DEUTSCHLANDFUNK Hörspiel/Hintergrund Kultur Redaktion: Karin Beindorff Sendung: Dienstag, 26.01.2010 19.15 – 20.00 Uhr Das Phänomen Marco Ein junger Politiker mischt das politische Gefüge Chiles auf Von Peter B. Schumann URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - O-Ton Marco Sprecher 1: Liebe Landsleute, heute trete ich aus der Sozialistischen Partei aus. Das ist die notwendige Antwort auf die Entscheidung der Führung der Concertación und der Partei, jeglichen Wettbewerb und Ideenstreit innerhalb der Koalition abzulehnen. Mein Austritt ist unwiderruflich, um meine Kandidatur als Unabhängiger zu beginnen und das Projekt dringender politischer Reformen anzupacken, damit sich Chile den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen kann. Autor: Mit diesem Paukenschlag forderte Marco Enríquez-Ominami, kurz MEO genannt, die regierende Mitte-Links-Koalition in Chile heraus, März 2009. Die Partei hatte – im letzten Augenblick – auf das vorgesehene transparente Verfahren bei der Auswahl des Präsidentschaftskandidaten der Concertación verzichtet und so verhindert, dass der 36-jährige MEO gegen den 67-jährigen Christdemokraten Eduardo Frei antreten konnte. Eine Wiederwahl der amtierenden Präsidentin Bachelet lässt die Verfassung nicht zu. O-Ton Marco Sprecher 1: Nichts – außer dem Fluch gewisser Privilegien und Erbhöfe einer kleinen Führungsgruppe – erklärt diese geradezu perverse Privatisierung von Politik: diese Anhäufung von politischer und ökonomischer Macht für die Interessen einiger Weniger. Autor: Marco Enríquez-Ominami begann seine eigene Kampagne. Er schaffte es, innerhalb eines halben Jahres in der 1. Runde der Präsidentschaftswahlen aus dem Stand 20 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinen. Take Wahlspot: Cueca de Patricio Manns Ansage: Das Phänomen Marco. Ein junger Politiker mischt das politische Gefüge Chiles auf. Ein Feature von Peter B. Schumann. Take Wahlspot: Cueca de Patricio Manns Sprecher 3: „Die neue Demokratie hat ein Gesicht: Marco EnríquezOminami. Der visionäre Präsident der neuen Demokratie, eine neue Hoffnung für Chile. Wählt die Leidenschaft der Jugend, wählt ein neues Chile!“ Autor: Wer ist dieser Marco, in dem das politische Establishment einen Abtrünnigen sieht und 1,5 Millionen Wähler einen Hoffnungsträger? Sprecherin 3: Marco Enríquez-Ominami, geboren am 12. Juni 1973. Sohn von Miguel Henríquez, dem Begründer der MIR, der Bewegung der Revolutionären Linken, und von Manuela Gumucio Rivas, Tochter von Rafael Agustín Gumucio, einem Mitbegründer der Christdemokratischen Partei. Nach der Ermordung seines Vaters durch Pinochets Geheimdienst wuchs er im pariser Exil auf. Hier heiratete seine Mutter Carlos Ominami, einen Senator der Sozialistischen Partei. 1990, wieder in Santiago, machte er Abitur, trat in die Sozialistische Jugend ein und studierte Philosophie an der staatlichen Universität sowie später Filmregie in Paris. Danach arbeitete er in Chile als Regisseur und Produzent von Werbespots und Reportagen, unterhaltsamen Fernsehserien und trivialen Komödien. Er wurde im Dezember 2005 als Abgeordneter der Sozialisten ins Parlament gewählt. Atmo Autofahrt Autor: Ich wollte diesen MEO kennenlernen und während der Wahlkampagne erfahren, warum er zum Hoffnungsträger vieler Chilenen geworden ist. Er lud mich ein, ihn auf einer Fahrt nach Valparaiso in seinem Auto zu begleiten. Auf Fotos und im Fernsehen hatte ich schon feststellen können, dass der junge politische Aufsteiger gut aussieht, ein sportlicher Typ ist mit nackenlangen, schwarzen Haaren. Bei dieser ersten persönlichen Begegnung ist er mir sofort sympathisch, denn er lässt keine Distanz aufkommen, duzt mich sogleich, wie jeden anderen auch, tritt nicht als der Star einer Kampagne auf, sondern hört zu und gibt freundlich Auskunft. Nur seine hohe Sprechgeschwindigkeit ist gewöhnungsbedürftig. - Wir fahren von Santiago zur Hafenstadt Valparaiso, zum 120 km entfernten Parlament. O-Ton Marco Sprecher 1: Ich habe für die Partei 2005 einen Wahlkreis erstritten, den sie nie zuvor besessen hat. Denn ich bin nicht in die Partei eingetreten, um mir etwas schenken zu lassen, sondern um für sie etwas zu bewirken. Und das habe ich getan und als Kommissionsvorsitzender in 3 Jahren 80 Gesetze vorgeschlagen. Piñera, der rechte Kandidat, hat es in 8 Jahren auf 20 gebracht, genauso wie Frei in 13 Jahren. Autor: Wir sitzen in der geräumigen Limousine seiner Wahlkampagne. Mit uns fahren sein persönlicher Referent, eine Mitarbeiterin, ein Mann vom Sicherheitsdienst und sein Fahrer. In einem Begleitfahrzeug folgen zwei Polizisten in Zivil. Ich frage MEO nach den Schwerpunkten seines Programms. O-Ton Marco Sprecher 1: Das