Sexualität, das schöne riskante Geschenk des Lebens - Hoheslied 4,1-16 Vibila Vuadi Hoheslied 4,1-16 „Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du! Deine Augen sind wie Taubenaugen hinter deinem Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die herab­steigen vom Gebirge Gilead. 2Deine Zähne sind wie eine Herde geschorener Schafe, die aus der Schwemme kom­men; alle haben sie Zwillinge, und keines unter ihnen ist unfruchtbar. 3Deine Lippen sind wie eine scharlachfarbene Schnur, und dein Mund ist lieblich. Deine Schläfen sind hinter deinem Schleier wie eine Scheibe vom Granatapfel. 1Dein Hals ist wie der Turm Davids, mit Brustwehr gebaut, an der tausend Schilde hangen, lauter Schilder der Starken. 5 Deine beiden Brüste sind wie Junge Zwillinge von Gazel­len, die unter den Lilien weiden. 6Bis der Tag kühl wird und die Schatten schwinden, will ich zum Myrrhenberge gehen und zum Weihrauchhügel. 7Du bist wunderbar schön, meine Freundin, und kein Makel ist an dir. s Komm mit mir, meine Braut, vom Libanon, steig herab von der Höhe des Amana, von der Höhe des Senir und Hermon, von den Wohnungen der Löwen, von den Bergen der Leoparden. „Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, liebe Braut, du hast mir das Herz genommen mit einem einzigen Blick deiner Augen, mit einer einzigen Kette an deinem Hals. 10 Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, liebe Braut! Deine Liebe ist lieblicher als Wein, und der Geruch deiner Salben übertrifft alle Gewürze.11 Von deinen Lippen, meine Braut, träufelt Honigseim. Honig und Milch sind unter deiner Zunge, und der Dun deiner Kleider ist wie der Duft des Libanon. 12Meine Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossener Garten, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Bom. 13Du bist gewachsen wie ein Lustgarten von Granatäpfeln mit edlen Früchten, Zyperblumen mit Narden, uNarde und Safran, Kalmus und Zimt, mit allerlei Weihrauchsträuchern Myrrhe und Aloe, mit allen feinen Gewürzen.15Ein Gartenbrunnen bist du, ein Born lebendi­gen Wassers, das vom Libanon fließt. 16Steh auf, Nordwind, und komm Südwind, und wehe durch meinen Garten, dass der Duft seiner Gewürze ströme! Mein Freund komme in seinen Garten und esse von seinen edlen Früchten.“ Einleitung Wenn wir das Hohelied der Liebe in der Bibel lesen, dann sind wir nicht nur von der sehr provokativen sexuellen Sprache schockiert, sondern auch von den Metaphern und Bildern, die für die Bibel sehr ungewöhnlich sind. Dieser Schock und dieses Gefühl erklären aber sehr genau, wel­ches Problem wir mit der Sexualität haben. Das Hohe Lied gehört zu den wenigen biblischen Texten, in denen die Stimme von Frauen im Vorder­ grund steht und in dem Gott fast überhaupt nicht vorkommt. Wenn wir aber davon aus­gehen, dass dieses Buch ein Teil des Kanons ist und zu den anderen von der Kirche akzeptierten Büchern gehört, dann haben wir die Pflicht, uns mit seiner religiösen und sozialen Bedeutung zu beschäftigen. 1 Gemäß der Ursprache sollte dieses Buch „Lied der Lieder“ heißen oder „Das schönste Lied“. Das Buch ist im Grunde eine Zusammenstellung oder eine Sammlung von vielen schönen Liedern und poetischen Bildern (Früchten, Düften, Blumen...) Indem diese Bücher oder Gedichte die Sexualität als Geschenk des Lebens feiern, beschreiben sie Wirklichkei­ten, die für viele Menschen auf den Intimbereich beschränkt sind, also auf das, was rein persönlich und pri­vat ist. Natürlich stimmt es, dass es Dinge gibt, die intim sind und nur in den Privatbereich gehören. Es wird aber allerhöchste