschildert nicht.
Im unmittelbaren Vergleich sowohl der österreichisch-ungarischen Reaktion 1914
als auch der Situation von1871, als Deutschland ganz überwiegend ehemals zum
Deutschen Reich gehöriges Gebiet annektierte, wird deutlich, wie sehr in der
historischen Rückschau und Bewertung mit zweierlei Maß gemessen wird und
wie sehr der Sieger Geschichte schreibt.
[Exkurs: Da Burgeß' Buch so schwer erhältlich war, hatte ich mir ursprünglich
die Mühe gemacht, es für das Internet aufzubereiten. Seit 2012 ist das Buch als
unveränderter Nachdruck wieder auf dem Buchmarkt erhältlich, daher habe ich
den früher hier eingefügten Link zu einer pdf-Version des Buches inzwischen
entfernt. Ich persönlich bin nicht in jeder Hinsicht mit seinen Urteilen
einverstanden, aber sein Blickwinkel, seine Perspektive ist jedenfalls interessant,
und es ist definitiv der Mühe wert, das Buch zu lesen.]
Wenn man von Burgeß vielleicht zu Recht behaupten könnte, er sei zu weit von
Europa entfernt und könne die besondere Situation des "europäischen Konzertes"
(ein Begriff den ich persönlich überhaupt nicht mag) nicht wirklich verstehen, so
kann man dies sicherlich von dem Altmeister europäischer Machtbalance-Politik,
Fürst Otto von Bismarck, nicht behaupten. Dieser schrieb schon 1876 in einem
Brief an den Bayernkönig Ludwig II., nachdem er sich vorher zu den
"Westmächten" Frankreich und England geäußert hatte (Hervorhebung von mir):
"(...) Sehr viel schwieriger aber liegt der Fall, wenn Österreich und Rußland
uneinig werden sollten, und hoffe ich, daß die Begegnung beider
Monarchen in Reichstadt gute Früchte zur Befestigung ihrer Freundschaft
tragen werde. Der Kaiser Alexander will glücklicherweise den Frieden, und
erkennt an, daß Österreichs Lage der südslavischen Bewegung
gegenüber schwieriger und zwingender ist als die Rußlands. Für
Letzteres sind es auswärtige, für Österreich aber innere und vitale
Interessen, die auf dem Spiele stehn." ("Gedanken und Erinnerungen",
Fürst Otto von Bismarck, Band I Seite 360, Stuttgart Cotta 1898)
[Exkurs: Auch Ludwigs Antwort ist nebenbei nicht ganz uninteressant, er
schreibt Bismarck am 16.7.1876 von Hohenschwangau aus:
„(...) Durch Ihre so klare Darlegung der politischen Situation haben Sie,
mein lieber Fürst, mich ganz besonders verbunden. Der weitsehende,
staatsmännische Blick, welcher sich in Ihren Anschauungen über die
Stellung Deutschlands zu den gegenwärtigen und etwa noch drohenden
Verwicklungen im Auslande kund gibt, hat meine volle Bewunderung, und
ich brauche wohl nicht zu versichern, daß Ihre mächtigen Anstrengungen
zur Erhaltung des Friedens von meinen wärmsten Sympathien und
unbegränztem (sic) Vertrauen begleitet sind. (...)“ (a.a.O. S. 360)]
[Exkurs: Mit Kaiser Alexander ist Zar Alexander II. gemeint, der am 1. März
(julianisch, gregorianisch am 13. März) 1881 durch ein Sprengstoffattentat
ermordet werden sollte, interessanterweise als er gerade eben im Begriff war,
umfassende Veränderungen Russlands durchzuführen, die dort die Weichen in
eine ganz andere, demokratischere Richtung gestellt hätten. Im Zusammenhang
mit dem Mordanschlag begegnen wir übrigens Alexander Iljitsch Uljanow, dessen
jüngerer Bruder sich später in Lenin umbenennen wird, aber ich greife vor.
Trotzdem ein schlagendes Beispiel dafür, dass in der Geschichte wirklich alles
mit allem zusammenhängt. Alexanders Nachfolger Nikolaus II. erging es
bekanntlich nicht besser. Sein für Reformen eingesetzter Minister Graf Stolypin
hatte ehrgeizige Ziele, so hatten von seiner Landreform bereits 3 Millionen zuvor
landlose Bauern profitiert, als er 1911 von einem jüdischen Revolutionär namens
Bagroff erschossen wurde. Es gab in Russland Kräfte, die eine allmähliche,
organische Liberalisierung des Landes gezielt verhindern wollten. Davon war
schon in Kapitel 2 im Zusammenhang mit dem englischen Botschafter Spring
Rice die Rede.]
Der Anschlag in Sarajevo war zielgenau auf das Habsburger Reich gerichtet, er
erschütterte die Grundfeste des Vielvölkerstaates und ließ das sowieso schon
bröckelige Gebilde am südöstlichen Ufer Europas zum Epizentrum der
"Urkatastrophe" werden. Eine harte Reaktion war logisch und geboten, wollte
man nicht die allmähliche Zersetzung des Habsburgerreiches und eine lange,
bürgerkriegsähnliche Situation auf dem Balkan mit, angesichts des russischen
Panslavismus und des untergehenden osmanischen Reiches, explosiven Folgen
für Gesamteuropa einfach hinnehmen.
Man muss es so deutlich sagen: Die von Kaiser und Reichskanzler gegenüber
Österreich erteilte Garantie in jener Situation nicht abzugeben, hätte einem Krieg
auf dem Balkan Tür und Tor geöffnet, da dies die separatistischen Kräfte und
ihre Hintermänner zu weiteren Schritten geradezu ermutigt hätte.
Die Situation wird im Allgemeinen, dies sei angemerkt, allerdings genau anders
herum geschildert. Beispielsweise bei Hildebrand heißt es, die Garantieerklärung
durch den Reichskanzler, denn erst durch seine Zustimmung wurde sie
legitimiert, sei die Urschuld der Deutschen am Kriege.
Meiner Ansicht nach liegt hier Fürst Bülow richtig, der in seinen
"Denkwürdigkeiten" schreibt, dass er die Geste richtig fand, aber keine "carte
blanche" erteilt hätte, sondern sich eine Mitbestimmung, jedenfalls Prüfung und
Bewertung der serbischen Antwortnote durch Deutschland, bevor ÖsterreichUngarn hätte militärisch aktiv werden dürfen, vorbehalten hätte. Das würde
bedeuten, nicht die Unterstützung der Doppelmonarchie selbst war falsch,
sondern deren politische Verwendung bzw. ihre genaue Ausgestaltung. Dieser
Vorwurf trifft aber Reichskanzler und Staatssekretär des Äußeren weit mehr als
den Kaiser.
Zunächst einmal mussten klare Worte gefunden und deutliche Taten
angekündigt werden. Im Übrigen konnte man seitens des Monarchen Wilhelm
angesichts dieser Staats-Zündelei auf dem Balkan beispielsweise von England,
immer noch repräsentative Monarchie mit Aversion gegen "Königsmörder" und
am "Gleichgewicht der Mächte" höchst interessiert, eigentlich doch ein gerüttelt
Maß an Verständnis erwarten, ebenso vom Zaren in Russland, der ja selbst von
Mordanschlägen bedroht war und auf grausam heimtückische Art mit seiner
gesamten Familie den Ersten Weltkrieg nicht überleben sollte. Des weiteren ging
es bei den österreichischen Forderungen ersichtlich nicht um Machterweiterung,
sondern um Machterhalt, also um die Beibehaltung der gegenwärtigen
Machtbalance.
Dass die Österreicher nicht geschickt genug waren, mit diesen deutschen
Pfunden zu wuchern, kann man dem Kaiser auch angesichts seiner schon o.g.
Initiative der letzten Minute nicht vorwerfen, zumal es jenes angebliche
„Bombardement Belgrads“ durch Österreich am 29. Juli 1914 nie gegeben hat,
sondern lediglich eine Erfindung der Propaganda war. (F. Würthle, „Die Spur
führt nach Belgrad“, Wien , München, Zürich 1975, S. 243)
Jedenfalls hat Kaiser Wilhelm II, wie weiter unten noch genauer geschildert wird,
sowohl in einem Appell an Österreich-Ungarn als auch in einer
Sonderkorrespondenz mit dem Zar, in letzter Sekunde noch versucht, den
drohenden Krieg zu verhindern.
[Exkurs: Als Dank dafür sollte Lloyd George später ankündigen, den gefangen
Kaiser im Käfig durch London fahren zu lassen und ihn ("Hang the Kaiser!") zu
hängen. Derselbe Lloyd George übrigens, aber dies nur nebenbei, der noch 1936
von Hitler ganz fasziniert war. Lloyd George hatte aber offenbar im Verlauf des
Jahres 1917 verstanden, dass auch England in diesem Krieg am Ende auch nur
verlieren könne, da die USA ihren Einfluss in Europa über alle Maßen ausbauen
würden und war daher Friedensverhandlungen nicht abgeneigt. Er konnte sich
damit allerdings in England gegen die "Falken" nicht durchsetzen - diese wollten
ja, unterstützt von den USA, nur den ganz großen Sieg. Näheres hierzu bei
Colonel House sowie bei Steglich (Wolfang Steglich, "Die Friedensversuche der
kriegführenden Mächte im Sommer und Herbst 1917", S. LXXXIX). Dort wird
Romberg zitiert, der Informationen eines Vermittlers (Coppeé) vom 4.1.1918
weitergibt: "...die Engländer seine besorgt, daß Amerika 'ganz Europa in die
Hände bekäme und die allein ausschlaggebende Macht würde'. Lloyd George
habe daher den Wunsch 'sich aus der jetzigen Situation herauszuziehen' und zu
einem nicht zu fernen Friedensschluß zu kommen".]
Zum Ende des Kapitels ist klar geworden, dass manche leichtfertig gegen Kaiser
Wilhelm II. vorgebrachten Anschuldigungen zu revidieren sind. Andere Vorwürfe
bleiben bestehen. In seiner gelegentlichen Neigung zum Pomp und zur
Großsprecherei hat er es der ausländischen Propaganda erleichtert, das Deutsche
Reich als einen einzigen Hort eines brandgefährlichen preußischen Militarismus
und als Gefahr für die gesamte Menschheit grotesk zu überzeichnen. Trotzdem
findet man in ausländischen Aufzeichnungen aus der Zeit öfters den Hinweis auf
die bekannte Friedensliebe Kaiser Wilhelms II.
5. Das deutsche Militär
Ein paar Worte zur Marine
Aus heutiger Sicht erscheint vielen die Flottenpolitik des Reiches unter Tirpitz
rätselhaft. Der Admiral war einer jener Männer, die den Kaiser lange begeistern
konnten, ehe er durch eine Intrige in Ungnade fallen sollte. Man wollte
herauswachsen aus der europäischen Enge und den Engländern auf den Meeren
nacheifern. Ein Traum, ein gefahrvoller Traum, denn diese Machtsteigerung auf
dem Meer bedeutete in der Sicht der Zeit eine Herausforderung Englands auf
dessen ureigenstem Terrain.
Einige Hinweise darauf, dass diese Flottenpolitik nicht ganz so irrational war wie
sie auf den ersten Blick scheint, gibt es dennoch. Beide Marokkokrisen hatten
folgendes gezeigt: Erstens, ohne eine machtvolle Flotte, die auch als Drohkulisse
fungieren konnte, ließen sich England und Frankreich letztlich nicht wirklich
beeindrucken. Zweitens sollte der immer mehr anwachsende deutsche
Außenhandel, der zum Großteil über das Meer stattfand, geschützt werden. Diese
Haltung war auch für andere Länder, ganz besonders für England und die USA
vollkommen selbstverständlich. Drittens, das Gerede vom Gleichgewicht der
Mächte galt im Zweifelsfall nur für sich selbst nicht für die anderen. Dieses
Gleichgewicht bedeutete ja theoretisch folgendes: Wächst Dir Macht zu, muss
auch mir und den anderen am Konzert beteiligten Staaten Macht zuwachsen,
damit die Gesamtbalance nicht gestört wird und alle im Verhältnis gleich stark
bleiben. Das unwürdige Geschacher zwischen England und Frankreich um
Ägypten und Marokko, dazwischen eingebettet noch Italien mit seiner expansiven
Nordafrikapolitik (die in Krieg mündete an dem dann auch noch die Türkei
beteiligt war...) machte nur zu deutlich, dass Deutschland nicht ernst genommen
wurde und dass man sich im Zweifel nicht an sein Wort gebunden fühlte.
Nochmals möchte ich den imperialistischen Senator Jeremiah Beveridge, diesmal
in Übersetzung, zitieren:
"… der Handel der Welt kann und wird unser sein. Und wir werden ihn
bekommen, wie wir es von unserer Mutter England gelernt haben. […] Wir
werden den Ozean mit unserer Handelsflotte bedecken. Wir werden unsere
Marine zu einer Größe, die unserer Bedeutung (greatness) entspricht,
ausbauen. […] Weil die amerikanische Republik Teil einer rassischen
Bewegung ist - die herrschaftlichste Rasse (masterful race) der Geschichte und rassische Bewegungen bleiben ihrem Wesen nach nicht in der Hand
von Menschen. Sie sind mächtige Antworten auf göttliche Befehle. Schicksal hat unser politisches Regelwerk (policy) geschrieben, der Handel
der Welt muss und wird unser sein." („Dietl“ Seite 43, Fußnoten 65 und 67,
Übersetzungen von mir)
Man vergleiche diese Äußerungen, die eine gedankliche Nähe mit gewissen
Herrschaftsrassen-Mythen und „göttlicher Vorsehung" des 20. Jahrhunderts
nicht leugnen können, mit Bülows schlichtem Satz: "Wir wollen niemanden in
den Schatten stellen, aber wir wollen auch unseren Platz an der Sonne."
Große Schlachtschiffe wurden in Deutschland gebaut, was zeigt, dass es in erster
Linie gar nicht darum ging, wirklich einen Krieg zur See zu führen, sondern
vielmehr darum zu beeindrucken, zu gelten. Denn in absoluten Zahlen und auch
in der Kampfkraft war die britische Flotte der deutschen immer noch weit
überlegen. Für einen echten Seekrieg wären kleine, wendige und flexible Kreuzer,
von denen man auch viel mehr hätte herstellen können sowie U-Boote weitaus
praktikabler gewesen. So wurde dies aber in England gerade nicht gesehen. Man
war dort der vorgefertigten Meinung, die Deutschen seien darauf aus, England
auf See zu übertrumpfen und fürchtete einen Konflikt, der irgendwo auf der Welt
die Royal Navy binden würde und so den Deutschen die Nordsee schutzlos
ausliefern würde. England übertrug in ausgesprochen schlichter Art die eigene
Denkweise auf andere und nutzte propagandistisch im In- und Ausland einzelne
Äußerungen Kaiser Wilhelms II. aus. So wie Wilhelm II. das Kleine zu sehr ins
Große erhob, aus dem Detail dilettierend auf das Ganze schloss, so sehr war man
aber auch in England bereit, aus einer "Entgleisung" Wilhelms (z.B. Krüger
Depesche) heraus, den ganzen Plan einer Politik zu deuten.
Wenn ich hier und anderswo von "England", "Russland" oder
"Frankreich" schreibe, meine ich selbstverständlich die dort wirklich handelnden
und bestimmenden Personen. Niemals ist damit allgemein ein Volk als solches
gemeint. Die ausgesprochen heftige Reaktion "Englands" auf die Krüger
Depesche, erscheint weit weniger rätselhaft, wenn man bedenkt, dass sowohl der
"Jameson Raid" von 1895 als auch der Burenkrieg (1899-1902) von der
Rhodes/Milner Organisation gesteuert worden sind. Gleichzeitig besaß diese
Gruppe nicht nur Macht in der Exekutive, sondern auch in der Presse, vor allem
in "The Times". Kaiser Wilhelm II. war jener "Society" also schwer auf die Füße
getreten, als er den Buren Unterstützung anbot und hatte gleichzeitig, ob
bewusst oder unbewusst sei dahingestellt, den Finger in die Wunde gelegt. Denn
jene von der Rhodes/Milner Gruppe geschürten und gesteuerten Kriege und
Unruhen in Afrika liefen auf die Gründung von Südafrika im Jahr 1910 hinaus.
Dies aber war wiederum nur ein Einzelbaustein im großen Plan der geheimen
Gesellschaft, die ja mit ihrem Netz die gesamte Welt umspannen wollte. Wilhelm
II. hat meiner Ansicht nach die Ziele der Society nie wirklich ernsthaft bedroht.
Vielleicht bremste er ihr Vorankommen ein wenig ab; ganz besonders wichtig, ja
geradezu unersetzbar wurde der Deutsche Kaiser für diese Gruppe aber natürlich
dadurch, dass er ein fast ideales Feindbild abgab.
Das Militär ist an allem Schuld
Wendet man seine Aufmerksamkeit rein innerdeutschen Abläufen zu, fällt auf,
dass es eine Tradition in der historischen Betrachtungsweise gibt, die den
militärischen Anteil an Kriegsausbruch und Verlauf sehr hoch bewertet.
Grundsätzlich kann man dabei grob drei oder vier Phasen unterscheiden: Vor
dem Krieg (etwa 1888/90 bis 1914), unmittelbar vor Kriegsausbruch und der
Kriegsausbruch selbst (Julikrise und erste Augusttage 1914), im Krieg sowie
nach dem Krieg im Übergang zur und während der Weimarer Republik.
Bei Einschätzung und Bewertung spielen natürlich wieder Haltung und
Perspektive des Betrachters eine bedeutende Rolle. Schauen wir uns die drei
Phasen eingeteilt in a) bis c) deshalb genauer an.
Vor dem Krieg
Die herausragende gesellschaftliche Rolle des Militärs hier außer acht lassend,
kann man sagen, dass es vor dem Krieg keine eigenständige Rolle gespielt hat.
Vielmehr folgte das Militär in seinen Planungen dem, was die Politik an Leitlinien
vorgab. Anders als gelegentlich dargestellt, war der Schlieffen Plan mit seinen
belgischen, zwischendurch sogar auch niederländischen Implikationen und
seinem unbedingten Offensivcharakter den jeweiligen Reichskanzlern bekannt.
Mehr noch - es war darüber hinaus auch klar, dass nach Kriegsbeginn der Erfolg
ganz und gar von Tempo und Überraschung abhängig war. Die Gegner
nacheinander zu schlagen konnte nur gelingen, wenn alles sehr schnell ging.
Frühere Planungen, die alternativ eine reine Ostfront zugrunde legten, wurden
spätestens 1911 nicht mehr weiter geführt, da die enger werdende französisch
russische Bindung eine Aufspaltung der Gegner völlig unwahrscheinlich
erscheinen ließ. Zwar hat der Kaiser Helmuth v. Moltke noch zurechtgewiesen,
sein Onkel (Moltke der Ältere) hätte ihm eine solche Antwort (also die der
Alternativlosigkeit) nie gegeben, doch ging diese Kritik an politischen und
militärischen Fakten vorbei.
Allerdings gibt es doch zwischen Äußerungen des Kaisers und Bülows von 1905
und der Situation von 1914, einen ganz entscheidenden Unterschied. In seinem
Telegramm von 1905 will der Kaiser die belgische Neutralität verletzen, wenn
England "uns" den Krieg erklärt hat oder zumindest de facto führt.
Unter dieser Bedingung stimmt Kanzler Bülow dem Plan in einem
Antworttelegramm zu.
Man sieht hieran, wie die Position des Kaisers sich im Laufe der Jahre geändert
hatte und wie genau man bei Beurteilungen von Vorgängen und Personen
hinsehen muss. (Ich bemerke dies, weil es sogar Historiker gibt, die diesen
Unterschied zwischen 1905 und 1914 nicht sehen.) Es mag auch so sein, dass
Kaiser Wilhelm II. 1905 von Bülow besser beraten worden war, als es 1914 durch
Bethmann Hollweg der Fall war.
Deutschland war hoch gerüstet, allerdings nicht - wie so häufig geschrieben wird
- über die Maßen, und genau betrachtet, fehlte es sogar an Menschen und
Material, wenn man die gegnerischen Kräfte aufaddierte. Dieses Weniger wollte
man seitens des Militärs einerseits durch eine besserer Schulung von Soldat und
Offizierskorps wieder wett machen, andererseits hatten die Militärs durchaus
höhere Forderungen im Rahmen der Wehrvorlagen, besonders ab 1911, bei der
Politik angemeldet, diese wurden aber erst ab 1913 nur schritt- und teilweise
umgesetzt. Gründe für die höheren Forderungen waren hauptsächlich die
verlängerte, dreijährige Dienstzeit in Frankreich, die enorme Aufrüstung
Russlands gerade auch hinsichtlich der Infrastruktur, die teilweise von
Frankreich finanziert worden war, sowie die englische Heeresreform mit ihrem
schlagkräftigen Expeditionskorps. Aber auch die jahrelangen Fehlinvestitionen in
riesige Schlachtschiffe machten sich nun in Form einer Schwächung des Heeres
bemerkbar, genauso wie erkennbar wurde, dass Österreich-Ungarn ein
schwacher Bundesgenosse sein würde und Italien letztlich bestenfalls neutral
bleiben würde. So betrachtet hatte das deutsche Militär lediglich getan, wofür es
da und geschaffen war: Für den Kriegsfall gerüstet zu sein. Weniger deutsches
Militär wäre, beispielsweise angesichts des französischen Revanchegedankens,
der natürlich seit 1871 bestand, der englischen Angst vor einer
Kontinentalhegemonie des Deutschen Reiches, oder der immer enger werdenden
Bindungen zwischen Frankreich und Russland, aber auch zwischen Frankreich
und England blauäugig und naiv gewesen. Darüber konnte auch seitens der
Entente eigentlich kein Erstaunen herrschen, hatte doch Frankreich seit jeher
äußerst nervös und kriegerisch auf eine tatsächliche oder auch nur denkbare
"Umfassung" durch die "beiden Habsburgs" (oder 1870 die "beiden Hohenzollern")
reagiert; eine Bedrohung von zwei Seiten war für Frankreich immer der Albtraum
schlechthin gewesen - wieso sollte sich das für Deutschland anders darstellen?
Unmittelbar vor dem Krieg
Im unmittelbaren Aufgalopp zum Ersten Weltkrieg also der Julikrise und den
ersten Augusttagen kam zum Tragen, was schon weiter oben skizziert worden ist.
Gefangen in Mächtekonstellationen, wie sie die Politiker vor dem Ersten Weltkrieg
zugelassen oder geschaffen hatten, war das Militär in einen sehr engen Zeitplan
eingebunden, wollte es gegen die Übermacht bestehen.
Den Schlussfolgerungen von Dieter Hoffmann in seinem Buch "Der Sprung ins
Dunkle" mit dem Untertitel "Oder wie der Erste Weltkrieg entfesselt wurde"
(Militzke Verlag, Leipzig 2010), kann ich mich nicht anschließen. Gegen
Hoffmanns Sicht spricht meiner Meinung nach seine Verengung auf die deutsche
Perspektive, das völlige außer Acht lassen Englands sowie die Rechtfertigung der
Politiker, die, weil sie schwach waren, damit auch als entlastet gelten. Was bleibt
ist das böse Militär in Gestalt Moltkes.
Schon Schlieffen hatte den Durchmarsch durch Belgien geplant, weil die
französischen Festungen als zu stark galten, um sie in einem kurzen
Offensivschlag zu zerstören. Dass dabei ein Land in den Krieg verwickelt wurde,
welches einen neutralen Status hatte, war aus militärischer Sicht notwendig und
nicht zu vermeiden. Dahinter stand die Erkenntnis, dass Deutschland in lang
anhaltenden Defensivkämpfen seinen zahlenmäßig überlegenen Gegnern sicher
unterliegen mußte. Abgesehen davon hoffte man auf eine gewisse Kooperation
Belgiens. Belgien sollte nur Auf- und Durchmarschgebiet sein, aber möglichst
keine Kampfzone werden. Dafür sollte Belgien finanziell entschädigt werden.
Entsprechend überrascht war das Militär von der entschiedenen belgischen
Gegenwehr, die zu heftigen Kampfhandlungen zwang und im Verlauf zu einer
unerwünschten Truppenbindung auf belgischem Boden führte. Gräuelberichte in
der englischen, französischen und amerikanischen Presse über Kriegsverbrechen
an Zivilisten beim deutschen Vormarsch durch Belgien waren meist entweder frei
erfunden oder stark übertrieben, tauchen aber dennoch in der Literatur
gelegentlich sogar noch heute auf. Zurückzuführen ist dies meist auf den Bericht
der "Bryce-Kommission", deren "Bryce Report" in den USA 41000 mal verteilt
wurde und die ungeprüfte und oft falsche Behauptungen enthielt. Es hat
allerdings zu Beginn der Kampfhandlungen in Belgien tatsächlich beschämende
Vorkommnisse, etwa in Löwen, wo 200 Belgier in einer Art Racheakt kurzerhand
umgebracht wurden, gegeben. Auch die berühmte Bibliothek ist damals in
Flammen aufgegangen.Trotzdem spricht gerade die Tatsache, dass nach Löwen
weitere Exzesse unterbunden wurden und nicht mehr vorkamen, gegen eine
planmäßige oder grundsätzliche Brutalität.
Die jetzt häufiger zu hörende Behauptung, es habe im WK I in Belgien gar keine
Freischärler gegeben, diese seien ein Phantasieprodukt, ein Echo von 1870/71,
weit entfernt abgegebene und daher nicht zuzuordnende Schüsse, oder einfach
nur Irrläufer deutscher Waffen gewesen, muss ich bezweifeln. Ich habe in einem
Kriegstagebuch eines einfachen Soldaten anderes gelesen (Arno Rudloff "Wo
andere toben, mußt du singen" Tagebuchaufzeichnungen aus dem Ersten
Weltkrieg, Hrsg. Michael Rudloff, Vanderbeck Verlag, 2006), auch bei Bülow und
Ludendorff gibt es ernst zu nehmende Hinweise auf "franctireurs".
Was in Löwen genau zum Ausbruch der Kämpfe geführt hatte ist bis heute
unbekannt, meist geht man inzwischen von "friendlyfire" aus. Ich halte es für gut
möglich, dass in Wirklichkeit "agents provocateurs" am Werke waren.
[Exkurs: James Bryce
Bryce scheint mir auch einer jener naiven Idealisten gewesen zu sein, leicht
dadurch verführbar, dass er die Welt wirklich nur durch die englische Brille zu
betrachten im Stande war. Er hatte zwar Kontakt zu Personen der "Milner
Group", war aber sicher nicht eingeweiht im engeren Sinne. In dem Buch "James
Bryce and American Democracy" von Edmund Ions (1968) erfahren wir auf Seite
247 von einem Briefwechsel zwischen dem Elihu Root und Bryce. Root hatte in
der New York Times am 17.11.1914 einen langen Artikel veröffentlicht, der,
obwohl angeblich "neutral gehalten", probritisch war. Dies konnte man leicht
daran erkennen, dass Root zwar offiziell zur Neutralität riet, aber gleichzeitig
feststellte, dass Deutschland den Krieg auf keinen Fall gewinnen dürfe. Dies
bedeutet ja wohl, dass man solange neutral bleiben wolle, wie England und der
Rest der Entente gute Aussichten auf Erfolg hatten. Übrigens ist dies eine
Haltung die Wilson 1914 und Lansing 1915, beide allerdings zu diesem Zeitpunkt
nur im privaten Kreis bzw. im "confidential memo" ebenfalls eingenommen
hatten.
Trotzdem hatte Root im NYTimes Artikel auch darauf aufmerksam gemacht,
Enlgand könne vielleicht ein Interesse am Krieg haben, weil es Deutschland als
Wirtschaftskonkurrenten ausschalten wolle. Bryce, der mit Root befreundet war,
widerspricht in seinem Brief deutlich und schreibt u. a. : "The cabinet was
divided [ob man Frankreich beistehen solle oder nicht] and was on the point of
breaking up over the question when suddenly German Govt. invade Belgium.
That changed the situation in a moment..." (Ions S. 248)
Behalten Sie diese Aussage bitte im Gedächtnis, sie wird im Kapitel "Politische
Eliten in der Juli Krise" im Zusammenhang mit Belgien sehr wichtig. Jedenfalls
folgt hieraus, dass Bryce höchstwahrscheinlich nicht wirklich eingeweiht war.
Um seinen nach ihm benannten Report zu verfertigen, überprüfte Bryce die
Informationen nicht, er glaubte blind allen einlaufenden
Augenzeugenberichten. Er war felsenfest davon überzeugt, dass die Deutschen
die Bösen seien und diente hier als nützliches Werkzeug höheren
Interessen. Weiterer Beleg dafür ist seine Streitschrift gegen das Buch
"Deutschland und der nächste Krieg" von General Bernhardi. Bryce nahm nicht
zur Kenntnis, dass dieses Buch in Deutschland nur 7000 mal verkauft worden
war und sein Inhalt selbst im Generalstab keine Mehrheit hatte. Er nahm das
Buch trotzdem als Ausdruck der allgemeinen Haltung in Deutschland, was es
aber gerade nicht war. Überdies war Bernhardi schon 1901 von Schlieffen aus
dem Generalstab entfernt worden. Bryans aufrichtiger Widerspruch fand in
England und den USA ein großes Echo - ein weit größeres jedenfalls, als
Bernhardis Buch in Deutschland je gehabt hatte.]
Was im Hinblick auf Belgien militärisch jedenfalls begründet und aufgrund der
wirkungsvollen Bearbeitung Deutschlands als "Werkstück" wahrscheinlich richtig
war, musste aber auch politisch richtig begleitet werden. So hatte schon
Bismarck viel früher darauf hingewiesen, es würde zu einem Krieg unter
Beteiligung Englands nur kommen, wenn "wir Dummheiten machen, Belgien oder
Holland betreffend". (1884 im Gespräch mit von Bülow, wiedergegeben in
"Denkwürdigkeiten", Bd. IV S. 555)
Die Militärs sahen also in der schnellen Offensive die einzige Möglichkeit, einen
solchen Zweifrontenkrieg gewinnen zu können. Grundsätzlich lagen sie mit dieser
Einschätzung, soweit sich das sagen läßt, mit ziemlicher Sicherheit richtig. Leider
hat die daraus folgernde, extrem schnelle Mobilisierung sowie der Aufmarsch der
Armeen unmittelbar zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit beigetragen
und zwei neutrale Länder, Belgien und Luxemburg, in den Konflikt mit
einbezogen: Würde der Überraschungseffekt verpasst, oder der schnellere
Aufmarsch im Verhältnis zu Russland verspielt, so war dieser entscheidende
Vorteil verpufft. Als daher Russland umfassend mobil machte und der Aufmarsch
des russischen Heeres überraschend schnell voranschritt, war die Eskalation
vorprogrammiert. Ein weiteres Abwarten hätte aus deutscher militärischer Sicht
die sichere Niederlage im Krieg bedeuten müssen. Für die Kriegsgegner hatte dies
den Vorteil, dass sie die deutschen Handlungen gut abschätzen und voraussehen
konnten - sie waren einfach ausrechenbar.
Um diese Zusammenhänge zu verdeutlichen, möchte ich auf Äußerungen der
russischen und französischen Seite, wie wir sie aus der Sonderberatung vom 13.
Januar 1914, kurz nach der Beilegung der Liman von Sanders-Krise, kennen,
hinweisen. Diese sind besonders interessant, da man ja immer wieder von der
deutschen Haltung hört, an Weihnachten sei man wieder daheim. Aber auch die
Gegner gingen von einem kurzen Krieg aus:
Wenn zu Frankreich und Russland auch noch England in einen Krieg
eintrete, so wisse Deutschland, dass es "binnen sechs Wochen zur vollen
inneren Katastrophe getrieben würde". (zitiert nach: Hans Uebersberger,
Österreich zwischen Russland und Serbien,1958 Köln/Graz, S. 205,
zukünftig zitiert als "Uebersberger")
So erklären sich die nur scheinbar überhasteten Kriegserklärungen an Russland
und Frankreich. Diese waren aus militärischer Sicht durch die allgemeine
Mobilmachung Russlands gegen Österreich-Ungarn und gegen Deutschland
notwendig geworden. Deutschland hatte also tatsächlich offiziell den ersten
Schritt getan, den Krieg erklärt, was später bei den Verhandlungen zum
Versailler Vertrag noch eine ganz wichtige Rolle spielen sollte. Aber man sollte
sich bei der Bewertung dieses Vorgangs darüber im Klaren sein, dass die
Sackgasse oder auch Falle, in die Deutschland geraten war, von der Politik
aufgestellt worden ist, das also die Politik, aus welchen Gründen auch immer, es
versäumt hatte, rechtzeitig Alternativen zu entwickeln. An dieser Stelle möchte
ich nochmals auf ein weiteres bis heute unausrottbares Missverständnis
hinweisen.
Zwar hatte Österreich-Ungarn am 28. Juli 1914 Serbien den Krieg erklärt,
aber jenes "Bombardement Belgrads" also der "Angriff auf Serbien" vom 29.
Juli hat gar nicht stattgefunden. Dies war eine Erfindung der Propaganda,
die in Russland übrigens ihre Wirkung nicht verfehlt hat, als die Entscheidung
fiel, von der Teilmobilisierung nur gegen Österreich-Ungarn, die am 28. Juli
beschlossen worden war, zur Generalmoblimachung, die auch gegen Deutschland
gerichtet war, fortzuschreiten. (Friedrich Würthle, 1975, "Die Spur führt nach
Belgrad", S. 243) Ich verdanke diesen Literaturhinweis einer Rezension von Prof.
Dr. Werner Lehfeldt in den "Göttingische Gelehrte Anzeigen", 2011, Heft 1/2, S.
53.
Die gesamte europäische Politikerkaste hatte sich mit dieser Eskalation ein
schlechtes Zeugnis ausgestellt, was bis vor kurzem fast durchgehend mit einer
angeblich selbst bestimmten "Auskreisung" Deutschlands klein geredet worden
ist. Aber die Auskreisung erfolgte gerade nicht selbstbestimmt, wie ich weiter
oben in Kapitel 2 schon ausführlich erläutert habe. Jene Einkreisung entsprang
strategischem Denken. Darüber hinaus gerieten, was ebenfalls schon erwähnt
wurde, in der Nachfolge der Marokko Krise von 1911 zwei potentielle
Bündnispartner der Mittelmächte, nämlich die Türkei und Italien, ganz bestimmt
nicht zufällig in kriegerische Auseinandersetzungen um Lybien. Burgeß schreibt
dabei übrigens England die treibende Kraft zu.
Einem naheliegenden Einwand "Aber was ist mit Belgien, hätte man darauf
verzichtet, wäre England doch gar nicht in den Krieg eingetreten...!" möchte ich
weiter unten begegnen. Die Verhältnisse sind kompliziert, verwickelt und letztlich
für die meisten Leser überraschend. Hier genügt es zu sagen, dass die deutschen
Planer größte Angst vor einem französischen Einfall in die durch Industrie, Erzund Kohlelager so bedeutenden Rheinlande hatten. Ein Verlust dieser Region
wäre kriegsentscheidend gewesen.