politische System Pinochets beruhte auf einer monarchischen Machtfülle mit geschwächten Parteien und geschwächten Gewerkschaften. Das herrscht teilweise heute noch. Deshalb strebe ich eine politische Reform mit einem Präsidenten und einem Premierminister an. Dazu ein Parteiengesetz mit obligatorischen, öffentlichen Vorwahlen und ein neues Wahlgesetz, das die Zwei-Parteien-Herrschaft beendet. Und eine Steuerreform. Take Frage Autor: Große Pläne für einen Politiker, der keine Partei mit einem eingespielten Apparat hinter sich hat. Wie will er dafür eine Mehrheit im Parlament finden? O-Ton Marco Sprecher 1: Präsidentin Bachelet regiert auch ohne Mehrheit in beiden Kammern. In meinem Fall dürfte es schwieriger sein, denn ich bin unabhängiger als alle anderen Abgeordneten: ich lasse mich nicht von Unternehmen finanzieren. Take Frage Autor: Und wie finanziert denn der Kandidat Marco überhaupt seine Kampagne? Sprecher 1: Wir haben gerade einen Kredit erhalten: 500 000 Dollar bei der Citibank, ein Vorschuss auf die staatliche Wahlkampffinanzierung. Wir sind die einzigen, die keinen großen Aufwand betreiben, nicht jede Minute irgendwo Werbung schalten, keine riesigen Transparente benutzen. Bisher mussten wir Schulden machen, was man auf unserer Webseite nachlesen kann. Take Frage Autor: Ich frage nach Max Marambio, einem chilenischem Multimillionär, der die Kampagne mitfinanziert. Sprecher 1: Schön wäre es, wenn es noch viel mehr Millionäre gäbe. Wir haben nur einen, andere haben zehn. Er hilft uns, er finanziert uns nicht, und es wäre gut, wenn Max uns mehr Geld geben würde. Denn bisher war es ziemlich wenig. Take Frage Autor: Aber was, will ich weiter wissen, ist das Interesse von Max, einem sehr reichen Mann mit besten Geschäftsbeziehungen zu Fidel Castro, einen Linken zu finanzieren? Sprecher 1: Noch einmal: Er finanziert die Kampagne nicht, sie gehört ihm nicht. Max teilt unsere Überzeugungen, er möchte sehr viel mehr für Chile tun, möglichst direkt und ohne den Parteienklüngel. Take Frage Autor: Wer sind MEOs politische Vorbilder? Spielen die politischen Vorstellungen des ermordeten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende für ihn noch eine Rolle? Sprecher 1: Salvador Allende, der sein Leben für eine große Sache hingab, bewundere ich sehr. Salvador Allende, der trotz seiner Minderheit im Parlament die Demokratie weiterentwickeln wollte, bewundere ich sehr. Salvador Allende, der eine gründliche Bildungsreform anstrebte, bewundere ich sehr. Aber leider hatte Salvador Allende damals nicht begriffen, dass die Rechte putschen wollte. Mein Vater, Miguel Henríquez, hat ihn immer wieder gedrängt: Er solle sich darauf vorbereiten, denn die Rache werde kommen, weil er große Machtinteressen tangiere. Take Frage Autor: Ist Miguel Henríquez, sein Vater und Gründer der ‚Revolutionären Linken’ MIR noch ein Leitbild, will ich wissen? Sprecher 1: Ich habe meine eigenen Träume, ich muss sie nicht aus anderen Generationen beziehen. Miguel Henríquez fasziniert mich. Aber ich habe ihn nicht gekannt. Ich war ein Jahr alt, er war 30, als er im bewaffneten Kampf gegen die Diktatur ermordet wurde. Ich verdanke ihm mein Leben, mich inspiriert der Mut meines Vaters, wie er sein Leben für die Demokratie geopfert hat. Autor: Marco Enríquez unterbricht unser Gespräch kurz, um die Pressemeldung für den nächsten Tag zu kontrollieren, denn auch während der Fahrt geht die Arbeit weiter. Per E-Mail und SMS sind Nachrichten der Wahlkampfzentrale eingegangen. Per Twitter haben Sympathisanten Kommentare zu Maßnahmen oder Äußerungen des jungen Kandidaten geschickt, der, wann immer es ihm möglich ist, darauf antwortet - gemäß einem seiner Wahl-Sprüche: „Marco für dich! Take Jingle „Marco por ti“ Autor: Die Abstimmung des Textes ist beendet, die wichtigsten Mails sind gelesen und wir können unser Gespräch wieder aufnehmen. Was ist ihm außer der Reform des politischen Systems noch besonders wichtig? O-Ton Marco Sprecher 1: Eine Reform der Bildungspolitik mit Hilfe einer Reform der Steuerpolitik ist ein zentraler Punkt. Um sie zu finanzieren, werden Steuern erhöht und zwar auf Alkohol und Tabak, den Bergbau und die Stromproduzenten, und die Erbschaftssteuer wird auch wirklich eingetrieben. Dadurch steigen die staatlichen Einkünfte um 2,1 Milliarden Dollar pro Jahr. Sie sollen drei Prioritäten zugute kommen: 1,7 Milliarden für das desolate Bildungssystem, 200 Millionen für das Gesundheitswesen, u.a. für 10 neue Krankenhäuser. Sowie 200 Millionen für ein neues Sicherheits- und Rehabilitationssystem. Take Frage Autor: Die Verbesserung des Bildungssystems haben sich auch andere Kandidaten auf die Fahnen geschrieben. Es wird einerseits von Gemeinden verwaltet, die oft nicht die nötigen Mittel dafür haben, und andererseits ist es privatisiert. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf Privatschulen. Ist es möglich, diese Teilung zu ändern? O-Ton Marco Sprecher 1: Ja, durch eine Verwaltungsreform will ich ein öffentliches, kostenloses Schulwesen. Dazu braucht man natürlich auch das Geld der Steuerreform. Ich will so viel Geld wie nie zuvor in die Bildung stecken: 1,7 Milliarden Dollar. Die Regierung wird dieses Jahr lediglich 841 Millionen Dollar investieren. Take Musik-Intervall O-Ton Colodro Sprecher 3: Die Kandidatur von Marco Enríquez ist die Antwort einer Generation, die teilhaben möchte, der man aber bisher jede Chance der politischen Initiative versperrt hat. Autor: Max Colodro, 40 Jahre, ist Philosophie-Professor und politischer Sprecher von MEOs Wahlkampagne. O-Ton Colodro Sprecher 3: Viele junge Leute sehen heute politisches Engagement sehr skeptisch. 80 Prozent der jungen Wähler haben sich nicht in die obligatorischen Wählerlisten eingeschrieben. Denn viele würden sich gern engagieren, sind aber verärgert darüber, dass die Parteien ihre Türen verschließen, statt sie für die Erneuerung weit zu öffnen. Das versucht Marco. Er ist das Ergebnis der Krise des Parteiensystems. Autor: Wir sitzen in der Halle eines internationalen Hotels in Providencia, einem der besseren Viertel Santiagos, dort, wo luxuriöse Wohntürme und die Glaspaläste von Unternehmen und Banken dem neuen Wohlstand sterilen Ausdruck verleihen. Beweist diese neu entstandene Skyline nicht den wirtschaftlichen Erfolg der herrschenden Parteien, des Bündnisses aus Christ- und Sozialdemokraten? O-Ton Colodro Sprecher 3: Nur eine Zahl: Zwischen den Parlamentswahlen von 1998 und den Kommunalwahlen von 2008, in diesen 10 Jahren hat die Concertación 1 Million Stimmen verloren. Trotz dieses systematischen Verlustes wollte niemand die Dimension der Krise und die innere Zerrüttung wahrhaben. Das Bündnis ist krank: es fehlt an innerer Demokratie, an Offenheit, stattdessen herrscht vielerorts Korruption. Wir stehen am Ende eines Zyklus’. 20 Jahre sind in der Geschichte eines Landes eine lange Zeit, aber jetzt geht sie zu Ende. Take Jingle Sprecher 2: Wählt Marco! Wir wollen die Wende. Schluss mit Lüge, Elend und Ungerechtigkeit. Die Armut in diesem reichen Land ist unglaublich. Wählt Marco, den Präsidenten für alle! Autor: Die Botschaft ist einfach, Musik und Bild unterscheiden sich wenig von den Wahlspots der anderen Kandidaten: Marco allerorten. Aber er wirkt viel natürlicher und sympathischer als der biedere Eduardo Frei. Und bescheidener als der rechte Milliardär Piñera, der gern in opulenten Szenarien in Erscheinung tritt. Bei MEO geht alles schlichter zu. Atmo Dreharbeiten Autor: Ich sehe mir die Dreharbeiten zu einem neuen Wahlspot an. Zwei kleine Zimmer in einer Produktionsfirma wurden kurzerhand in ein Aufnahmestudio verwandelt: die Fenster abgedunkelt, ein Stuhl vor einen neutralen Hintergrund platziert, ein paar Scheinwerfer und eine Kamera mit Teleprompter aufgestellt, damit der Kandidat seinen Text ablesen kann. Atmo Aufnahme Sprecher 1: Dies sind Hände chilenischer Arbeiterinnen und Arbeiter. Auch deine Hände gehören hierher. Und dies sind Gesichter chilenischer Arbeiter, und auch deines befindet sich darunter. Ich möchte euch danken für das Chile, das ihr aufgebaut habt und wofür euch sonst niemand dankt. Der Reichtum, den ihr erarbeitet, beruht auf gesellschaftlicher Produktion, auf Arbeit von allen. Aber seine Verteilung findet nur unter wenigen statt… Deshalb verpflichte ich mich, für eine gerechtere Verteilung für euch, chilenische Arbeiter, zu kämpfen, damit eure Werke eine angemessene Entlohnung finden. – Viva Marx! Das ist ja ein marxistischer Text. Autor: „Ist der Kandidat also Marxist?“ – will ich wissen. Darauf Marco in Anspielung auf seinen Namen: „Ich bin Markist.“ Auf unserer gemeinsamen Fahrt nach Valparaiso hatte ich bereits herauszufinden versucht, ob er sich als Linken sieht und was er darunter versteht. O-Ton Marco Sprecher 1: Früher waren in Chile alle links, wenn sie gegen Pinochet waren. Und heute ist die chilenische Linke sehr konservativ. Sie will nicht über Abtreibung reden, den Drogenkonsum nicht entkriminalisieren und die Rechte von sexuellen Minderheiten nicht stärken. Und die Sozialistische Partei gehörte zu den Verteidigern Pinochets in London. Deshalb sehe ich meine ideologische Heimat in einer Linken der Zukunft, die aufgebaut werden muss: in einem progressiven Projekt, liberal in den Wertvorstellungen, undogmatisch im Intellektuellen und sozialistisch in vielen wirtschaftlichen Aspekten. Welcher Sozialist in diesem Land hat bisher eine Steuerreform