Zeit, dass wir anfangen, diese sensiblen Texte in Predigten und Bibelarbei­ ten zu behandeln. Den Text lesen und verstehen Der Text stellt zwei Personen dar, die verliebt sind und sich nun darauf vorbereiten, sich an ihrer Sexualität in einer ver­ antwortlichen und überraschenden Art und Weise zu freuen. Der Text ist eine Mischung aus unterschiedlichen lite­ rarischen Stilen. Die beiden Liebenden, die durch den Ge­ brauch der Bilder Wirklichkeit und Phantasie porträtie­ren, haben eine solch herrliche Freude aneinander, wie nur Lie­ bende sie beschreiben können. Mit allen Sinnen werden diese Gefühle in Worte gefasst (4,11 und 16). Sie preisen den Körper des oder der anderen (4,1 - 7), indem sie einige der Körperteile aufzählen, die anziehend sind und die es zu erforschen gilt und die dazu beitragen, dass zwei Menschen sich zugehörig fühlen durch dieses so kostbare Geschenk geschlechtlicher Vereinigung. Zu diesen Körperteilen gehö­ren: Lippen, Augen, Zähne, Hals und Haar... (4,1-14). Diese Beschreibung lässt kein Gefühl aus, wie beispielsweise die Frische duftenden Atems, das Wehen des Windes, den Balsam und die Bewunderung der Kleidung. Alles trägt dazu bei, dass der Verlobte von Zärtlich­ keiten „lieblicher als Wein“ hinweg getragen wird. Aber auch wenn der Verlobte durch diese fast unbeschreibliche Sehn­ sucht und dieses Verlangen angeregt ist, erkennt er doch, dass seine Verlob­te versiegelt ist. Er steht vor einem versiegelten Born, einer verschlossenen Quelle. Das weist ihn darauf hin, dass gewisse Schritte nötig sind, bis er sich an diesem Born oder dieser Quelle wirklich erfreuen kann. Er ist sich dessen bewusst, dass nichts übereilt werden sollte. Der Mann, der hier lobt und preist, was er in seiner Ver­ lobten gefunden hat, der sie streichelt, sodass sie einwilligt, bekommt seine Antwort in den Versen 15 und 16. Er muss darauf warten, eingeladen zu werden, und sich nicht selbst mit Gewalt aufdrängen. Er muss bestimmte Schritte durch­laufen, bevor er aus jener Quelle trinken darf. Hat solches Vorgehen mit dem sozialen Status zu tun oder ist es an die Zustimmung und Anerkennung durch die Frau gebunden? Es stimmt jeden­ falls, dass sie es ist in diesem Text, die ihn in ihren Garten ein­ lädt, um die Früchte seiner Wahl zu kos­ten und das zu sich zu nehmen, was sie beide ohne Bruta­lität und ohne Zwang, aber Bibelarbeit: Hoheslied 4, 1-16 durch gegenseitige Zustim­mung, Vorbereitung und Bewunde­ rung begonnen hatten. Wir wenden das Wort Gottes auf uns selbst und auf die Gläubigen an Gott verurteilt keineswegs erotische Gefühle in der Sexua­lität. Sie sind ein allgegenwärtiges Phänomen, wovon so Gebrauch gemacht werden sollte, dass beide beteiligten Partner etwas davon haben. Es geht also nicht um die Frage der Enthaltung, sondern darum, die Sexualität als etwas Positives wahrzu­ nehmen, als etwas sehr Komplexes, denn Sexualität ist an Werte und Verhaltensweisen gekoppelt, die in den verschie­ denen Kulturen unterschiedlich verstan­den werden. Durch die Sexualität können sich Herzen und Sinne verbinden um ein harmonisches Leben zu führen. Wir haben begriffen, dass Sexualität ein Geheimnis Gottes ist und Gott uns Menschen befähigt, sie zu genießen und positiv zu nutzen, nicht nur zur Fortpflanzung, sondern auch als eine Möglichkeit der Verbin­ dung zwischen Mann und Frau. Das Schweigen in der Kirche um das Thema Sexualität ist also nicht gerechtfertigt, denn Gott hat es heute nicht nötig, etwas zu korrigieren, was Gott vormals geschaffen hat. Wahre Sexualität sucht danach, dem oder der