Es kann also unmittelbar vor dem "Großen Krieg", wie die Generation meiner
Großeltern den Ersten Weltkrieg noch nannte, keine Rede davon sein, dass das
Militär "an allem Schuld" sei. Die Herren haben ihre Pflicht erfüllt und überaus
vorhersehbar agiert. Den politischen Zwängen konnten sie nicht entkommen und
setzten mit Rüstung und militärischer Planung dagegen. Erstaunlich genug bleibt
der Vorwurf, Deutschland habe durch seine Rüstung und Kriegsvorbereitung den
Ersten Weltkrieg verschuldet. Leute, die so etwas ernsthaft behaupten, gehen
wohl davon aus, das Land hätte damals lieber gleich Selbstmord begehen sollen.
Der Ausweg aus dieser verfahrenen Lage wäre nur international möglich gewesen,
ganz besonders in einem ehrlichen Dialog mit England. Dazu war England aber
nicht bereit, wie schon deutlich geworden ist und wie nachfolgend noch
deutlicher werden wird.
Im Krieg
Nun, im Krieg sind aus deutscher Sicht tatsächlich Fehler passiert, aber das ist
normal, dies war bei den Entente-Militärs nicht anders. Der entscheidende
Unterschied liegt allerdings klar auf der Hand: Durch ihre fast unerschöpflichen
Ressourcen und den USA sowie eigenen Kolonien im Hintergrund, konnte sich
die Entente durchaus Fehler leisten, während für Deutschland und seine
Verbündeten jeder Fehler der letzte sein konnte. Moltke war 1905 als Moltke der
Jüngere, Neffe seines berühmten Vorfahrens, etwas überraschend, in sein Amt
berufen worden, und so war er der natürliche Leiter der OHL zu Beginn des
Krieges.
Im IV. Band von Fritz Mauthners "Der Atheismus und seine Geschichte im
Abendlande" (1923) erfahren wir auf Seite 402 in einer Fußnote, Sperrdruck im
Original:
"Nur darüber freilich kann ein Deutscher n i c h t lachen, was Eingeweihte
längst wußten, was aber erst durch eine Unklugheit des Steiner aller Welt
bekannt geworden ist, daß der für die Heerführung verantwortliche oberste
General im Weltkriege, wieder einer des Namens Moltke, der Freund und
Vertreter des Theosophen war; wieder rächte es sich am ganzen Volke,
daß - wie vor der großen Revolution - die Cagliastro Gläubige gefunden
hatten bei Personen aus den höheren Schichten der "Gesellschaft".
Auch wer der Frage "Monarchie oder Republik?" undogmatisch
gegenübersteht, fester Republikaner nur ist, weil der letzte Monarch
Wilhelm II. hieß, auch der wird sagen müssen: in einer Republik hätte ein
Geisterseher nicht ein so realpolitisches Amt erhalten können wie dieser
Moltke II."
Um dieses Zitat ganz zu verstehen, muss man vielleicht erklärenderweise
hinzufügen, dass es sich hier um Freimaurersprache (Mauthner war Freimaurer)
handelt. Begriffe wie "Eingeweihte" oder "Unklugheit" entspringen diesen
"Zirkeln". Trotzdem wird Mauthner hier recht deutlich, er verweist auf Moltkes
Achillesverse, denn dieser war nicht, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts
durchaus in Mode war, einfacher "Anthroposoph", sondern "Freund und Vertreter
des Theosophen" Steiner, also in der Hierarchie fast ganz oben angesiedelt. Diese
Leute glaubten beispielsweise daran, mit Toten in Kontakt treten zu können und
sich von ihnen Ratschläge zu holen. Auf einen General, der "die Schlacht" zu
schlagen hat, müsste sich eine negative Prophezeiung fatal auswirken.
Aufmerksam muss man die Formulierung "Eingeweihte" lesen und verstehen,
denn diese müssen natürlich nicht automatisch Deutsche gewesen sein - die
Bruderkette war ja international. Realistischerweise muss man davon ausgehen,
ob nun Freimaurer die Information weitergegeben haben, oder Spione es
herausfanden, über Moltkes anfällige Seite waren auch die "Feinde" sicher
informiert.
Im Kapitel 3 sind wir im Zusammenhang mit den Plänen von Cecil Rhodes und
dessen Nachfolgern schon einmal auf Freimaurersprache und freimaurerische
Organisationsstrukturen gestoßen. Es sei weiterhin hier vermerkt, dass der
unmittelbare Anlass zum Ersten Weltkrieg, die Ermordung des Thronfolgers
nebst Gattin in Sarajewo, ebenfalls durch geheime Machenschaften organisiert
worden ist, die den unmittelbaren Bezug zu Freimaurerkreisen nahe legen.
Von Ludendorff erfahren wir, dass in Koblenz, also noch lange vor der
Marneschlacht, Moltke gesagt habe "es sei sowieso schon alles verloren" und,
nicht minder wichtig, das Steinersche Lieblingsmedium habe in Moltkes
Umgebung Krankenschwesterdienste geleistet. Steiner selbst gibt zu, im August
1914 in Koblenz bei Moltke gewesen zu sein. Man muss hieraus schließen, dass
Moltke, jedenfalls in der Koblenzer Zeit, unter dem Einfluss Steiners stand.
Übrigens erlebten auch andere Militärs neben Ludendorff (interessanterweise bis
auf Oberst Tappen) Moltke in diesen Tagen als fahrig, blaß und am Ende seiner
Kräfte, was natürlich auch auf seine 1909 entdeckte Herzkrankheit
zurückzuführen sein könnte, deretwegen er ja auch zur gewesen Kur war. Moltke
selbst wollte 1913 sogar aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten, hat aber
die Kaisermanöver 1914 so überzeugend geleitet, dass er schließlich doch im Amt
verblieb. Laut Bülow hatte er von Anfang an nicht Generalstabschef werden
wollen, Moltke selbst finde, so Bülow, er sei der Falsche für dieses höchste
militärische Amt.
Im allgemeinen wird der schlechte gesundheitliche Zustand v. Moltkes zu Beginn
des Krieges alleine damit begründet, dass der Kaiser ihm in die Parade gefahren
war und erste Märsche in Richtung Luxemburg gestoppt hatte. Moltke habe
dadurch den gesamten Plan ins Wanken kommen sehen und verzweifelt die
Niederlage schon geahnt.
Dieser Vorgang ist mehrfacher Hinsicht erhellend, und es ist daher sinnvoll, ihn
näher zu beleuchten. Am 1. August 1914 schreibt der Botschafter in London,
Lichnowsky, in seinem Telegramm Nr. 205 (D.D. Bd. 3, S. 66, Nr. 562), dass
England vielleicht doch neutral bleiben wolle (die entscheidende Kabinettssitzung
sollte in Kürze stattfinden) und für Frankreichs Passivität bürge, wenn
umgekehrt Deutschland erkläre, Frankreich nicht anzugreifen. In Berlin jubeln
Kaiser und Kanzler. Besonders Bethmann, der ja lange davon überzeugt gewesen
war, praktisch im Alleingang Europas Frieden retten zu können, glaubte wieder
an den Erfolg seiner Mission und Vorgehensweise. Infolgedessen gab der Kaiser,
über seinen Flügeladjutanten und unter Ausschaltung Moltkes, persönlichen
Befehl, den Vormarsch der XVI. Division nach Luxemburg vorläufig zu stoppen.
Fürst Bülow schildert in seinen "Denkwürdigkeiten" im 3. Band auf S. 171 f.
diesen Vorgang, benennt Graf Wedel als Zeugen (vortragender Rat im AA), der
außerdem berichtet habe, dass der gesamte Vorgang Moltke "den Lebensnerv
durchgeschnitten" habe, insbesondere auch deshalb, weil sich das englische
Angebot kurz darauf als "Missverständnis" herausstellte und der Vormarsch
daher wieder aufgenommen wurde.
Bülow hält in diesem Zusammenhang die Reaktion von Kaiser und Kanzler als
einen Ausdruck "für beider Friedensliebe wie für ihre politische
Ahnungslosigkeit". Dem ersteren kann man sicher nicht widersprechen, weil
durch diese Maßnahmen, selbst zu so spätem Zeitpunkt, die endgültige
Eskalation unterblieben wäre - der Weltkrieg wäre ausgefallen. Über das zweite
wird man streiten können, weil Bülow das Zustandekommen und den Wortlaut
des o.g. Lichnowsky-Telegramms nur teilweise zu kennen scheint, jedenfalls nicht
ganz korrekt wiedergibt. Denn der Botschafter hatte, im Gegensatz zu Bülows
Schilderung, in einem persönlichen Gespräch mit Greys Privatsekretär Sir W.
Tyrrell von diesem den Vorschlag erfahren und nachher - ebenfalls persönlich ein Telefonat mit Grey geführt. Für Bülows Einschätzung sprechen wiederum alle
Äußerungen, zumindest der letzten beiden Tage, aus England, die gesamte
traditionelle englische Politik sowie die vertraglichen Bindungen, die Frankreich
ja mit Russland eingegangen war.
Für die Stichhaltigkeit eines englischen Vorschlags sprach wiederum, dass
während der Krise des Jahres 1912 England schon einmal eigenes Eingreifen
vom möglichen Angriff Deutschlands auf Frankreich abhängig gemacht hatte.
Insofern stand die Idee theoretisch in einer gewissen Tradition.
Alles kam heraus, nachdem der Kaiser an den englischen König George ein
Telegramm geschickt hatte, in dem er den englischen Vorschlag "mit Freude und
Dank" annahm; woraufhin George erklärte, dass er "überhaupt nicht verstünde"
worum es gehe und es sich also um ein Missverständnis handeln müsse. Der
Vorgang bleibt letztlich rätselhaft, trotzdem entlarvt er die angebliche und noch
heute immer wieder ausgestellte deutsche "Kriegslüsternheit" als Erfindung.
(Idealerweise sieht man an dieser Stelle bei Filmbeiträgen die jubelnde Menge in
den "kurzen" Krieg, den "Spaziergang nach Paris" ziehen...)
Anhand dieser Episode erfahren wir aber auch einiges über den nervlichen
Zustand Moltkes, der offensichtlich schon zu diesem frühen Zeitpunkt, noch vor
Beginn aller Kämpfe völlig am Boden war. Verständlicherweise störte ihn das
kaiserliche Eingreifen, aber andererseits fürchtete er den Krieg und musste daher
durchaus auch ein Interesse an der Möglichkeit einer Verständigung in letzter
Sekunde haben. Ein echtes Friedensinteresse Kaiser Wilhelms II. und BethmannHollwegs wird anhand dieser Episode in jedem Fall deutlich.
Die Erkenntnisse über Moltkes Schwächen werfen uns zurück auf Kapitel 4,
hatte doch der Kaiser selbst die Einsetzung Moltkes 1905 verfügt. War dies
bestimmt schon ein Fehler, so bleibt eigentlich unfassbar, dass diese
Entscheidung, die "Okkultgläubigkeit" Moltkes war mitnichten geheim, vom
Kaiser in den Folgejahren nicht revidiert wurde. Immerhin aber verbot der Kaiser
Moltke die Beschäftigung mit okkulten Dingen. (Woher die Behauptung stammt,
der Kaiser sei selbst ein Okkultist gewesen, kann ich nicht nachvollziehen.) Wir
sahen aber auch, dass dieses Verbot Steiner nicht hinderte, weiterhin Einfluss
auf Moltke zu nehmen. Interessant wäre also immerhin die Fragestellung, ob
jemand Wilhelm zu Moltke geraten hatte. Vielleicht kam der Kontakt aber einfach
auf einer der sommerlichen "Nordlandfahrten" des Kaisers zustande; in einem
Brief an seine Frau schildert Moltke, wie ihm, als er auf einer solchen Fahrt, als
einziger in der Runde über theosophische Dinge Bescheid wissend, nach kurzer
Zeit ein Kreis von Personen gespannt lauscht.
In einem maschinengeschriebenen Rundbrief an Freunde und Bekannte "Die
Ernennung des jüngeren Moltke zum Generalstabschef" aus dem Jahr 1971
schreibt Gotthard Jaeschke, dass laut den Erinnerungen v. Bülows
("Denkwürdigkeiten", 1929 Band II S 182 ff) der Kaiser zum erstenmal am
29.12.1903 an Bülow herangetreten sei und Moltke als Schlieffen Nachfolger ins
Gespräch gebracht habe. Nach dem Kaisermanöver von 1905 (also im Juni oder
Juli) habe die Entscheidung praktisch festgestanden. Auf Wunsch Moltkes sei die
Kabinettsorder zur Ernennung aber erst auf den 1.1.1906 datiert worden.
(Jaeschke gibt die Bülowschen Erinnerungen ungenau wieder, andererseits gibt
er keine weiteren Quellen für seine Angaben an.)
Bülow berichtet an o.g. Stelle lediglich von einem Morgenritt "an einem schönen
Herbsttage des Jahres 1905" im Berliner Hippodrom, währenddessen Moltke ihm
von der bevorstehenden Ernennung erzählt habe und sich dabei selbst als für
den Posten ungeeignet bezeichnete, während sie beide, sich unterhaltend, immer
wieder um den Wasserturm geritten seien. Schließlich habe Moltke Bülow
gebeten, dem Kaiser die Idee auszureden. Bülow lehnte zwar ein direktes
Eingreifen ab, leitet das ganze aber an den Chef des Militärkabinetts, Graf
Dietrich Hülsen, weiter, der es allerdings für beinahe aussichtlos hält, den Kaiser
von seinem Vorhaben abzubringen, weil dieser "ihm ganz sympathische Leute ...
womöglich gute Freunde" auf Posten haben wolle, "mit deren Trägern er in
häufige Berührung kommt".
Ansonsten wird hier einmal mehr offenbar, dass Wilhelm II. ein sicherer innerer
Kompass, ein sturmfestes Koordinatensystem aus bekannten und schon
genannten Gründen fehlten. Sicher ist, dass Helmuth v. Moltke und sein um ein
Jahr älterer Bruder Graf Cuno von Moltke, der 1903 in die Eulenburg- Affäre
verwickelt war, oft, ja regelmäßig und schon in den 90er Jahren des 19.
Jahrhunderts an den "Nordlandfahrten" des Kaisers teilnahmen. Als Einziger im
Kreis der Nordlandfahrer war Helmuth von Moltke der norwegischen und
dänischen Sprache mächtig. Dies alles und die Bekanntheit und der Klang seines
Namens, sein berühmter Vorfahre war schließlich als Sieger von 1866 und
1870/71 hoch angesehen, mochte den Kaiser, neben der Tatsache dass er ihn für
"persönlich symphatisch" hielt, für v. Moltke einnehmen.
Schnell zu siegen, dies musste trotzdem Moltkes überragendes Ziel sein - an dem
er scheiterte, weil er bei der Marne Schlacht nicht alles auf eine Karte setzte, weil
er der ungeheuren Belastung nicht standhielt und erkrankte. Ludendorff, auf
seinem Weg nach Belgien, erlebte ihn, den "Geisterseher", schon in Koblenz nur
als Schatten seiner selbst.
Stichpunktartig für das Versagen der OHL zu Kriegsbeginn seien hier lediglich die
undurchsichtigen Abläufe um den zweiten Frontbesuch des Oberstleutnants
Hentsch, die Entsendung von zwei Armeekorps an die Ostfront aus dem
Hinterland der 2. Armee, obwohl Ludendorff in zwei Telefonaten diese
Unterstützung als unnötig bezeichnet hatte, sowie der Verzicht auf das
Nachführen von Truppen vom linken an den rechten Flügel der Westfront
genannt. Näheres hierzu findet sich u..a. bei: Müller-Loebnitz Wilhelm, "Die
Sendung des Oberstleutnants Hentsch am 8.-10. September 1914, Auf Grund der
Kriegsakten und persönlicher Mitteilungen". 2. Aufl. Berlin, Mittler & Sohn 1922.
Dieses Buch ist leider nur schwer in öffentlichen Bibliotheken oder antiquarisch
zu erhalten. Die Bayerische Staatsbibliothek in München z. B. führt offiziell zwei
Exemplare im Bestand - allerdings sind beide Exemplare "verschollen". Aber es
gibt auch modernere Darstellungen sowie natürlich das "Reichsarchiv".
Weil das genannte Buch so ausgesprochen rar ist, habe ich auch dieses für das
Internet aufbereitet.
Sie können "Die Sendung des Oberstleutnants Hentsch" hier als pdf-Dokument
lesen. (ca. 19 MB) Besonders interessant ist vielleicht die "Anlage 3" (im Buch auf
Seite 65), weil dort die Bemerkungen von drei Personen, eine davon General v.
Kuhl, die schon am 10. September 1914 angefertigt wurden, abgedruckt sind.
(Für das hier online bereitgestellten Buch sind die Rechte, nachdem der Autor
mehr als 70 Jahre tot ist, Müller-Loebnitz ist 1940 verstorben, inzwischen
abgelaufen.)
Jedenfalls hat in dieser Situation zu Kriegsbeginn die OHL I (mit Sitz erst in
Koblenz, dann in Luxemburg) versagt, während die Soldaten, Offiziere wie
Mannschaften, ungeheure Leistungen an der Front erbrachten. An der
französischen Front beispielsweise waren die deutschen Truppen immer
siegreich, das galt auch bei zahlenmäßiger Unterlegenheit oder beim Kampf mit
französischen Elitetruppen. Die Schlacht an der Marne wurde verloren, weil sie
nicht geschlagen wurde und auf Befehl Hentschs abgebrochen wurde.
Häufiger findet man in modernen Betrachtungen über den West-Feldzug, dieser
sei sowieso nicht durchführbar gewesen. Die gesamte, ursprünglich auf
Schlieffen basierende Planung hätte aus verschiedenen Gründen nicht
funktionieren können: Die Front am rechten Flügel sei zu weit
auseinandergezogen und dadurch zu dünn geworden. Die französischen Truppen
hätten immer die Möglichkeit gehabt, sich durch Bahntransport der Umfassung
zu entziehen, um selbst zu umfassen, etc. Ich bin solch nachträglichen
Beurteilungen gegenüber grundsätzlich skeptisch und halte aufgrund der
Aussagen von Zeitzeugen die Planungen für prinzipiell durchführbar. Dabei
beziehe ich mich zunächst auf eine Einschätzung von General Hoffmann
(Hoffmann, "Der Krieg der versäumten Gelegenheiten"S. 69), der der Ansicht ist ,
dass Generaloberst v. Kluck und General v. Kuhl von der 1. Armee, hätten sie
den Befehl zum Rückzug, wie er von Oberstleutnant Hentsch erteilt worden ist,
verweigert und stattdessen den "von ihnen für richtig erkannten und
beabsichtigten Angriff" wie geplant durchgeführt, zu den "Nationalhelden des
Feldzuges" hätten werden können. Mein zweiter Zeuge ist der Engländer Wright,
der im französichen Hauptquartier tätig war:
"Wäre es den Deutschen gelungen, das französische Zentrum zu überrennen und
die ausgedehnte Front der Alliierten von Verdun bis Paris zu durchbrechen, so
hätte dieses Einkreisungsmanöver für die Deutschen keinerlei Gefahr gehabt,
denn dann wäre der größte Teil des französischen Heeres aufgerieben worden."
(Captain Peter Wright "Wie es wirklich war", S. 11, zukünftig zitiert als "Wright")
Auch in recht aktuellen Darstellungen des ersten Weltkrieges wird aus
Unkenntnis des genauen "Schlieffen-Planes" behauptet, Moltke habe den
ursprünglichen Plan aufgegeben, indem er es unterließ, nicht auch Paris zu
umfassen. Diese Auffassung lässt sich nicht aufrecht erhalten, da in den
Schlieffenschen Planungen nur ein einziges mal und dann auch nur mit
gestrichelter Linie Paris umfasst wird. In allen anderen Szenarien griff er nicht so
weit aus. In diesem einen Punkt ist Moltke also zu entlasten. Allerdings vermerkt
auch Ludendorff in seinem Buch "Mein militärischer Werdegang" die fehlende
Umfassung von Paris als einen Mangel, was insofern bemerkenswert ist, als
Ludendorff selbst ja die Aufmarschpläne in seiner Zeit als Stabsoffizier bis
Januar 1913 bearbeitet hat.
Falkenhayn OHL II
Nachdem Moltke offiziell wegen Krankheit abgesetzt worden war, kam
Kriegsminister v. Falkenhayn als Leiter der OHL II zum Zuge. Wie Moltke war
auch er ein Mann des Kaisers. Falkenhayn, man muss es so hart sagen, war als
Leiter der OHL II ein bitterer Fehlgriff. Später, nach seiner Absetzung, hat er sich
als General hervorragend bewährt, aber als Leiter traf er strategisch fatale
Entscheidungen. Anders als von General Groener vorgeschlagen, nahm er nicht
die Marne Schlacht wieder auf, sondern versuchte sich ausgerechnet an Verdun,
an der am stärksten befestigten Stelle der französischen Verteidigungslinie also.
(Noch dazu taktisch fehlerhaft, da er nur von einer Seite aus artilleriemäßig
vorbereitete.) Hier verbluteten in einer völlig sinnlosen Materialschlacht auf
beiden Seiten der Front hunderttausende Soldaten. Die Schlacht bei Ypern ist
dann das zweite und leider nicht letzte Beispiel von Falkenhayns Versagen. Aber
was insgesamt sogar noch schwerer als die de facto Niederlagen in Verdun und
bei Ypern wiegt, ist folgendes: Durch die enorme Bindung von Kräften an der
Westfront und vielleicht auch aus Eitelkeit versagte er dem Oberbefehlshaber
Ober-Ost (Hindenburg) mehrfach aussichtsreichste Offensiven, die Russland mit
größter Wahrscheinlichkeit zu einem sehr frühen Zeitpunkt (erste Möglichkeit
Juli 1915), also noch weit vor (!) der Oktoberrevolution aus dem Krieg und zu
einem Sonderfrieden getrieben hätte.
Hierzu ein Zitat aus "Hoffmann" (S. 121)
"Der Plan der Entente, durch den offensiven Einsatz der russischen
Massen, gleichzeitig gegen Preußen und gegen die Karpathen den Krieg zu
beenden, war gescheitert. Die Russen waren auf der ganzen Front
geschlagen und hatten Verluste erlitten, von denen sie sich nicht wieder
erholt haben. Aber es war nicht gelungen, die Russen so entscheidend zu
schlagen, daß sie Frieden machen mußten. Und doch, das möchte ich
ausdrücklich nochmals unterstreichen, war die Möglichkeit dazu
vorhanden gewesen. Entschloß sich die oberste Heeresleitung im Juli 1915
dazu, alle freizumachenden Kräfte der 10. Armee zuzuführen, Kowno zu
nehmen und einen starken Stoß in Richtung Wilna - Minsk zu führen, zu
einer Zeit, als die russischen Truppen noch in Polen westlich Warschau
standen, so mußte die Niederlage der Russen eine für den Ausgang des
Krieges entscheidende werden. Auf Schwierigkeiten wäre der deutsche
Durchbruch nicht gestoßen, denn die deutschen schwachen Kräfte haben
ja auch ohne Unterstützung der Obersten Heeresleitung Kowno genommen
und die russische Armee durchbrochen."
Hierdurch ist ganz nebenbei auch die Theorie massiv in Frage gestellt, dass nach
der Marne Niederlage der Krieg nicht mehr zu gewinnen gewesen sei. Scheidet
Russland 1915 mit Sonderfrieden aus, verliert die Entente fast sicher den Krieg,
da die Mittelmächte alle Truppen an die Westfront werfen können und die USA
mit ihrer Militärmaschinerie noch nicht kriegsentscheidend werden können.
Moltke und Falkenhayn, beide Männer waren mit dem Kaiser auf einer
Wellenlänge. Und jetzt kam das Duo Hindenburg/Ludendorff. "Ich kann diese
Feldwebelfresse nicht ertragen", diese Äußerung hat der Kaiser angeblich im
Hinblick auf Ludendorff gemacht. Aber nun war die Not groß, so groß dass selbst
die "Feldwebelfresse" ran musste. Denn Hindenburg war nur die adlige
Frontfigur, er hat als Leiter von "Ober Ost" und auch danach als
Generalstabschef (OHL III) keine eigenständigen militärischen Entwürfe gehabt
und immer lediglich diejenigen Ludendorffs gebilligt.
Der "Feldwebel-Fressen-Ruf" ist Ludendorff bis heute erhalten geblieben, was
wohl ursprünglich auf eine tiefe Feindschaft mit Professor Delbrück, einem auch
publizistisch umtriebigen Mitglied der Mittwochsgesellschaft, zurückzuführen ist.
Um es kurz zu machen - ich habe mich ein klein wenig auf Ludendorffs Seite
geschlagen, ohne dabei die durchaus angreifbaren Aspekte und Fehler in seiner
Laufbahn und Lebensleistung auszublenden oder zu übersehen, oder meine
Objektivität aufzugeben. Aber angesichts der schier unüberschaubaren Zahl
seiner Gegner und Feinde scheint es mir angebracht und richtig, das Geschehnis
unter Berücksichtung üblicherweiser übersehener oder kleingeredeter Fakten
einmal von anderer Seite aus zu betrachten. Daher habe ich überwiegend
Ludendorff das 7. Kapitel gewidmet.
Aus diesem Grund bricht die Betrachtung der OHL III und des weiteren
Geschehens hier ab, da dies von nun an zu direkt mit dem Namen Ludendorff
verbunden sein wird.
6. Die Politische Eliten in der Julikrise
Um es gleich vorweg zu sagen, die deutschen Politiker haben ihren Teil zum
Ausbruch des Ersten Weltkrieges beigetragen. Es geht mir in diesem Kapitel
darum, zu zeigen, dass auch nicht deutsche Politik-Eliten ihre Finger im Spiel
hatten, wenn es um's Zündeln ging. Deren Versagen muss, was auch heute noch
nicht selbstverständlich erscheint, in eine Gesamtbetrachtung mit einbezogen
werden. Je mehr Einzelheiten durch die Jahrzehnte hindurch bekannt werden,
desto kleiner scheint der Anteil der deutschen Verantwortung für Ausbruch und
Zustandekommen des Ersten Weltkrieges zu werden. Eine "endgültige"
Beurteilung steht natürlich noch aus, sie muss sowieso von größeren Autoritäten
gefällt werden. Aber nachdem etwa Konrad Canis und Christopher Clark jüngst
hervorragende, neue Untersuchungen vorgelegt haben kann nicht bestritten
werden, dass der "deutsche Rucksack" wieder etwas leichter geworden ist. Welch
ein Unterschied zu den 1960er Jahren, die im Lichte der Fischer Kontroverse ein
vollkommen anderes Bild zeichneten.
Die politische Leitung Deutschlands wäre vielleicht im Stande gewesen, den
Weltbrand 1914 zu verhindern, ob dies angesichts der englischen und russischen
Aversion gegen die natürliche deutsche Entwicklung und des französischen
Revanchegedankens dauerhaft möglich gewesen wäre, ist zumindest ungewiss.
Man kann für 1914 Bethmann-Hollweg und seinen unmittelbaren Mitstreitern,
allen voran Jagow, eine gewisse Naivität und Beratungsresistenz nicht
absprechen, die sich nach zwei Seiten hin folgenschwer auswirkten.
Trotzdem haben sie diesen Krieg nicht gewollt und nicht gefördert, sie sind
"hineingetapert".
Zum einen hat Bethmann den englischen Versicherungen neutral zu bleiben,
unverständlich lange naiv vertraut. Als England schließlich die Karten auf den
Tisch legte, am 29. Juli, war es tatsächlich relativ schwer, den Krieg noch zu
verhindern, die Eskalation noch zu stoppen.
Auf der anderen Seite gab es die Zusicherung Österreich-Ungarn beizustehen, die
im Allgemeinen "die Urschuld am Kriege" bezeichnet wird. Dort wäre tatsächlich
die zweite Möglichkeit gewesen, den Krieg dadurch zu verhindern, dass man zwar
eine Garantieerklärung an die k u k Doppelmonarchie erteilte, dafür aber zur
Bedingung machte, bei der Bewertung der serbischen Antwortnote und über die
Reaktion mitbestimmen zu können. Ein Veto - oder zumindest Mitspracherecht.
Hier hat man sich am Nasenring in die Kampfarena führen lassen.
Diese beiden Bemerkungen mögen hier genügen, auch um einem gewissen
Fatalismus zu widersprechen, nach dem der Krieg "unvermeidlich" war und
sowieso irgendwann kommen musste. Eine Sache liegt mir noch am Herzen, die
ich klarstellen möchte. Dem Politiker und Staatsmann Bernhard von Bülow wird
im Allgemeinen zur Last gelegt, er habe schon mit seiner Politik (Reichskanzler
von 1900 - 1909) den Keim des Untergangs gelegt. An einem kleinen Beispiel, das
als pars pro totum stehen kann, möchte ich zeigen, dass dem nicht so war.
Bülow wäre, wie weiter oben schon erwähnt, auch dazu bereit gewesen, die
belgische Neutralität zu verletzen, aber nur unter der Bedingung, dass
England zuvor Deutschland den Krieg erklärt habe. Dann wäre eine Situation
"Not kennt kein Gebot" eingetreten, die man auch der Welt leichter hätte erklären
können. Welch ein Unterschied zu Bethmann, der, ohne Durchblick und schlecht
beraten, die Reihenfolge nicht einhielt.
Gemeinsam mit Österreich-Ungarn (und auch weiterhin in dessen Schlepptau),
versäumte man in der Krise und zu Beginn des Krieges, sinnvoll auf Italien und
Rumänien einzuwirken. Hätten diese beiden Nationen im August 1914 noch auf
der Seite der Mittelmächte gekämpft, oder wäre Italien wenigstens mit seinen
Truppen an der südlichen Grenze Frankreichs aufmarschiert, so wäre der Krieg
tatsächlich nach relativ kurzer Zeit für die Dreibundmächte zu gewinnen
gewesen. Österreich war lange, zu lange nicht bereit, Italien Zugeständnisse zu
machen, so wie der Dreibundvertrag sie ja eigentlich vorsah. Als man sich, auf
erheblichen Druck Bülows, der als Sondergesandter nach Rom geschickt worden
war, endlich bewegte, war es zu spät. Der Vertrag Italiens mit der Entente war
bereits unter Dach und Fach.
Als der Zar 1916 augenscheinlich zu einem Sonderfrieden bereit gewesen wäre,
brüskierte man ihn, indem die Mittelmächte ohne Not ein Königreich Polen
proklamierten. Der blamierte Zar änderte sofort seine Politik und musste den
zuständigen Minister austauschen. Sobald sich dann das Kriegsglück gegen die
Mittelmächte wandte, stritt Polen sofort munter in den Reihen der Feinde. Ein
Desaster für die deutsch-österreichische Politik. Kennzeichnend für Bethmann
und die politische Elite, dass man in dieser Situation sofort versuchte, die
Wiederherstellung Polens der OHL III unter Hindenburg und Ludendorff
zuzuschieben. (Nach einem französischen Historiker war übrigens die Teilung
Polens "die blutige Wiege" der russisch - preußischen Freundschaft.)
Von der politischen Idee einer "Westbindung" Preußens, also der Zerschlagung
Russlands, Wiederherstellung Polens und besonders einer Anlehnung an
England, berichtet ja schon Bismarck im ersten Band seiner "Gedanken und
Erinnerungen" (S. 92 ff sowie S. 110 ff). Damals, also in den 50er Jahren des 19.
Jahrhunderts, spielte laut Bismarck die "Bethmann-Hollwegsche Coterie"
[=Klüngel, geschlossene Gesellschaft] mit ihrem Presseorgan ("Das Preußische
Wochenblatt", daher auch der Name "Wochenblattspartei") und mit dem Geld des
Frankfurter Bankhauses im Hintergrund eine treibende Rolle. Interessant ist
dabei die brandaktuell wirkende Idee Preussen solle eine Vorreiterrolle in Europa
übernehmen, so schreibt Bismarck beispielsweise im Band I auf S. 110.
"Ich erinnere mich der umfangreichen Denkschriften, welche die Herren
unter sich austauschten und durch deren
Mittheilung sie mitunter
auch mich für ihre Sache zu gewinnen suchten. Darin war als ein Ziel
aufgestellt, nach dem Preußen als Vorkämpfer Europas zu streben hätte,
die Zerstückelung Russlands,..."
Eine Seite später analysiert Bismarck die Bewegung mit der ihm eigentümlichen
Schärfe, Direktheit und Klarheit:
"Die Phrase und die Bereitwilligkeit, im Partei=Interesse jede Dummheit
hinzunehmen, deckten alle Lücken in dem windigen Bau der damaligen
westmächtlichen Hofnebenpolitik. Mit diesen kindischen Utopien spielten
sich die zweifellos klugen Köpfe der Bethmann-Hollwegschen Partei als
Staatsmänner aus,... (...) Diese Politiker hielten sich damals nicht nur für
weise, sondern wurden in der liberalen Presse als solche verehrt."
Mir sind, obwohl sie zugegeben etwas auf ein Nebengleis führen, diese Zitate
wichtig, weil sie zeigen, wie klar Bismarcks Einschätzungen meist waren und
welch aktuellen Bezüge sich auch heute noch daraus ableiten lassen können.
Namensgeber und Mit-Finanzier der Bethmann-Hollwegschen Partei war übrigens
der Großvater[(Moritz) August von Bethmann-Hollweg] des späteren
Reichskanzlers Theobald von Bethmann-Hollweg. Der Enkel hat offenbar
politisch mehr von seinem Großvater als von seinem weitaus konservativer
denkenden Vater Felix übernommen.
Um noch kurz auf Polen und die irgendwie doch typische deutsche Naivität
zurückzukommen - als Minderheit in Deutschland durften deren polnische
Vertreter selbstverständlich auch während des Krieges an den Sitzungen des
Reichstages teilnehmen. Sie haben diese Privilegien und die damit verbundenen
Kenntnisse nicht mit stillem Stolz gewürdigt, sondern profan und weidlich
ausgenutzt, etwa indem sie Informationen weiterleiteten, die man anderntags in
der angesächsischen Presse lesen konnte. Kann man ihnen letztlich nicht
vorwerfen, der polnischen Sache gedient zu haben, so muss man sich schon
fragen, wo die praktische Intelligenz der deutschen Parlamentarier in jenen Tagen
geblieben war.
Viel ist darüber gestritten worden, ob die Einverleibung des "deutschen Elsass"
sowie eines Teils Lothringens (vor allem Metz, aus militärischen Gründen und
gegen Bismarcks Absicht) in das neu gegründete Deutsche Reich durch Bismarck
ein Fehler war. Bismarck selbst war dies keine Herzensangelegenheit, er hätte
den Krieg auch ohne Annexion beendet. Aber laut eigener Auskunft glaubte er,
den süddeutschen Verbündeten, die ja gemeinsam mit Preußen gegen Frankreich
gekämpft hatten, was durchaus nicht selbstverständlich gewesen war, etwas
Handfestes bieten zu müssen. Ob die Reichsgründung ohne Annexion möglich
gewesen wäre, sei dahingestellt - sie war auch mit dieser schon schwierig genug.
Allein die Tatsache, dass die übrigen europäischen Mächte, also Russland,
Österreich-Ungarn und besonders England diesmal nicht eingriffen, sondern es
geschehen ließen, gibt Bismarck zunächst einmal Recht. Und doch wurde hier
ein Keim des Untergangs schon gesät, denn Frankreich verlor diese Niederlage
und vor allem den damit verbundenen Gebietsverlust nie aus dem Blick, wartete
geduldig und nutzte schließlich geschickt seine Chance. Dabei vergisst man
leicht, dass Frankreich erst im 17. Jahrhundert große Teile dieser alten
Reichsgebiete geraubt, bzw. traditionell "natürliche Grenzen" (Richelieu)
angestrebt hatte. Typisch war die Eroberung und Einverleibung der alten
Reichsstadt Straßburg im Jahr 1681. Sie erfolgte mitten im Frieden und nutzte
sowohl die grundsätzliche Schwäche des Reiches sowie die Regelungen des
"Westfälischen (Un-)Friedens", als auch die gleichzeitige, übrigens von Frankreich
geförderte, Bedrohung Wiens durch die Türken aus. Nicht zu vergessen ist
natürlich auch die vorübergehende Annexion der linksreihnischen Gebiete im
Zuge der Napoleonischen Kriege, wodurch beispielsweise das Gebiet meiner
Heimat von 1795 bis 1814 in ein französisches Departement verwandelt wurde.