vorgeschlagen, damit jene, die wenig haben, weniger bezahlen, und die, die mehr haben, mehr bezahlen? Take Frage Autor: Was hält er eigentlich von Hugo Chávez, dem umstrittenen, linken venezolanischen Präsidenten? O-Ton Marco Sprecher 1: Hugo Chávez, der den Sänger José Miguel Vivanco wegen kritischer Äußerungen aus Venezuela ausweist, gefällt mir nicht. Der androht, Banken zu verstaatlichen, weil er sich mit einem Oligarchen streitet, gefällt mir nicht. Aber der Chávez, der für eine multipolare Welt eintritt, der nicht glaubt, dass alles, was für die USA gut ist, auch für Lateinamerika taugt, ist mir sympathisch. Atmo Straße Autor: Ich fahre zum Stadtbezirk Macul im Großraum von Santiago. Hier leben Angestellte, Handwerker, Facharbeiter, Lehrer in bescheidenen Häuschen. An diesem Nachmittag trifft sich bei María Soledad Valencia ein Wahlkomitee für Marco. Es gehört zur Humanistischen Partei, die María vor mehr als zwei Jahrzehnten mitbegründet hat. Ursprünglich bildeten die Humanisten zusammen mit den Kommunisten das Wahlbündnis Juntos Podemos Más/ Gemeinsam schaffen wir mehr. O-Ton María Sprecherin 1: Die Kommunisten haben wohl schon länger einen eigenen Plan verfolgt und mit der Concertación verhandelt, lange bevor wir uns von ihnen getrennt haben. Sie kritisierten zwar ständig die Regierung, aber ließen sich dann doch von den Christdemokraten bei den Wahlen unterstützen, damit sie denen im 2. Wahlgang ihre Stimme geben. Das konnten wir nicht akzeptieren. Deshalb helfen wir Marco, der jung ist und neue Ideen vertritt, denn die alten sind wirklich überholt. Autor: Inzwischen sind weitere Wahlhelfer eingetroffen, jüngere und ältere Leute. Einige haben orange-farbene Fahnen der Humanistischen Partei bei sich. Andere versorgen sich mit Flyern, auf denen Marco unablässig strahlt und für seine Ziele wirbt. Als Letzte kommt Marcela Glenner. Die 50-jährige Lehrerin kandidiert für einen Parlamentssitz im Wahlbezirk Macul. O-Ton Marcela Sprecherin 1: Was mit der Mittelschicht geschehen ist, kann man hier sehen: sie ist zunehmend verarmt. Sie verdient wenig, die Arbeitslosigkeit ist allmählich chronisch. Außerdem sind die Löhne sehr niedrig und reichen längst nicht mehr für die Bedürfnisse einer Familie. Die Concertación hat dagegen kaum etwas getan. Dadurch ist die Kluft zwischen Reichen und Armen immer größer, skandalöser geworden. Die Regierung unterstützt zwar die Ärmsten und schafft sich damit eine Klientel. Aber sie hat nichts für neue Arbeitsplätze getan oder um die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Autor: Und dann bricht aus der Lehrerin der ganze Frust über das Schulsystem heraus. O-Ton Marcela Sprecherin 2: Das öffentliche Bildungswesen taugt nichts. Die Kinder der ärmeren Leute können nur auf die kommunalen Schulen gehen, weil sie sich die privaten nicht leisten können. Da werden mit Hilfe eines Sonderprogramms Computer für den Unterricht angeschafft. Aber das Tolle ist, dass die Kommunen überhaupt nicht die nötigen Mittel für deren Unterhalt besitzen, und deshalb funktionieren die meisten Computer nicht mehr. Uns wurden auch Fotokopiergeräte geschenkt. Doch wenn die Lehrer Kopien für die Schüler machen wollen, müssen sie diese selbst bezahlen. Das ist die Realität im heutigen Chile. Autor: Zu der kleinen Gruppe von Wahlhelfern gehört auch Claudio Ramírez. Der 35-Jährige war im Innenministerium angestellt – so erzählt er mir – bis bekannt wurde, dass er Marco Enríquez-Ominami unterstützt. Inzwischen gehört er zu den Organisatoren von MEOs Wahl-Kampagne. O-Ton Claudio Sprecher 2: Marco bietet erstmals eine reale Möglichkeit, mit der Concertación zu brechen. Denn die außerparlamentarische Linke von Juntos Podemos hat immer nur eine völlig marginale politische Rolle gespielt. Sie konnte nie mehr als 4 oder 5 Prozent der Stimmen erreichen. Für den politischen Fortschritt in Chile bietet Marco heute die einzige Option und zwar in wirtschaftlicher, ethischer und demokratischer Hinsicht. Außerdem hat sich seine Kandidatur von unten entwickelt, wurde nicht von einer Partei durchgesetzt. 