anderen zu begegnen und ihn oder sie zu achten. Auch im Kontext von HIV und Aids ist Sex keine Sünde, und sexuelle Beziehungen brauchen keinen Verdacht zu erre­gen. Sie werden nur dann gefährlich, wenn sie mit Krank­heit, Tod und Entwürdigung verbunden sind. Letzteres geschieht, wenn es zu sexuellem Missbrauch und zu Ver­gewaltigung kommt. Wir sollten also nicht nur dann über Sexualität reden, wenn wir mit dem Problem von HIV/Aids und mit Geschlechtskrank­ heiten konfrontiert sind. Was sollen wir bereuen? • Wenn wir dieses Geschenk für andere als für die ursprüng­ lichen Zwecke benutzen oder alles, was mit Sexualität verbunden ist, mutwillig in den Dreck ziehen. • Wenn wir nicht den Mut aufbringen, in unseren Kirchen und Gemeinschaften über Sexualität zu reden, oder dies in einer normativen, ausschließenden oder gar dogmati­ schen Weise tun. • Wenn wir in der Schönheit nichts anderes sehen als eine Quelle der Sünde oder ein Mittel, um Vorteile zu ergattern und dies nicht als Möglichkeit begreifen, Gott zu feiern, der alles geschaffen hat und gesagt hat, dass es gut sei. Erinnern und Handeln Lasst uns daran denken, dass „Sex“ etwas Wunderbares ist, bei Missbrauch jedoch seinen Wert verliert. Deshalb ordnen wir Erotik nicht dem Bereich von „Sex“-Arbeiterinnen zu, sondern all denen, die Liebe weitergeben als ein Geheimnis und Ge­ schenk, das Gott Frau und Mann anvertraut, die ihr Liebeslied singen wie die Beiden, von denen wir hier spre­chen. Eine Art und Weise, wie unsere Gemeinden und unsere Kirche sich engagieren sollten, könnte darin bestehen, das Schweigen und das Tabu um die Sexualität zu brechen, sodass die Diskussionen um dieses Thema in unserer Umgebung zur Priorität werden. Schluss In diesem Text konzentrieren wir uns nicht auf ein Instru­ment der Lust, das abhängig ist von jemandem, der alles bestimmen kann, weil er genug Geld hat oder seine Mus­keln oder seine Waffe ihm ermöglichen, eine Frau nach sei­nem Willen sich gefügig zu machen. Uns geht es um das gegenseitige Einver­ ständnis und um die völlige Erfüllung zweier Menschen, die sich einander zuwenden. Ja, wir dür­fen Gott immer wieder für dieses wunderbare Geschenk danken. Liturgin: Danke Gott, dass Du uns das Geheimnis der Sexualität offen­ bart hast und wir uns daran freuen dürfen. Alle: Wir loben Dich, liebender Gott, der Du die Liebe geschaffen hast und uns teilhaben lässt an diesem Geheimnis. Wir dan­ken Dir dafür. Liturg: Lehre uns den Umgang mit diesem Geschenk, weil wir es al­ leine nicht schaffen, verantwortlich zu handeln. Hilf uns, dass wir uns nicht versklaven lassen von der Lust, die mit Deinem Geschenk verbunden ist. Alle: Gott, höre unsere Gebete. So wie Du Dich uns in Liebe mit­ teilst, so lass auch uns in liebender Weise mit den Partne­ rinnen oder Partnern umgehen, die Du uns anvertraust. Wir preisen die Schönheit Deiner Schöpfung. Amen. Aus: Gott bricht das Schweigen – Predigen in Zeiten von AIDS; mission 21/VEM 2005, S. 107 ff Lasst uns unsere Dankbarkeit ausdrücken und beten Gott wollte, dass Frau und Mann im Schöpfungsakt Befrie­ digung finden. Deshalb schuf Gott Geschlecht und Sexua­lität und ließ so die Menschen teilhaben an seinem Geheim­nis. Durch diese Teilhabe wird die Sexualität zu einer Lebensweise und einem Modell unserer Existenz, in der das „Du“ in kommu­ nikativer Weise das „Ich“ trifft. Lasst uns beten, dass dieses Geschenk nicht verloren geht oder zur banalen Routine wird, sondern ein Ausdruck von Liebe, Begegnung, Selbstzufriedenheit und Bewunde­rung sein kann. Bibelarbeit: Hoheslied 4, 1-16 2