(In der Nachfolge der Befreiungskriege und der völligen Niederlage
Napoleons rückgängig gemacht.) Man sehe sich bitte bei dieser
Gelegenheit einmal eine Karte Europas von 1812 an.
Wie immer bleibt eine Beurteilung von der eingenommenen Perspektive abhängig.
Aber für deutsche Politiker (und Kaiser) hätte jedenfalls nach 1871 die
Aufrechterhaltung der Freundschaft mit Russland, damit dieses sich nicht mit
Frankreich gegen Deutschland verbünde, evident sein müssen.
"Frankreich war durch den Krieg von 1870/71 eindeutig zur unzufriedenen
Nation geworden. Es hatte seine Irredenta, ein unerlöstes Gebiet." (Michael
Freund, "Deutsche Geschichte", Bertelsmann Verlag 1979, S. 749)
Wenn man in den Unterlagen nachliest, wie der französische Botschafter 1914 in
Petersburg den russischen Außenminister und den englischen Botschafter
bedrängt, im Schulterschluss mit Frankreich und England jetzt die Gelegenheit
zu nutzen und nur ja den Augenblick nicht vergehen zu lassen, wird deutlich wie
sehr dieses Warten Frankreich zur Qual geworden war.
"Bedeutsamer ist [...], daß der französische Botschafter in Petersburg,
Paléologue, von sich aus, ohne Instruktion seiner Regierung, dem
russischen Außenminister die unbedingte Solidarität Frankreichs (Britische
Dokumente Bd. XI., 101) zusagte. Am 25. Juli wiederholte Paléologue in
einer gemeinsamen Unterredung mit Buchanan [brit. Botschafter in
Petersburg] und Sasonow seine eigenmächtige Zusage (Britische
Dokumente Bd. XI. 125) und teilte seine Ansicht sogar dem italienischen
Botschafter in Petersburg, Carlotti, mit." (Immanuel Geiss, "Juli 1914, Die
europäische Krise und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges", dtv
Dokumente 1965, S. 147, zukünftig zit. als "Geiss")
Besonders deutlich wird das irritierend aktive Verhalten des französischen
Botschafters gleich mehrfach im Telegramm Buchanans vom 24. Juli an Grey
(B.D. Bd. XI.,101); ich möchte hier nur zwei Stellen herausgreifen:
"Nach der Sprache des französischen Botschafters, sah es fast aus, als
wären Frankreich und Russland entschlossen, feste Haltung einzunehmen,
selbst wenn wir ablehnen, uns ihnen anzuschließen. Sprache des
Aussenministers [Sasonow] war in dieser Hinsicht jedoch nicht so
entschieden.
[...]Französischer Botschafter bemerkte, französische Regierung würde
sogleich wissen wollen, ob unsere Flotte bereit sei, die ihr durch englischfranzösische Marinekonvention zugewiesene Rolle zu spielen. [Dazu hatte
der Botschafter keinen Auftrag, Anm. des engl. Herausgebers in der
Einleitung zu Britischen Dokumenten, Seite XXVI. Damit ist der Schutz der
französischen Nordseeküste durch britische Kriegsmarine gemeint;
Frankreich konnte dadurch seine Marine im Mittelmeer belassen, was
besonders wegen der unklaren Haltung Italiens wichtig war] Er vermöge
nicht zu glauben, dass England seinen beiden Freunden, die in dieser
Sache Hand in Hand gingen, nicht beistehen werde."
In Wien hatte man ja absichtlich lange gewartet, bis der ausgedehnte
Staatsbesuch des französischen Ministerpräsidenten in Petersburg endlich zu
Ende war, man roch schließlich die Gefahr. Erst als alle wieder auf der Ostsee
schipperten, übergab man die Forderungen an Serbien. Aber dieser Trick verfing
nicht. Der französische Botschafter machte in den folgenden Tagen große Politik
(s.o) und focht voll Überzeugung mit Inbrunst für sein Land, für den
europäischen Krieg.
So machte Russland am 28.Juli 1914 entgegen eigener Ankündigungen
teilmobil, obwohl Österreich noch nicht militärisch gegen Serbien vorgegangen
war. Wir erfahren wiederum in "Juli 1914" von I. Geiss auf Seite 216, dort mit
Bezug auf Fußnote 3 "Int. Bez. I, 5, 172":
"Sasonow wußte sich von Frankreich gedeckt, da der französische
Botschafter Paléologue ihm die französische Unterstützung weiterhin
versicherte, allerdings ohne von seiner Regierung dazu ermächtigt worden
zu sein."
Ich bin in diplomatischen Gepflogenheiten nicht ausreichend bewandert, um
Paléologues Verhalten abschließend beurteilen zu können - aber eigentlich darf
ein Botschafter keine große Politik machen, er muss sich im Zweifel immer unter
Vorbehalt äußern, wie es auch in vielen anderen Depeschen der Zeit deutlich
wird. Das Verhalten des französischen Botschafters in St. Petersburg darf
mindestens als sehr außergewöhnlich bezeichnet werden.
Auch der französische Generalstabschef blies, den politischen Entscheidungen
vorgreifend, ins gleiche Horn, indem er dem russischen Militärattaché am 28. Juli
versicherte (Geiss S. 217)
"die volle und lebhafte Bereitschaft (...) die Bündnispflichten getreu zu
erfüllen."
Man könnte so ewig hin und her zitieren, wer was wann gesagt hat, aber das
verwirrte eher, als das es erhellte. Die entscheidenden und zu beantwortenden
Fragen sind m. E. nur zwei:
Warum blieb der Konflikt nicht lokal begrenzt?
Warum bezog England nicht früher eindeutig Position für oder gegen die
militärische Entente?
In Berlin schwächte der Reichskanzler die kaiserliche Friedenspostille ab:
"Der Kanzler wartete mit seiner Demarche nach Wien [das Schreiben im Auftrag
des Kaisers], bis er die Nachricht von der Kriegserklärung [Österreichs an
Serbien] erhalten hatte. Außerdem fälschte er die kaiserliche Instruktion in allen
entscheidenden Punkten ab: Weder erwähnte er die zentrale Schlussfolgerung
des Kaisers, daß damit jeder Kriegsgrund entfalle, noch hielt er sich an die
übrigen Punkte." (Geiss S. 215 f)
Was Geiss hier in 1960er Jahren schrieb, ist eine doch recht einseitige
Argumentation, die nur dann schlüssig erscheint, wenn man gleichzeitig davon
ausgeht, dass Bethmann-Hollweg unbedingt den Krieg wollte. Liest man hingegen
das ganz Telegramm (D.D. Nr. 323, Bd. II Seite 38 ff), so wird darin m. E.
hauptsächlich erkennbar, dass Bethmann-Hollweg einem durch Russland
aufgezwungenen Krieg nicht unter allen Umständen ausweichen wollte.
Außerdem durchwebt eine beängstigend professorale Haltung das Telegramm, die
fatal in einem Punkt irrt: Der Reichskanzler geht am späten Abend des 28. Juli
1914 davon aus, dass eine mögliche, zum Krieg hinführende Eskalation noch
Wochen andauern wird. Er glaubt also, noch viel Zeit zu haben.
Ganz offenbar leiten ihn dabei zwei Gedanken. Erstens geht er davon aus, eine
Lokalisierung des Krieges sei möglich. Zweitens glaubt er noch zu diesem
Zeitpunkt ganz sicher davon ausgehen zu dürfen, dass ein möglicher Krieg, ein
Krieg unter Vieren, also ohne England, sein würde. Unter rationalen Aspekten
erscheint ein solcher Krieg aber wirklich unwahrscheinlich, denn ohne
England hätten Russland und Frankreich zurückgezogen. Aber
auch Deutschland hätte den Krieg ebenfalls nicht eröffnet, da der Kaiser
ohne die allgemeine Mobilmachung Russlands niemals einem Krieg
zugestimmt hätte.
Diese Annahmen verleiten Bethmann-Hollweg außerdem dazu, fälschlicherweise
zu glauben, er habe die Fäden einer Eskalation noch selbst in der Hand, könne
also noch jederzeit genug Einfluss nehmen, um einen Krieg zu verhindern. Diese
Kalkulation wird binnen 48 Stunden zu Staub zerfallen.
Sie zerfällt, wie wir sehen werden, in einem ausgeklügelten Intrigenspiel zwischen
Serbien, Russland und England auf eine Art und Weise und in einer
atemberaubenden Geschwindigkeit, wie es der deutsche Reichskanzler wohl nicht
für möglich gehalten hatte.
Dass Bethmann-Hollweg die Lokalisierung für wahrscheinlich halten durfte, lag
an der lange (bis 29. Juli) undeutlichen Haltung Greys (s.u.), an einer Äußerung
des englischen Königs vom 26. Juli, sowie an der Haltung der britischen Presse,
die, bis auf die "Times", eher auf Seiten Österreich-Ungarns stand.
Allerdings möchte ich nochmals betonen, dass, analog zur o.g. Argumentation
Burgeß', eine Lokalisierung die eigentlich logische und richtige Reaktion gewesen
wäre - der Fehler, die Schuld der Entente liegt teils darin, dies ständig und von
Anfang an als Möglichkeit direkt oder indirekt ausgeschlossen zu haben. Man
kann beispielsweise die Haltung des französischen, stellvertretenden Ministers
des Äußeren, Bienvenu-Martin (Bericht Nr. 165, Schoen an Hollweg, D.D. 350)
"Das beste Mittel zur Vermeidung eines allgemeinen Krieges sei die
Verhinderung eines lokalen."
eben dahingehend deuten. Indem diese Bindung, die automatische Eskalation,
künstlich geschaffen und zementiert wurde, wurde der "allgemeine Krieg" erst
möglich und damit auch "unvermeidlich". Das so eine Haltung es den
Österreichern ganz nebenbei verbot, ihre inneren Angelegenheiten autark zu
regeln, wird normalerweise nicht weiter beachtet oder hinterfragt.
In dieses Schema passt auch die Haltung Englands, welches diesen Konflikt auf
einer europäischen Konferenz der Mächte behandeln wollte. (Telegramme Greys
an die Vertretungen in Paris, Wien, St. Petersburg, Nisch, Berlin und Rom vom
26. Juli 1914) Gemeinhin wird dies als Friedenstaube gedeutet, beispielsweise in
dem erst kürzlich erschienenen und allgemein hoch gelobten Buch des
Engländers David Stevenson "Der Erste Weltkrieg", aber auch bei Geiss u.a. wird
dies so gedeutet. Auch Grey selbst hat schon seinerzeit deutlich zum Ausdruck
gebracht, die Ablehnung der Friedenskonferenz sei der entscheidende Fehler
gewesen. Wie wir weiter unten noch sehen werden, strickte er damit lediglich für
die Nachwelt und für die kommenden Friedensverhandlungen am eigenen
Mythos. Er konnte damit die Deutung des Ablaufs nachhaltig prägen.
Denn das Angebot der Friedenskonferenz war gleich doppelt vergiftet. Einerseits
hätte Österreich-Ungarn, wie schon gesagt, damit die - nach eigener Auffassung,
aber auch nach Auffassung Bismarcks und Alexanders II. - innerösterreichischen
Angelegenheiten nicht mehr selbst bestimmen können und damit seinen Status
als europäische Großmacht eingebüßt. Andererseits stellte Grey damit ganz
nebenbei klar, dass er dies selbstverständlich für eine ganz Europa betreffende
Angelegenheit hielt. Indem auch er dieses Junktim herstellte, trägt Grey eine
Schuld an der Eskalation. Er hätte, wollte er die Eskalation vermeiden, mit guten
Gründen auf Frankreich, auch auf Russland einwirken können, die
Doppelmonarchie machen zu lassen. Stattdessen deutete er das Dokument
Österreich-Ungarns, gemeinhin „Ultimatum“ genannt, als das „schrecklichste
Dokument“, welches je zwischen Staaten gewechselt worden sei. Allerdings
handelte es sich überhaupt nicht um ein Ultimatum sondern um eine befristete
Begehrnote. Der entscheidende und in diesem Zusammenhang äußerst wichtige
Unterschied ist, dass die Begehrnote keine automatische oder programmierte
Eskalation vorsieht. Hier fügt sich also eine Geschichtsklitterung nahtlos an die
andere. Denn in dem Moment wo jemand das „Ultimatum“ erfindet, muss er auch
die automatisierte Aggression noch zusätzlich selbst erfinden, was ja auch mit
dem erlogenen „Bombardements Belgrads“ folgerichtig geschah.
Hier sei übrigens auch angemerkt, dass moderne Publikationen gelegentlich
behaupten, in der Reaktion auf politische Morde sei man in England seinerzeit
sehr moderat gewesen und habe daher die Österreicher nicht verstehen können.
Das ist allerdings barer Unsinn, wie man aus der tatsächlichen zeitgenössischen
Reaktion auf die Ermordung eines englischen Diplomaten in Ägypten leicht
schließen kann.
Mehr erläuternde Hintergründe zu dieser angebotenen Konferenz, bzw. ganz
besonders im Hinblick auf deren Terminierung folgt weiter unten.
Im Übrigen hatte jedenfalls Deutschland auf der Konferenz nach der MarokkoKrise mit dem "europäischen Konzert" so seine ganz eigenen, schlechten
Erfahrungen gesammelt. England, in Gestalt Greys, hatte dort 1912 in einem
Geheimabkommen mit Portugal den offiziellen Inhalt des Abkommens
konterkariert, ein Vorgehen das übrigens von dem britischen Verhandlungsleiter,
dem ansonsten eher germanophoben Nicolson ("Die Verschwörung der
Diplomaten"), deutlich kritisiert wurde.
Es sei darauf hingewiesen, dass im Allgemeinen die Historiker dies alles etwas
anders sehen. Sie akzeptieren die „automatische Eskalation" klag- und
normalerweise auch fraglos, sie sagen, die gewünschte Lokalisierung sei von
Anfang
an illusorisch gewesen. Noch einmal sei daher vermerkt:
Hätte Österreich-Ungarn unterstützt von Deutschland nicht so entschieden
reagiert, wie tatsächlich geschehen, so hätten sie sich schuldig gemacht. Sie
hätten die Provokateure provoziert weiterzumachen, sie hätten den
österreichisch-ungarischen Niedergang beschleunigt und so an ihrer eigenen
Abschaffung durch Unterlassung mitgearbeitet.
Niemand konnte und kann das von diesen Mächten im Ernst erwarten. Mir bleibt
daher die vorherrschende Interpretation durch die Historiker etwas rätselhaft.
Nirgendwo habe ich gelesen, dass man von England ähnliches, also die Aufgabe
eigener Interessen, mit gleicher Selbstverständlichkeit erwartet hätte. Ein relativ
aktuelles und in diesem Zusammenhang auch erhellendes Beispiel ist der
Falklandkrieg. Selbstverständlich hat sich England damals alleine und ohne
internationale Konferenz um diese argentinische Provokation gekümmert.
Noch einmal zurück zu Greys Vorschlag einer Konferenz, den er am 26. Juli
1914 unterbreitete und der im Licht der Erkenntnisse nun viel besser zu
verstehen ist. Es ist für seine Taktik sehr wichtig, dass dieser Vorschlag zu
einem Zeitpunkt gemacht wird, an dem Bethmann-Hollweg und Kaiser
Wilhelm II. noch felsenfest von der englischen Neutralität überzeugt sind. In
diesem Glauben wurden sie von Grey und vom englischen Königshaus
absichtsvoll nicht nur belassen sondern sogar lange bestärkt.Grey war sich
sehr sicher, dass Deutschland eine Vermittlung im Rahmen einer Konferenz so
lange ablehnen würde, wie es an diese englische Neutralität glaubte. BethmannHollweg hatte sich im Verlauf seiner Kanzlerschaft mit Rücktrittsgedanken
getragen, diese aber verworfen, "weil England ihm vertraue", weil er dadurch
für den europäischen Frieden "unverzichtbar" geworden sei. Hier liegt also der
eigentliche Schlüssel zum ansonsten unverständlichen Handeln BethmannHollwegs. Aus Unkenntnis dieser Tatsache hat zumindest eine deutsche
Historikergeneration Bethmanns Handlungsweisen fälschlicherweise als aggressiv
und kriegslüstern gedeutet.
Bülow schildert diese überaus interessante Selbsteinschätzung seines
Nachfolgers auf S. 122 im 3. Band seiner "Denkwürdigkeiten" und gibt sie so
weiter, wie er selbst sie von Hans Adolf von Bülow, der seit 1912 teilweise für das
AA und damit direkt für Bethmann arbeitete, erfahren hatte. Man kann davon
ausgehen, dass dieses etwas naive Selbstbild Bethmanns den Engländern nicht
nur bekannt war, sondern dass sie auch darauf setzten. Ich bin absolut sicher,
Kanzler und Kaiser hätten dem Konferenzvorschlag zugestimmt, wenn Grey am
26. Juli bereits die neutrale Haltung Englands aufgegeben hätte. Colonel House
berichtet übrigens von einem Vorkriegsgespräch mit Grey, welches er kurz nach
seinem Berlin Besuch bei Kaiser Wilhelm II. führte, in dem der britische
Außenminister und er sich einig gewesen seien, dass, wenn es darauf ankomme,
Deutschland wahrscheinlich nicht auf den Vorschlag einer internationalen
Vermittlung eingehen werde. Im Lichte all dieser Erkenntnisse erscheint der
Konferenzvorschlag tatsächlich als ein geschickter, „gut“ getimter Bluff.
Meine Betrachtungen gelangen jetzt an einen wichtigen Kern, und ich kann Ihnen
versichern, es wird spannend!
Der deutsche Botschafter in London, Fürst Lichnowsky telegrafiert am 24. Juli
1914 an Jagow und unterrichtet ihn über eine Unterredung mit Grey. Dieser
sage:
"Die Gefahr eines europäischen Krieges sei, falls Österreich serbischen
Boden betrete, in nächste Nähe gerückt. Die Folgen eines solchen Krieges
zu vier, er [Grey] betonte ausdrücklich die Zahl vier, und meinte damit
Russland, Österreich-Ungarn, Deutschland und Frankreich, seien
vollkommen unabsehbar." (D.D. 157)
Fürst Lichnowsky war erst seit relativ kurzer Zeit Botschafter in London, Grey
und er verstanden sich gut. Wenn von ihm eine solche Einschätzung unter
Betonung der Zahl vier, also ohne England, in Berlin eintraf, so traf das bei
Jagow und Bethmann Hollweg auf weit geöffnete Ohren. Sie glaubten daraus
sicher annehmen zu können, das England nicht mitkämpfen würde. Unbeachtet
ist in der Literatur m. E. bisher geblieben, dass Kaiser Wilhelm genau hier eine
Randbemerkung machte "er vergisst Italien", woraus, neben seiner
Fehleinschätzung was Italien angeht, ganz offensichtlich hervorgeht, dass auch
Wilhelm zu diesem Zeitpunkt noch sicher davon ausgeht, England bliebe
"draußen"; ein entsprechender Zweifel ist ihm nicht mal eine Randbemerkung
wert, also nicht vorhanden. So unterschiedlich die Einschätzungen Wilhelms und
seiner Politiker sonst häufig sind (s.o.) - hier sind sie also einer Meinung. Ursache
hierfür sind in erster Linie Greys Andeutungen, auf die sie sich verlassen. Nun,
Grey ist ein außerordentlich erfahrener Außenpolitiker, er ist die graue Eminenz
auf der europäischen Bühne, keine Bemerkung entschlüpft ihm unbedacht, er
hält die Fäden in der Hand. Die deutschen Exegeten seiner Äußerungen waren
also vollkommen berechtigt, ihn beim Wort zu nehmen.
Und genau hier wird ein bislang ungenügend verfolgter Strang der
Geschichte sichtbar:
Der Schlüssel zum Frieden lag tatsächlich in England, und der Frieden
wurde zu großen Teilen in England verraten.
"Hätte, wäre, könnte" - dies sind sparsam verwendete Begriffe in der
geschichtlichen Rückschau, dennoch ist es angebracht hier einmal "hätte"
einzufügen.
Grey wusste, dass er für einen unbedingten und sofortigen Eintritt Englands in
den Krieg kämpfen würde, er hat, um dieses Ziel zu erreichen, sogar das
Parlament, welches den Kriegseinsatz befürworten musste, belogen, indem er es
nicht darüber informiert hatte, welche Garantien Deutschland Belgien und
Frankreich gegenüber angeboten hatte.
Hätte Grey den Kriegswillen Englands früher und deutlich kundgetan, Jagow und
Bethmann Hollweg dies mitgeteilt, so wäre, zu diesem Schluss komme jedenfalls
ich, der Erste Weltkrieg nicht, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht
durch diesen Anlass, ausgebrochen.
Wie sicher Bethmann Hollweg und wohl auch Jagow sich noch immer waren,
wird in den Depeschen vom 27. und 28. Juli deutlich Einerseits sendet
Lichnowsky beunruhigende Nachrichten nach Deutschland:
Grey sage, dass "die ganz serbische Frage sich auf eine Kraftprobe zwischen
Dreibund und Dreiverband" [mit Dreiverband ist die Entente gemeint]
zuspitze, und wenn Österreich plane "to crush Servia", also Serbien zu
zerschmettern, würden die Mittelmächte "England gegen sich" haben.
(D.D.265 und D.D. 279).
Bezeichnend ist die Antwort Bethmann-Hollwegs an Lichnowsky vom 28. Juli.
Aus der gesamten Depesche geht hervor, dass er ernsthaft an ein kriegerisches
Eingreifen Englands dennoch nicht glaubt, sich dies überhaupt nicht vorstellen
kann:
"Sir Edw. Grey hat ausdrücklich und wiederholt erklärt, dass ihn der
österreichisch-serbische Konflikt nichts angehe, dass er dagegen in einem
österreichisch-russischen Konflikt zu vermitteln bereit sei und dabei auf
unsere Mithilfe rechne." (D.D. 279)
Im weiteren Verlauf der oben zitierten Depesche weist Bethmann-Hollweg dann
noch korrekt darauf hin, dass Österreich-Ungarn ja gerade nicht plane, Serbien
zu zerschmettern ("to crush"), d.h. eine von Grey genannte Voraussetzung für die
Eskalation gibt es gar nicht. Etwas unklar ist weiterhin Formulierung "England
gegen uns haben". Das kann allerhand bedeuten, Seeblockade oder logistische
Unterstützung Frankreichs und Russlands, es muss nicht automatisch aktiver
Kriegseinsatz sein. Jedenfalls wäre eine klare Äußerung Greys hier sehr hilfreich
gewesen, aber diese kam offenbar nicht, sonst hätte Lichnowsky sie sicher
weitergegeben.
Ganz langsam schnürt sich jetzt aber der Knoten zu, denn nur einen Tag später,
am 29. Juli 1914 wird Grey nun doch etwas deutlicher, wählt aber, um nach
eigenen Worten "einem späteren Vorwurf der Unaufrichtigkeit vorzubeugen" (!),
den Weg einer "freundschaftlichen und privaten Mitteilung" an Fürst Lichnowsky
(D.D. 368). Er sieht "die größte Katastrophe, die die Welt je gesehen hat"
kommen. Weiterhin sagt er jetzt, England könne
"solange der Konflikt sich auf Österreich und Russland beschränke,
abseits stehen. Würden wir (mit 'wir' ist Deutschland gemeint, da Zitat
aus Bericht Lichnowskys an Jagow, Anm. von mir) aber und Frankreich
hineingezogen, so sei die Lage sofort eine andere und die britische
Regierung würde unter Umständen sich zu schnellen Entschlüssen
gedrängt sehen. In diesem Falle würde es nicht angehen, lange abseits
zu stehen und zu warten, ..."
Dies ist ein direkter Widerspruch zu Greys eigener Äußerung vom 24. Juli (s.o.),
als er ja ganz unmissverständlich von nur "vier" Kriegsteilnehmern sprach.
Obwohl sich also an der äußeren Lage scheinbar nichts geändert hatte, kommt
Grey plötzlich und aus - zunächst - völlig unerfindlichen Gründen zur
gegenteiligen Ansicht. Auf Greys wahre Beweggründe werde ich gleich zu
sprechen kommen.
Kaiser Wilhelm notiert erregt in einer Randbemerkung, dies würde einer Zusage
widersprechen, die der englische König gegenüber Wilhelms Bruder Prinz
Heinrich in den letzten Julitagen, also erst kurz zuvor gegeben hatte (D.D. 374).
Heinrich berichtet nach seiner Rückkehr aus England am 28. Juli von Kiel aus
an seinen Bruder, der englische König George habe, in einem Gespräch vom
Sonntag ( 26. Juli) folgendes wörtlich gesagt:
"we shall try all we can to keep out of this and shall remain neutral"
Außerdem berichtet Heinrich im gleichen Schreiben:
(König George)"...versicherte, er und seine Regierung würden nichts
unversucht lassen, um den Kampf zwischen Österreich und Serbien zu
lokalisieren,..."
(...) "Lichnowsky, mit dem ich noch am Sonntag [der 26. Juli 1914]
zusammen war, hat mich der loyalen und aufrichtigen Gesinnung Sir
Edward Greys, gelegentlich der augenblicklichen Krise, des neuen
versichert."
Es ist bei dieser Gelegenheit wichtig und bedeutsam darauf hinzuweisen, dass
der wichtigste und einflussreichste Berater des englischen Königs in diesen Tagen
Hardinge war. Hardinge wiederum gehörte dem inneren Kreis der "Milner Group"
an.
Mit Greys Nachricht vom 29. Juli, an einem möglichen Krieg an der Seite
Russlands und Frankreichs teilzunehmen, ist also endlich die Katze aus dem
Sack, und sofort reagiert Bethmann-Hollweg, indem er am 30. Juli eine Depesche
an Botschafter Tschirschky nach Wien sendet und darin Österreich bittet
"... die Vermittlung zu den angegebenen ehrenvollen Bedingungen
anzunehmen." (D.D. 395)
Genau dies hatte Bethmann-Hollweg kurz zuvor, im Sinne einer Lokalisierung,
noch abgelehnt. Den Grund für den Sinneswandel erklärt er kurz und knapp
selbst im gleichen Schreiben:
"...und wir 2 gegen 4 [!!!] Großmächte ständen."
Es ist schon sehr interessant, wenngleich hier noch nicht von brennendstem
Interesse, wie Bethmann-Hollweg offensichtlich die USA ganz natürlich in die
Reihe der Gegner mit einbezieht. Denn wer sonst sollte, da Bethmann-Hollweg im
gleichen Schreiben Italien und Rumänien ausschließt, der 4. Großmachtgegner
sein? Sollte dies wirklich ernst gemeint sein, wirft das allerdings schon eine Reihe
von Fragen auf - beispielsweise wieso sich der Kanzler später, aus der
Befürchtung heraus, die USA würden offen in den Krieg eintreten, so sehr gegen
den U-Bootkrieg gesperrt hat. Oder, ebenfalls eine nahe liegende Frage, wieso er
nicht noch eindeutiger versucht hat, mit allen Mitteln den Krieg noch zu
verhindern, in dem er beispielsweise klipp und klar den Österreichern den
Beistand versagt (obwohl die o.g. Depesche in dieser Hinsicht schon sehr
eindeutig klingt, allerdings in Entwürfen noch deutlicher formuliert war...).
Eine mögliche Erklärung kommt von den "House Papieren". House berichtete in
die USA natürlich auch von seinen Gesprächen mit Grey. Inzwischen weiß man,
dass seine Verschlüsselung von allen Diensten geknackt worden war. Insofern
könnte Bethmann-Hollweg von den, in einer merkwürdigen Grauzone zwischen
privat und amtlich geführten Gesprächen, und den darin getroffenen
Vereinbarungen Englands mit den USA gewusst haben.
Aber jetzt ist es praktisch schon zu spät, die Eskalation ist in Österreich wie in
Russland kaum noch aufzuhalten.
Um nun auf Greys o.g. Äußerung aus D.D. 368 zurückzukommen und damit den
Knoten endgültig zu entwirren - es ist eigentlich unverständlich, warum diese
klare Äußerung erst zu diesem späten Zeitpunkt am 29. Juli 1914 erfolgte. An
der Lage war ja nichts wesentlich neues zu erkennen. Dass Russland einerseits
eingreifen wollte und damit automatisch auch Frankreich, dass Deutschland
Österreich wiederum zur Seite stehen würde, war oft genug gesagt worden. Grey
wiederholt öfter in diesen Tagen, dass er ja nicht genau wisse, inwieweit
Frankreich sich an Russland schon gebunden habe. Allerdings wirkt dies
vorgeschoben, wenn wir etwa folgendes berücksichtigen:
Schon am 24. Juli 1914 hatte der britische Botschafter Buchanan an Grey aus
Petersburg u.a. folgendes geschrieben (Britische Dokumente XI., 215):
"Französischer Botschafter bemerkte sodann, ... er sei in der Lage, seiner
Exzellenz [Sasonow] formelle Zusicherung zu geben, dass sich Frankreich
vorbehaltlos an Seite Russlands stelle." [...] Seine Exzellenz [russischer
Außenminister Sasonow] meinte, Deutschland sei leider überzeugt, dass
es auf unsere [also die englische] Neutralität rechnen könne."
Es bleibt zunächst vollkommen unergründlich, warum allein Grey trotz dieses
Winkes mit dem Zaunpfahl durch Sasonow, der Grey ja direkt zu einer klaren
Stellungnahme auffordert, zu dieser Erkenntnis erst am 29. Juli, noch dazu im
"privaten Gespräch", gelangen sollte. Fünf Tage sind in dieser angespannten und
hektischen Situation am Vorabend des Abgrunds eine Ewigkeit.
Im Grunde hatte Grey an diesem Punkt des Geschehens luxuriöser Weise
sogar zwei verschiedene Möglichkeiten, den drohenden Krieg zu verhindern.
Beide liegen auf der Hand und beide hat er interessanterweise nicht
wahrgenommen:
Er kann erstens Russland und Frankreich gegenüber deutlich machen, dass
sich England nicht an einem Krieg beteiligen würde - dann werden diese
zurückrudern, weil sie wissen, dass sie ohne England zu schwach sein
würden.
Zweitens hätte er bei gegenteiliger Entscheidung Deutschland (und
Österreich-Ungarn) schon am 24. Juli und nicht erst am 29. Juli mitteilen
können, dass England beabsichtige, sich an einem solchen Krieg zu
beteiligen. In diesem Fall wären Deutschland und Österreich
zurückgewichen, wie es ja Bethmann-Hollweg noch am 30. Juli vergeblich
versuchen sollte.
Um meine Schlussfolgerungen durch Dokumente zu bestätigen, führe ich hier
noch zwei weitere Zitate an.
Sir Eyre Crowe, Hilfsunterstaatssekretär im britischen Außenministerium, hat
folgenden Vermerk zum o.g. Bericht Buchanans am 24. Juli 1914 gemacht:
"Frankreich und Russland sind der Ansicht ... daß die größere Frage
von Dreibund [Mittelmächte] gegen Dreiverband [die Entente] endgültig
aufgeworfen ist. Ich glaube, es wäre unklug, um nicht zu sagen
gefährlich, wenn England versuchte, dieser Meinung zu widersprechen
oder durch Vorstellungen in St. Petersburg und Paris diese klare
Sachlage zu verdunkeln."(Britische Dokumente Nr. 101)
Dieser Auffassung Crowes stimmt auch Nicolson (ständiger
Unterstaatssekretär im britischen Außenministerium), der ebenso wie Crowe
völlig frei vom Verdacht der Deutschfreundlichkeit ist, im selben Vermerk
zu.
Aber wie reagiert Grey in dieser extrem angespannten Situation auf die
Anmerkungen und Hinweise seiner Mitarbeiter?
Er vermerkt in den Akten, und dies ist wahrlich eine Sensation, weil mit dieser
Notiz die wahren Absichten Greys enthüllt werden:
"... es wäre verfrüht, Rußland und Frankreich schon jetzt eine
Erklärung abzugeben."
Es stellt sich die Frage, wieso verfrüht, auf was wollte er denn noch warten? Die
Antwort ist klar, das Abwarten und die weiterhin unklare Haltung Englands sind
eindeutig Teil eines Plans, ja, das "Warten" ist die Aktion. Indirekt geben dies
moderne Historiker auch zu, wenn davon die Rede ist, der Erste Weltkrieg sei
ausgebrochen, weil es keine gefestigten Bündnisse gegeben habe. Dieser Vorwurf
kann sich ja, betrachtet man die Angelegenheit in Ruhe, nur an England richten.
Die "politische Entente" durfte für denjenigen, der den Krieg wollte eben
nicht zu früh zu einer "militärischen Entente" erweitert werden. Dies sollte
zur Sicherstellung des Krieges und auch im Hinblick auf die später zu
stellende Kriegsschuldfrage, erst genau im "richtigen Moment" erfolgen.
Hätte Grey sich stattdessen eindeutig in irgendeine Richtung bewegt, so
wäre es nicht zum Krieg gekommen.
Welches genau das auslösende Moment für Greys Sinneswandel am 29. Juli
1914 war, wird in Kürze deutlich werden.
Das folgende Zitat soll zunächst den Umstand erhellen, dass die Haltung
Englands in der damaligen Mächtekonstellation allgemein als Ausschlaggebend
angesehen wurde. Ich wiederhole mich, aber der einzige, dem dies, jedenfalls
offiziell, entgangen zu sein scheint, ist der britische Außenminister Sir Edward
Grey.
Der amerikanische Colonel House (Colonel House, Band I, S. 255, zit. nach A.
Wegerer, "Die Widerlegung der Versailler Kriegsschuldthese", Berlin 1928, S. 221)
schrieb von einer Europareise schon am 29. Mai 1914 an seinen Präsidenten
Wilson:
"Sobald (whenever) England zustimmt (consents), werden Frankreich
und Russland über Deutschland und Österreich herfallen (close in on
Germany and Austria)." (Interessanterweise fehlt hier schon Italien, der
Mann ist also gut informiert.)
Wir sind also am Vorabend des Krieges angekommen. Zurück nach Russland, wo
am 29. und 30. Juli die Entscheidung in dramatischen Sitzungen fällt und wo
auch die Frage beantwortet werden wird, warum Grey nicht schon am 24.
sondern erst am 29. Juli 1914 deutlich wurde.
[Exkurs: Ich möchte noch auf einen Zufall hinweisen, der auch schon von
anderen bemerkt worden ist, der aber auch in eine knappe Darstellung der
Zusammenhänge um den Ersten Weltkrieg gehört.
Als am 28. Juni 1914 in Sarajewo Thronfolger und Gattin ermordet wurden,
wurde, ziemlich zeitgleich, auch ein Messerattentat auf Rasputin durchgeführt.