70 000 Bürger haben sich anfangs für ihn ausgesprochen, damit er überhaupt antreten konnte. Inzwischen ist diese Bewegung zu einer paradigmatischen Kraft in der chilenischen Politik angewachsen. Take Kampagne Autor: Das Komitee bricht auf. Es will sich einem Wagenkorso anschließen, der an diesem Nachmittag durch den Bezirk fährt und Werbung machen will für Marcela Glenner und natürlich für Marco, den Präsidentschaftskandidaten. Auch der wird erwartet, doch er kommt heute nicht: Seine Termine haben sich wieder einmal verschoben. Take Musik-Intervall Atmo Beifall Autor: Marco Enríquez-Ominami ist zu Gast bei der Jahresversammlung der Grünen Parteien Lateinamerikas. Er begrüßt jeden Einzelnen der etwa 60 Teilnehmer mit Handschlag. Ich habe nicht den Eindruck, dass dies nur eine leere Geste ist. Marco pflegt einen persönlicheren, offeneren und weniger formellen Umgangsstil als die anderen Kandidaten, was bei den Sympathisanten gut ankommt. O-Ton Marco Autor: MEO entschuldigt sich zunächst, dass er heute nicht recht bei Stimme sei, aber es gälte eben, so viele Leute zu bekehren. Sprecher 1: Gestern habe ich einen Satz von Cohn-Bendit gelesen, den ich sehr gut finde: Der einzige Bereich, in dem die Rechte und die Linke sich selbst überwinden könnten, ist die Ökologie. Wie ihr wisst, sind wir gegen das Megaprojekt von HidroAysén, die 5 riesigen Staudämme im äußersten Patagonien, gegen die es größte Bedenken der Umweltschutzorganisationen gibt, weil sie 5400 km2 unberührter Natur zerstören würden. Autor: Eine Fläche, doppelt so groß wie das Saarland. Und dann kommt er überraschend auf ein ganz anderes und sehr heikles Thema zu sprechen: den Zugang Boliviens zur Pazifikküste über chilenisches Gebiet. Im sog. Salpeterkrieg vor rund 120 Jahren musste Bolivien diesen Zugang an Chile abtreten. Und zwei Drittel der Chilenen sind auch heute noch gegen eine Rückgabe an den Nachbarn. O-Ton Marco Sprecher 1: Ich bin als einziger Kandidat für einen Zugang Boliviens zum Meer, und ich bin mir bewusst, dass mich diese Haltung Stimmen kosten wird, aber wir müssen diesen uralten Konflikt endlich lösen. Einen Zugang zum Meer über chilenisches Gebiet, aber ohne Souveränitätsrechte, denn mehr ist im Augenblick bei den Chilenen nicht durchzusetzen. Warum sage ich das hier? Weil sich alle progressiven Kräfte dafür stark machen müssen. Zurück zum Umweltschutz, eine unserer wichtigsten Prioritäten. Wir wollen die erneuerbaren Energien fördern und haben dafür einen Fonds von 500 Millionen Dollar vorgesehen. Das wird nicht einfach sein, denn Chile befindet sich auf einem ärmlichen ökologischen Bildungsstand, und wir werden es mit Eliten und Parlamentariern zu tun haben, die auf diese Fragen sehr wenig vorbereitet sind. Atmo Seilbahn Autor: Mit der Standseilbahn fahre ich auf den 300 m hohen San Cristóbal, der sich aus dem Stadtgebiet von Santiago erhebt. Die Bahn rumpelt den steilen, grünen Hügel empor. Ich soll oben Manuel Baquedano treffen. Er wurde erst am Vortag zum neuen Vorsitzenden der lateinamerikanischen Grünen gewählt und gehört zum Beraterstab von MEO. Eigentlich wollte er mir hier oben die Umweltverschmutzung von Santiago demonstrieren. Heute herrscht jedoch ausnahmsweise kein Smog über der Hauptstadt. Aber das ist ohnehin nicht das einzige Umweltproblem in Chile. O-Ton Manuel Sprecher 3: Fast unser gesamtes Süßwasser kommt von den Cordilleren, die wir dort drüben sehen, von den Gletschern. Was aber geschieht, wenn sie infolge der CO2-Belastung, des Anstiegs der Temperatur immer weiter abschmelzen? Wir könnten nur noch Meerwasser entsalzen, denn Chile hat eine lange Küste. Aber das erfordert einen hohen Einsatz an Energie. O-Ton Manuel Autor: Und was sagen die Präsidentschaftskandidaten zu diesem Problem? Sprecher 3: Nur Marco sieht eine Lösung in der Verwendung von erneuerbarer, nicht konventioneller Energie und im effizienten, sparsamen Gebrauch von Energie überhaupt. Piñera, der rechte Kandidat, zieht den Bau von Megakraftwerken vor… Und Frei hat in seinem Programm angekündigt, dass er die Atomkraft einführen werde. Wenn Marco im 1. Wahlgang nicht gewinnt, werden sich die Grünen im 2. der Stimme enthalten, denn keiner der beiden anderen Kandidaten garantiert uns eine saubere Entwicklung des Landes. Take TV-Show Autor: ‚Mega en Vivo’ ist eine triviale Unterhaltungsshow in dem an Trivialitäten reichen chilenischen Fernsehen, eine Kanonade des Schwachsinns, angeführt von der Karikatur eines Moderators und einem Interviewer mit einer riesigen Kunstnase. Zwischen Werbung und Travestie versucht MEO sachlich Fragen zu beantworten – beispielsweise zum Thema Kriminalität. Take TV-Show Sprecher 1: Zunächst eine wichtige Zahl: 70% der Kriminellen haben eine kriminelle Vergangenheit, denn 7 von 10 sind Kinder von Kriminellen. Hier muss die Reform des Justizwesens ansetzen. Ein früherer Präsident hat einmal gesagt: Für jedes Stadion, das ich baue, muss ich ein Gefängnis weniger bauen. Aber die Parteien interessiert das nicht, und den Staat interessiert das noch weniger. Wir brauchen eine Wende in der Verantwortlichkeit des Staates für soziale Aufgaben. Staat und Parteien müssen wieder im Dienst der Gemeinschaft stehen. Das ist die Herausforderung. In Hunderten von Städten und Gemeinden leiden die Menschen unter der Kriminalität und verlieren das Vertrauen in Staat und Parteien. Wir brauchen Maßnahmen für Kultur und Rehabilitation. Take TV-Show Autor: Das Intervall der Ernsthaftigkeit wird abrupt von dem Typ mit der langen Kunstnase beendet. Immerhin hat MEO seine Botschaft an ein Massenpublikum bringen können: Ich bin die Alternative – Marco für dich! Die Hoffnungen auf den Wahlsieg haben sich später am 13. Dezember zwar nicht erfüllt, aber der Hoffnungsträger ist dadurch so populär geworden, dass er sogar einen Doppelgänger auf den Plan gerufen hat: den Komiker Stefan Kramer. Er karikiert Marco im Fernsehen. Take Kramer Autor: Zielscheibe seines Spotts sind das nackenlange schwarze Haar, die stets locker sitzende Krawatte, MEOs anfängliche Manie, bei jeder Gelegenheit um eine Unterschrift für seine Kandidatur zu bitten, und seine manchmal fatale Sprechgeschwindigkeit. In einem anderen Fernsehprogramm nimmt er zu diesen meist harmlosen Scherzen gelassen Stellung. O-Ton Marco Sprecher 1: Ein Land ohne Humor ist ein Land ohne Poesie. Ich habe mich darüber krumm gelacht. Der Typ ist genial, ein verrücktes Talent. / Diese Art von Darstellung prägt sich ein, viele Chilenen wurden daran erinnert, dass wir Unterschriften brauchen, und wie sagte er in meiner schrecklichen Aussprache: Ich will mitmachen, mitmachen, mitmachen. Take Musik-Intervall Atmo Familiares Autor: Pressekonferenz der ‚Vereinigung von Angehörigen der Verschwundenen’. Sie hat alle Präsidentschaftskandidaten aufgefordert, ein Dokument zu unterzeichnen, mit dem diese sich für den Fall ihrer Wahl verpflichten, die Menschenrechte als eine vordringliche Aufgabe zu betrachten. Der kleine Saal am Sitz der Organisation quillt über: Angehörige, Reporter und Kamerateams sind gekommen. Der Kandidat der Kommunisten war bereits da. Jetzt erscheint Marco EnríquezOminami. O-Ton Marco Sprecher 1: Ich unterschreibe nicht nur in meinem Namen, sondern auch im Namen meines verschwundenen Onkels Bautista van Showen, meines ermordeten Vaters Miguel Henríquez, meines toten Bruders Miguel Angel Henríquez, meiner drei Großväter: Carlos Ominami, der von seinen eigenen Luftwaffenkameraden gefoltert wurde, Edgardo Enríquez Froedden, gefoltert auf der KZ-Insel Dawson und dem im Exil verstorbenen Rafael Gumucio. Ich unterschreibe dieses Dokument nicht, damit ihr mich unterstützt, sondern weil ich mich meinen Vorfahren verpflichtet fühle. Ich will die Menschenrechte wieder ins Zentrum der Diskussion stellen. Autor: Mehr als 50 Vertreterinnen der Organisation, meist Frauen oder Mütter von Verschwundenen, sind aus ganz Chile angereist. O-Ton Marco Sprecher 1: Gerechtigkeit war in diesem Land lange nicht opportun, weil die Rechte sich dagegen gewehrt hat und auch Teile der Concertación. Als Präsident Lagos den Bericht über Folter vorlegte, hat er zu euch etwas gesagt, was ich nie von einem Sozialisten gehört habe: „Ich fordere euch Opfer der Diktatur zu Verständnis für unsere Maßnahmen auf, denn eure Renten entsprechen bereits dem Äquivalent von einigen Brücken, die nun nicht gebaut werden können.“ Nicht nur die geringe Höhe dieser Beträge empört mich. Auch dieser Vergleich ist eine Beleidigung des Schmerzes von uns allen. Atmo Familiares Autor: MEO unterzeichnet das Dokument. Die Pressevertreter sollen den Raum noch nicht verlassen, denn Eduardo Frei, der christdemokratische Kandidat der Regierungskoalition, wird erwartet. Doch er kommt nicht, genauso wenig wie Santiago Piñera, der Kandidat der Rechten. Für die Sprecherin der Vereinigung, Gabriela Zuñiga, ist diese Ignoranz keine Überraschung. O-Ton Gabriela Sprecherin 1: Die ersten drei Regierungen – Aylwin, Frei und Lagos – zeigten nicht den geringsten Willen, das Amnestie-Gesetz aus dem Jahr 1978 abzuschaffen. Diktator Pinochet verordnete damals Straffreiheit für alle politischen Gewaltverbrechen. Es gilt heute noch, obwohl die erste demokratisch gewählte Regierung Aylwin in ihrem Programm von 1990 seine Annullierung vorgesehen hatte. Autor: Die Liste der Verbrechen der faschistischen Militärdiktatur unter Augusto Pinochet ist lang: 1191 Verschwundene, darunter 78 Frauen, bisher aufgeklärt etwa 10 Prozent. 