Rasputin hat das Attentat um 2 Jahre überlebt, bevor er durch ein weiteres
Attentat endgültig um's Leben kam. Es gibt neuere Erkenntnisse, nach denen
dieses zweite Attentat auf Rasputin unter Beteiligung des britischen
Geheimdiensts durchgeführt worden ist. England sei wegen des
friedenserhaltenden Einflusses Rasputins auf den Zaren besorgt gewesen und
befürchtete einen Sonderfrieden Russlands, den der Zar ja 1916 tatsächlich auch
anstrebte. Der nach Jahrzehnten inklusive Fotos überraschend wieder
aufgetauchte Autopsiebericht widerspricht eindeutig älteren Schilderungen des
Hergangs. Aus ihm geht der Einsatz einer großkalibrigen Pistole, wie sie der
britische Geheimdienst damals verwendete, hervor. Außerdem sind inzwischen
britische Geheimdienstberichte aufgetaucht, die die Anwesenheit mindestens
eines Agenten (wahrscheinlich waren es zwei) am fraglichen Abend sowie dessen
Mitwirkung bei der Misshandlung und Ermordung Rasputins bestätigen.
Rasputins Leiche wurde zunächst in einen Fluß geworfen. Bald darauf wurde der
Leichnam angeschwemmt und angeblich beerdigt. Nach einer Darstellung ging
die Leiche beim späteren Umbetten dann endgültig verloren. Nach neuesten
Berichten soll sie angeblich doch nach der Obduktion verbrannt worden sein,
dann würde sich die Frage nach dem Verbleib der Asche stellen. Mit diesem
Schicksal der verloren gegangenen sterblichen Überreste, steht Rasputin in einer
Reihe mit anderen Berühmtheiten, wie beispielsweise Schiller, dessen Schädel ja
unter bis heute ungeklärten Umständen heimlich durch einen "nachgebauten"
ersetzt wurde und danach irgendwann verschwand. (Wen das Thema interessiert,
kommt um das Buch "Schillers Beerdigung und die Aufsuchung und Beisetzung
seiner Gebeine, 1805, 1826, 1827, Nach Aktenstücken und authentischen
Mitteilungen aus dem Nachlasse des Hofrats und ehemaligen Bürgermeisters von
Weimar Carl Leberecht Schwabe von Dr. Julius Schwabe" nicht herum. Das Buch
aus dem Jahr 1856 existiert praktisch nur noch als unveränderter Nachdruck
aus dem Jahr 1932/36.)
Jedenfalls konnte Rasputin nach dem ersten Attentat auf ihn vom Krankenhaus
aus im Juli 1914 keinen direkten Einfluss auf den Zar ausüben, schickte aber 20
Telegramme, in denen er den Zaren eindringlich vor Krieg warnte. Er sagte darin
den Untergang Russlands und unermessliches Leid voraus. Rasputins Fehlen
machte sich vor allem am 29. und 30. Juli bemerkbar, wie wir weiter unten
sehen werden. Das letzte der 20 Telegramme soll der Zar zerrissen haben, in
diesem Telegramm heißt es:
"Ich glaube, ich hoffe auf Frieden, sie bereiten eine große Freveltat vor, wir sind
nicht die Schuldigen, ich kenne all Ihre Qualen, es ist sehr hart, dass wir uns
nicht sehen, die Umgebung hat im Herzen insgeheim davon profitiert, konnten sie
uns helfen?" (aus Henri Troyat: "Rasputin", 2002, Seite 102)
Übrigens: Das finale Attentat auf ihn selbst von 1916 sieht Rasputin voraus und
prophezeit dem Zaren, dass, wenn Verwandte des Zaren darin verwickelt seien
(wie es ja dann der Fall war), der Zar und dessen gesamte Familie in zwei Jahren
nicht mehr leben würden und dass darüber hinaus dann für 25 Jahre keine
Adligen mehr in Russland leben würden.
Wir begegnen hier übrigens nicht nur dem englischen Geheimdienst, sondern
auch jenem französischen. Botschafter Paléologue ließ Rasputin durch seinen
Geheimdienst beschatten, angeblich weil er sich über dessen Rolle nicht im
Klaren war. Woher Rasputin um seine Ermordung und die nachfolgenden
Umwälzungen in Russland wusste, muss wohl für immer unbekannt bleiben.
Vielleicht hatte er nur ein gutes Gespür, oder auch gute Quellen.
Interessant und erhellend sind diese Attentate und Todesfälle in jedem Fall: Auch
in Frankreich wurde ja der Sozialistenführer und erklärte Kriegsgegner Jean
Jaures, am 31. Juli 1914 ermordet. "Irgendjemand" wollte ganz offensichtlich die
friedliebenden und daher störenden Elemente ausschalten. Für mich
überraschend ist, dass Rasputin, den ich hier als friedenserhaltendes Element
würdige, in den englischen Geheimdienstberichten mit abgrundtiefem Hass und
dem Decknamen "dark forces" belegt wird. Der englische Spion, der Rasputin den
Schuss in die Stirn und somit die letztlich tödliche Verletzung zugefügt hatte,
berichtet, er sei niemals einem Menschen begegnet der eine solche Ausstrahlung
des Bösen gehabt habe. Wenn man sich gleichzeitig vorstellt, ohne die
Ermordung Rasputins sei das gesamte 20. Jahrhundert womöglich friedlich,
jedenfalls vollkommen anders verlaufen, so kommt man um ein paar Gedanken
zu den Schemata von "gut" und "böse" nicht herum.]
Zurück zu den "Tagesaufzeichnungen des russischen Aussenministeriums" vom
29. Juli 1914 (Russische Dokumente Reihe I, 5, 224), die sich wie ein Krimi lesen
und zusammengefaßt folgendes beinhalten:
Es wird überlegt, ob eine Teilmobilisierung, wie sie am 28. Juli vorgenommen
worden war, nur gegen Österreich-Ungarn sinnvoll sei. Der Gedanke wird
verworfen, da die Teilmobilisierung eine später eventuell im Hinblik auf
Deutschland notwendig werdende Generalmobilmachung deutlich behindern und
verzögern würde. Der deutsche Botschafter hatte zu diesem Zeitpunkt schon die
Nachricht des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg überbracht, dass von
Deutschland bei einer Generalmobilmachung Russlands sofort ein Angriff
erfolgen würde.
Kaiser Wilhelm II. und der Zar versuchen noch in einer eigenen Korrespondenz
die Eskalation zu verhindern.
Trotzdem genehmigt der Zar telefonisch am 29. Juli 1914 die
Generalmobilmachung, die verbündeten Mächte Frankreich und England
werden sofort informiert.
Beim Entschluss zur Generalmobilmachung, spielte die am 29. Juli 1914
angeblich vorgenommene Bombardierung Belgrads durch die Österreicher, wie
oben bereits erwähnt war dies eine Propagandalüge, eine entscheidende Rolle.
Gegen 11 Uhr abends aber läutet erneut das Telefon, der Zar hat befohlen die
allgemeine Mobilmachung wieder einzustellen, der Befehl zur Teilmobilisierung
wurde hingegen aufrechterhalten.
Man kommt sich vor als sei man in einem erfundenen Drama, es wird gerade der
4. Akt mit seinem retardierenden Moment gegeben.
Auch am 30. Juli (Russische Dokumente Reihe I, 5, 284) weigert sich der Zar, der
telefonisch kontaktiert wird, zunächst standhaft, die allgemeine Mobilmachung
wieder anzuordnen. Russischer Generalstab und Außenministerium sind
entsetzt. Sasonow wird, nachdem er zuvor noch ein Treffen mit dem
französischen Botschafter hatte, vom Zar um 15 Uhr empfangen. Über eine
Stunde lang versucht er, den widerstrebenden Kaiser aller Russen zur
Generalmobilmachung zu überreden. Schließlich gelingt es, der Zar gibt nach, die
Nachricht wird sofort telefonisch an den russischen Generalstab übermittelt:
"Jetzt können Sie Ihr Telefon zerbrechen!"
Mit Rasputin als weiterem Berater wäre dies anders abgelaufen. Aber von nun an
sind die Ereignisse nicht mehr zu bremsen, man könnte auch mit zynischem
Fatalismus sagen: "Der Rest ist Geschichte!", denn die Generalmobilmachung
Russlands setzte den militärischen Automatismus, der unbedingt zum großen
Krieg führen musste, unweigerlich in Gang. Dies war der letzte Mosaikstein.
Zurück nach England, wo wir jetzt das Kalkül Greys endlich durchschauen:
Wir erinnern uns, Grey hatte am 29. Juli 1914 dem deutschen Botschafter
in London die wahre Haltung Englands enthüllt, während er noch am 24.
Juli seinen Mitarbeitern bedeutet hatte, es sei noch "zu früh" für klare
Positionen und gleichzeitig Deutschland im Glauben ließ, England bliebe
neutral.
Es ist klar geworden, dass er bei diesem Timing auf die Nachricht der
Generalmobilmachung aus Petersburg vom 29. Juli reagierte. Jetzt konnte
er die Katze aus dem Sack lassen, da die Eskalation aufgrund der
militärischen Notwendigkeiten unumkehrbar geworden war.
Auf diese Nachricht hatte er gewartet, und das ist gleichzeitig die Erklärung
dafür, warum es am 24. Juli noch "zu früh" gewesen war.
Jetzt hatte Grey "seinen" Krieg, den Krieg 3 (+1, USA) gegen 2, so wie er ihn
gewollt hatte.
Mit der Zurücknahme der Generalmobilmachung durch den Zaren um 11 Uhr
abends, die übrigens in erster Linie eine Folge der Privatkorrespondenz zwischen
Kaiser und Zar gewesen war, geriet der Plan überraschenderweise, aber leider
nur vorübergehend, noch einmal ins Wanken. Und dieses Wanken ist wiederum
der Hintergrund dafür, dass Grey seine Äußerung vom 29. Juli gegenüber
Lichnowsky lediglich in die Form einer „privaten Mitteilung“ kleidet. Wäre es aus
irgendeinem unkalkulierbaren Grund trotz aller Tricks und Lügen dennoch nicht
zum Krieg gekommen, so hätte Grey immer auf den „privaten Charakter“ der
Information vom 29. Juli verweisen können.
Dass Grey 1914 ganz gezielt auf eine Eskalation zusteuerte wird anhand einer
ähnlichen Krise und deren Bewältigung im Jahr 1912 nochmals überdeutlich. Im
Gegensatz zu 1912 als Lord Haldane, das "Sprachrohr Greys", über Fürst
Lichnowsky mitteilen ließ, ein Angriff des Deutschen Reiches auf Frankreich
würde automatisch ein Eingreifen Englands zur Folge haben, weil England in
diesem Fall um das europäische Gleichgewicht besorgt sei, streute, wie wir
gesehen haben, 1914 England Deutschland Sand in die Augen und eine
vergleichbar direkte Warnung kam dann erst sehr spät, zu spät. (Siehe auch FAZ
vom 7.12.2012: „Je eher, je besser“, meinte Moltke Wegmarken der Geschichte
1912) Dies ist umso erstaunlicher, weil die Situation von 1914 im Verhältnis zu
1912 noch kritischer war. Und Bethmann Hollweg ist all dem auf den Leim
gegangen, weil er sich ja gerade auf seine Politik gegenüber England viel zu gute
hielt.
Gleichzeitig ist es dem englischen Außenminister Edward Grey aber in der
Eskalation der Juli Krise gelungen, in Frankreich und Russland den sicheren
Eindruck zu hinterlassen, England würde diesen Ländern letztlich beistehen, so
wie es die vereinbarten Militärkonventionen auch nahelegten. Man kann diesem
"meisterlichen" Doppelspiel Greys durchaus Bewunderung zollen, allerdings sollte
man die Folgen seines Tuns und Lassens dabei niemals vergessen.
Warum wollte Grey 1914 einen Krieg, den er 1912 noch unbedingt zu
vermeiden suchte?
Eine einfache Erklärung wäre die "Haldanesche Heeresreform", die zwar schon
1908 in Angriff genommen allerdings 1912 noch nicht abgeschlossen war. Für ein
Eingreifen mit Bodentruppen in Frankreich war England 1912 einfach noch nicht
ausreichend gerüstet. Gegen eine solch einfache Annahme spricht aber die
Tatsache, dass sich England schon 1911 gegenüber Frankreich zur Entsendung
von 6 Heeresdivisionen verpflichtet hatte.
Tatsächlich werden wir an diesem Punkt der Analyse wieder auf Teil I
meines kleinen Beitrags zur Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges
zurückgeworfen. Im Jahr 1912 stand die anglo-amerikanische Allianz noch
nicht. Es gab noch viel zu klären im Verhältnis zur USA. Die Problemfelder
Mexiko und Japan waren ebenso wenig abgearbeitet wie die Panamakanal
Zoll Frage. Auch wurde der Kanal, der bei einer Ausdehnung des Krieges auf
den pazifischen Raum eine nicht zu überschätzende Rolle gespielt hätte,
erst am 15. August 1914 eröffnet.
Vor allem aber gilt: Wenn 1912 ein großer europäischer Krieg ausgebrochen
wäre, so hätte England sich nicht der Unterstützung der USA sicher sein
können. Dieses Risiko wollte Grey selbstverständlich nicht eingehen, zumal
der Kriegsverlauf gezeigt hat, dass ohne die massive Unterstützung der USA
das Deutsche Reich den WK I praktisch im Alleingang gewonnen hätte.
Wenn meine Vermutungen zutreffen, so hat Grey die Zusicherung der US
Unterstützung für einen "europäischen Weltkrieg" bei einem Frühstück am
3.7.1913 durch House erhalten: "Wilson might render Britain a very great
service, should Germany assail the Triple Entente." (Wise S. 140)
Diesen Satz kann man geradezu als Einladung zum Kriegführen ansehen.
Für den Ausbruch des WK I waren alle diese geschilderten Umstände notwendige
Voraussetzung. Der europäische Eskalationsfahrplan musste ebenso minutiös
eingehalten werden, wie zuvor die internationalen Absprachen mit den USA. So
selbstverständlich wie allgemein häufig behauptet war der Ausbruch des WK I
nämlich nicht. Es bedurfte ausgesprochener Tricks und Lügen, vor allem in
Belgrad und Petersburg, sowie der unglaublichen Kaltschnäuzigkeit Londons.
Alle anderen Länder erscheinen als notwendiges Beiwerk, als willige Statisten.
Ich muss gestehen, dass ich, als mir irgendwann diese Zusammenhänge klar
wurden, regelrecht schockiert war. Und obwohl alles so offensichtlich ist, finde
ich nirgendwo eine klare und unmissverständliche Feststellung dieses
Sachverhalts. Neben der bewussten Steuerung und Ausnutzung der bestehenden
Eskalationen durch Grey, ist dies ein weiterer Skandal. Man wirft sich in England
wohl noch heute in die Brust nach dem Motto – „ja wir haben den Krieg
bekommen, den wir gewollt haben, ihr wolltet den Krieg nur gegen zwei“. Dabei
übersieht man lediglich die Kleinigkeit, dass dieser Krieg gegen zwei gar nicht
stattgefunden hätte. Und ganz nebenbei wird deutlich, wie beispielsweise Dieter
Hoffmann mit seinem o.g. Buch "Der Sprung ins Dunkle" an einem Nebengleis
operiert.
Greys Handlungen geben tatsächlich nur dann einen Sinn, wenn er den Krieg
wirklich wollte.
Ein kurzes Zitat soll an dieser Stelle erhellen, wieso ich mich - bei allem
gebotenen Respekt vor der aufopfernden Detailarbeit von Historikern - manchmal
doch ein wenig über sie ärgere: "Die britische Politik trat erst in den letzten
Julitagen aus ihrer vornehmen Zurückhaltung gegenüber Deutschland heraus."
(Geiss, "Juli 1914", S. 273) Ja, so kann man das natürlich auch formulieren.
Aber erklärbar ist diese Deutung nur aus einem "historischen Kontext" heraus,
auch Historiker arbeiten ja nicht im luftleeren Raum.
Auch in dem Buch "The Sleepwalkers" von Christopher Clark aus dem Jahr
2009, das ja offenbar gewaltige Schritte in die richtige Richtung geht, ist, wie
allein der Titel des Buches schon ausdrückt, dieses planvolle Vorgehen Englands
wohl noch nicht ausführlich genug gewürdigt. Es war ja gerade das Gegenteil von
"Schlafwandeln".
Sehr häufig, beginnend mit dem Nestor der deutschen Historiker Gerhard Ritter,
ist vom englischen Parlamentarismus die Rede. Oft wird dieser sowohl als
überlegene wie auch überlegende Staatsform gepriesen und dem in Deutschland
angeblich so blühenden preußischen Militarismus gegenübergestellt.
Belgien
Obwohl die Dinge an diesem Punkt meiner Betrachtungen eigentlich schon klar,
sogar überdeutlich geworden sind, kann es nicht schaden, sich auch noch mit
Belgien zu beschäftigen. Wir werden sehen, dass die korrekte Betrachtung
„Belgien-Frage“ meine Schlussfolgerunge weiter untermauert.
Das parlamentarische System an sich hat seine unbestrittenen Vorteile, und ich
bin froh in einem Land mit Parlament zu leben. Aber es findet seine natürlichen
Grenzen, bei den ihm zugänglichen Informationen. Ein Parlament kann nur so
viel Wert sein, wie die Informationen, die es zu seinem Ratschluss erhält. Sind die
Informationen unvollständig, oder falsch, so kann das Parlament seiner
eigentlichen Aufgabe nicht nachkommen und muss notwendig auf falscher Basis
auch falsche Entscheidungen treffen.
So geschehen in England zum Kriegsauftakt.
Nachdem die europäische Eskalation so weit gediehen war, wie weiter oben
geschildert, musste in England endgültig eine Entscheidung darüber fallen, ob
man sich an diesem Krieg beteiligen wollte oder nicht. Wie ebenfalls schon
geschildert, wäre es zur Vermeidung des Krieges sehr viel besser gewesen, früher
Position - und zwar irgendeine - zu beziehen.
Eigentlich war die englische öffentliche Meinung eher gegen eine Beteiligung. Für
Serbien, irgendwo am anderen Ende Europas, wollte man eigene Soldaten nicht
auf den Schlachtfeldern verbluten lassen.
Aber da gab es ja noch ein sehr viel näher liegendes Land, ein Land dessen Küste
der eigenen direkt gegenüber lag. Die Rede ist von Belgien.
Als nun Deutschland, dem alten, von Moltke weiter entwickelten Schlieffen Plan,
folgend, in Belgien einmarschierte, um über diesen Umweg Frankreich
anzugreifen, da fühlte man in England eine unmittelbare Bedrohung. Belgiens
Küste in deutscher Hand, Alarm!
Nun ist es an der Zeit ein kleines Geheimnis hier zu lüften. Ein Geheimnis,
welches recht eigentlich keines ist und nur durch beständiges Verdrängen und
Nichtbeachten zu einem geworden ist:
Die Engländer, Belgier und Franzosen kannten den "geheimen" deutschen
Plan - nämlich durch Belgien vorzugehen - seit langem.
Durch dieses pikante Detail bekommt die ganze Geschichte natürlich eine andere
Wendung. Wenn Grey also wusste, was kommen würde, so brauchte er nur auf
diesen Moment zu warten und er hatte die Zustimmung des Parlaments so gut
wie sicher.
Jetzt wird offensichtlich, warum Grey die Frage nicht früher auf die
Tagesordnung bringen wollte - ohne "Belgien" keine englische Kriegsbeteiligung,
keine Zustimmung des Parlaments. Aber es gilt nicht aus dem Blick zu verlieren,
was schon gezeigt wurde: Bei angekündigter englischer Neutralität gibt es
ebenfalls keinen Krieg!
Auch an diesem Detail zeigt sich deutlich, wie Grey diesen Krieg wollte und wie er
die Möglichkeit ergriff, ihn auch zu bekommen.
Das Parlament ist von Grey in mehrfacher Hinsicht getäuscht worden. Er
informierte erstens nicht über das deutsche Angebot, Frankreich und Belgien in
ihrer territorialen Integrität nach einem Friedensschluss zu erhalten (Goschen an
Grey, 29. Juli 1914, B.D. 293 sowie Erlass Jagows an Below, D.D. 376), weil das
Parlament unter diesen Bedingungen vielleicht zögerlich geworden wäre.
Schwerer noch als diese Unterlassung wiegt zweitens das Verschweigen der
deutschen Offensivpläne Belgien betreffend, die Grey ja seit langem bekannt
waren, gegenüber dem Parlament. Sie erinnern sich vielleicht an meine frühere
Bemerkung in Kapitel 5 zu James Bryce. Aus seinem oben zitierten Brief an Elihu
Root (Ions, S. 248) geht eindeutig hervor, dass selbst das Kabinett nichts von der
bevorstehenden Invasion Belgiens durch Deutschland wusste, sondern im
Gegenteil vollkommen davon überrascht war. Grey hat also sogar gegenüber dem
Kabinett eine geheime Politik betrieben.
Michael Freund schreibt in seinem Werk "Deutsche Geschichte" lapidar auf den
Seiten 872 und 874 die Tatsache hinein, dass England von diesen Plänen schon
lange wußte. (Leider gibt er dabei keine Quelle für diese Information an.)
In einem Antworttelegram schreibt Reichskanzler Bülow an Kaiser Wilhelm, der
am 30. Juli 1905 prinzipiell den Schlieffen-Plan skizziert hatte:
"Was Eure Majestät über Belgien sagen, trifft den Nagel auf den Kopf. Alles
kommt darauf an, daß die Belgier vorher nicht ahnen, daß wir sie
eintretendenfalls vor ein solches aut - aut (entweder - oder, Anm. von mir)
stellen wollen."
Und Freund ergänzt unmittelbar:
"Aber Engländer und Belgier ahnten den Schlieffenplan nicht nur, sie
kannten ihn"(Freund, S. 872)
Ich habe weiter oben schon darauf hingewiesen, dass zwischen 1905 und 1914
ein ganz wichtiger Unterschied besteht. Die belgische Neutralität sollte
ursprünglich nur verletzt werden, wenn England Deutschland zuvor, de jure oder
de facto, den Krieg erklärt hätte. Man kann also hier keinen Automatismus
feststellen, der geradewegs zu 1914 führt. Insofern greift die nachfolgende
Interpretation von Michael Freund etwas zu kurz, der genau diese
Unterscheidung nicht sieht.
"Der neue Außenminister Großbrittanniens, Sir Edward Grey [seit 1905],
setzte seine Außenpolitik auf den Schlieffenplan, den die britische
Regierung rasch [1905 oder 1906] erfahren hatte. [...] Er verließ sich allein
darauf, daß die Deutschen durch Belgien marschieren würden. [...] In der
entscheidenden Stunde hatte Grey nur darauf zu warten, daß das Reich in
seine eigene Falle [Freund meint hier, Deutschland habe sich die Falle
selbst gestellt] ging." (Freund, S. 874)
Freund hat Grey also durchschaut, aber er verzichtet darauf, aus der
gewonnenen Erkenntnis besondere Schlüsse zu ziehen. Für Freund ist dies alles
normale, englische Machtpolitik, England habe immer die gerade auf dem
Kontinent stärkste Nation zum Feind gehabt, diesmal sei es eben Deutschland
gewesen. Den Parlamentsbetrug oder die Kriegsschuldfrage thematisiert Freund
in diesem Zusammenhang nicht, für ihn ist Deutschland schuld, weil es eben so
dumm gewesen sei, sich Britannien zum Feind zu machen, bzw. - was
gleichbedeutend sei - auf dem Kontinent die "Nummer Eins" zu werden.
Es ist die gewöhnlich bei beinahe allen Historikern zu beobachtende
Verhaltensweise, wenn es um England geht. England ist sakrosankt, über
Englands Machtanspruch wird nicht diskutiert. Nach Freund war Deutschland in
der Situation vor dem Ersten Weltkrieg eben dabei, auf dem Kontinent endgültig
die vorherrschende Macht zu werden, dies konnte und wollte England aber nicht
akzeptieren und musste daher im Krieg mitkämpfen. Eventuell daraus
resultierende Verantwortlichkeiten oder eine britische Mitschuld werden nicht
diskutiert. Das ist umso erstaunlicher, weil ja gerade die machtvollste
Komponente in einem Streitfall die größte Handlungsvollmacht hat.
Nur in der amerikanischen Ausgabe des Buches "Hitler born at Versailles" von
Leon Degrelle (erschienen beim amerikanischen "Institute for Historical Review"
1987) findet man auf Seite 111 den Hinweis auf einen Verräter, der 1906 den
Schlieffen-Plan für 60000 Francs an die Franzosen weitergegeben habe. Ob diese
Information zutrifft, kann ich nicht sagen, zumal Degrelle in diesem
Zusammenhang auch behauptet, die Franzosen hätten dem Plan keine
Bedeutung zugemessen und ihn in der Schublade verschwinden lassen. An
gleicher Stelle, S. 112, behauptet Degrelle auch, in Berlin habe damals "niemand"
von dem geheimen Plan gewußt. Die erste Behauptung ist unrealistisch, die
zweite falsch. (In der deutschen Ausgabe des gleichen Buches "Hitler Geboren in
Versailles", Grabert 1992, fehlt dieser Hinweis. Außerdem ist Degrelle als
notorischer Faschist und ehemaliger SS Offizier nicht vom Verdacht frei, in
eigener Sache zu des-informieren. Trotzdem würde ich seine Informationen nicht
von vorneherein als falsch ablehnen, sondern sie jeweils einer gezielten Kontrolle
unterziehen.)
Ludendorff vermutet, wie er in seinem "Mein militärischer Werdegang" schreibt,
allerdings nur ganz allgemein und ohne direkten Bezug zum Schlieffen-Plan,
einen Verräter im Stab. Er hat auch einen Offizier im Auge, der angeblich 1906
aus dem Stab schied, nach Paris ging und 1914 wieder zum Stab zurückkehrte.
Dass es Verräter in der Wilhemstraße selbst gegeben haben muss, ist allerdings
belegt. So sind etwa Inhalte höchst geheimer Gespräche des Admirals Tirpitz, in
denen es um die U-Boot Frage ging, direkt zur Kenntnis der Alliierten, namentlich
der USA, gelangt.
Wir können die Kenntnis, dass England um den Schlieffenplan wusste, aber auch
aus einem Vermerk, den der schon erwähnte Crowe zum oben bereits genannten
Telegramm B.D. 293 gemacht hat, indirekt schließen. Crowe schreibt:
"Nebenbei ist es von Interesse, festzuhalten, dass Deutschland eigentlich
die Absicht zugibt, belgische Neutralität zu verletzen, aber bestrebt sein
wird, diejenige Hollands zu achten (um deutsche Einfuhr via Rhein und
Rotterdam zu sichern)"
Kann der Anfang von Crowes Äußerung noch einem blendenden Intellekt
entsprungen sein, wobei dann allerdings der Tonfall zu nüchtern und
unaufgeregt wäre, so ist was er in Klammern setzt exakt das, was Moltke zu
diesem Punkt Jahre zuvor gesagt hatte. Nach Schlieffen sollte neben der
belgischen ja auch die niederländische Neutralität verletzt werden. Aber Moltke
hatte dies abgelehnt und die Planungen mit der Begründung "weil wir Holland
zum Atmen brauchen" entsprechend geändert.
Es ist auch heute noch nachgeradezu beängstigend, wie genau die Engländer
darüber offenbar bescheid wussten, ohne dass die Deutschen etwas davon
ahnten. Und "atmen lassen", also Handel treiben und Nachschub sichern, hat
man dann Deutschland durch die weite Seeblockade sowieso nicht. Naiverweise
rechnete die deutsche Admiralität eher mit einer engen Blockade, weil ja eine
weite Blockade gegen das geltende Recht verstoßen würde.
Falls es immer noch Zweifel an der frühen Kenntnis des Schlieffen Planes in
England geben sollte, es gibt noch einen weiteren Zeugen, der sich ein wenig
verplappert hat. In dem schon früher erwähnten Buch von Captain Wright "Wie
es wirklich war. Im obersten Kriegsrat der Alliierten!" (Verlag für Kulturpolitik
München 1922, Original:
Wright, Captain Peter E.. At the Supreme War Council. New York and London: G.
P. Putnam's Sons, 1921.First Edition) schreibt dieser auf S. 30 f.:
"Vor dem Kriege war der Leiter der Operationsabteilung im britischen
Generalstab Sir Henry Wilson gewesen, und bei einem natürlichen Verlauf
der Ereignisse hätte ... der Posten des Generalstabschefs Wilson zufallen
müssen. (...) Sir Henry hatte den Weltkrieg seit Jahren prophezeit. Er hatte
lange vor Kriegsausbruch den Kriegsschauplatz Meter für Meter mit dem
Fahrrad bereist und zum Beispiel die Quartiere unserer Obersten
Heeresleitung während des Rückzuges von Mons im Voraus bestimmt, als
noch kein Mensch an den Weltkrieg dachte."
Besagter Sir Wilson war bestimmt ein kluger Kopf, aber den genauen
Kriegsschauplatz konnte er wirklich nur dann wissen, wenn er die deutschen
Aufmarschpläne kannte.
Aber wir können bezüglich Belgien auch ganz einfach bei Grey selbst nachlesen,
jedenfalls indirekt, wenn wir in das Telegramm Paul Cambons an Viviani (zit.
nach dem eben noch gescholtenen I. Geiss, "Juli 1914" S. 333 f.) studieren, wo
Cambon am 31. Juli 1914 wiedergibt, was Grey zu ihm gesagt hat:
"Schliesslich wolle man noch ein neues Ereignis abwarten, da sich der
Konflikt zwischen Russland, Österreich und Deutschland auf eine Frage
beziehe, an der Großbritannien nicht interessiert sei."
Dieses neue Ereignis ist natürlich der Einmarsch deutscher Truppen in Belgien,
von dem Grey sicher ist, dass er kommen wird, er muss nur abwarten. Im
gleichen Telegramm heißt es zuvor auch:
"Er (Anm.: Grey) erwiderte mir, das Kabinett habe die Situation geprüft und
sei der Auffassung, dass die britische Regierung uns im Augenblick ihre
Interverntion nicht garantieren könne, dass es die Absicht habe, sich von
Deutschland und Frankreich das Versprechen geben zu lassen, die
belgische Neutralität zu respektieren, dass es aber, um eine Intervention
ins Auge zu fassen, nötig sei, die Entwicklung der Situation abzuwarten."
Tatsächlich hat England von Frankreich und Deutschland diese Erklärung zur
Respektierung der Neutralität Belgiens verlangt und von Frankreich
selbstverständlich sofort bestätigt bekommen, von Deutschland hingegen nur
eine unklare Antwort erhalten.
Was oberflächlich betrachtet, wie neutrales, den Frieden
erhaltendes Agieren Englands anmutet, wird bei Kenntnis der
Zusammenhänge zum abgekarteten Spiel. Nur zur Erinnerung: Die "Belgien
Karte" nur wenige Tage vorher gezogen, bedeutet: Kein WK I. Auch 1912
hatte Grey sich nicht gescheut, Deutschland vor einem „Angriff auf
Frankreich“ zu warnen. Er wusste auch damals schon, dass ein solcher
Angriff über Belgien erfolgen würde. Dieser Hinweis auf 1912 ist wichtig,
weil er einen Weg aufzeigt, Deutschland klar zu warnen, ohne dabei den
eigenen Kenntnisstand zu „Belgien“ und dem Schlieffen-Plan zu verraten.
Dabei ist unerheblich, ob P. Cambon vom zu erwartenden Einmarsch deutscher
Truppen in Belgien persönlich wusste oder nicht - es genügte, die Botschaft zu
überbringen. Da Cambon aber in England immer verzweifelter agierte und sich
einmal sogar weigerte, eine bestimmte Nachricht Greys zu seiner Regierung nach
Frankreich zu übermitteln, kann man davon ausgehen, dass er nicht eingeweiht
war. Cambon ist wahrscheinlich aufrichtig bemüht gewesen, die Eskalation
zum Krieg zu verhindern oder jedenfalls England sicher an der Seite Frankreichs
zu wissen. Daher kann er nicht begreifen, wieso Grey so zögerlich taktiert und
erinnert, wie er im schon zitierten Telegramm berichtet, Grey daran, dass
Englands zögerliche Haltung 1870 schon ein großer Fehler gewesen sei und
England soeben dabei wäre, diesen Fehler zu wiederholen. Cambon begreift nicht,
dass Grey alles daran setzt, die "große Lösung" zu erhalten und so den "Fehler
von 1870" nicht nur nicht zu wiederholen, sondern mindestens auszubügeln.
Deutschland soll wieder zurückgestutzt werden auf den Stand von vor 1870/71,
oder gar, wie es in späteren Vorschlägen heißen wird, auf Grenzverläufe vor den
Schlesischen Kriegen (also ab 1740) und vor der Teilung Polens von 1772!
[Exkurs: Die genauen Friedensfühler und Anläufe zu Friedensgesprächen hat in
unglaublich detailreicher und inhaltlich brillanter Arbeit der im Jahr 2004
verstorbene und weiter oben schon erwähnte Wolfgang Steglich untersucht. Sein
Band 4 aus dem Jahr 1984 beschreibt die Friedensanbahnungen nur im Sommer
und Herbst 1917 und kommt trotzdem auf etwas mehr als 700 Seiten. Dabei
gelangt er, teils in Erstauswertung von Dokumenten, zu mitunter
staunenswerten Ergebnissen. Literaturhinweis: "Quellen zu den
Friedensversuchen des Ersten Weltkrieges", Band 4, "Die Friedensversuche der
Kriegführenden Mächte im Sommer und Herbst 1917". Die o.g. Vorschläge für
neue Grenzen, die einen Sonderfrieden mit Österreich-Ungarn ermöglichen
sollten, überbrachte Graf Armand in englischem und französischem Auftrag am
7.8.1917. Sie werden von Steglich auf S. XXXIII behandelt und auf S. 46 zitiert.
Unter Punkt 3 heißt es dort wörtlich "Il sera attribué à la monarchie des
Habsbourgs: a) la Pologne restituée dans ses limites au moment du partage de
1772; b) le royaume de Bavière; la Silésie dans les limites au moment de la
cession à Frédéric II." Und unter Punkt 4: "La Silésie fera partie des Etats
héréditaires autrichiens. La Pologne e la Bavière entreront dans la Fédération des
Etats que l'empereur d'Autriche exprime l'intention de former." Dies klingt so
unwahrscheinlich, dass ich es lieber wörtlich zitiert habe, sonst glaubt es am
Ende niemand. Übersetzung [von mir]etwa, Punkt 3: Angegliedert an die
Habsburger Monarchie wird a) Polen in den Grenzen vor 1772 b) das Königreich
Bayern c) Schlesien in den Grenzen vor der Teilung durch Friedrich II. Schlesien
wird erblicher Bestandteil Österreichs. Punkt 4: Polen und Bayern gliedert der
Österreichische Kaiser nach seinem Ermessen in die Föderation ein.]
[Exkurs: Was trieb Edward Grey wirklich an? Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich
zwar nur vermuten, dass er einen gewissen Kontakt zur "Milner Group" hatte.
Allerdings steht fest, dass auch Grey die Anglo-Amerikanischen Allianz mit all
ihren Vorbedingungen und Konsequenzen unbedingt wollte.
"These confidential briefings [1909] from Hardinge [einem hohen Mitglied der
"Milner Group"] served to remind Bryce, if that were necessary, of the importance
of his mission in North America. Further notes from Edward Grey continually
stressed the extreme importance of preserving Anglo-America accord at all costs:"
(Ions, S. 217)
Außerdem gilt was Quigley auf S. 26 seines "Establishment" Buches zur
Charakrerisierung Greys notiert: "The four leaders of the Liberal Party after
Gladstone [...] were strong imperialists: Rosebery, Asquith, Edward Grey, and
Haldane."
Trotzdem, als es absehbarerweise "wirklich drauf an kam", führte eine trickreiche
Hintergrund-Regie im Dezember 1916 zur Ablösung von Asquith und somit auch
der von Edward Grey als englischem Außenminister. Für das Jahr 1917 standen
ja auch große Pläne an, wie wir weiter unten noch erfahren werden. Laut Carroll
Quigley übernahm die "Milner Group", die bis dahin nur im Hintergrund gwirkt
hatte nun offiziell das Kommando, indem sie einem zuvor einfachen
Kabinettmitglied - Lloyd George - für den Fall der Zusammenarbeit und der
Mitwirkung den zukünftigen Chefposten zusicherte. Der Coup gelang, aber Lloyd
George durfte nachfolgend eher präsidieren denn regieren:
"Milner and his group dominated Lloyd George during the period from 1917 to
1921" (Quigley, Establishment, S.119)]
Außerdem installierte die "Milner Group" bei dieser Gelegenheit mit Arthur
Balfour einen Mann aus den eigenen Reihen als Außenminister.]
Natürlich ist es unter bestimmten Umständen nicht wirklich "verboten", einen
Krieg zu wollen und zu fördern. Auch Frankreich und Russland haben dies, wie
wir gesehen haben, getan. Aber was sehr bedenklich ist und schließlich das
gesamte 20. Jahrhundert in einem anderen Licht erscheinen lässt - alle drei
haben ihre aktive Beteiligung am Zustandekommen des Krieges anschließend
geleugnet, besonders England hat dies von Anfang an besonders geschickt getan.
Von den USA erst gar nicht zu reden.
England hat immer seine Hände in Unschuld gewaschen, dabei ist Englands
Beteiligung offensichtlich, sein Schuldanteil enorm groß und, was vielleicht am
irritierendsten ist, während alle anderen in zunehmender Panik agierten, behielt
England in Gestalt Greys kühlen Kopf. Seine Handlungen wirken wie Schritte
und Bewegungen aus der Choreographie eines klassischen Balletts, so sicher und
zielstrebig sind sie geführt. Und wie Hohn klingen die schon oben zitierten Worte,
die Prinz Heinrich am 28. Juli 1914 naiv und in völliger Missdeutung der
Situation an seinen Bruder Kaiser Wilhelm schrieb:
"Lichnowsky, mit dem ich noch am Sonntag (26. Juli 1914, Anm. von mir)
zusammen war, hat mich der loyalen und aufrichtigen Gesinnung Sir
Edward Greys, gelegentlich der augenblicklichen Krise, des neuen
versichert." (D.D. Nr. 374)
Neben England erscheinen die übrigen Mitwirkenden ferngesteuert, blass,
sekundär. Der Schweiß auf der Stirn des Kaisers und des Zaren, angetreten um
diesen Kampf doch gerade noch zu verhindern, bekommt einen fahlen Farbton,
wie er gelegentlich bei einer Szenerie des Theaters durch spezielles Licht der
Scheinwerfer absichtlich hervorgerufen wird. Sie sind tragische Helden in einem
Theaterstück, Laiendarsteller, dabei dachten sie eben noch im Zentrum ihrer
Völker schicksalsschwer zustehen.
"Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig." (Kurt
Tucholsky) So ging es den besiegten Deutschen nach dem verlorenen Krieg, sie
spürten, dass sie ungerecht behandelt wurden, indem ihnen die gesamte Last der
Schuld aufgebürdet wurde. Aber der Einzige, der trotz allem vielleicht für so
etwas ähnliches wie Gerechtigkeit hätte sorgen können , Präsident Wilson,
entschwand enttäuscht über die Versailler "Verhandlungen" (in
Anführungszeichen, weil es für die Deutschen absolut nichts zu verhandeln gab)
wieder über den Teich, ohne den Vertrag unterschrieben zu haben.
Wilson scheint aber wohl darüber hinaus gegen Ende seiner zweiten
Präsidentschaft allmählich begriffen zu haben, wie sehr auch er lediglich benutzt
worden war und welchen Interessen er wirklich diente.
Und so bleibt im Herzen Europas ein getäuschtes und enttäuschtes, ein
traumatisiertes Volk zurück, welches zu allem Überfluss auch noch groß und
kräftig genug bleibt, um schon 20 Jahre später wieder einen Krieg zu führen. Zu
manchen Anlässen wird es sogar "gefüttert". So schreibt C. Quigley in "Tragedy
and Hope" von einem Kredit über eine Milliarde Pfund, den Hitler gerüchteweise
von England kurz vor dem Angriff auf Polen erhalten haben soll:
"There was a talk of a British loan to Poland of 100 million pounds in May; on
August 1st Poland finally got a credit for $ 8,163,300 at a time when all London
was buzzing about a secret loan of 1,000,000,000 pounds from Britain to
Germany." (Quigley, "Tragedy and Hope", S. 650)
Fest steht jedenfalls, dass Hitler-Deutschland von der Bank of England
tschechisches Gold im Wert von 6 Millionen Pfund bekam:
"Moreover, 6,000,000 Pound in Czech gold reserves in London were turned over
to Germany with the puny, and untrue, excuse that the british government could
not give orders to the Bank of England (May 1939)." (Quigley, "Tragedy and
Hope", S. 644)
[Anmerkung: Im August 2013 stand in der FAZ ein großer Artikel ("Hitlers willige
Überweiser", Seite 5 der Ausgabe vom 1. August 2013), der sich genau auf jene
Vorgänge um das tschechische Gold bezog. Tenor, man habe nun, im Jahr 2013
durch die Offenlegung geheimer Papiere der Bank of England die Möglichkeit,
diese Dinge endlich nachzuvollziehen. Quigleys Schilderungen weichen allerdings
nur in Details von der aktuellen FAZ-Version ab. Man erkennt daran, wie gut
Quigleys Recherchen und Quellen waren und wie weit seine Erkenntnisse schon
im Jahr 1966 gedeihen konnten.]
A. Sutton hat in "Wall Street and the Rise of Hitler" erhebliche Zahlungen mit
Belegen nachgewiesen, die vor allem über us-amerikanisch-deutsche Firmen
abliefen und die den Aufstieg Hitlers erst ermöglichten.
Zum zweiten Weltkrieg, aber das ist dann ein anderes, ein neues Thema, wäre es
ohne "Versailles", ohne den verlogenen Umgang mit der Wahrheit, nicht
gekommen. Und noch etwas ist traurige Wahrheit, die hier angeführt werden
muss, ohne dass damit die unmittelbaren Verantwortlichkeiten für die Nazi
Gräueltaten verschoben werden dürfen: Ohne dieses "Versailles" auch kein
Nazi Regime.
Die Welt hat England, hat Sir Edward Grey tatsächlich viel zu verdanken:
Millionen von Toten auf den Schlachtfeldern der Weltkriege. Ohne den britischen
Masterplan zum Ersten Weltkrieg wäre im August 1914 lediglich Belgrad durch
die Österreicher besetzt und nach höchstens ein bis zwei Jahren wieder geräumt
worden. Inwiefern Grey selbst „das ganz große Spiel“ zu hundert Prozent
durchschaute muss trotzdem letztlich offen bleiben. Auffallend ist jedenfalls der
Umstand, dass die Asquith Regierung im Dezember 1916 gestürzt wurde. Damit
trat auch der 1914 erblindete Grey von der politischen Bühne ab. An seine Stelle
trat Balfour, an die Stelle Asquiths Lloyd George.
Es wäre an der Zeit bald 100 Jahre danach, 2014 ist nicht mehr weit, dieser
historischen Wahrheit ohne Rache und "Revision", aber gelassen und mit
Gleichmut ins Auge zu sehen. Dies wären wir allen Opfern der Kriege schuldig, ja
es ist geradezu unsere Pflicht und das wenigste, was wir Nachgeborenen tun
können. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass die Soldaten aller Länder fast immer
voller Überzeugung für ihr jeweiliges Vaterland in den Krieg gezogen sind. Ihre
Naivität wurde schamlos von einer kleinen, elitären Gruppe für ihre arkanen Ziele
benutzt. Die aufopferungsvollen Taten der Soldaten verdienen unseren Respekt,
unabhängig von ihrer jeweiligen Nationalität - jedenfalls solange sie nicht in
Greueltaten und Kriegsverbrechen ausuferten.
Es sei weiterhin für alle Anlass genug, darüber nachzudenken, inwieweit die hier
aufgezeigten Strukturen, Verhaltens- und Denkmuster auch heute noch im
Einsatz sein könnten und wie wir aus der Analyse dieser Dinge der "heutigen
Wahrheit" eventuell näher kommen können. Im Besitz der "heute aktuellen
Wahrheit" zu sein, ist wichtiger, als die Wahrheit erst in der Zukunft zu
erkennnen, denn dann wird sie beinahe bedeutungslos geworden sein. Mir
persönlich, diese Anmerkung sei gestattet, flößen diese Erkenntnisse eine
gesunde Skepsis gegenüber Eliten ein. Um zu zeigen, wie aktuell die
Betrachtungen für Deutschland und Europa sind, genügt es darauf hinzuweisen,
dass Premierministerin Thatcher in einer Haltung allergrößter moralischer
Überlegenheit die Wiedervereinigung verhindern wollte und die europäische
Währungsunion, der Preis für die Wiedervereinigung, in Frankreich ganz offen als
ein "Versailles ohne Krieg" bezeichnet worden ist. Man gewinnt daher den
Eindruck, dass Deutschland in Europa nach wie vor nicht einfach Deutschland
sein darf, sondern nur in instrumentalisierter Form Verwendung findet. Dies
findet Bestätigung in dem bereits erwähnten, lesenswerten Artikel der F.A.Z. vom
13.1.2013 "Dilemma und Strategie", aus dem hervorgeht, dass schon die kleine
BRD von 1988 wirtschaftlich zu stark für Europa geworden war.
Ein armes Europa, das immer die Notwendigkeit sieht, Deutschland zu
instrumentalisieren. Denn letztenendes instrumentisieren sie damit ja auch die
anderen, bzw ihre eigenen Länder.
In welch hohem Maße die damaligen Vorgänge sogar tagesaktuell unsere Sicht
bestimmen und wie stark das hergebrachte Geschichtsbild dabei unsere
Auffassungen prägt, zeigt eine Äußerung des von mir hochgeschätzten
Altbundeskanzlers Schmidt bei der Verabschiedung von Herrn Trichet als EZB
Chef in Frankfurt. Dort wies Schmidt in seiner Rede die Deutschen darauf hin,
dass die letzte Rate deutscher Schulden, die aus dem Ersten Weltkrieg
resultierten, erst vor gut einem Jahr überwiesen wurde: "So lange hat man
damals Deutschland umgeschuldet!" (Quelle: FAZ vom Freitag, den 21.10.2011)
rief er, mit Blick auf die Schuldendebatte um Euro-Europa aus. Schmidt bezog
sich auf den sogenannten "Young Plan", dessen letzte Rate,
wohlverzinst, tatsächlich erst vor kurzem beglichen wurde. Was den Young Plan
angeht, empfehle ich zur Ergänzung der üblichen Erklärungsmuster die Lektüre
des Buches "Wall Street and the rise of Hitler" von A. Sutton aus dem Jahr
1976. Auf deutsch ist es erst im Jahr 2008 im Perseus Verlag unter dem Titel
"Wall Street und der Aufstieg Hitlers" erschienen. Dieser Literaturhinweis soll im
Kant'schen Sinne Anregung sein, den Mut zur eigenen Vernunft aufzubringen.
Bei meinen Betrachtungen habe ich mich von dem auf Deutschland zentrierten
Bild einer Geschichtsauffassung, dem Blick auf den eigenen Bauchnabel
sozusagen, gelöst und über den Tellerrand hinaus nach Europa und die Welt
geblickt. Die Erkenntnisse unterscheiden sich demgemäß von anderen
Interpretationen. Die Vertreter vieler Nationen hatten diesen Ersten Weltkrieg aus
unterschiedlichen Gründen gewollt und ihn für sich nutzbar zu machen gesucht.
Auf die doppelte Funktion des WK I, also Schwächung der europäischen
Mächte, besonders Deutschlands und Russlands sowie der Erzwingung des
anglo-amerikanischen Bündnisses habe ich bereits hingewiesen.
Der Krieg eben als Fortsetzung der Politik, obwohl hier der Krieg nicht als
Fortsetzung, sondern eher als Arm der Politik erscheint. In dieser Hinsicht am
Geschicktesten - wie wir gesehen haben gerade auch im Steuern der Eskalation
(Frankreich und Russland mussten sicher und unumkehrbar dabei sein, die
eigene "Neutralität" so spät als nur möglich verlassen werden) - hat sich, neben
den USA, sicher England angestellt.
Frankreich wollte Revanche und die "unerlösten Gebiete" zurück. Russland, sich
nach dem Verfall des Osmanischen Reiches auf dem Balkan als Schutzherr aller
Slawen aufspielend, sah, neben Gebietsgewinnen, endlich eine Möglichkeit über
diesen Umweg einen Zugang zum Mittelmeer zu gewinnen, der ihm ja bisher von
England so erfolgreich verweigert worden war. England wiederum konnte - nur
scheinbar relativ gefahrlos - Deutschland, den frechen und stürmisch-unreifen
Konkurrenten auf dem Kontinent, mithilfe der Verbündeten zurechtstutzen. Wie
sich zeigen sollte, ging Englands so genannter "Endgegner" Russland aus diesem
Gemetzel letzlich ohne Zar, revolutioniert und ausgesprochen geschwächt,
hervor. Im Verhältnis zu diesen ambitionierten Wunschzetteln wirken die
Kriegsziele Deutschlands und Österreich-Ungarns eher etwas unspektakulär.
Österreich-Ungarn wollte den status quo erhalten, Deutschland den Ring
durchbrechen und auf dem Kontinent zur unangefochtenen Nummer Eins
werden. Dazu wäre es allerdings, angesichts der wirtschaftlichen Stärke und der
allgemeinen Entwicklung, sowieso gekommen. Die Zeit arbeitete aus
unterschiedlichsten Gründen für Deutschland aber gegen England, so gesehen
wäre von allen Beteiligten lediglich für Deutschland jeglicher Krieg, auch der
lokal begrenzte, als Fortsetzung der Politik überflüssig gewesen.
Als schließlich alles vorbei war, wurden die moralische Schuld am Krieg
vollständig und der gesamte Rucksack an zu leistenden Reparationszahlungen
auf Deutschland abgeladen. (Daneben litt noch das
zerstörte Kaiserreich Österreich-Ungarn, Ungarn verlor zwei Drittel seines
Territoriums.) Aber Deutschlands Rolle als nützlicher Idiot war damit noch nicht
am Ende angelangt. Es sollte gerade stark genug bleiben, um die
bolschewistische Gefahr, jenes östliche Experiment, bannen zu können. So hatte
es jedenfalls Colonel House frühzeitig formuliert. Denn zunächst waren ja auch
die "Sieger" damit beschäftigt, ihre Wunden zu lecken. Man zog sich auf
Beobachterposition zurück und wartete ein Weilchen. Die Vorstellung wie lange
dieses Weilchen dauern sollte, war ja, wie wir oben gesehen haben, ebenfalls
ziemlich exakt ausgeprägt. Die Aussprüche Chamberlains "peace for our time"
(1938) und Churchills "Deutsche, für die Welt habt ihr genug getan" (nach dem
Ersten Weltkrieg) bekommen so eine andere Bedeutung und einen durchaus
bitteren Beigeschmack. Noch einmal der Blick nach drüben, über den Teich.
"Mehr als zwei Jahrhunderte lang haben die USA den Versuch
unternommen, das Entstehen einer dominierenden Macht in Europa zu
verhindern. (...) Zur Erreichung dieser Ziele haben die USA zwei Weltkriege
und einen kalten Krieg gegen das kaiserliche Deutschland, NaziDeutschland, das kaiserliche Japan, die Sowjetunion und das
kommunistische China geführt." (Samuel P. Huntington, 1996, in "Kampf
der Kulturen", Seite 369)
Also haben am Ende, trotz aller Schläue, die Kriege auch England im engen,
nationalen Sinn nichts gebracht. In erster Linie gelangte die Weltmachtstellung
Englands schon durch den unglaublichen und so nicht eingeplanten Widerstand
der Deutschen während des Ersten Weltkrieges an ihr Ende, und der Staffelstab
des "Welt-Ersten" wanderte allmählich über den Teich zu jener Nation, die schon
vor 1917 so ganz "uneigennützig" und "in familiärer Sympathie" (Klaus
Hildebrand, "Das vergangene Reich") England und die Entente unterstützt hatte.
Diese Redewendung von der familiären Sympathie ist so gefährlich wie historisch
falsch, wie nachdrücklich in Kapitel 3 gezeigt wurde. Dennoch hat die angloamerikanische Allianz den WK I nicht nur überstanden, sie wurde durch diesen
überhaupt erst gründbar. Die Allianz dominierte anschließend über Hitler,
welchen sie zuvor groß gemacht hatte; ihr mächtiges Wirken lässt sich bis heute
in mannigfacher Form beschreiben.
Ich möchte daher einen großen zeitlichen Bogen ziehen, der 1890 mit der
Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages beginnt und etwa 1989/91
mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endet und somit ein ganzes, in weiten
Teilen grausames Jahrhundert umfasst.
Der Zeitpunkt des US amerikanischen Kriegseintritts ist ebenso beeinruckend
wie Greys zeitlich präzise Vorgehensweise im Sinne einer Eskalation es zuvor
ebenfalls war. Dazu mehr im folgenden Kapitel. Ich warne allerdings davor, die
Aufklärung um die beschriebenen Vorgänge an diesem Punkt als abgeschlossen
zu betrachten. Es wäre eher überraschend, wenn es unter dem von mir und
anderen gelüfteten Schleier nicht noch weitere, bisher verborgene Aspekte zu
entdecken gäbe. Denn es waren ja nicht nur die USA, deren Macht vordergründig
gestärkt worden war, sondern große, weltenstürzende Veränderungen hatten
stattgefunden. Europa zerfleischt, marginalisiert und seine Kultur teilweise
zerstört. Drei Kaiserreiche und weitere kleinere Monarchien, etwa in Bayern,
gestürzt. Der Kommunismus unter tatkräftiger Hilfe des "Westens" auf dem
Vormarsch. Daneben hatte ein kompletter Umbau des weltweiten Finanzsystems
vor, während und nach dem WK I stattgefunden. So waren 1909 in Frankreich
und Deutschland "gesetzliche Zahlungsmittel" eingeführt worden, 1913 wurde die
FED handstreichartig gegründet. Während des Krieges musste zur Fortsetzung
desselben überall der Goldstandard abgeschafft werden und - für uns heute die
wichtigste Auswirkung - der Welthandel wurde ab 1909 und dann seit
Versailles 1919 definitiv nicht mehr über auf London gezogene Goldwechsel (real
bills) finanziert, was langfristig den kompletten Umbau des Geldwesens nach sich
ziehen musste. Die finanzielle Verflechtung zwischen den USA und England,
Frankreich und Russland begann über das „House of Morgan“ schon sehr früh
im Ersten Weltkrieg. Dies obwohl der noch Außenminister Bryan sich vehement
dagegen stellte. Weiterhin werden unvoreingenommene Beobachter bemerken,
dass ein Gewinner der Kriegswirren der nationale Zionismus war, der während
des WK I, sowohl innerhalb wie außerhalb des Judentums, entscheidende
Fortschritte erzielt hatte. Diese deuteten sich zwar seit 1903/06 in England an,
manifestierten sich aber erst in der „Balfour Deklaration“ von 1917, übrigens in
bemerkenswerter zeitlicher Nähe zur Oktoberrevolution - nämlich innerhalb
derselben Woche. Dies ist natürlich nicht mehr ganz so erstaunlich, wenn man
bedenkt, was weiter oben gezeigt wurde. Nämlich dass Balfour ja sein Geschenk,
also jene berühmte, nach ihm benannte Deklaration in der es um ein jüdisch zu
besiedelndes Palästina ging, seinem eigenen „Society of the Elect“ - Kollegen, Lord
Rothschild, dem „Oberhaupt der Juden in England“, überreichte. Allerdings gibt
es zu dieser Hintergrundinformation noch einen weiteren Hintergrund. Denn
1937 wurde bekannt, dass die "Balfour Deklaration" von 1917 eigentlich "Lord
Milner Deklaration" hätte heißen müssen. Also sind sowohl Balfour als auch
Rothschild in diesem Zusammenhang nur die für die Öffentlichkeit bestimmten
Mitspieler. Heimlicher Strippenzieher im Hintergrund war in Wirklichkeit
niemand andrer als der Chef der geheimen "Society of the Elect" selbst, Lord
Milner:
"This declaration, which is always known as the Balfour Declaration, should
rather be called "the Milner Declaration," since Milner was the actual draftsman
and was, apparently, its chief supporter in the War Cabinet. This fact was not
made public until 21 July 1937. At that time Ormsby-Gore, speaking for the
government in Commons, said, "The draft as originally put up by Lord Balfour
was not the final draft approved by the War Cabinet. The particular draft
assented to by the War Cabinet and afterwards by the Allied Governments and by
the United States . . . and finally embodied in the Mandate, happens to have been
drafted by Lord Milner. The actual final draft had to be issued in the name of the
Foreign Secretary, but the actual draftsman was Lord Milner." Milner had
referred to this fact in a typically indirect and modest fashion in the House of
Lords on 27 June 1923, when he said, "I was a party to the Balfour Declaration."
(Quigley, Establishment, S. 141)
[Exkurs: Der Erfolg der nationalen zionistischen Bewegung ist bemerkenswert, weil innerhalb des
Judentums selbst mächtige und einflussreiche Gruppen gegen diese Pläne opponierten. In
England hatten die Zionisten mit der Machtübernahme von Balfour und Lloyd George jedenfalls
einen überwältigenden Erfolg erzielen können, denn beide unterstützten die zionistischen Pläne.
Auch andere einflussreiche Personen innerhalb der "Society of the Elect" unterstützten
wirkungsvoll die Schaffung eines jüdischen besiedelten Palästinas. Diese wirkten mehr im
Hintergrund, waren darum aber nicht weniger wirkungsvoll, wie beispeilsweise Philip Kerr, besser
bekannt unter dem Namen Lord Lothian. Allerdings muss man - jedenfalls nach den offiziellen
Äußerungen von Mitgliedern der Milner Group - davon ausgehen, dass diese Palästina nur unter
einem "Mandat", also nicht als selbständigen Staat, sehen wollten. In diesem Gebilde sollten
Araber und Juden friedlich und zum gegenteiligen Vorteil miteinander leben. Ein eigenständiger
jüdischer Staat kam erstmals im Bericht der Peel Kommision von 1937 zur Sprache, nämlich als
man von der "Teilung" Palästinas sprach. Ein Vorschlag, der von Weizmann damals begeistert
aufgegriffen worden ist, wenngleich er mit dem Zusatz verbunden war, den Zuzug jüdischer
Siedler nach Palästina zu begrenzen. Was die wirkliche Politik der Milner Group war und was
lediglich für die Öffentlichkeit bestimmtes Gerede darstellte, lässt sich nur unglaublich
schwer abschätzen. Quigley nimmt die Äußerungen Milners vor dem "House of Lords" von 1923
als bare Münze, ich selbst zweifle, weil Naivität eigentlich nicht Hauptmerkmal des inneren
Zirkels der Milner Gruppe war:
“I [Lord Milner] am not speaking of the policy which is advocated by the extreme Zionists, which
is a totally different thing.... I believe that we have only to go on steadily with the policy of the
Balfour Declaration as we have ourselves interpreted it in order to see great material progress in
Palestine and a gradual subsistence of the present [Arab] agitation, the force of which it would be
foolish to deny, but which I believe to be largely due to artificial stimulus and, to a very great
extent, to be excited from without. The symptoms of any real and general dissatisfaction among
the mass of the Arab population with the conditions under which they live, I think it would be
very difficult to discover.... There is plenty of room in that country for a considerable immigrant
population without injuring in any way the resident Arab population, and, indeed, in many ways
it would tend to their extreme benefit.... There are about 700,000 people in Palestine, and there is
room for several millions.... I am and always have been a strong supporter of the pro-Arab policy
which was first advocated in this country in the course of the war. I believe in the independence of
the Arab countries, which they owe to us and which they can only maintain with our help. I look
forward to an Arab Federation.... I am convinced that the Arab will make a great mistake . . . in
claiming Palestine as a part of the Arab Federation in the same sense as are the other countries of
the Near East which are mainly inhabited by Arabs.”
He then went on to say that he felt that Palestine would require a permanent mandate and under
that condition could become a National Home for the Jews, could take as many Jewish
immigrants as the country could economically support, but "must never become a Jewish state. "
(Quigley, Establishment, S. 143)]
7. Ludendorff und andere Missverständnisse
18. Mai 1932:
"General Ludendorff erklärt...
Ein Interview mit Dr. Hellmut Klotz"
"(...)Ich will bei der Beantwortung Ihrer ersten Frage vorausschicken, daß
nur die ernsten Gefahren des Deutschen Volkes, der faschistischen
Diktatur durch Herrn Hitler zu verfallen, mich veranlaßt haben, Ihrer Bitte
zu entsprechen und zu einigen Fragen Stellung zu nehmen, da ich hoffe,
damit zur Rettung des Volkes beizutragen, falls die Presse meine Antworten
verbreitet.
Die NSDAP des Herrn Hitler ist heute die brennendste Gefahr innerhalb
des Deutschen Volkes.
Ihr Entstehen liegt indes in der ungeheuer drückenden außen- und
innerpolitischen Zwangslage des Deutschen Volkes und seiner
wirtschaftlichen Verelendung. Nur die Beseitigung dieser Zustände kann
die NSDAP überwinden! Zwangsgesetze schaffen nie Gutes.
Nur diese Zwangslage und die Verelendung gaben der NSDAP die
Möglichkeit mehr als jeder anderen Partei von rechts bis links (denen ich
gleichmäßig ablehnend gegenüberstehe), in allen Farben mit ihren
Versprechungen und angeblichen Zielen – je nach der Zusammensetzung
der Anhängerschaft – zu schillern.
Ebenso steht die NSDAP an blutrünstigem Wollen der in ihr
maßgebenden Kreise einzig da. Sie übertrifft darin den Bolschewismus.
Die „Peitsche“, die Herr Hitler in der Hand führt, ist das Zeichen
seiner von ihm beabsichtigten Knechtung des Volkes.
Aus diesen und anderen ernsten Gründen – ich denke an kriegerische,
außenpolitische Verwicklungen – halte ich es für meine ernsteste
Pflicht, die Deutschen vor einer Diktatur des Herrn Hitler zu retten,
woran ich schon seit Jahren arbeite.(...)"
Dieses Zitat stammt aus einem Interview, das Ludendorff dem "General-Anzeiger
für Dortmund“ gab, veröffentlicht wurde es am 18. Mai 1932 auf Seite 2 der
Ausgabe Nr. 135. (Interview im pdf Format) Heute denkt man bei dem Wort
"Anzeiger" eher an ein Werbeblättchen, damals war der "General-Anzeiger für
Dortmund" aber eine wichtige, auflagenstarke, linksliberale Zeitung.
Solcherart das schwierige 7. Kapitel zu eröffnen und damit vielleicht
festzementierte Haltungen ins Wanken zu bringen, ist natürlich Absicht.
Möglicherweise ist der zitierte Interview Ausschnitt für all jene eine
Überraschung, die in Ludendorff ausschließlich den Bösen erblicken. Was soll er
nicht alles gewesen sein, der Untergang Deutschlands, der Diktator, der Vor- und
Wegbereiter Hitlers, fanatischer Antisemit, der gewissenlose Kriegsverbrecher...
Ebenso wie in den bisherigen Kapiteln möchte ich auch hier versuchen, ein
scheinbar axiomartig feststehendes Geschichtsbild anschaulich zu hinterfragen
und dabei, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, herauszufinden, welche Vorwürfe
gerechtfertigt sind und welche nicht.
Aus dem oben zitierten Zeitungsinterview geht unmittelbar hervor, dass
Ludendorff sich seit dem fehlgeschlagenen Umsturzversuch in München 1923 an
der Seite Hitlers (mit anschließendem "Marsch auf die Feldherrnhalle") sowie der
Präsidentschaftskandidatur von 1925, weit von Hitler entfernt hatte. Ja, er war in
offene Opposition übergegangen. Ludendorff verteidigte sich im oben zitierten
Interview (1932), er habe zwar "als sich Hitler noch nicht völlig entpuppt hatte"
mit diesem zusammen gearbeitet, könne aber die Art vieler Militärs, die sich ihm
"jetzt", nach Offenlegung aller Ziele, andienten, nicht verstehen.
Ein Mensch also mit eigenen Ansichten, die er offen und übrigens auch noch
nach der "Machtergreifung" 1933 furchtlos äußert. Wegen einer Beleidigung
seiner Frau fordert er 1936 (!) Goebbels (!) zum Duell, was dieser - natürlich (und,
wenn ich hinzufügen darf, leider) - nicht annimmt.
Ludendorffs Charaktereigenschaften hatten 1913, nach einer bis dahin
makellosen und glänzenden Militärkarriere, dazu geführt, dass Ludendorff aus
dem Generalstab herausgenommen und am 27. Januar zu einer eigenen Einheit
als Regimentskommandeur nach Düsseldorf versetzt wurde. Sein Ton zu direkt,
seine Forderungen scheinbar maßlos. "Bringen Sie diesem Offizier Disziplin bei"
soll die Empfehlung des Chefs der Militärkabinetts Moritz Freiherr von Lyncker
an den kommandierenden Gerneral Ludendorffs, General von Einem, gewesen
sein. (Ludendorff: "Mein militärischer Werdegang", S. 157, Ludendorffs Verlag
GmbH, München 1933, nachfolgend kurz "Werdegang")
Die offizielle Begründung hingegen war, er müsse erst ein eigenes Kommando
gehabt haben, um zum General befördert werden zu können. Aber dies war ganz
offensichtlich nur eine Ausrede. In Wirklichkeit war es wohl viel eher so, dass
Ludendorff neben anderen Forderungen (Munition, Flugzeuge,...) massiv darauf
drängte, alle wehrdienstfähigen Männer militärisch ausbilden zu lassen, mit
dieser Forderung aber im Kriegsministerium und auch im Militärkabinett (einem
der drei Kaiser-Kabinette) weitestgehend auf Widerstand stieß. Da die Karriere
und Ernennung von Offizieren dem Militärkabinett oblag, ist davon auszugehen,
dass v. Lyncker für die Versetzung Ludendorffs gesorgt hat. Aber auch v. Moltke
mag unsicher geworden sein, nachdem Ludendorff ihm am 23. Januar 1913
geraten hatte, zurückzutreten, da Kriegsminister v. Heeringen Moltkes Forderung
zurückgewiesen hatte. Jedenfalls zeigte v. Moltke sich in politischer Umgebung
nachgiebiger und konzilianter als in direkter Nähe Ludendorffs. Trotzdem
versuchte v. Moltke schon im Juni 1913 Ludendorff wieder von seinem
Regimentskommando zu lösen und empfahl ihn dem Militärkabinett als "Direktor
des allgemeinen Kriegsdepartements im Kriegsministerium". So könne er dem
Kriegsminister v. Heeringen in seiner Stellung gegenüber dem Reichstag helfen.
(Schreiben Moltkes, wiedergegeben in: "Werdegang" S. 156 und Anmerkung S 156
f)
Ludendorffs Forderungen, soviel kann man rückblickend ohne Widerspruch
sagen, waren aus militärischer Sicht logisch und auch der politischen Lage
angemessen. Auch die Rüstungsanstrengungen der potentiellen Kriegsgegner
sprachen dafür.
Im Juni 1910 gab es in Schleswig-Holstein ein "Kriegsspiel im Großen
Generalstab", welches von einem Krieg gegen Frankreich, Russland und (!)
England ausging. Ludendorff berichtet am 1.Juli dem Kriegsministerium und legt
in einem Schreiben dringlich Schlussfolgerungen und Forderungen dar.
("Werdegang" S. 135 f) Auch aus der "Denkschrift" Ludendorffs von 1912 geht
ähnliches hervor. Ludendorffs Einschätzungen der politischen (!) Lage, und ,für
ihn wichtig, der daraus logisch zu folgernden militärischen Reaktionen, war
realistischer als die der Politiker im Reichstag.
Die Politik, namentlich seit 1909 Bethmann-Hollweg, zweifelte noch weit bis in
den Juli 1914 an einem Kriegseintritt Englands und gaben sich schließlich völlig
überrascht davon. Hier lagen die Militärs in ihren Einschätzungen also richtig.
Die Politik, Reichstag mit Kriegsministerium und Militärkabinett mit Kaiser, hat
danach zwei Fehlentscheidungen zu verantworten. Erstens die der Bedrohung
angemessene Rüstung verhindert zu haben und zweitens die Dramatik der
politischen Situation falsch eingeschätzt zu haben. Der Kaiser persönlich ist hier
wohl in Teilen zu entlasten, er hat die Rüstungsforderungen Ludendorffs
unterstützt, ist damit aber nicht durchgedrungen.
Ein Mensch mit nur einer wirklichen Leidenschaft: Deutschland. Ein Historiker,
der vielfach kritische Worte zu Ludendorff findet, kommt nicht umhin zu urteilen,
er sei "beinahe übermenschlich uneigennützig" (M. Freund, Deutsche Geschichte)
gewesen.
Ein Mensch, den viele im direkten Umgang als angenehm beschreiben, der aber
laut Schilderungen auch kleinlich, aufbrausend und rachsüchtig sein konnte,
einer der trotz aller militärischen Erfolge auch auf diesem Gebiet Fehler begangen
hat. Er ist größer und zugleich auch kleiner, als das überlieferte Bild - je nach
Blickwinkel.
Man wird ihm vorwerfen, er habe zu selten gelacht, auf keinem einzigen der über
70 während des Krieges von ihm veröffentlichten Fotos habe er gelacht. Empört
wird er diesen Vorwurf von sich weisen, die Sorge um Deutschland und die
dauernde, höchste Anspannung habe ihm das Lachen aus dem Gesicht
getrieben.
In ihrer Bedeutung heutzutage gerne unterschätzt oder kleingeredet, sind zwei
Taten Ludendorffs zu Kriegsbeginn, eine an der Westfront und kurz danach auch
eine an der Ostfront, die in Wirklichkeit entscheidend für die Eröffnung des
Krieges waren und die somit auch dessen weiteren Verlauf letztlich bis zum Ende
mit bestimmt haben.
Wie weiter oben schon dargestellt, beruhte die deutsche Taktik an der Westfront
auf Geschwindigkeit. Das Tempo des Vormarschs war absolut entscheidend für
den angestrebten Erfolg. Da "Belgien" den Kriegsgegnern lange bekannt war (s.o.),
konnten diese sich weit besser auf den deutschen Ein- und Durchmarsch
vorbereiten, als dies die deutschen Planungen, die von dem Geheimnisverrat
nichts wussten, vorsahen. Die Belgier selbst leisteten erheblichen Widerstand, die
Engländer waren mit ihrem Expeditionskorps ebenfalls wesentlich schneller zur
Stelle, als die deutschen militärischen Planungen zugrunde gelegt hatten.