3000 Exekutionen, 28 000 Fälle von Folter. Dafür verurteilt wurden bisher nur 56 Verantwortliche. O-Ton Gabriela Sprecherin 1: Laut Statistik gibt es viele Verurteilte. Aber 90 Prozent von ihnen, ich würde sogar sagen 96 Prozent, laufen auf der Straße herum. Denn unsere Gesetze besagen, wer nur für 5 Jahre verurteilt ist, kann eigentlich nach Hause gehen. Erst ab einer Strafe von 5 Jahren und 1 Tag muss sie wirklich abgesessen werden. Doch selbst dann gibt es viele Berufungsmöglichkeiten, vor allem für Leute, die älter und nicht vorbestraft sind. Du kannst also gefoltert haben, aber wenn du keinen Verkehrsunfall begangen oder deine Frau nicht geschlagen hast, also eine lupenreine Weste besitzt, musst du die Strafe auch nicht absitzen. Das erhöht zwar die Zahl der Verurteilungen, doch tatsächlich sind nur 56 wegen Menschenrechtsverbrechen Verurteilte in Haft. Autor: Hat sich an dieser Situation in der Regierungszeit der sozialistischen Präsidentin Bachelet, die selbst ein Opfer der Diktatur war, etwas verändert? O-Ton Gabriela Sprecherin 1: Nachdem sie 2006 ihr Amt angetreten hatte, suchte sie uns auf, hier in diesem Raum. Kein anderer Präsident hat das jemals getan. Wir haben ihr die gleichen Forderungen vorgelegt wie den Kandidaten von heute: die Abschaffung des Amnestie-Gesetzes, die Frage der Entschädigungen, der Gesundheitsfürsorge usw. Und sie hat uns hier versprochen, sich darum zu kümmern. Von all unseren Forderungen wurde lediglich zum ersten Mal in diesem Jahr der 30. Oktober als ‚Nationaler Tag des Gedenkens an die Opfer’ verwirklicht, nichts weiter. O-Ton Marco Sprecher 1: Dieses Dokument zu unterschreiben, ist das Mindeste. Die Straflosigkeit zu beseitigen, ist das Mindeste. Ich will hier gar nicht erst moralisch werden. Aber es ist nicht hinzunehmen, dass die Hunderten von Kandidaten für die Parlamentswahlen dieses Dokument nicht auch unterschrieben haben. Das sollte eine Selbstverständlichkeit für jeden Politiker in Chile sein, der sich um das Vertrauen der Chilenen bewirbt. Take Musik-Intervall Autor: Marco Enríquez-Ominami verfehlte in der 1. Runde der Präsidentschaftswahlen am 13. Dezember 2009 sein Ziel. Keiner der Kandidaten erreichte die absolute Mehrheit. Sprecherin 3: Sebastían Piñera vom Rechtsbündnis erhielt rund 44% der Stimmen, Eduardo Frei von der Concertación, der Mitte-LinksKoalition 30%, der unabhängige Marco Enríquez-Ominami 20% und Jorge Arrate von den Kommunisten 6%. Für den 17. Januar wurde eine Stichwahl zwischen Piñera und Frei angesetzt. Autor: MEO hatte gehofft, im 1. Wahlgang Eduardo Frei zu schlagen und in die Stichwahl zu kommen. Die Umfragen hatten ihm für diesen Fall eine gute Chance gegen den schwerreichen Unternehmer Sebastián Piñera vorausgesagt. Doch dem mächtigen Partei- und Regierungsapparat der Concertación, der Frei massiv unterstützte, waren seine Kräfte letztlich nicht gewachsen. Dass er dennoch bis auf 10 Prozent an das Ergebnis von Frei herankam, beweist, dass er rund 1,5 Millionen Chilenen mit seinen Argumenten zur Erneuerung der politischen Landschaft überzeugt hat. Noch in der Nacht seiner Niederlage wandte er sich an seine Wähler. O-Ton Marco Sprecher 1: Für dieses Chile, das Veränderung will, ist der Traum nicht zu Ende. Wir haben gerade den ersten Schritt getan. Denn für diesmal ist klar: die Veränderung wird noch nicht von der Moneda, vom Präsidentenpalast, ausgehen, aber wir haben es bis hierher geschafft, bis hier haben unsere Ideen gesiegt. Autor: Und dann teilte MEO seine Wahlempfehlung für die 2. Runde am 17. Januar mit: O-Ton Marco Sprecher 1: Piñera, der Kandidat der Konservativen und vor allem der Rechten, wäre ein historischer Rückschritt für Chile. Und Frei wäre kein Fortschritt. Angesichts dieser Realität kann ich euch nicht empfehlen, eure Stimmen auf einen der beiden Kandidaten zu übertragen. Das werde ich nicht tun! Autor: Bisher war es üblich, dass die Unterlegenen ihre Wähler dazu aufriefen, für den ihnen politisch nahe stehenden Kandidaten zu votieren. Doch MEO bestand auf einer radikalen Wende. Andererseits konnte weder Frei noch Piñera ohne Stimmen aus seinem Wählerpotential gewinnen. Sie begannen, darum zu werben, besonders unverblümt der Milliardär Piñera, ein Profiteur des Neoliberalismus. Er entdeckte seine Leidenschaft für die von einer zügellosen Wirtschaftspolitik am meisten Gebeutelten. O-Ton Piñera Sprecher 2: Die Seele und das Herz unseres Regierungsprogramms lassen sich mit den Fingern einer Hand resümieren: Verstärken und Erweitern des soziales Netzes, damit es auch der Mittelschicht zugute kommt. Dem Verbrechen den Boden entziehen, damit die Leute endlich in Frieden, ohne Angst in ihren Heimen leben und das Leben genießen können. 