Innerhalb Belgiens war Lüttich die entscheidende Schlüsselstelle, da hier das
Drehkreuz des Vormarschs und des Nachschubs lag. Es war aus deutscher Sicht
absolut erforderlich, hier schnell zum Erfolg zu gelangen, da ansonsten die
gesamten Planungen zur Makulatur wurden. Ludendorff wusste dies und folgte
dem Vormarsch als "Schlachtenbummler", so er selbst, und übernahm, als der
kommandierende General v. Wussow fiel, das Kommando.
Allerdings war dies kein Zufall. Für den Mobilmachungsfall waren ja für die
Offiziere bestimmte Verwendungen vorgesehen, die sich von ihrer
Friedensverwendung unterschieden. Ludendorff sollte Oberquartiermeister einer
Armee werden, er selbst wählte sich dann die 2. Armee aus, absichtlich jene also,
die Lüttich nehmen und später an der Marne eine so entscheidende Rolle spielen
sollte. Beim Vormarsch hat er laut Augenzeugenberichten sich selbst in
vorderster Linie nicht geschont und so den zögerlichen Kameraden ein Beispiel
gegeben. Schließlich in Lüttich angekommen, hatten die deutschen Truppen
nicht die Stärke, die notwendig gewesen wäre, um die Festung zu nehmen. Aber
das konnten die Belgier nicht unbedingt wissen. Als Ludendorff sich daher vor
die Festung begab und diese zur Übergabe aufforderte, nahmen die Belgier an,
eine Armee stünde hinter ihm - sie ergaben sich tatsächlich. Ein Bluff, aber einer
mit Kalkül. Ohne diesen Trick wäre der weitere Vormarsch gescheitert. So konnte
er immerhin bis zur Marne "nach Plan" erfolgen und wurde erst dort unter bis
heute umstrittenen Umständen abgebrochen.
Bei der Schilderung dieser Ereignisse und auch nachfolgend berücksichtige ich
ganz besonders die Aufzeichnungen General Hoffmanns: General Max Hoffmann,
"Der Krieg der versäumten Gelegenheiten", Verlag für Kulturpolitik München
1924. Mir erscheinen Hoffmanns Schilderungen zuverlässig und glaubhaft.
(zukünftig zit. als "Hoffmann")
" Am 23. nachmittags (August 1914, Anm. von mir) trafen Hindenburg und
Ludendorff ein. Der später zum Abgott des deutschen Volkes gewordene
General v. Hindenburg war bis dahin ein außerhalb der Grenzen seines
alten Korpsbezirkes ziemlich unbekannter General. Ich selbst hatte ihn
noch nie gesehen. Dagegen war Ludendorff in den Kreisen der
Generalstabsoffiziere eine bekannte und oft genannte Persönlichkeit,
besonders seine Anstrengungen für Verstärkung des Heeres, die in der
großen Wehrvorlage nur teilweise in Erfüllung gegangen waren (die
Wehrvorlage wurde am 7.4.1913 von Reichstag mit Abstrichen
verabschiedet, bis zum Beginn des Weltkrieges konnte sie aber kaum
Wirkung entfalten, Anm. von mir), sowie seine Bemühungen, das
Kriegsministerium zu veranlassen, größere Munitionsbestände für den
Mobilmachungsfall niederzulegen, waren vielfach erörtert worden. Das
unbestreitbar ihm allein zufallende Verdienst an dem ersten Kriegserfolge,
die so wichtige Einnahme von Lüttich, war allgemeines Tagesgespräch in
der Armee. Er war zu Beginn des Krieges Oberquartiermeister der 2. Armee
Bülow und hatte sich einer der Kolonnen, die zur Wegnahme von Lüttich
bestimmt waren, angeschlossen, und zwar der 14. Infanteriebrigade.
Als der Kommandeur dieser Brigade, General v. Wussow, fiel, übernahm er
die Führung, und seiner Energie und Tatkraft gelang die Einnahme der
Festung, während die übrigen Kolonnen mehr oder weniger versagten."
(Hoffmann Seite 34 f)
Ludendorff konnte jedoch den weiteren Vormarsch an der Westfront nicht
begleiten, da Moltke ihn "nach dem Osten" schickte, um dort die Lage vielleicht
noch zu retten. Er meldete sich also im Hauptquartier, das damals noch in
Koblenz war, bekam für die Einnahme Lüttichs den Orden "pour le mérite" und
fuhr von dort weiter an die Ostfront. Der weitere Verlauf an der Westfront,
insbesondere die Vorgänge an der Marne, wäre unter Ludendorffs Mitwirkung
anders erfolgt. Mit sicherem Instinkt hätte er sich genau an der Nahtstelle des
Erfolgs, also zwischen Erster und Zweiter Armee plaziert, oder wäre vielleicht
doch wieder zu Moltke in die OHL berufen worden. So oder so hätte Ludendorff
die zweite Sendung Hentschs verhindert. Ist hier der WK I für Deutschland
erstmals verloren gegangen? Die Entsendung seines besten Mannes an die
Ostfront ist ein Hinweis darauf, dass Moltke schon zu diesem Zeitpunkt dem
Schlieffen Plan nicht mehr traute. Denn Anfangsverluste im Osten waren darin
fester Bestandteil. Im Osten hätte er also planmäßig hinhaltend agieren müssen,
während er Ludendorff unbedingt und viel wichtiger im Westen benötigt hätte. So
hart es klingt, aber der Osten war zunächst Nebenkriegsschauplatz. (Zum
Schlachtverkauf im Osten "ohne Ludendorff" gleich mehr.)
Von zunächst 8 Armeen waren zu Beginn des Krieges 7 an der Westfront
eingesetzt. Die 8. Armee hatte sich im Osten allein zu bewähren und sollte den
nördlichen Teil der Ostfront gegen die russischen Armeen sichern, während
weiter im Süden General v. Konrad mit seinen österreichisch-ungarischen
Truppen das gleiche versuchte.
General Hoffmann beschreibt anschaulich, wie und wieso die 8. Armee von der
"Warschauer Armee" überrascht wurde, als sie eben damit beschäftigt war, etwas
weiter nordöstlich die "Njemen Armee" unter Rennenkampf zu schlagen. Der
Armeeführer v. Prittwitz und dessen Chef (des Stabes) verloren kurzzeitig die
Nerven, ließen sich dann aber von Generalmajor Grünert und von General
Hoffman überzeugen, die 8. Armee nicht hinter die Weichsel zurückzunehmen,
sondern gegen die russische "Warschauer Armee" umfassend vorzugehen. Dies
kam der OHL I aber nicht mehr zu Ohren, dort war inzwischen schon die
Absetzung des Armeekommandeurs und seines "Chefs" beschlossen worden. Ein
Rückzug hinter die Weichsel war übrigens schon in den militärischen Planspielen
vorab als Möglichkeit in Erwägung gezogen worden.
Ein gewaltiger Schrecken breitete sich aus, "der Russe" im Osten Deutschlands
eingefallen und schrecklich wütend weiter auf dem Vormarsch. Man kann getrost
davon ausgehen, dass die Schäche der deutschen Stellungen im Osten, die ja
eine direkte Folge der - der Entente bekannten (!) - Kräftekonzentration im
Westen war, dem russischen Militär nur zu deutlich bewußt war. Überrennen
wollte man diese schwachen Kräfte, um dadurch letztlich die Westfront ebenfalls
ins Wanken zu bringen. Der noch arbeitende Stab der 8. Armee hatte noch unter
v. Prittwitz schon Befehle zur beginnenden Umfassung des Feindes gegeben.
Ludendorff hatte dieselben Gedanken und gab, in Unkenntnis der schon im
Begriff befindlichen Umformungen und in der Annahme, die Armee und ihr
Hauptquartier stünden schon hinter der Weichsel, ähnliche Befehle aus dem Zug
heraus an die Ostfront. Dadurch aber, dass der Stab schon gut und schnell
vorgearbeitet hatte, hätte sich beim Befolgen der Ludendorffschen Befehle sogar
ein unbeabsichtigter Rückzug ergeben. Als Ludendorff schließlich den Stab
erreichte und genauer über die Situation informiert wurde, bestätigte er die
bereits getroffenen Entscheidungen seines Stabes. Unter Ludendorffs Leitung
wurde die "Tannenberg" Schlacht als Umfassungsschlacht gewonnen und kurz
darauf in einer weiteren Schlacht an den masurischen Seen auch die Njemen
Armee Rennenkampfs besiegt. Damit war der russische Vormarsch zunächst
gestoppt und die russischen Truppen, viele ihrer Soldaten waren gefallen, weit
mehr noch gingen in Gefangenschaft (120 000), vorübergehend aus Deutschland
vertrieben. In der "Tannenberg Schlacht" waren auf deutscher Seite 12000
Soldaten gefallen.
Nach General Hoffmanns Einschätzung wäre "Tannenberg" wahrscheinlich auch
ohne Ludendorff gewonnen worden, aber:
"Es ist wohl müßig, die Frage zu erörtern. 'Wäre es auch ohne den Wechsel
im Oberbefehl zu einem Siege von Tannenberg gekommen?' Ich glaube: ja wenn auch nicht zu einem so durchschlagenden Erfolge, da das alte
Oberkommando, wie die bisherigen Erfahrungen gezeigt haben, nicht die
nötige Energie besaß. Es kam sofort wieder zu Schwierigkeiten mit dem
Generalkommando Francois [ein guter, aber auch eigenwilliger General des
1. Armeekorps, der gerne schon mal Befehle nicht ausführte und bald auf
eigenen Wunsch von seinem Kommando enthoben werden sollte], und ich
weiß nicht, ob das alte Oberkommando sie so schnell beseitigt hätte, wie
General Ludendorff dies tat, und ob es die Nervenbelastung der nächsten
Tage: 'Wird Rennenkampf marschieren oder nicht?' ertragen hätte."
(Hoffmann S. 33)
In meinem eigenen Fazit sollte man die ersten beiden Schlachten an der Ostfront
nicht zu hoch, wie die Ludendorff Verehrer es tun, und nicht zu tief hängen, wie
viele Historiker es tun, wenn sie die Schlachten quasi als Selbstläufer abtun. Das
waren sie definitiv nicht.
Es geht mir hier nicht darum, den gesamten Kriegsverlauf zu schildern. Daher
kann ich nachfolgend etwas abkürzen.
An der Ostfront waren die Russen natürlich noch lange nicht geschlagen Sie
sammelten ihre Kräfte und verfügten über nahezu "unerschöpfliches
Menschenmaterial", wie es in der Sprache der Zeit - auf uns muss diese
Formulierung zynisch wirken - heißt. Es war also mit einer gewaltigen russischen
Offensive zu rechnen, die sowohl am nördlichen als auch am südlichen Teil der
Ostfront, also über die gesamte Länge, zu erwarten war. Was sich wie eine
immense Bedrohung liest, hätte aber auch eine Chance sein können. Die OHL II
war offensichtlich überzeugt, dass der Schlieffen Plan gescheitert war, weil sie ihn
nicht wieder aufnahm. Trotzdem versagt sie sich die daraus zu folgernde
Erkenntnis, den Schwerpunkt nun an die Ostfront zu verlegen, wo man jetzt (also
Ende Oktober, Anfang November 1914) den vollständig aufmarschierten
russischen Gegner schnell und endgültig hätte schlagen können. V. Konrad
machte solche Vorschläge, auch Ludendorff vertrat diese Linie bei einem Treffen
in Berlin, aber v. Falkenhayn bestand auf seiner Schlacht bei Ypern, auch erste
Flandernschlacht genannt. (20. Oktober bis zum 18. November 1914)
Danach kam es zur "Winterschlacht in Masuren", die in Schneemassen begann
und im Schlamm und Dreck endete, trotzdem aber für die deutsche Seite
erfolgreich war.
Weil wirklich massive Unterstützungen auch weiterhin ausblieben, konnten die
Schlachten im Osten nicht entscheidend werden. Es war ein Lavieren
("Halbheiten"), oft genug verlief es nach folgendem, leidigen Schema: Zunächst
werden keine Truppen abgegeben, dann, wenn die Not groß wird, müssen doch
Truppen von der West- an die Ostfront verlegt werden, die aber dann nur noch
das Schlimmste verhindern können, aber dafür zahlreicher sein müssen, als die
ursprünglich geforderte Unterstützung.
Nachdem Ludendorff im Frieden mit seinen Forderungen vorwiegend an
Politikern gescheitert war, verzweifelte er nun fast am Unvermögen und der
Uneinsichtigkeit seiner militärischen Vorgesetzten, vielleicht auch an deren
Eitelkeit. Für viele Soldaten, die mutig ihr Leben einsetzten, endeten diese
Fehlentscheidungen mit Tod oder Verwundung auf dem Schlachtfeld. Wie v.
Falkenhayn immer an seinen mangelhaften Plänen festhielt, so hielt auch der
Kaiser bis es buchstäblich nicht mehr ging, an dem Leiter der OHL II fest.
Ludendorffs Weltbild
Ludendorffs Weltbild war durch und durch völkisch geprägt – aber was heißt
das? Jedenfalls nicht völkisch im Sinne Hitlers. Hitler hat ja viele Begriffe
zunächst besetzt, einzig um sie danach zu pervertieren. Hitler wollte andere
Völker unterjochen oder gar ausrotten. Für Ludendorff gab es zwar eine
Hierarchie in der kulturellen Entwicklung von Völkern, aber nach seinen
Vorstellungen sollten die Völker in ihrer Vielheit nebeneinander bestehen und
sich nach ihrer Eigenart entwickeln. Dabei spielte für ihn die „sittliche Reife“ des
einzelnen Menschen eine entscheidende Rolle. Denn nur wenn er diese besitzt,
kann der Mensch eigen-verantwortlich in innerer Freiheit durch das Leben gehen
und muss gleichzeitig durch möglichst wenige äußere Gesetze gegängelt werden.
Dieses Weltbild scheint widersprüchlich, da es zum einen verschiedene rassisch
homogene Gruppen - die Völker – postuliert, andererseits aber die individuelle
Verantwortung und Entwicklung in den Vordergrund rückt. Was ist, wenn sich
der Einzelne so entwickelt, dass er nicht mehr zu seinem Volk passt, wo soll er
dann hingehen? Was ist mit den Wanderbewegungen der Völker der
Vergangenheit, die ja alles andere als friedlich verlaufen waren, was mit der
ständigen Durchmischung durch Kriege, Handel, Katastrophen, etc.?
Vielleicht kann man einen Teil dieser Fragen einfach durch Bedingungen wie
„Geschwindigkeit“ und „Größenordnung“ einigermaßen befriedigend beantworten
– aber das ist hier nur eine Vermutung und soll auch nicht weiter untersucht
werden.
Zur Zeit scheint es fast so als sei der alte Begriff des Volks, als einer ethnisch
einigermaßen geschlossenen Einheit, im 20. Jahrhundert unwiderruflich
untergegangen. Diese Entwicklung ist durch die beiden Weltkriege wesentlich
ausgelöst und dann enorm beschleunigt worden. Erst die Zukunft kann zeigen,
was dadurch vielleicht verloren geht, oder welche Prozesse dies wiederum
initiiert. Mulmig scheint dem ein oder anderen dabei schon zu sein, ansonsten
wäre der enorme Verkaufserfolg von Büchern, wie etwa Sarazzins "Deutschland
schafft sich ab", nicht zu erklären. Es gibt allerdings aktuelle Untersuchungen,
die die Auffassung vertreten, Völker seien doch wesentlich beständiger, als man
lange annahm. Als Beispiele werden die friedliche Trennung von Tschechien und
der Slovakei sowie die kriegerischen innerhalb des alten Jugoslawiens genannt,
auch die Situation in Belgien, die geplante Volksabstimmung in Schottland zur
Loslösung von England und die Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens
finden Erwähnung. Völker seien stabiler als der moderne Nationalstaat und
würden sowohl diese als auch übernationale Strukturen letztlich überdauern.
Womöglich rührt die Völker-Frage also doch an tiefere, in uns liegende Wurzeln
und ist noch nicht endgültig entschieden. Vielleicht wird ja sogar Ludendorff,
wenn man ihn der veralteten Sprache und des Überdrucks, in die ihn Kriegs- und
Nachkriegserfahrungen gebracht hatten, entkleidet und in unsere Zeit übersetzt,
nocheinmal aktuell, wer weiß das schon.
[Exkurs: Wie sehr man jedenfalls bei der ganzen Frage des völkisch-rassischen in die Irre gehen
kann, zeigt das ausgezeichnete und extrem mutige Buch des jüdischen Israelis Shlomo Sand „Die
Erfindung des jüdischen Volkes“. (List Taschenbuch, 2011) Weil seine wichtigen Erkenntnisse
noch relativ unbekannt sind, möchte ich hier etwas näher darauf eingehen. Folgt man den
Überlegungen Sands, die ja auf wissenschaftlicher Forschung beruhen, so trat die jüdische
Religion über viele Jahrhunderte hinweg missionierend auf, die Konvertierten nannte man
Proselyten.
So schrieb schon Theodor Mommsen (cit. nach Sand S. 234):
"Das Judentum der älteren Zeit ist nichts weniger als exklusiv, vielmehr von
missionarischem Eifer nicht minder durchdrungen wie späterhin das Christentum und der
Islam."
Um ein Beispiel zu nennen: Das große und mächtige Chasaren Königreich sei durch
Missionierung jüdisch gewesen ("Die Erfindung des Jüdischen Volkes", S. 337 ff). Auf S. 339
erläutert Sand, dass das Chasarenreich von einer russisch byzantinischen Allianz im 10. Jhd.
besiegt wurde, allerdings dadurch der jüdische Glaube offensichtlich nicht unterging. Während
des Mongolensturms des 13. Jhds wurden die Bewässerungsanlagen zerstört, wodurch die
Lebensgrundlagen nicht mehr gegeben waren. Folglich exilierte die slawisch-jüdische wie auch die
übrige Bevölkerung nach der Ukraine, Polen und Litauen.
Diese und ähnliche Erkenntnisse, wie sie im Buch vorgestellt werden, stellen allerdings viele
Axiome in Frage und sind nicht nur für orthodoxe Juden unangenehm sondern auch für
Rassisten aller Couleur. Man muss annehmen, dass ein Großteil der europäischen Juden, seien
es die Aschkenasi oder auch die sephardischen Juden überwiegend keine "rassischen Juden" (im
Sinne einer Abstammung von biblischen Stämmen) waren und sind, sondern "rassisch" dem
üblichen europäischen Genpool entstammen, also genetisch gesehen hauptsächlich irgendeine
Mischung aus keltischen, germanischen, romanischen und slavischen Völkern sind, Europäer
eben, bei den Chasaren mit einer asiatischen Beimischung.
Beispielsweise kann man aus dem, was Sand auf den Seite 311 bis 314 seines Buches
schreibt, folgern, dass die spanischen Juden (sephardische Juden), neben einer Anzahl
semitischstämmiger Exiljuden hauptsächlich aus ortsansässigen Europäern sowie zugewanderten
Südeuropäern und nordafrikanischen proselytischen Berbern bestanden. Woher die nach
Millionen zählenden Aschkenasi stammen, ist noch Gegenstand von Untersuchungen
- wahrscheinlich sind sie überwiegend Nachkommen der Chasaren. Jedenfalls bestehen alle drei
Gruppen mehrheitlich oder sogar völlig aus Konvertierten.
Eran Elhaik von der Johns Hopkins University in Baltimore hat seine genetischen Studien im
Fachblatt "Genome Biology and Evolution" vorgestellt (Abstract hier:
http://gbe.oxfordjournals.org/content/5/1/75). Sie stützen im wesentlichen Sands
Schlussfolgerungen, ein kurzes Zitat aus Elhaiks Untersuchungen soll dies belegen:
"All Eurasian Jewish communities are closer to Caucasus populations,” schreibt er, wobei
mitteleuropäische Juden als Ausnahme eine nähere Verwandtschaft mit italienischen nichtJuden aufwiesen. Nicht eine der acht ausgewerteten jüdischen Populationen seien näher mit
Levante-Populationen verwandt. Eine schwache genetische Spur verweist auf iranische (persische)
oder/und judäische Zuwanderung in den Khasaren Raum um etwa 500 n. C. Die untersuchte
Stichprobe war vom Umfang her eher klein (gut 1200 Personen), es ist also davon auszugehen,
dass die Debatte noch nicht beendet ist, wenngleich die sogenannte "Rheinland Hypothese"
endgültig widerlegt zu sein scheint.
Zum Ursprung sephardischer Juden schreibt Sand auf S. 313:
"Es lässt sich vernünftigerweise annehmen, dass sich die ersten zarten Triebe des
Judentums in den ersten Jahrhunderten der Zeitrechnung auf der iberischen Halbinsel
entwickelten, als es, wie auch andernorts im nordwestlichen Mittelmeerraum, vor allem
unter bekehrten Soldaten, Sklaven und römischen Händlern Anklang fand."
Auf Seite 314 seines Buches erläutert Sand, welche Rolle Juden bei der Eroberung Spaniens
durch die Mauren und die damit verbundene Vertreibung der Westgoten spielten:
Ein Teil der Juden floh nach Nordafrika, um im Jahr 711 mit muslimischen Eroberungstruppen,
die von Proselyten aus Berberstämmen Nordafrikas verstärkt wurden, zurückzukehren und Rache
zu nehmen. Die in Spanien zurückgebliebenen Juden verstärkten diese Truppen, die u.a dadurch
rasch von 7000 auf 25000 anwuchsen. In den eroberten Städten waren die Christen geflohen,
ihre Positionen wurden vielfach durch Juden und Muslime ersetzt. In der Zeit bis zum 9.
Jahrhundert konnten Juden nun wieder missionieren, bis die massiven Bekehrungen zum Islam
dies nicht mehr erlaubten. Allerdings kamen weiterhin viele Anhänger des jüdischen Glaubens
aus Südeuropa und Nordafrika nach Spanien, so dass man im 10. Jahrhundert von einer
Blütezeit des sephardischen Judentums sprechen kann. Dies lag ganz einfach daran, dass die
jüdische Bevölkerung unter muslimischer Herrschaft nicht so stark unterdrückt wurde wie unter
christlicher.
Aus genau demselben Grund wurde auch Judäa unter jüdischer Mithilfe durch das arabischmuslimische Heer erobert: Weil die Juden unter der christlich-byzantinischen Herrschaft zu
leiden hatten. Sie durften beispielsweise Jerusalem und den Tempelberg unter christlicher
Herrschaft nicht betreten, unter muslimischer war ihnen dies erlaubt, sie durften gelegentlich
dort sogar beten.
Die Steuerpolitik des Islam (Muslime mussten damals keine Steuern zahlen), seine scheinbare
Ähnlichkeit mit dem Judentum sowie seine anfängliche Toleranz führte zu Konversionen von
Juden zum Islam. (Sand S. 272)]
Es ist eine in mehrfacher Hinsicht grausame Ironie der Geschichte, dass der abgrundtiefe Hass
Hitlers auf die Juden und der millionenfache Mord an unschuldigen Menschen während der Nazi
Zeit nicht nur auf einer verblendeten, grausamen und Menschen verachtenden Ideologie beruhte,
sondern auch auf einem falschen Verständnis der Abstammung dieser Menschen. Sie wurden ja
durch die Nazis nicht in erster Linie ihres Glaubens wegen verfolgt und ermordet,
sondern aufgrund ihrer Abstammung. (Hitler hat immer betont, den "rassischen Juden" zu
verfolgen!) Eine Abstammung, die, wie wir jetzt erfahren, bei vielen dieser Menschen gar nicht
vorhanden war. Das muss man erst einmal begreifen: Die von Hitler, von seinen Helfern und
Hintermännern ermordeten Menschen waren "Glaubensjuden", aber, nach den Rasse- und
Abstammungsbegriffen der Zeit, zum Teil "Arier", die übrigen jedenfalls waren fast alle keine
Semiten.
Das gesamte abstruse und kranke Konzept der "reinen Rasse" mit ihrer "rassischen
Überlegenheit" wird durch diese Erkenntnisse vollends ad absurdum geführt. Ebenso müsste
Ludendorff sich heute fragen lassen, was er denn nun mit "ablehnendem Rassegefühl" (s.u.)
gegenüber den Juden meint.
Shlomo Sand zitiert auf S. 352 Arthur Köstner, der in der jüdischen Welt mit seinem Buch "Der
dreizehnte Stamm" für erhebliches Aufsehen gesorgt hat. Köstner habe versucht "...Hitler und
dessen Erbe eine letzte ideologische Niederlage beizubringen":
"Doch ändert das nichts an der Tatsache, daß die große Mehrheit der überlebenden
Juden aus Osteuropa stammt und daher wohl khasarischen Ursprungs ist. Wenn dem
aber so ist, so kann das bedeuten, daß ihre Ahnen nicht vom Jordan, sondern von der
Wolga kamen, nicht aus Kanaan, sondern aus dem Kaukasus, den man einst für die Wiege
der arischen Rasse hielt, (...) dann würde wohl auch der Ausdruck 'Antisemitismus' bar
jeder Bedeutung werden, denn dann wäre er aus einem Mißverständnis erwachsen, das
sowohl die Mörder als auch ihre Opfer teilten. Die Geschichte des Khasarenreiches, wie sie
nun langsam aus der Vergangenehit emportaucht, erscheint wie ein grausamer
Treppenwitz der Weltgeschichte." ("Der dreizehnte Stamm", S. 11)]
Ludendorffs Antisemitismus
Ludendorff hat laut Frentz ("Der unbekannte Ludendorff", Limes Verlag 1972)
zumindest bis 1915/16 im Verwaltungsgebiet "Ober Ost" gut mit Juden
zusammengearbeitet. Unter den dort erscheinenden Zeitungen war auch eine
Jiddische. (3. Abb. in "Frentz" nach S. 160) Irgendwann im Verlauf des Krieges,
wahrscheinlich ab 1916, verstärkte sich in Ludendorff aber der Gedanke,
Deutschland, und neben Deutschland auch die anderen Nationen, seien Opfer
von Intrigen und Verschwörungen übernationaler Kräfte geworden.
General Hoffmann spricht in seinem schon genannten Buch davon, dass
Ludendorff ihn darauf aufmerksam gemacht habe, bestimmte Kräfte wollten sie,
die bis dahin vertrauensvoll und gut im Stab Ober Ost zusammengearbeitet
hätten, auseinanderbringen. Der Bruch erfolgte auch bald darauf, aber ohne
geheime Kräfte, sondern im Zusammenhang mit der Polenfrage. General
Hoffmann fiel in Ungnade, weil er in diesem Zusammenhang eine andere Position
als Ludendorff gegenüber dem Kaiser vertrat.
Dieser Gedanke geheim lenkender Kräfte sollte Ludendorff nie mehr losgelassen,
und er hat ihn nach dem Krieg und bis zu seinem Lebensende 1937, gemeinsam
mit seiner zweiten Frau, unermüdlich, ja obsessiv, immer weiter verfolgt.
Zu Ludendorffs späteren Veröffentlichungen zählten beispielsweise auch einige
über die Freimaurer, die eine enorme Wirkung erzielten und in deren Folge
zumindest in Deutschland die Zahl der Freimaurer deutlich sank, was daran lag,
dass eine Vielzahl von Freimaurern offenbar erst durch Ludendorff über
Ursprung und Bedeutung verschiedener freimaurerischer Riten und Symbole
erstmals erfuhren und daraufhin verunsichert austraten.
"In freimaurerischen Kreisen findet man bald den Verdacht, daß die erste
Ausgabe vor allem von den damals 80000 Brüdern selbst gekauft worden
sei. Ob zu ihrer eigenen Orientierung (Hervorhebung von mir) oder um
die Auflage vom Markt verschwinden zu lassen bleibt offen." (aus: "...für
und über... Die Geschichte der Freimaurerei im Deutschen Reich" von
Bruno Peters, ohne Jahresangabe, S. 201)
Aber nicht nur gegen die Freimaurer wandte sich Ludendorff. Er "kämpfte" gegen
alles was nur den Anschein des Über-Nationalen hatte. So schrieb er auch gegen
die Jesuiten mit ihrem General an, den er den "Schwarzen Papst" nannte. Er
empfand auch die römisch katholische Kirche (die bei Ludendorff immer nur
"Rom" heißt) mit ihren übernationalen Strukturen als eine Bedrohung für
Deutschland und andere Nationen bzw. Völker. Selbstverständlich konnte
Ludendorff auch mit der Sozialistischen Internationale nichts anfangen.
Und hinter all diesem verborgen (Freimaurer, Sozialisten, Jesuiten,..., ja letztlich
sogar hinter der katholischen Kirche), stand für Ludendorff eine jüdische
Verschwörung, die es nach seinem Verständnis zum Ziel habe, die Nationen der
Welt sich selbst zu entfremden und durch Zerstörung der Völker diese zu
unterwerfen.
Trotz dieser offensichtlichen Nähe zu nationalsozialistischem Gedankengut, täte
man Ludendorff aber dennoch Unrecht, ihn mit Hitler und dessen Regime in
einen Topf zu werfen. Denn erstens hat Ludendorff sich in vielerlei Hinsicht
ausdrücklich von Hitler distanziert - siehe z.B. Interview am Kapitelanfang zweitens ist sein Nationalismus nicht gegen andere Völker gerichtet. Er sieht
andere Völker vielmehr in ähnlicher Gefahr durch das Übernationale wie
Deutschland und plädiert allgemein für eine Rückbesinnung auf das Nationale
und ruft zum friedlichen Nebeneinander der Nationen auf. (Völker und Nationen
sind bei Ludendorff immer friedliebend, sie werden jedoch und nur durch
Verschwörungen gegeneinander aufgehetzt.) Drittens spricht sich Ludendorff im
Mai 1934 gegen "persönliche Bedrängung einzelner Juden" aus (s.u.), was den
deutlichsten Gegensatz zu den Nationalsozialisten darstellte.
Ludendorff sieht Unterschiede im religiösen Empfinden, dieses Empfinden sei für
jedes Volk unterschiedlich. Diese Unterschiede müssten sich folglich in
verschiedenem "Gottempfinden" ausdrücken. Der "jüdische Gott" mit
entsprechendem Gottes- und Menschenbild sei eben für die Juden deren
stimmiger Gott, für die Deutschen müsse es aber so etwas wie einen "deutschen
Gott" geben. Und folgerichtig gründet er mit seiner Frau einen "Bund für
deutsche Gotterkenntnis", der etwa Hochzeiten und Beerdigungen abhält.
Sogar die katholische Kirche ist für ihn nichts anderes als ein Ableger des
jüdischen Glaubens, sie sei überhaupt nur gegründet, um die vielen Völker der
Erde zu schwächen.
Für uns heute ist dies alles nur sehr schwer zu begreifen und nachzuvollziehen.
Für uns ist das Internationale im Gefolge der Globalisierung eine feste Größe
geworden. Auch die Sprache Ludendorffs erscheint uns wie in Stein gemeißelt
und schwer verdaulich. Ich will ihn hier kurz zitieren, um einerseits zu belegen,
was ich oben behauptet habe, andererseits um dadurch noch zu verdeutlichen,
was ich mit "schwer verdaulich" meine. Das Zitat stammt aus der Zeitschrift "Am
heiligen Quell Deutscher Kraft", die vom "Ludendorff Verlag GmbH München"
herausgegeben wurde, und ist einem Beitrag Ludendorffs aus der Folge 3 vom
5.5.1934 auf den Seiten 81 und 83 entnommen:
"Vor mir liegt eine englische Zeitung aus China. Sie behandelt mein Ringen
unter Anführung eines Teils meiner "Kampfziele" und meint, ich stünde auf
dem äußersten Flügel der antisemitischen Bewegung in Deutschland, da
ich die Christenlehre ablehne.
Der Schreiber des Artikels - anscheinend eine Jude Hochgradbr - hat recht.
Ablehnung der Christenlehre ist folgerichtiger Antisemitismus.
Jude und Hochgradbrr wissen, daß sie mit der christlichen Weltreligion
dem jüdischen Volk den Weg zur Weltherrschaft bahnen, indem sie mit der
Christenlehre, und entsprechenden Lehren, die Weltanschauung der nichtjüdischen, der "Gojim"-Völker gestalten, die sie als "auserwähltes Volk"
ihres Gottes Jahweh zu sich im Gegensatz stehend betrachten. (...)
Solch Erkennen des Judentums, solch Erkennen seiner Machtziele und
ihrer Wege, seiner Feindschaft gegen die Gojimvölker, d.h. gegen alle
Nichtjuden, ... geben dem Antisemitismus mit seiner Ablehnung der
Christenlehre seine tiefe sittliche Berechtigung, die nichts gemein haben
kann mit persönlicher Bedrängung einzelner Juden, so groß das
ablehnende Rassegefühl gegen sie auch ist."
Hoffentlich konnte ich hier anschaulich schildern, inwiefern Ludendorff Antisemit
war und wie sein Antisemitismus doch eine ganz eigene Ausprägung erfuhr.
Dieser Antisemitismus unterschied sich in mehrerlei Hinsicht deutlich von dem
Hitlers und dessen Konsorten, am augenfälligsten sicher im Hinblick auf die
Ermordung der europäischen Juden.
U-Bootkrieg und Kriegseintritt der USA
Ludendorff hatte sich im Verbund mit v. Hindenburg für den „uneingeschränkten
U-Bootkrieg“ eingesetzt. Schon v. Falkenhayn wollte diesen, hatte sich aber damit
nicht gegen den Kanzler Bethmann-Hollweg durchsetzen können.
Des Kanzlers Bedenken waren schwer wiegend und sind nicht einfach von der
Hand zu weisen. Er befürchtete, diese Entscheidung könnte die USA in die Reihe
der aktiven Kriegsgegner treiben. Und in der Tat ist es ja dann auch so
geschehen. In der Geschichtsschreibung wird daher auch in aller Regel die
Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Bootkrieges als großer Fehler
beschrieben. Natürlich muss solche Kritik bei Ludendorff landen, da er mit seiner
bekannt durchsetzungsfreudigen Art und in seiner einflussreichen Stellung
letztlich für die Entscheidung mitverantwortlich zeichnete.
Auch hier lohnt ein zweiter Blick, eine tiefer gehende Analyse.
Im Vorfeld der Wiederaufnahme des U-Bootkrieges war ein Kompromiss zwischen
Politik und Militär erzielt worden. Die Mittelmächte machten ein Angebot für die
Aufnahme von Gesprächen mit dem Ziel eines Waffenstillstandes und
Friedensverhandlungen. Ludendorff hatte größte Bedenken, dies könne als
Eingeständnis eigener militärischer Schwäche interpretiert werden. Andererseits
setzte er sowieso nicht viel Hoffnung in diese Idee, weil er bei der Entente keine
Friedenswilligkeit erkennen konnte. Aus diesem Grund fiel die Friedensinitiative
in ihrer Formulierung gemäßigt und zurückhaltend aus. Dennoch lag hier
erstmals ein ernsthaftes Papier auf dem Tisch, der Kaiser hatte, gemeinsam mit
seinen höchsten Politikern und Militärs, die Tür zu Verhandlungen aufgestoßen
und seine Hand ausgestreckt.
Die vorangegangenen, geheimen Verhandlungen Österreich-Ungarns von
1916, mit dem Ziel eines Sonderfriedens, die wesentlich vom neuen Kaiser
Österreich-Ungarns angestoßen und über dessen Schwager den Prinzen Sixtus,
der auf belgischer Seite (!) gegen die Mittelmächte kämpfte, gelaufen waren, kann
man nicht mit diesem offiziellen Gesprächsangebot auf eine Ebene stellen.
Nach der Ablehnung von Friedensgesprächen durch die Entente begann der
uneingeschränkte U-Bootkrieg, der entgegen häufig geäußerter Meinungen ein
erlaubtes und sinnvolles Kriegsmittel war. Moralische oder ethische Bedenken,
die in Friedenszeiten sicher ihre Berechtigung hatten und haben, kann man nicht
auf die damals herrschende Situation übertragen. Die weite Seeblockade der
Engländer war beispielsweise mindestens ebenso „verboten“ und in ihren
Auswirkungen nicht weniger tödlich als der U-Bootkrieg. Wer anders
argumentiert offenbart eine bizarre Moral, die mit zweierlei Maß misst.
Damals ahnte man in Deutschland eher, was sich später als gewiss herausstellen
sollte und was tatsächlich verboten war; dass auf zivilen Handelsschiffen Waffen,
Munition und sonstiger kriegswichtiger Nachschub aus den USA und anderen,
offiziell neutralen Staaten an die Entente geliefert wurden. Die "Lusitania" war
beispielsweise US-amerikanisch beflaggt, obwohl eigentlich ein britisches Schiff,
außerdem war sie offiziell ein ziviles Schiff mit Passagieren. Obwohl die
Versenkung von der alliierten Propaganda weidlich ausgenutzt wurde, hatte sie
aber in Wahrheit doch, verborgen in den Laderäumen, Munition und andere
kriegswichtige Ladung gebunkert. All dies widersprach natürlich den hehren
Erklärungen zur Freiheit der Meere und hat auch für einige, jedoch
vorübergehende Verstimmung zwischen den USA und Großbritannien geführt.
Wegen dieser und ähnlicher Erfahrungen waren daher, neben englischen Kriegsund Versorgungsschiffen, auch vorgeblich "zivile Boote" beim "uneingeschränkten
U-Bootkrieg" Ziele. Man verlangte somit in erster Linie von den USA– nur leicht
überspitzt formuliert - lediglich, dass „Ausflugsdampfer mit amerikanischen
Touristen“ (General Hoffmann) nicht mehr in das betroffene Seegebiet fahren
durften.
Die Auswirkungen des deutschen U-Bootkriegs waren verheerend. Die versenkte
Tonnage vor allem der Engländer war enorm und die vollmundigen Versprechen
der deutschen Marine, auf die sich Kaiser und Heeresleitung bei ihrer
Entscheidung verlassen hatten, schienen sich zu erfüllen. England stand kurz
vor einer Hungerkatastrophe, auch der Nachschub auf das Festland stockte.
Drei Monate später standen die USA im offenen Krieg gegen die Mittelmächte.
Jetzt kamen Rückschläge für die Mittelmächte und die Defizite in der deutschen
Planung wurden offensichtlich: 1. Es gab zu wenige U-Boote. 2. Die USA waren
wesentlich schneller in der Lage große Transportkapazitäten über den Atlantik zu
bringen als erwartet und 3. Man hatte die Taktik der Geleitzüge nicht
vorhergesehen, die die U-Bootwaffe stumpf und ineffektiv machte.
Trotzdem darf man daraus nicht folgern, dass man die U-Boote besser überhaupt
nicht hätte einsetzen sollen – es war schließlich im Überlebenskampf, bei dem die
Zahl der Gegner immer weiter wuchs, einen Versuch wert, auch wenn dieser
letztlich scheiterte. Allerdings gibt es bedenkenswerte Einwürfe. Der kluge
General Hoffmann bringt einen davon in seinem schon genannten Buch. Seiner
Ansicht nach kamen die U-Boote zu früh zum Einsatz, da man noch keine
ausreichend hohe Zahl davon besaß. Dieser Fehler ist zunächst der Marine
anzurechnen, die schon in der Vergangenheit lieber Schlachtschiffe gebaut hatte,
die kaum je zum Einsatz kamen, als dass sie auf praktikable Schiffsbauten
geachtet hätte. Von 1915 bis 1917 wäre Zeit gewesen, den Mangel an U-Booten
noch deutlicher zu beheben, als dies geschehen ist. Zeitweise konnten nur 9 UBoote gleichzeitig im Einsatz sein, die noch dazu bauartbedingt
Reichweitenprobleme hatten.
Es gibt allerdings auch die umgekehrte Ansicht, die U-Boote seien zu spät
eingesetzt worden. Auch diese Argumentation hat einiges für sich. Wir erfahren
im 3. Band von Bülows "Denkwürdigkeiten" auf S. 264 die dort zitierte
Einschätzung des einflussreichen Unternehmers Ballin. Dieser frühstückte
gerade im Berliner Hotel Continental mit Bülow, als er hinausgerufen wurde und
kurz darauf mit "sorgenvollem Gesicht" wiederkam und etwa sagte: "Wenn man
den U-Bootkrieg wollte, so hätte er früher eingesetzt werden müssen. Dann hätte
man auch Tirpitz behalten sollen. Jetzt hat England zwei Jahre Zeit gehabt,
durch Bewaffnung fast aller seiner Dampfer, durch U-Boot-Jäger und U-BootFallen, Motorboote, Flieger, Luft- und Horchschiffe, mit Wasser-Bomben und
Minen seine Abwehr zu organisieren."
Bülows eigene Ansicht zum U-Bootkrieg erfahren wir von ihm kurz vorher auf S.
263, ich zitiere kurz, weil hier auch Informationen zum Tirpitz Abgang enthalten
sind:
"Die schweren Bedenken, die gegen den U-Bootkrieg sprachen, lagen auf
der Hand. Wenn man sich trotzdem dazu entschloss, mußte wenigstens die
Führung des Krieges in die Hand des Schöpfers der Flotte, des
Großadmirals Tirpitz, gelegt werden, unserer ersten Autorität auf
marinetechnischem Gebiet. Statt dessen führte Bethmann mit Hilfe der
verschwägerten Admiräle Müller und Holtzendorff beim Kaiser einen
unterirdischen Feldzug gegen Tirpitz (im Original Sperrdruck), der zu
dessen mitten im Kriege in ungnädiger Form telegraphisch durch den
Kaiser erfolgter Verabschiedung führte. Als der richtige Augenblick für den
Beginn des U-Boot-Krieges verpaßt worden war, erfolgte der gefährliche
Schritt nicht nur zu spät, sondern auch in möglichst ungeschickter Art."
Bei "zu spät" bezieht sich Bülow, wie wir an anderer Stelle erfahren, auf die
Aussage eines englischen Generals, die dieser nach dem Weltkrieg gemacht hat.
Wenn Deutschland den U-Bootkrieg sofort und rückhaltlos gegen England
geführt hätte, so wäre England nach zwei Monaten am Boden gewesen. Mit dem
Hinweis "in möglichst ungeschickter Art" meint Bülow zwei verschiedene Aspekte.
Erstens wurde der U-Bootkrieg ohne Bethmann beschlossen, gleichzeitig
versäumte man dennoch Bethman, dessen Standpunkt und Politk man nicht
mehr teilte, zu verabschieden. Er reichte zwar seinen Rücktritt ein, ließ sich aber
vom Kaiser überreden zu bleiben. Der andere Aspekt zielt auf die USA, wo der
deutsche Botschafter noch drei Wochen vor der Wiederaufnahme des UBootkrieges versichert habe, dass Deutschland niemals einen solchen
uneingeschränkten U-Bootkrieg führen wolle.
Richtig oder falsch? Aus all dem kann man jedenfalls herauslesen, dass man eine
solche Frage nur unter Berücksichtigung von "wie" und "wann", letztlich aber
auch "mit welchem Ergebnis" beantworten kann. Ähnliches gilt wohl sogar für die
Verletzung der belgischen Neutralität, die zwar falsch war und extrem nachteilig
wirkte. Aber falls der Westfeldzug nach zwei Monaten siegreich beendet gewesen
wäre, so hätte sich diese Entscheidung zu einem gewissen Grad durch das
Gelingen selbst gerechtfertigt.
Was ist nun von dem erheblichen Vorwurf zu halten, die U-Boote hätten durch
ihren Einsatz die USA in den Krieg gezwungen?
Auch hier vertrete ich eine abweichende Meinung. Das wird Leser, die bis hierher
vorgedrungen sind, wahrscheinlich nicht weiter verwundern. Aber es ist nicht die
Lust am Widerspruch, sondern die Logik, welche mich leitet.
Um zunächst einen Blick auf die Haltung einer mit-entscheidenden Personen in
den USA zu werfen, zitiere ich hier nochmals denselben Abschnitt aus den
"Intimate Papers of Colonel House", Bd. II S. 107 vom August 1915 (zit. nach
Degrelle, "Hitler, born in Versailles" S 237); dort schreibt House an den uns
schon bekannten britischen Außenminister Grey in einer eigenen, geheimen
Korrespondenz:
"It goes without saying that I will not let the Germans know we [die USA]
are in agreement with the Allies, but I will attempt on the contrary to
convince them they [the Allies] will reject our proposals. This could
influence them in accepting them. If they did not, their refusal would be
enough to justify our intervention."
Edward Mandell House bezieht sich hier auf Bedingungen, die die USA an
Deutschland stellten und die so formuliert waren, dass das kaiserliche
Deutschland diese erwartungsgemäß ablehnen musste. Ganz offensichtlich geht
es darum, die USA trickreich in einen "gerechten Krieg" zu führen. Bedeutsam ist
allerdings auch das Datum, denn 1915 war die übergroße Mehrheit der USAmerikaner gegen einen Kriegseintritt, wobei ja House sogar schon am 3. Juli
1913 mit Grey einen entsprechenden Kuhhandel abgeschlossen hatte. (Siehe
hierzu: Jennings C. Wise: "Woodrow Wilson Dsiciplin of Revolution", S. 140) Noch
wichtiger allerdings scheint mir das perverse Denken zu sein, welches sich durch
solch abgründige Argumentationslinien offenbart.
Aber auch bei Außenminister Lansing gab es schon 1915 die erklärte Bereitschaft
England nicht alleine zu lassen, auch Wilson hatte sich schon 1914, wie weiter
oben ebenfalls schon gezeigt, gegenüber seinem Privatsekretär für eine
unbedingte Unterstützung Englands ausgesprochen.
Wir können sowieso, nachdem wir einen erweiterten Standpunkt zum Ersten
Weltkrieg eingenommen und in den Kapiteln 1 bis 6 begründet haben, die
unmäßige Kritik am Einsatz der U-Bootwaffe nicht nachvollziehen.
"Die vertraulichen Dokumente des Obersten House", halte ich im Prinzip für eine
zweifelhafte und dunkle Quelle mit doppeltem Boden. Nicht allein weil Prof.
Seymour, wie weiter oben bereits erwähnt, der geheimen "Skull & Bones"
Organisation angehörte, sondern auch aus ganz logischen Überlegungen heraus.
Prof. Seymour schreibt beispielsweise schon in seiner Einführung auf S. 1 der
gekürzten deutschen Ausgabe von 1932: "Solche Gedanken mögen Oberst House
durch den Kopf gegangen sein, als er sich entschloss eine Anzahl seiner Papiere
veröffentlichen zu lassen,..." Also liegen hier nicht alle Dokumente auf dem Tisch.
Außerdem ist einem so planvoll vorgehenden Menschen wie House, er hatte
gemeinsam mit anderen "Internationalisten" beispielsweise den Kandidaten
Wilson erst ausgewählt und ihn dann in einem bis dahin einzigartigen
Wahlkampf zum Präsidenten gemacht (ebenda S. 8), zuzutrauen, dass er auch
sein "Tagebuch" schon im Hinblick auf die Nachwelt geführt haben mag. House
war allerdings nicht nur Präsidentenmacher sondern auch weiterhin "stiller
Partner" (US-Botschafter Page 1913 in London) Wilsons. Peinlich für die
Demokraten wurde darüber hinaus sein veröffentlichtes Buch, indem er genau so
ein Verhältnis zwischen Lenker und Hintergrundberater und einem fiktiven
Präsidenten schilderte, wie seines zu dem Präsidenten war. Der Präsident war,
wie zahlreiche Dokumente und Äußerungen der Zeit belegen, sein Geschöpf. Wie
widersprüchlich und seltsam Houses Sammlung im Einzelfall sein kann,
mögen zwei kurze Beispiele belegen:
Wie beschreibt House die Situation in Europa kurz vor dem Krieg? In einem Brief
vom 29.5.1914 an den Präsidenten, den Seymour (S. 24) ausschnittsweise zitiert,
erfahren wir Houses Einschätzung der Lage:
"Die Lage ist ungewöhnlich. Es herrscht der völlig toll gewordene
Militarismus. (...) Es herrscht hier zu viel Haß, zu viel Eifersucht. Wenn
England jemals damit einverstanden ist, werden Frankreich und
Russland über Deutschland und Österreich herfallen."
Da der Brief von Seymour, jedenfalls in der deutschen Ausgabe, nicht in Gänze
wiedergegeben ist, kann man lediglich vermuten, dass sich der erste Satz des
Zitats auf ganz Europa und nicht nur auf Deutschland bezieht. Es erscheint im
Zusammenhang aber logisch.
Nur kurz darauf, am 1.6.1914, findet ein Treffen mit dem Kaiser statt, über das
wir nun nicht in Form eines Briefes, sondern lediglich aus den Aufzeichnungen
Houses (im Buch auf S. 25), informiert werden. Und seltsam, nur drei Tage zuvor
im zitierten Brief analysierte House für Wilson treffend die bedrohliche Situation,
in der Deutschland steckte, aber jetzt in seinen Aufzeichnungen wundert er sich
darüber, dass der Kaiser zum gleichen Schluss kommt:
"[Im Zitat zitiert House den Kaiser] 'Deutschland ist von allen Seiten
bedroht. Die Bajonette Europas sind gegen Deutschland gerichtet' und
einiges dergleichen mußte ich hören."
In Frankreich, seinem nächsten Ziel, gelingt es House nicht Gespräche zu führen.
Schließlich frühstückt House am 17.6.1914 mit Grey, Tyrrell und Page in
London und wir erfahren aus den Aufzeichnungen Houses (Seymour S. 28)
staunenswertes aus dem Mund von Grey:
"Er [Grey] stimmte mit mir in der Anschauung überein, daß die
französischen Staatsmänner jeden Gedanken an Vergeltung und die
Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens aufgegeben hätten, daß sie mit der
gegenwärtigen Stellung Frankreichs zufrieden seien."
Diese Aussage ist - von beiden – lächerlich, widerspricht den historischen
Tatsachen und ganz besonders auch den Aussagen in Houses eigenem Brief an
Wilson vom 29. Mai. Mir kommt es beim Lesen so vor, als spielten Grey und
House miteinander ein Spiel: Jeder macht dem anderen etwas vor - und beide
wissen darum. Jedenfalls kann House nicht beide oben geäußerten Ansichten
gleichzeitig gehabt haben, entweder war Frankreich eine Bedrohung für
Deutschland oder nicht. Aber wieso "belügt" er sein eigenes Tagebuch? Oder
hatte er vorher den Präsidenten im Brief belogen? Womöglich sind beide Texte für
den jeweiligen Leser manipulativ konzipiert und erscheinen in ihrem Widerspruch
zueinander hier nur durch ein Versehen - man wird das wohl nicht abschließend
beurteilen können, aber als historische Quelle muss man die House Papiere nach
dieser Erkenntnis jedenfalls sehr sorgfältig im Einzelfall prüfen.
In den USA wurde in den Jahren vor dem Kriegseintritt u.a. diskutiert, ob man,
so wie Deutschland dies forderte, die Reisen von US-Amerikanern nach Europa
bestimmten Bedingungen unterwerfen sollte. Also beispielsweise dafür zu sorgen,
dass solche Reisen nicht mehr auf bewaffneten Schiffen erfolgen sollten.
(26.2.1916, Deutschland gibt bekannt: bewaffnete Handelsschiffe werden
behandelt wie feindliche Kriegschiffe) Präsident Wilson legte sich schließlich
darauf fest, dass die Reisen von US Bürgern keinerlei Bedingungen unterworfen
werden dürften und widersprach damit dem Kongress:
"I cannot consent to any restrictions concerning the rights of American
citizens." (House, Bd. II. S. 244)
Der Kongress hingegen wollte die deutschen Bedingungen akzeptieren:
"Congress did not want a military confrontation with Germany. It adopted
the German definition." (ebenda)
Man sieht, die USA werden zielgerichtet in den Krieg geleitet. Denn man schickte
jetzt absichtlich Handelsschiffe ins Feuer, um die Situation anzuheizen. Wäre
man dem Kongressbeschluss gefolgt, so wären die USA anschließend jedenfalls
nicht als Folge des U-Boot Krieges in den Krieg eingetreten
Wir erfahren darüber hinaus in Klaus Hildebrands Buch "Das vergangene Reich"
auf S. 361 auch von einem Tagebucheintrag des US-amerikanischen
Außenministers Lansing. Dieser schreibt am 7. April 1917, also einen Tag nach
dem Kriegseintritt der USA:
"Denn wir durften niemals zulassen, daß der deutsche Kaiser zum Herrn
von Europa aufstieg, da er ansonsten die Welt beherrschen konnte und
unser Land das nächste Opfer seiner Gier werden würde."
Und Hildebrand folgert daraus:
"Auch wenn Deutschland die amerikanischen Rechte nicht so flagrant
verletzt hätte, wären die Vereinigten Staaten dazu gezwungen gewesen, den
Alliierten zu Hilfe zu kommen."
Erstaunlich genug bei der Rechtfertigung in Lansings Tagebuch bleibt immerhin
die völlig unrealistische Einschätzung der deutschen Bestrebungen und
Möglichkeiten. Lansing scheint 1917 endgültig der eigenen Propaganda
aufgesessen zu sein, die in diesen Tagen ernsthaft behauptete, die Deutschen
hätten heimlich auf dem Territorium der USA riesige Kriegswaffen produziert, die
sie jederzeit zum Einsatz bringen könnten. Sogar Präsident Wilson hatte
angeblich diesen Gerüchten Glauben geschenkt und seinen obersten Militär
danach befragt. Die öffentliche Meinung, die ja zu Beginn des Krieges durchaus
prodeutsch gewesen war, war inzwischen gekippt und so - wie wir gesehen haben
- unsinnigen Phobien gewichen. Aber "unsinnig" erscheinen all diese Dingen nur
denjenigen, die den offiziellen Erklärungen für den Krieg folgen. Durchaus
plausibel hingegen werden die Handlungen, wenn man meinen (in aller
Bescheidenheit) Betrachtungen, die ich weiter oben angestellt habe, folgt, was
jedenfalls nicht gegen meine Sichtweise und Interpretation spricht.
Wir sehen, diese USA wären immer dann in den Krieg eingetreten, wenn die
Entente ernsthaft zu scheitern drohte. Die U-Boote haben den Prozess
womöglich beschleunigt, sie sind aber nicht die wirkliche und schon gar nicht die
moralische Ursache für den Kriegseintritt der USA. Wer anderes behauptet
unterliegt der Nachwirkung alliierter Kriegspropaganda.
Allerdings boten die U-Boote einen spektakulären, öffentlichkeitswirksamen und
womöglich durchaus willkommenen Anlass, in den Krieg einzutreten. Aber auch
hier muss man realistisch feststellen: Die USA haben in der Vergangenheit immer
einen Weg gefunden, in einen Krieg einzutreten. Ja man kann sogar sagen, es
gibt eine gewisse amerikanische Tradition, wonach man immer einen Anlass
provozieren oder schaffen kann. In diese Kategorie fallen der schon erwähnte
Untergang der Lusitania (1915), der, obwohl britisch, in den USA
propagandistisch ausgeschlachtet wurde, ebenso "Pearl Harbour", weil man dort
offenbar absichtlich Schiffe im Hafen zurückgelassen und nur die "wertvolleren"
Flugzeugträger in Sicherheit gebracht hatte (Präsident Roosevelt war über die
Absicht der Japaner, Pearl Harbour zu bombardieren, informiert.). Auch der
propagandistisch ausgeschlachtete Untergang der "Maine", der im 19.
Jahrhundert zum Krieg gegen Spanien um Kuba den Anlass (wobei Kuba
wiederrum nur ein Anlass war, um die spanischen Phillipinen zu annektieren...)
bot, passt in dieses Schema. Frischer in Erinnerung sind die gefälschten Beweise
gegen Saddam Hussein, die zum Krieg gegen den Irak Anlass und Begründung
boten.
Wie auch immer, die USA hätten nötigenfalls immer einen Anlass "gefunden", um
in den Krieg einzutreten.
Was sich hier so harmlos liest, "Anlass", ist aber der Einstieg in ein großes
Schlachten und ein Gemetzel sondergleichen gewesen, bei dem ganz
offensichtlich die Anzahl der Todesopfer vollkommen irrelevant war. "Pearl
Harbour" hatte zunächst unmittelbar etwa 3500 tote amerikanische Soldaten zur
Folge. Aber dies war nur der Einstieg in einen weiteren Teil-Krieg, eine
Unterabteilung des WK II quasi, in dessen Gesamtverlauf weit mehr Opfer zu
beklagen waren. Die Opferzahlen sind gruselig. Und ich erinnere hier daran: Für
den WK I insgesamt etwa 10 Millionen Tote, für den WK II insgesamt geschätzte
60 Millionen Tote. Die Frage nach der tatsächlichen Verantwortung wird erlaubt
sein. Die wahre Antwort wird sich finden, und sie wird sich auch Bahn brechen.
Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich aber bei dieser Gelegenheit
nochmals darauf hinweisen, dass die moralischen Verbrechen, die in
Deutschlands Namen unter und während der Nazi-Diktatur begangen wurden,
also vor allem die planmäßige Ermordung der europäischen Juden und anderer
Minderheiten, durch die Frage nach den wirklich Verantwortlichen für den WK I
und WK II keinerlei Entlastung erfahren darf. Es sind dies zweierlei Dinge, die
getrennt analysiert werden müssen, obwohl sie natürlich letztlich miteinander
verwoben sind: Kommen die Nazis mit Hitler an der Spitze niemals an die Macht,
so findet auch der Vernichtungsfeldzug nicht statt. Das erklärt jedoch
keinesfalls die beispiellosen Greueltaten, die ja unmittelbar weitestgehend von
Deutschen organisiert und durchgeführt wurden.
Wer mag hier abschließende moralische Urteile fällen, vielleicht gar abwägen
zwischen der einen Schuld und der anderen Schuld? Hat der Totschläger mehr
Schuld auf sich geladen, als derjenige der ihm - um den verworfenen Charakter
wissend - das Mordinstrument in die Hand gedrückt hat? Mir liegen diese
moralischen Abwägungen fern, ich halte sie grundsätzlich für falsch und nicht
zielführend. Niemand sollte sich vor seinem Teil der Verantwortung drücken.
Übrigens ist der Kriegseintritt der USA gleichzeitig ein überwältigender Hinweis
darauf, dass der U-Bootkrieg aus
deutscher Sicht wirklich außerordentlich erfolgreich verlief. In dieser Hinsicht
scheint sich die Marine – trotz allem – nicht wirklich getäuscht zu haben.
Von den Vorwürfen die in diesem Zusammenhang üblicherweise an Ludendorff
haften, wie 'Kriegseintritt der USA' sowie
'U-Bootkrieg war unsinnig, unmoralisch, von vorneherein zum Scheitern
verurteilt', bleibt bei näherer und unvoreingenommener Betrachtung nicht
viel übrig. Diese Vorwürfe wirken geradezu lächerlich, wenn man den erweiterten
Bezugsrahmen aus Teil I meiner Betrachtungen und die bisher dargelegten
Kenntnisse berücksichtigt.
Eine persönliche Mutmaßung zum Zeitpunkt des Kriegseintritts der USA sei mir
zum Ende dieses Kapitels gestattet. Ich halte es für außerordentlich
wahrscheinlich, dass die wirkliche Initialzündung zum Kriegseintritt unmittelbar
mit der Revolutionierung Russlands zu tun hatte. Wenn die USA "zu früh" in den
Ersten Weltkrieg offen eintreten, so kommt es in Russland nicht zur Revolution,
der Zar bleibt in diesem Fall, genauso wie der der deutsche Kaiser, über das
Kriegsende hinaus an der Macht. Bei einem "zu frühen" Eintritt der USA in den
Krieg bleiben überdies die beteiligten Länder Europas, vor allem Russland und
Deutschland, noch zu stark und auch zu selbständig.
Aus militärischen Gründen wird es dann zur Unterstützung der Alliierten sehr
wichtig, Russland schnell, bzw. in einem ablösenden Mechanismus, auf dem
Kriegsschauplatz zu ersetzen. Der Kriegseintritt der USA vom 6. April 1917 wurde
drei Monate vorher angekündigt, die erste "Revolution" in Russland 1917 fand im
März durch Kerenski statt, war aber nur eine "vorläufige", wie man sie
beispielsweise in Trotzkis Kreisen nannte. Im Oktober gibt es dann die "richtige"
Revolution, mit den nachfolgenden, sich hinziehenden Friedensverhandlungen
mit dem Deutschen Reich. Betrachtet man nun noch den zeitlich
passenden Export der Revolutionäre, Lenin und Konsorten aus der Schweiz (am
16. April 1917, seit 1915 von "Parvus" Helphand vorbereitet), sowie Trotzki
(März/April 1917, vorübergehende Festsetzung in Kanada, angeblich auf
Veranlassung der britischen Botschaft in Washington und des USAußenministeriums hin aufgehoben) mit einer Gruppe von Gleichgesinnten aus
den USA über Kanada, so zeichnet sich langsam ein stimmiges Bild der Abläufe
durch die Nebelschwaden hindurch ab. Trotzkis amerikanischer Pass wurde
übrigens auf Anordnung Präsident Wilsons, der unter dem bekannten Einfluss
des schon erwähnten Colonel House stand, ausgestellt. Ich betone aber
nochmals, dass es sich hier um eine Mutmaßung von mir handelt, die ich nicht
beweisen kann - eine Mutmaßung allerdings, die mir logisch erscheint.
Unterstützt und nicht unerheblich erweitert wird meine Mutmaßung durch die
Tatsache, dass Helphand und Trotzki einst bei der versuchten russischen
Revolution von 1905 zusammengearbeitet hatten. (Lorenz Jäger in der FAZ
vom 14.3.2012, "Steuerfrage, Trotzki 1905 in Petersburg" S. N 3) Ein
aufschlussreiches Buch, das viel Licht in die Vorgänge um 1917 in Russland
bringt, ist das bis heute leider nur in englischer Sprache erschienene Buch von
Anthony Sutton "Wall Street and the Bolshevik Revolution". Es kann mit
Erlaubnis des Autors im Internet gelesen werden, ein Copyright aus dem Jahr
2001 besteht trotzdem. Ich füge hier einen kleinen Abschnitt aus dem ersten
Kapitel ein, der den Ansatz des Buches erkennen lässt:
"There has been a continuing, albeit concealed, alliance between
international political capitalists and international
revolutionary socialists — to their mutual benefit. This alliance has gone
unobserved largely because historians — with
a few notable exceptions — have an unconscious Marxian bias and are
thus locked into the impossibility of any such
alliance existing."
Ausnahmsweise der Versuch einer Übersetzung:
"Es gab, obwohl kaschiert, eine fortgesetzte Allianz von internationalen
politischen Kapitalisten und inter-nationalen
revolutionären Sozialisten - zu ihrem gegenseitigen Vorteil. Diese Allianz
verlief weitestgehend unbeobachtet, weil
Historiker- mit wenigen nennenswerten Ausnahmen - eine unbewusste
marxistische Voreingenommenheit haben und
daher von der Unmöglichkeit irgendeiner solchen Allianz überzeugt sind."
Eine gewisse Teil-Unterstützung von ziemlich prominenter Seite erfährt meine
Einschätzung der russischen Ereignisse außerdem mit folgendem Zitat:
"So sah ich bei meinem ersten Betreten sogleich zwei charakteristische
Typen des altrussischen Lebens vor mir: den Gendarmen und den Juden.
Lange hat der letztere vor dem ersteren gezittert, aber schließlich ist er
doch mit ihm fertig geworden, ob zum dauernden Wohl des Landes, muß
die Zukunft zeigen."
So unaufgeregt also die Analyse von Bernhard v. Bülow im Band IV seiner
"Denkwürdigkeiten" auf S.363, die er in der Hauptsache zu Beginn der 20er
Jahre des 20. Jahrhunderts niederschrieb. Das "erste Betreten" Russlands durch
den jungen Bülow erfolgte nach der Berufung zum Legationssekretär in St.
Petersburg noch tief im 19. Jahrhundert. Bülow ist allerdings völlig frei vom
Verdacht des Rassismus; er hatte persönliche, tiefe Freundschaften mit Juden
(u.a. mit Ballin) und analysiert in seinen Büchern immer wieder, welch
herausragende Leistung diese "Israeliten" (so seine Schreibweise) als Politiker in
vielen Ländern, vor allem in England und Italien, vollbracht hätten und wie diese
Länder so vom Geschick und der Intelligenz der Juden profitiert hätten. Hieraus
spricht die zugleich überlegen kosmopolitische und doch zutiefst konservativnationale Grundhaltung Bülows. Charaktere wie die von Bülow können eigentlich
nur aus dem 19. Jahrhundert hervorgehen; sie werden den Nationalsozialismus
weder körperlich noch geistig überstehen. Wieso Bülow in der allgemeinen
Einschätzung seiner Lebens- und Kanzlerleistung i.d.R. deutlich hinter
Bethmann-Hollweg zurückstehen muss, ist mir unverständlich. Seine
"Denkwürdigkeiten" sind Schatz und Fundgrube zugleich.
Freispruch für Ludendorff?
Viele der an Ludendorff gerichteten Vorwürfe beziehen ihre Wucht aus
bestimmten Annahmen zur Geschichte, besonders zum Ausbruch des Ersten
Weltkrieges mit der Schuldfrage, dem Kriegsverlauf, aber auch zur
Friedensfindung und zur Neuordnung Europas in der Nach- oder
Zwischenkriegszeit.
Dabei wird unterstellt, die Entente Staaten und deren Verbündete seien „die
Guten“, während die Mittelmächte das Prinzip des Bösen verkörpern. Wie wir im
Verlauf dieser kleinen Untersuchung festgestellt haben, muss man diese
grundlegende Setzung erheblich in Frage stellen. Den Befürwortern der
„klassischen Haltung“ bleibt vor allem der Angriff auf Belgien, mittels dessen man
Deutschland - für alle überzeugend - als den Aggressor darstellen konnte. Es ist
aber klar geworden, dass gerade die Belgien Frage weitaus komplizierter ist und
eigentlich recht gut dazu dienen kann, die Durchtriebenheit und Verlogenheit der
„Guten“ zu entlarven. Belgien und dessen schützenswerte Neutralität war ihnen
lediglich Mittel zum Zweck. Auf der anderen Seite steht die sich offenbar
aufdrängende Erkenntnis, dass schreckliche 20. Jahrhundert, mit dem Ersten
und Zweiten Weltkrieg, mit Hitler und Stalin, dem Abwurf zweier Atombomben
sei viel eher Ergebnis einer perversen Kalkulation von Eliten als eines bösaggressiven Charakters der Deutschen gewesen. Die Verbrechen Hitlers und der
Nazis werden damit, wie ich an anderer Stelle schon schrieb, nicht erklärt, nicht
entschuldigt und nicht relativiert.
Ludendorff war schon vor 1914 überzeugt davon, eine internationale Allianz wolle
Deutschland zerstören, er war daher in der Vorkriegszeit für Rüstung und
optimierte Kriegsvorbereitung eingetreten. Seine Erfahrungen während des
Weltkrieges und danach haben ihn in dieser Annahme bestärkt. Aus dieser
Erkenntnis heraus richtete Ludendorff bereits während des Krieges seinen Blick
auf die Nachkriegszeit. Für ihn war klar, sollte Deutschland in einem status quo
aus dem Krieg hervorgehen, so wäre der nächste Krieg nur eine Frage der Zeit.
Um einen zukünftigen Krieg zu vermeiden, sollte seiner Ansicht nach
Deutschland möglichst gestärkt, im optimalen Fall sogar autark aus dem jetzigen
Krieg hervorgehen. Es sollte so stark werden, dass niemand sich mehr trauen
würde, Deutschland anzugreifen. Dafür erschienen ihm die Gebiete im Osten
Europas, die er an der Ostfront und in seiner Zeit als Verwaltungschef von „OberOst“ gut kennengelernt hatte, als Einflusszonen und Wirtschaftsgebiete sehr
wichtig. Es ging ihm dabei nicht in erster Linie um Annexionen, als vielmehr um
einen deutschen Einfluss, der Rohstoff- und Lebensmittelversorgung auch im
Kriegsfall sicherstellen konnte.
Seine Überzeugungen wurden bestimmend für die Fragen zur Kriegsführung,
zum Friedensschluss oder auch der Unterstützung der „Roten“ in Russland.
Im Frieden von Brest-Litowsk sollte möglichst schnell eine endgültige und
dauerhafte Entlastung der Ostfront gefunden und die Einflusszonen
Deutschlands in diesem weiträumigen Gebiet festgeschrieben werden. Sebastian
Haffner hat in seinem Buch „Die sieben Todsünden“ eine flammende Rede gegen
diese militärstrategische Politik gehalten, und viele sind ihm bis heute in dieser
Überzeugung gefolgt. Es stellt sich die Frage, ob es dem Osten Europas unter
einer deutschen Herrschaft, so wie sie Ludendorff vorschwebte, wirklich
schlechter ergangen wäre, als es kurz darauf unter der Knechtschaft der
Bolschewiken tatsächlich der Fall wurde. Jene von Ludendorff unterstützte
Einflusszone wurde nach Kriegsende schnell sowjetisch, oder zumindest in
weiten Teilen in Form von „Satellitenstaaten“ sowjetisch beherrscht. Wie wir
wissen fand der Aufstieg und die Machtsicherung der „Roten“ erstaunlicherweise
unter tätiger Mithilfe der bestimmenden Kräfte in den USA und England statt dies auch noch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges.
Was die Unterstützung der Revolution in Russland und der „Roten Armee“
anging, so war Ludendorffs Haltung nur vom augenblicklichen Nutzen, die deren
Erfolge für Deutschland hatten, geprägt. Dies gilt besonders auch für den
berühmten Zugtransport von Lenin aus der Schweiz. Schon sehr früh warnte er
eindringlich vor bolschewistischer Propaganda, die auch in Deutschland das
Militär schwächen und gar zur Revolution führen könne, konnte sich aber mit
seinen Warnungen nicht angemessen durchsetzen. Außerdem plädierte er am
Scheitelpunkt der Oktoberrevolution für die gezielte militärische Unterstützung
der „Weißen“, womit wahrscheinlich mit einfachstem Aufwand die damals noch
auf tönernen Füßen stehende bolschewistische Regierung wieder von der Macht
vertrieben worden wäre.
Ludendorff, der ja gerne als „Diktator“ beschrieben wird, konnte sich aber auch
mit dieser Forderung nach Entsendung einer kleinen Truppeneinheit zur
Unterstützung der „Weißen“ nicht durchsetzen.
Ludendorffs Verhalten speziell im Jahr 1918 kann auch nur dann angemessen
beurteilt werden, wenn man anerkennt, dass er den Willen einer internationalen
Koalition zur Vernichtung Deutschlands durchschaut hatte. Daher hat er in den
vielen Offensiven des Jahres 1918 versucht, an der Westfront doch noch den
Krieg zu gewinnen, auch wenn dies zunehmend immer aussichtsloser erscheinen
musste und scheinbar sinnlos immer mehr Opfer forderte. Übrigens ist die Armee
mit Ludendorff an ihrer Spitze damals nur ausgesprochen knapp gescheitert.