1 Million guter Arbeitsplätze mit guten Löhnen schaffen, damit die Familien sich fortentwickeln. Die Qualität des Gesundheits- und des Bildungswesens verbessern, nicht durch Reden und Versprechungen. Unsere Landwirtschaft wieder auf die Beine bringen und allen Lebensfreude vermitteln, den Leuten auf dem Land und den Alten. Autor: Eduardo Frei konnte sich wieder auf die Hilfe der regierenden Mitte-Links-Koalition verlassen. Am 7. Januar meldete der Nachrichtensender 24 horas: Take TV-Reportage Sprecher 3: Die Regierung hat mit großer Dringlichkeit drei Gesetzentwürfe ins Parlament eingebracht. Sie betreffen den Bau von Wasserkraftwerken, die Verstärkung der Bildung und neue Regeln für die Stimmabgabe bei Wahlen. Autor: Ein Reporter im Präsidentenpalast erklärte die Eile dieser Gesetzesinitiative am Ende der Legislaturperiode. Take Reporter Sprecher 3: Die drei Projekte waren wesentliche Bestandteile des Regierungsprogramms von Marco Enríquez-Ominami. Deshalb waren dafür wohl wahltaktische Gründe ausschlaggebend, um Stimmen für die Kandidatur von Eduardo Frei zu sammeln. Autor: Und noch am selben Tag verkündete MEO: O-Ton Marco Sprecher 1: Eine neue Partei für die Chilenen im Dienst der Chilenen, anders als die Parteien der Concertación, die nicht auf ihre Wähler hören… Eine offene Partei mit obligatorischen Vorwahlen, jährlichen Richtlinien, widerrufbaren Mandaten, mit Quoten für Jugendliche und für Geschlechter. Autor: Der Druck auf MEO wuchs. Vor allem Frei war auf einen Teil von dessen Wählerstimmen angewiesen, wenn er sich gegen Piñera behaupten wollte. Am 8. Januar kam es zu einer überraschenden Begegnung zwischen MEOs Stiefvater Carlos Ominami und Eduardo Frei. Take TV-Reporter Sprecher 3: Nach dem 25-minütigen Gespräch im Haus des Kandidaten der Concertación erklärte Carlos Ominami ausdrücklich seine Unterstützung für ihn. Es wird sogar seine Teilnahme an dessen Kampagne für möglich gehalten. Autor: Doch MEO blieb weiter bei der Position, die er nach seiner Niederlage in der Nacht des ersten Wahlgangs formuliert hatte: Sprecher 1: Piñera bedeutet Rückschritt und Frei keinen Fortschritt. Autor: In seinem Beraterstab vergrößerte sich die Sorge, dass er nach einem Sieg Piñeras für den Aufstieg der Rechten verantwortlich gemacht werden könnte. Denn nach der letzten Umfrage war der Stimmenunterschied zwischen beiden Kandidaten auf lediglich 2% zusammengeschmolzen. Vier Tage vor der Wahl trat Marco Enríquez-Ominami erneut vor die Presse. O-Ton Marco Sprecher 3: Angesichts dieser historischen Situation, dass die Rechte Chiles Weg in die Zukunft behindern könnte, sehe ich meine Verantwortung darin, dazu beizutragen, dass dies nicht geschieht. Ich erkläre förmlich meine Unterstützung für den Kandidaten dieses Volkes, den 29% der Chilenen am 13. Dezember gewählt haben. Autor: Er vermied es, den Namen Eduardo Frei in diesem Zusammenhang auszusprechen, signalisierte so seine widerstrebende Haltung. Trotzdem waren viele seiner Anhänger von dieser Kehrtwende enttäuscht. MEO hatte den Wandel versprochen, und sich aus wahltaktischen Gründen im letzten Augenblick auf die Seite des Kandidaten geschlagen, der ihn am wenigsten repräsentierte. Er erwies sich damit als ein Pragmatiker des Fortschritts, nicht als ein Visionär der Erneuerung. Am 17. Januar wählten die Chilenen ihren künftigen Präsidenten. Sprecherin 2: Sebastián Piñera: 51,6%. Eduardo Frei: 48,4%. O-Ton Marco Sprecher 1: Die 20%, die für mich votierten, haben etwas Historisches erreicht. Autor: - erklärte Marco Enríquez-Ominami am Tag nach der Wahl. O-Ton Marco Sprecher 1: Erstmals in zwei Jahrzehnten wird in diesen Tagen im Parlament über ein Gesetz abgestimmt, das es künftig den Chilenen erlauben wird, zur Wahl zu gehen, ohne sich zuvor eingeschrieben zu haben. Ein neuer Präsident wurde gewählt, ich beglückwünsche ihn. Aber ich erinnere daran, dass Millionen von Jugendlichen nicht zur Wahl gehen wollten. Um sie werde ich kämpfen. Autor: MEO hat mit seiner Kandidatur die politische Landschaft Chiles verändert. Die sog. cariñocracia, die auf allseitige Übereinstimmung und Selbstgefälligkeit angelegte Demokratie, dürfte es bald nicht mehr geben. Die Parteien des Zweckbündnisses aus Christ- und Sozialdemokraten werden sich in der Opposition reformieren müssen. Sebastián Piñera wird als künftiger Präsident auf sie Rücksicht zu nehmen haben, wenn er im Parlament etwas durchsetzen will. Und der ‚Abtrünnige’ Marco Enríquez-Ominami wird als Kopf einer neuen außerparlamentarischen Opposition weiterhin das politische Establishment attackieren. O-Ton Marco Sprecher 1: Ich werde durch Chile reisen, um eine neue Partei aufzubauen und einen neuen Orientierungsrahmen zu schaffen. Ich werde ein kritischer Beobachter sein, der die Zukunft mitgestalten will, voller Optimismus, denn Chile kann mehr erreichen. Also: an die Arbeit. Take Cueca (von Wahlspot) Abspann Das Phänomen Marco. Ein junger Politiker mischt das politische Gefüge Chiles auf Ein Feature von Peter B. Schumann Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2010 Es sprachen: Philipp Schepmann, Susanne Flury, Claudia Mischke, Hüseyin Michael Cirpici, Rainer Delventhal und Wolfgang Rüter Ton und Technik: Ernst Hartmann und Anna Dhein Regie: der Autor Redaktion: Karin Beindorff