Ebenfalls wird erkennbar, wieso Ludendorff gerade gegenüber Wilsons berühmten
14 Punkten, die dieser erstmals am 8.1.1918 formuliert hatte, ausgesprochen
skeptisch war - und dass er damit richtig lag. Tatsächlich sollten die
Forderungen Wilsons fortan immer weiter nach oben geschraubt werden, was
Ludendorff, obwohl er mittlerweile (29. September) die Aussichtslosigkeit einer
Fortsetzung des Krieges erkannt und Friedensverhandlungen gefordert hatte, zu
einem letzten Aufbäumen veranlasste: Er wollte in einem Appell an die Truppen
am 24. Oktober, nach bekannt werden der letzten, erneut mehr
fordernden Wilson Note, zu einer Fortsetzung des Krieges aufrufen. Hindenburg
lehnte dies ab, und Ludendorff wurde im Zusammenhang mit diesem Streit vom
Kaiser entlassen, was er mit den sich als zutreffend erweisenden Worten
quittierte: "In 14 Tagen haben wir keinen Kaiser mehr." Wann hätte man
übrigens jemals einen "entlassenen Diktator" gesehen?
Vielfach ist Ludendorff vorgeworfen worden, eine starre und unflexible Haltung
bei allen Problemen eingenommen zu haben und so beispielswiese
Friedensgespräche oder innenpolitische Reformen ausgebremst zu haben. Auch
dieser überlieferten Annahme muss zumindest teilweise widersprochen werden.
"Kurz zuvor [im Juni 1917] hatte sich (...) Gustav Stresemann gegenüber
Ludendorff dafür ausgesprochen, die SPD in die Regierung einzubeziehen.
Ludendorff hatte keinerlei Einwendungen, wenn damit die Ruhe hinter der Front
hergestellt werden könne. Die Reichsregierung zögerte jedoch, diesen überfälligen
Schritt zu untenehmen."
(Dimitrios, Alexander, "Weimar und der Kampf gegen 'rechts' ", Band I S. 32, dort
cit. nach H. Heidegger, "Die Deutsche Sozialdemokratie")
Wir entnehmen der Untersuchung Steglichs auch erstaunt, dass Ludendorff im
Sinne von Friedensverhandlungen sogar zu Gebietsabtretungen an Frankreich in
Elsass-Lothringen ermutigt hat. Auch wenn es sich dabei zunächst nur um
Grenzkorrekturen kleineren Ausmaßes handeln sollte, so ist die Tatsache an sich
bemerkenswert. (Zitat Stelle wird nachgereicht)
Wenn Ludendorff in seinen Grundannahmen überraschenderweise tatsächlich
richtig liegen sollte, so wäre er von sehr vielen Vorwürfen geradewegs zu
entlasten.
[Wichtige Anmerkung: Von diesen "Grundannahmen" möchte ich aber
ausdrücklich die von Ludendorff unterstellte "jüdische Verschwörung"
ausnehmen. Wie aus meiner bisherigen und noch folgenden Untersuchung klar
wird, verhielt sich die Sache offenbar weitaus komplizierter. Was bei der auch
heute noch gelegentlich aufgestellten Behauptung einer "jüdischen
Verschwörung" so verstört, ist, dass diejenigen, die so etwas in die Welt setzen,
offenbar wie selbstverständlich davon ausgehen, alle Juden seien an dieser
Verschwörung beteiligt. Dieselben Personen kämen hingegen niemals auf den
Gedanken, etwa im Zusammenhang mit der "Milner Group", von einer
"englischen Verschwörung" zu sprechen.
Möglicherweise kann man, was damals geschah, als "Verschwörung von
verschiedenen Eliten" bezeichnen. Diese Eliten verfolgten teilweise
unterschiedliche Interessen, hatten allerdings auch einiges gemeinsam. Etwa,
dass sie in der Regel nicht gewählt waren, sondern sich lieber in der zweiten
Reihe aufhielten und innerhalb eines engen Kreises geheim arbeiteten. Oder dass
die gewählte öffentliche Position nur Teil eines Gesamtarrangements war, wie
beispielsweise bei Lord Milner. Außerdem stellten diese Eliten ihre elitären
Erkenntnisse, in der Annahme sie seien klüger, leichthin über das Gemeinwohl wobei sie selbstverständlich immer das Gegenteil beteuern. Wollte man dies ernst
nehmen, so müsste man den Mephisto aus Goethes Faust geradewegs umkehren,
der sich als Teil jener Kraft bezeichnet, die stets das Böse will und stets das Gute
schafft. Denn dann hätten diese Eliten immer nur das Gute gewollt, aber
seltsamerweise regelmäßig das Böse geschaffen. Weiterhin scheint den Eliten
gemeinsam zu sein, dass Menschenleben und Opferzahlen sowohl "eigener" als
auch fremder Länder keine Rolle zu spielen scheinen. Es wirkt auf mich, als seien
diese notwendige Opfer und übergeordneten Maximen gegenüber nachrangig.
Schauderhaft.]
Denn wie es scheint war Deutschland damals tatsächlich ein Opfer gewesen und
sollte schon bald erneut als eines herhalten. In einem empörten Schreiben an
Hindenburg versuchte Ludendorff am 18.11.1933 noch einmal und wiederum
vergeblich in den Lauf der Geschichte einzugreifen, indem er den greisen
Präsidenten eindringlich vor Hitler warnte, es werde "das Rechte mit Füßen
getreten" und "der letzte Rest der Geistesfreiheit begraben", außerdem schreibt
er: "Wenn dereinst die Geschichte des deutschen Volkes geschrieben wird, dann
wird das Ende ihrer Reichspräsidentschaft als die schwärzeste Zeit deutscher
Geschichte beschrieben werden." Ein solches Schreiben, dessen Existenz lange
umstritten war, ist inzwischen tatsächlich in russischen Archiven aufgetaucht.
Man kann m. E. Ludendorff unter diesen Umständen nicht als Mitläufer des Nazi
Regimes darstellen, wie es unlängst in einem FAZ Artikel („Stratege in eigener
Sache“, http://www.seiten.fazarchiv.de/faz/20121221/fd1201212213721018.html, Artikel ist archiviert und
nicht direkt online einsehbar) geschehen ist. Die Autoren Manfred Nebelin und
Rainer Blasius machen ihre Haltung in erster Linie an Ludendorffs politischem
Testament fest und greifen dort zur Begründung einen Satz besonders heraus:
"Das, was wir geben, muss Rückhalt der außenpolitischen Erfolge des
Nationalsozialismus und Deutschen Wehrhaftseins sein."
Die Autoren des FAZ Artikels verkennen in ihrer Einschätzung aber,
dass Ludendorff sich mit der politisch korrekten Abfassung des Testaments noch
als Toter schützend vor seine Anhänger stellen wollte. Schließlich lautet der
allerletzte Satz des Testaments: "Es lebe die Deutsche Freiheit" - nicht unbedingt
ein Schlagwort, das man mit dem Nationalsozialismus in Verbindung bringen
würde, zumal Ludendorff zuvor ausgeführt hatte, dass es ihm sowohl um die
innere wie die äußere Freiheit des Menschen ging. Sie können das gesamte
politische Testament unter obigem Link als zweiseitiges pdf Dokument lesen.
Was als Schatten bleibt, ist natürlich die vorübergehende Zusammenarbeit
Ludendorffs mit Hitler, hauptsächlich in den Jahren 1923 bis
1927. Demgegenüber ist nicht von der Hand zu weisen, dass Hitler, hätten sich
im Jahr1933 alle ähnlich wie Ludendorff verhalten, niemals an die Macht
gekommen wäre.
Ich bin überzeugt davon, dass sich das Ludendorff Bild in Anerkennung und
Auswertung der Forschungen und Untersuchungen aus den 60er und 70 Jahren
des vergangenen Jahrhunderts von Männern wie etwa Carroll Quigley oder
Antony Sutton sowie der weitergehenden Untersuchungen von WirkHintergründen beim brüchigen Frieden von 1919, dem Großwerden Hitlers und
der Bolschewisten, kurz - dem Aufdecken von großen, geostrategischen und
geopolitischen Zusammenhängen des 20. Jahrhunderts, erheblich verändern
wird.
Jene Menschen, die sich vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg
entschlossen gegen Deutschland gestellt hatten, taten dies offiziell aus der
Überzeugung heraus, „der Herrschaft des Rechts“ Geltung zu verschaffen, so wie
dieses Recht von A.V. Dicey 1885 in „The Law of the Constitution“ in England
definiert worden war. In dieser Vorstellung kämpften die „Kräfte des Lichts“ als
Vertreter des Gesetzes (The Law), gegen die „Macht der Finsternis“, die sich aus
deren Sicht in Personen wie Kaiser Wilhelm oder dem Zaren manifestierte. Solche
Reden dienten und dienen wunderbar sowohl zur Gewinnung von naiven
Idealisten als auch der Propaganda, können aber nicht über die grausame
Rücksichtslosigkeit hinwegtäuschen, die das Beschreiten jenes Weges
automatisch implizierte und die so das 20. Jahrhundert zur Schlachtbank führte.
Jene Geschichte, die in einem umfassenden Sinn „wahre“ Geschichte des 20.
Jahrhunderts, muss aber erst noch verstanden und geschrieben werden.
Schließen möchte ich dieses Kapitel mit einem kurzen Bismarck Text aus
„Gedanken und Erinnerungen“ Band II S. 113, der mit Bezug auf den Krieg von
1870/71, als das Heer vor Paris stand, zu Beginn der 1890er Jahre abgefasst
wurde:
„Die Vorstellung, dass Paris, obwohl es befestigt und das stärkste Bollwerk der
Gegner war, nicht wie jede andere Festung angegriffen werden dürfe, war aus
England auf dem Umwege über Berlin in unser Lager gekommen, mit der
Redensart von dem „Mekka der Civilisation“ und andern in den cant [Gesang] der
öffentlichen Meinung in England üblichen und wirksamen Wendungen der
Humanitätsgefühle, deren Bethätigung England von allen anderen Mächten
erwartete, aber seinen eignen Gegnern nicht immer zu Gute kommen lässt.“
8 Das Puzzle fügt sich zusammen, Epilog
In den bisherigen Kapiteln wurden manche Aspekte der Vorgeschichte sowie des
Verlaufs des Ersten Weltkrieges untersucht. Dabei sind ungewöhnlich
erscheinende Erklärungen für das Geschehen angeboten worden, ungewohnt
deshalb, weil sie häufig dem überlieferten Geschichtsbild widersprechen. Falls
meine Erklärungen richtig sind, so müsste sich für die Zeit nach dem Ersten
Weltkrieg ein Fortwirken jener Kräfte, von denen ich weiter oben sprach,
feststellen lassen. In aller Kürze möchte ich nun hier versuchen, ein – vorläufig -
abschließendes Bild zu geben, das sich bestimmt noch verfeinern und sprachlich
auch besser gestalten ließe. Mir ist wichtig, auf die grundsätzlichen Tatsachen
und Abläufe hinzuweisen.
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges gründen sich einige Organisationen, die bis
heute ausgesprochen mächtig und einflussreich geblieben sind. Ich zitiere zur
Entstehungsgeschichte der Institutionen in diesem Kapitel reichhaltig aus
Quigleys „The Anglo-American Establishment“ und lasse dabei die englischen
Originaltexte unübersetzt. Da die Informationen hier notwendigerweise sehr
kompakt sind, kann ich zum weiteren Verständnis nur dazu raten, Quigleys
Buch ganz zu lesen. Ich selbst muss nur wenig verbindenden Text hinzufügen
und Quickleys Analysen gelegentlich etwas erweitern und auf den heutigen Stand
bringen. Ich möchte hier allerdings betonen, dass Quigley selbst der „Milner
Group“ durchaus gute und edle Absichten unterstellt, die sich dann aber leider in
der Praxis nicht bewährt hätten. Ich selbst sehe dies allerdings anders, wie ich
ganz am Ende auch erläutern werde. Quigley kritisiert aber grundsätzlich die
Machtfülle, die sich in einem kleinen, erlauchten Kreis konzentriert habe und die
es dieser Gruppe insgeheim gestattet habe, die Geschicke der Welt über
Jahrzehnte hinweg bestimmend zu gestalten. Dies geschah ohne Kontrolle und
ohne Wahlen. Niemals wieder solle so etwas geschehen – meint Quigley.
Ausgangspunkt der „Nachkriegsgeschichte“ ist bereits das Jahr 1915, genauer
gesagt der Dezember 1915. Zu diesem Zeitpunkt wurde Milner Mitglied des
englischen Kabinetts. Er hatte sich also entschieden, aus der Hintergrundrolle
herauszutreten und zusätzlich eine öffentliche Rolle einzunehmen. Sofort nimmt
er die Fäden in die Hand:
“As soon as Milner joined the Cabinet in December 1915, he sent out
cables to the Dominions and to India, inviting them to come. It was Milner
also who created the Imperial War Cabinet by adding Dominion members to
the British War Cabinet.” (Quigley, S. 129)
Das Imperial War Cabinet wurde dann im Jahr 1917 geschaffen, also zur selben
Zeit als der neue englische Premierminister Lloyd George als Figur der Milner
Group und kontrolliert von eben dieser ins Amt gekommen war:
In 1917, when it was decided to give the Cabinet a secretariat for the first time,
and to create the Imperial War Cabinet by adding overseas representatives to the
British War Cabinet (a change in which Milner played the chief role), the
secretariat of the Committee of Imperial Defence became also the secretariat of
the other two bodies. At the same time, as we have seen, the Prime Minister was
given a secretariat consisting of two members of the Milner Group (Kerr and
Adams). (Quigley, Establishment, S. 126)
Es ist hier notwendig noch einmal einen Schritt zurückzutreten und kurz die
Entstehungsgeschichte der „Imperial Conferences“ zu schildern, die 1907 aus
den „Colonial Conferences“ hervorgehen. Beide Konferenzen entspringen der uns
bekannten Quelle und verfolgen bekannte Ziele:
“The use of Colonial or Imperial Conferences as a method for establishing
closer contact with the various parts of the Empire was originally
established by the Cecil Bloc and taken over by the Milner Group. The first
four such Conferences (in 1887, 1897, 1902, and 1907) were largely
dominated by the former group, although they were not technically in
power during the last one. The decisive changes made in the Colonial
Conference system at the Conference of 1907 were worked out by a secret
group, which consulted on the plans for eighteen months and presented
them to the Royal Colonial Institute in April 1905. These plans were
embodied in a dispatch from the Colonial Secretary, Alfred Lyttelton, and
carried out at the Conference of 1907. As a result, it was established that
the name of the meeting was to be changed to Imperial Conference; it was
to be called into session every four years; it was to consist of Prime
Ministers of the self-governing parts of the Empire;” (Quigley,
Establishment, S. 126)
Vom Jahr 1907 springen wir jetzt zunächst in das Jahr 1911, denn in weiser
Voraussicht nahm die “Milner Group” schon weit vor Ausbruch des Ersten
Weltkrieges Einfluss auf Ziele und Politik der Konferenzen:
“At the [Imperial] Conference of 1911, as is well known, the overseas members
were for the first time initiated into the mysteries of high policy, because of the
menace of Germany.
The Conference of 1915 was not held, because of the war, but as soon as Milner
came into the government in December 1915, The Round Table's argument that
the war should be used as a means for consolidating the Empire, rather than as
an excuse for postponing consolidation, began to take effect.” (Quigley,
Establishment, S. 129)
Aber Milner tat noch mehr. Im März 1917 tagte erstmals das “Imperial War
Cabinet”, welches durch Hinzuziehung der Premierminister der Dominion Staaten
aus dem „War Cabinet“ hervorging. Als im Mai 1925 Milner verstarb, konnte
man folgenden Nachruf in der Times lesen. Darin wird dem Leser allerdings
wohlweislich verschwiegen, dass Lloyd George nur für die Öffentlichkeit eine
höhere Position als Milner einnahm:
“With the special meeting of the War Cabinet attended by the Dominion
Prime Ministers which, beginning on March 20, came to be distinguished
as the Imperial War Cabinet . . . Milner was more closely concerned than
any other British statesman. The conception of the Imperial War Cabinet
and the actual proposal to bring the Dominion Premiers into the United
Kingdom Cabinet were his. And when, thanks to Mr. Lloyd George's ready
acceptance of the proposal, Milner's conception was realized, it proved to be
not only a solution of the problem of Imperial Administrative unity in its
then transient but most urgent phase, but a permanent and far-reaching
advance in the constitutional evolution of the Empire. It met again in 1918,
and was continued as the British Empire Delegation in the peace
negotiations at Versailles in 1919. Thus, at the moment of its greatest need,
the Empire was furnished by Milner with a common Executive. For the
Imperial War Cabinet could and did, take executive action, and its
decisions bound the Empire at large.” (Quigley, S. 130)
Die Tradition der Imperial Conferences wurde im Prinzip auf das Imperial Cabinet
übertragen. Während jene aber nur alle vier Jahre stattfanden, sollte das Imperial
Cabinet sich jährlich treffen. Aber allein 1917 trat das Imperial Cabinet dann
nicht weniger als 14 mal zusammen. Die Funktionsweise und Aufgabenstellung
der Konferenzen sollte sich verändern, wie in der Publikation „The Round Table“
vom Juni 1917 zu lesen ist:
“It is evident, however, that the institution through which the improved
Imperial system will chiefly work will be the newly constituted Imperial
Cabinet. The Imperial Cabinet will be different in some important respects
from the Imperial Conference. It will meet annually instead of once in four
years. It will be concerned more particularly with foreign policy, which the
Imperial Conference has never yet discussed.... Its proceedings will
consequently be secret...“ (Quigley, Establishment, S. 129)
Wir sehen bei all dem, wie zielgerichtet diese Institutionen vor, während und
nach dem Ersten Weltkrieg eine Internationalisierung betreiben. Zunächst gab es
die „Colonial Conferences“, die dann 1907 in „Imperial Conferences“ umbenannt
worden waren. Anschließend übernahm während des Krieges das „Imperial
Cabinet“, welches eine Erweiterung des „War Cabinets“ darstellte, die Aufgaben
der Konferenz, allerdings mit erheblich erweitertem Aufgabenspektrum. Hinter
praktisch all diesen Aktivitäten und Entwicklungen stand die Milner Group. Aber
es geht noch weiter, denn:
“Sir Maurice Hankey read a paper on ‘Diplomacy by Conference’, showing
how the League of Nations grew out of the Imperial Conferences. This was
published in The Round Table.” (Quigley, Establishment S 152)
Um das Bild abzurunden, müssen zu den aufgeführten Konferenzen und
Kabinetten nun noch einige bekannte Namen und Institutionen hinzufügen.
Diese sind insbesondere „The Royal Intitute of International Affairs“ (RIIA), „The
Counsil on Foreign Relations“ sowie „The Inquiry“. Sie erscheinen der
Öffentlichkeit womöglich als getrennte Organisationen, in Wirklichkeit sind sie
alle Kinder derselben Mutter, oder Äste desselben Baumes. Dabei begegnen wir
sowohl neuen Namen als auch altbekannten Personen. Da ist zunächst George
Louis Beer, der, als erster nicht Brite, seit 1912 Mitglied der „Round Table Group“
war. (Quigley, Establishment, S. 139) Außerdem treffen wir den altbekannten
„Colonel“ House wieder, der sichtbarer Leiter einer Experten-Gruppierung war,
die sich „The Inquiry“ nannte und die wesentlich von „The House of Morgan“
gesteuert wurde:
“When the Round Table Group, about 1911, began to study the causes of
the American Revolution, they wrote to Beer, and thus began a close and
sympathetic relationship. He wrote the reports on the United States in The
Round Table for many years, and his influence is clearly evident in Curtis's
‘The Commonwealth of Nations’. He gave a hint of the existence of the
Milner Group in an article which he wrote for the Political Science
Quarterly of June 1915 on Milner. He said: "He stands forth as the
intellectual leader of the most progressive school of imperial thought
throughout the Empire."
Beer was one of the chief supporters of American intervention in the war
against Germany in the period 1914-1917; he was the chief expert on
colonial questions on Colonel House's "Inquiry", which was studying plans
for the peace settlements; and he was the American expert on colonial
questions at the Peace Conference in Paris. The Milner Group was able to
have him named head of the Mandate Department of the League of Nations
as soon as it was established. He was one of the originators of the Royal
Institute of International Affairs in London and its American branch, The
Council on Foreign Relations. With Lord Eustace Percy, he drew up the
plan for the History of the Peace Conference which was carried out by
Harold Temperley.” (Quigley, Establishment, S. 129)
Aber, für uns nicht überraschend, sondern im Gegenteil schlüssige Folge, auch
das „Royal Institute of International Affairs“ ist Kind bekannter Eltern:
“The Royal Institute of International Affairs [RIIA] is nothing but the Milner
Group "writ large." It was founded by the Group, has been consistently
controlled by the Group and to this day is the Milner Group in its widest
aspect.” (Quigley, Establishment, S 150)
Und damit keine Zweifel bleiben, welche Kräfte hier wirken noch ein weiteres,
aufschlussreiches Zitat:
"When the Institute [RIIA] was founded through the inspiration of Mr.
Lionel Curtis during the Peace Conference of Paris in 1919, those
associated with him in laying the foundations were a group of
comparatively young men and women." The Institute was organized at a
joint conference of British and American experts at the Hotel Majestic on 30
May 1919. At the suggestion of Lord Robert Cecil, the chair was given to
General Tasker Bliss of the American delegation. We have already indicated
that the experts of the British delegation at the Peace Conference were
almost exclusively from the Milner Group and Cecil Bloc. The American
group of experts, "the Inquiry," was manned almost as completely by
persons from institutions (including universities) dominated by J. P.
Morgan and Company [House of Morgan]. This was not an accident.
Moreover, the Milner Group has always had very close relationships with
the associates of J. P. Morgan and with the various branches of the
Carnegie Trust. These relationships, which are merely examples of the
closely knit ramifications of international financial capitalism, were
probably based on the financial holdings controlled by the Milner Group
through the Rhodes Trust. The term "international financier" can be applied
with full justice to several members of the Milner Group inner circle, such
as Brand, Hichens, and above all, Milner himself.” (Quigley S. 151)
An diesem Punkt der Geschichte sollte endgültig klar geworden sein, wie sehr der
Erste Weltkrieg, neben der Zerstörung der alten Kräfte und der alten Ordnung,
noch zur Schaffung einer neuen Welt beitragen sollte. Die Institutionen, die bis
heute einflussreich den Lauf der Dinge bestimmen, sind teils schon gezielt vor
dem Ersten Weltkrieg ins Leben gerufen worden, andere sind während des
Krieges oder danach aus den älteren Organisationen und Einrichtungen
hervorgegangen, wieder andere sind nur scheinbar völlige Neuschöpfungen,
während sie in Wirklichkeit immer demselben Quell entspringen.
Die politischen Entwicklungen gegen Ende des Ersten Weltkrieges und in der
Zwischenkriegszeit, wie ich sie hier kurz anhand von Carroll Quigleys Darstellung
vorgestellt habe, bestätigen also in vollem Umfang meine Theorie, die ich in in
den vorherigen Kapiteln entworfen habe: Beinahe alles was geschah, wurde
Zielen einer einflussreich elitären Gruppe unterworfen und anhand deren Pläne
kanalisiert. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist also kein wildes,
freilaufendes Wasser, sondern viel eher eine "kontrollierte Sprengung".
Vorgeschichte und Verlauf des Ersten Weltkrieges sowie praktisch das gesamte
20. Jahrhundert lassen sich jetzt besser verstehen. Zwar wird das Geschehen
dadurch nicht weniger brutal, aber es ergibt zumindest einen Sinn. Die
Erkenntnisse gäben uns rein theoretisch jetzt die Möglichkeit, unsere Zukunft
besser zu gestalten.
Zur Ergänzung der glänzenden Untersuchungen von Carroll Quigley bieten sich
heute die nur wenig später entstandenen Bücher von Antony Sutton an. Darin
wird deutlich, dass dieselben genannten Strukturen auch wesentlich für den
Erfolg der Bolschewistischen Revolution sowie für den Aufstieg Hitlers
verantwortlich waren. Hitler-Deutschland sollte dabei benutzt werden, um gegen
jenen Bolschewismus anzutreten, den man selbst zuvor großgezogen hatte. Der
Aufstieg Hitlers war, ebenso wenig wie der Zweite Weltkrieg, oder die
„Appeasement“ Politik, eben gerade kein Unfall der Geschichte. Wenn man etwa
die Rolle der „Times“ in den 1930er Jahren betrachtet, so kann an der
Zielgerichtetheit dieser Politik nicht gezweifelt werden. Denn einerseits war die
Zeitung damals fest in der Hand der „Milner Group“, andererseits wissen wir aus
den Schilderungen von Douglas Reed, der damals Auslandskorrespondent der
„Times“ in Berlin war, dass seine nazi-kritischen Berichte entweder zensiert oder
schlicht nicht mehr gedruckt wurden. Die englische Öffentlichkeit sollte - was
Deutschland anging - gezielt in die Irre geführt werden, damit es zum Zweiten
Weltkrieg kommen konnte.
Abschließend fragt sich der in normalen moralischen Kategorien denkende
Mensch natürlich: „wozu das alles?“
Menschen denken gerne in den Schemata von Gut und Böse, wollen unbewusst
die Welt entsprechend strukturieren. Gibt man daher den Menschen genügend
starke Feindbilder, dann kann man ihr Handeln besser kontrollieren und
steuern, weil sie sich immer entscheiden werden, zu diesen oder zu jenen zu
gehören. In den großen Kriegen des vergangenen Jahrhunderts wurde diese
Technik verfeinert und in weitesten Aspekten zur Anwendung gebracht. Da gab
es das Deutsche Kaiserreich mit seinem angeblichen, die Welt bedrohenden
Militarismus, dann den Faschismus und den Bolschewismus mit ihren
wahrhaftig Menschen verachtenden Systemen. Sobald die schlimmsten
Schlachten vorüber waren, traten die eigentlichen Initiatoren der Konflikte dann
als Retter auf, um nun die Zukunft endlich neu und gut zu organisieren. In den
Schlagworten vom „Kalten Krieg“, dem „Ostblock“ und dem „Westen“ setzte sich
diese Denkweise prinzipiell noch nach 1945 fort. Sie spiegelt sich auch wider in
den politischen "Schubladen" "links", "mitte", "rechts".
Analysen, die sich mit kriegerischen und politischen Aspekten des vergangenen
Jahrhunderts beschäftigen, sollten die Finanz- und Geldpolitik nicht außer Acht
lassen. Wie ich weiter oben schon erwähnt habe, fand in dieser Zeit auch ein
Jahrtausendumbau des Geldwesens statt. An diesem Geld, dem nicht Gold
gedeckten „Fiat Money“, welches dem „fractional reserve banking“ entspringt,
klebt buchstäblich Blut. Denn ohne diesen Trick der Gelderweiterung hätte etwa
der Erste Weltkrieg schon nach einem Jahr wieder eingestellt werden müssen.
Auf einen besonderen, weithin unbekannten Aspekt dieses Systems möchte ich
außerdem noch hinweisen. Eine Bank kreiert aus 1 € (oder 1 Dollar, oder…)
Eigenkapital aus dem Nichts heraus in der Regel etwa mindestens 85 €
Kreditsumme. Wenn diese Bank dann Zinsen für den verliehenen Kredit
bekommt, werden diese Zinsen nicht etwa nur auf den einen „echten“ Euro
berechnet, sondern auf die gesamte Kreditsumme von 85 €. Mit dem Unterschied,
dass die Zinsen, die der Kreditnehmer bezahlen muss, in der realen Welt
erwirtschaftet werden müssen. So etwas kann nur eine begrenzte Zeit gut gehen.
(Dank an Peter Boehringer für diese Analyse!) Wenn in diesen Tagen viel über den
Euro als europäische Gemeinschaftswährung geredet wird und allmählich auch
Alternativen diskutiert werden, dann sollte man unbedingt in Betracht ziehen, bei
dieser Gelegenheit das Wesen des Geldes wieder zu verändern. Hin zu einem
sauberen Geld, wie Ludwig von Mises oder Hayek es vorgeschlagen haben, das
nicht zur Manipulation, zur Erpressung und Bestechung, zur endlosen
Kriegsführung dienlich sein kann.
Neben dem Charakter des Geldes muss auch der Charakter des Rechts auf den
Prüfstand, wenn unsere Welt eine friedlichere werden soll. Denn jene „Herrschaft
des Rechts“ ist der Anknüpfungspunkt für jedwede weltweite Einmischung. Das
„Recht“ diente, wie wir gesehen haben, instrumentalisiert und manipulativ
höheren Interessen und es ist leider davon auszugehen, dass dies auch heute
noch so ist. Dabei haben jene im Hintergrund agierenden Mächte, die so gerne
auf das Recht replizieren, es niemals für nötig gehalten, sich selbst an rechtliche
Abläufe zu halten. Dies findet beweiskräftigen Ausdruck in der
offensichtlichen Tatsache, dass bis heute internationales Eingreifen nicht etwa
nach streng festgelegten Kriterien sondern willkürlich erfolgt.
Hier sei nochmals beispielhaft an die o. g. Konferenz von 1911 erinnert, auf der
es ja laut Quigley um die "menace [Bedrohung/Herausforderung] of Germany"
("Establishment" S 129) ging. Diese "Bedrohung" bezog sich offenbar auf die,
1907 auf der Zweiten Haager Konferenz eingenommene, Haltung Deutschlands
hinsichtlich Abrüstung bzw. gegenüber einem obligatorischen
Schiedsgerichtshof. Eine Abrüstung von der klar war, dass sie für alle Länder
außer Deutschland risikolos durchzuführen gewesen wäre. Wie genau Fürst
Bülow damals jene Pläne durchschaut hatte, zeigt sowohl seine Rede vor dem
Reichstag ("Fürst Bülows Reden", Georg Reimer Verlag, Berlin 1909, Bd. 3 S 32
ff) als auch seine Beschreibung der Situation von 1907 in seinen
Erinnerungen (Bd. 2 S. 298 f). Auch die Zeitschrift "Zukunft" schrieb im April
1907 in einem mit "Monte Carlino" überschriebenen Artikel, dass „alle anderen
[Staaten bereits] dem Britenconcern angehören oder können ihm, wenn’s ihnen
paßt, morgen beitreten. Und alle eint der Wunsch: keine Mehrung deutscher
Macht.“
Um den unseligen, strippenziehenden Übernationalen zu begegnen, sind
wirkliche internationale Zusammenarbeit von souveränen Staaten, friedliches
Geld und gerechtes Recht notwendig. Indem ich als optimistischer Mensch
diesem letzten Kapitel den Mit-Titel „Epilog“ gegeben habe, gebe ich der Hoffnung
Ausdruck, dass die Menschen aus diesen Erkenntnissen ihre Lehren ziehen,
ansonsten könnte diese Untersuchung auch ganz schnell wieder zum Prolog
werden. Die Vertreter des Übernationalen malen schon die Schreckgespenster
eines möglichen Krieges in Europa an die Wand; im letzten Jahr war dies
Sarkozy, in diesen Tagen kündigte Juncker an, sich mit diesem Schlagwort in
den deutschen Wahlkampf einzumischen. Machen wir nicht wieder den Bock
zum Gärtner.
Quellenbelege und Leseempfehlungen:
„Fridericus Rex, Friedrich der Große – Porträt einer Doppelnatur“, von Wolfgang
Venohr, erschienen im Lübbe Verlag, 1. Auflage von 1985
Prof. A. Rödder, FAZ vom 14.1.2013 (Seite 7 der Druckversion), „Dilemma und
Strategie“, oder online vom 13.01.2013 unter:
http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/europa-dilemma-undstrategie-12023770.html
“Cecile Spring Rice”, “A Diplomat’s Life”, von David H. Burton,1990, S. 129
Intimate Papers of Colonel House
Jennings C. Wise "Woodrow Wilson: Disciplin of Revolution", New York: Paisley
Press, erschienen 1938
Ralph Dietl: "USA und Mittelamerika, Die Außenpolitik William J. Bryan 19131915" Steiner Verlag Stuttgart, 1996
„Fürst von Bülow, Denkwürdigkeiten“, Berlin, Ullstein Verlag 1930, vier Bände
"Fürst Bülows Reden nebst urkundlichen Beiträgen zu seiner Politik", 3 Bände,
Georg Reimer Verlag, Berlin 1909
„Das Neue Testament“, Übersetzung von Albert Kammermayer „Eine
Übersetzung, die unsere Sprache spricht“ (Don Bosco Verlag)
Birgit Marschall, Reisen und Regieren, „Die Nordlandfahrten Kaiser Wilhelms II."
von, 1991, Deutsches Schiffahrtsmuseum und Ernst Kabel Verlag
John William Burgeß, "Der Europäische Krieg" (S. Hirzel Verlag, Leipzig 1915)
F. Würthle, „Die Spur führt nach Belgrad“, Wien , München, Zürich 1975
Rudloff, Arno "Wo andere toben, mußt du singen" Tagebuchaufzeichnungen aus
dem Ersten Weltkrieg, Hrsg. Michael Rudloff, Vanderbeck Verlag 2006
Mauthner, Fritz "Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande" (1923),
Band IV
Wolfang Steglich, "Die Friedensversuche der kriegführenden Mächte im Sommer
und Herbst 1917"
Dieter Hoffmann, "Der Sprung ins Dunkle", Untertitel "Oder wie der Erste
Weltkrieg entfesselt wurde" (Militzke Verlag, Leipzig 2010)
Hans Uebersberger, Österreich zwischen Russland und Serbien,1958 Köln/Graz
Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914, Deutsche
Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin 1922, fünf Bände in drei
Büchern
Müller-Loebnitz Wilhelm, "Die Sendung des Oberstleutnants Hentsch am 8.-10.
September 1914, Auf Grund der Kriegsakten und persönlicher Mitteilungen". 2.
Aufl. Berlin, Mittler & Sohn 1922
General Max Hoffmann, "Der Krieg der versäumten Gelegenheiten“
Michael Freund, "Deutsche Geschichte", Bertelsmann Verlag 1979
Immanuel Geiss, "Juli 1914, Die europäische Krise und der Ausbruch des Ersten
Weltkrieges", dtv Dokumente 1965
Nicolson ("Die Verschwörung der Diplomaten“)
A. Wegerer, "Die Widerlegung der Versailler Kriegsschuldthese", Berlin 1928,
"Schillers Beerdigung und die Aufsuchung und Beisetzung seiner Gebeine, 1805,
1826, 1827, Nach Aktenstücken und authentischen Mitteilungen aus dem
Nachlasse des Hofrats und ehemaligen Bürgermeisters von Weimar Carl
Leberecht Schwabe. (Das Buch von 1856 existiert praktisch nur noch als
unveränderter Nachdruck aus den Jahren 1932/36)
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Captain Wright "Wie es wirklich war. Im obersten Kriegsrat der Alliierten!", Verlag
für Kulturpolitik München 1922, englisches Original:
Wright, Captain Peter E.. At the Supreme War Council. New York and London: G.
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Bruno Peters "...für und über... Die Geschichte der Freimaurerei im Deutschen
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Bruno Bandulet "Die letzten Jahre des Euro", Kopp Verlag 2011
David Marsh, "Der Euro, Die geheime Geschichte der neuen Währung", Murmann
Verlag 2009
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