11. VDE/ABB-Blitzschutztagung, 22. – 23. Oktober 2015 in Neu-Ulm Vergleichende Betrachtungen und Laboruntersuchungen Wirkung von Erstblitzentladungen auf biologische Materialien zur Comparative considerations and laboratory studies on the effect of lightning first stroke discharges on biological materials Prof. Dr.-Ing. habil. Jürgen Kupfer, Wissenschaftl. Beratungsbüro Elektropathologie, Berlin, [email protected] Prof. Dr.-Ing. habil. Michael Rock, TU Ilmenau, FG Blitz- und Überspannungsschutz, [email protected] Dr.-Ing. Carsten Leu, TU Ilmenau, FGR Hochspannungstechnologien, [email protected] Dipl.-Ing. Stefan Gossel, FGR Hochspannungstechnologien, [email protected] Dipl.-Ing. Christian Drebenstedt, TU Ilmenau, FG Blitz- u. Überspannungsschutz, [email protected] Kurzfassung Stefan JELLINEK (1871 bis 1968) leitete mit Beginn der Jahrhundertwende eine systematische „Spurensuche der Elektrizität“ ein. Die Erklärungsversuche zur Wirkung direkter Blitzeinschläge beinhalten oft phänomenologische Darstellungen der Schädigungen, die Einbeziehung physikalisch-elektrotechnischer Aspekte bei den Erklärungsversuchen erfolgt nur in begrenztem Maße. Daher soll geprüft werden, in wie weit Ergebnisse theoretischer wie labortechnischer Untersuchungen zu Wirk- und Ausbreitungsmechanismen energiereicher Impulsentladungen auf biologische Materialien übertragbar sind. Bisher sind kaum Aussagen über die transient wirksam werdenden elektrischen Feldstärken, die Stromführung über und durch den Organismus sowie die Ausbreitung und Wirkung von Entladungen an Oberflächen, insbesondere der Haut, verfügbar. Zur Annäherung an die Thematik wurden orientierende Versuche an frischen Tierpräparaten und Teilen von Bäumen sowie theoretische Betrachtungen zu hochspannungstechnischen Anordnungen durchgeführt. Damit sollten folgende Fragestellungen beantwortet werden: • Wie wirken die Grenzflächen biologischer Materialien auf die Entstehung und Ausbreitung von Entladungen? Können die Entstehungsbedingungen von Entladungen beschrieben und reproduzierbar erzeugt werden? • Unter welchen Bedingungen bilden sich die vielfach im Rahmen der Analyse von Blitzunfällen beschriebenen Lichtenberg-Figuren als Folge von Entladungen über die Haut aus? Wie kann diese Entladungsform physikalisch und elektrotechnisch charakterisiert werden? • Sind die in Hochspannungslaboren verfügbaren Anlagen zur Erzeugung technisch relevanter Spannungen, insbesondere der Impulsspannung, geeignet, die Blitzspannungen, wie sie an Mensch, Tier und Pflanze in der Natur auftreten, nachzubilden? Dieser Beitrag steht im Kontext der Aktivitäten des Ausschusses für Blitzschutz und Blitzforschung (ABB). Sein interdisziplinär zusammengesetzter Arbeitskreis ‚Blitzunfälle’ fasste den Stand der Kenntnisse zur medizinisch-biologischen Blitzforschung für in Deutschland interessierte Berufsgruppen (Blitzschutzbeauftragte, medizinisches Personal und Rettungskräfte, interessierte Wissenschaftler) zusammen. Abstract Stefan Jellinek (1871 to 1968) initiates at beginning of the turn of century a systematic "Search of Traces in Electricity". Attempts to explain the effects of direct lightning strikes often involve phenomenological representations of damages, inclusion of physical-electrotechnical aspects of attempts for explanation are only of limited extent. Therefore, examining to what extent are results of laboratory investigations as theoretical to effects and propagation mechanisms of high-energy pulse discharges applied to biological materials to be assigning. So far hardly statements about transient effective electric field strengths, current conduction on and through the body and propagation of discharges and effects on surfaces, particularly the skin, are available. To approach the topic comparative laboratory tests on fresh specimens of animals and parts of trees as well as theoretical considerations were performed to high-voltage engineering assemblies. With those, the following questions should be answered: • How boundary surfaces of biological materials affect formation and spread of discharges? Can be described conditions of formation of discharges and generated reproducible? • Under what conditions, the often in analysis of lightning accidents described Lichtenberg figures develop on the skin as a result of discharges? How can this form of discharge be characterized physically and electrically? • Are available in high voltage laboratories equipment for generation of technically relevant voltages, in particular impulse voltages, suitable to simulate lightning voltages that occur at humans, animals and plants in nature? This contribution can be seen in context of activities of the Ausschuss für Blitzschutz und Blitzforschung (ABB). The interdisciplinary working group ‘lightning accidents’ summed up the knowledge of medical-biological lightning research for interested professional groups in Germany (lightning protection specialists, medical personnel and emergency workers, interested scientists). ISBN 978-3-8007-3899-1 105 © VDE VERLAG GMBH ∙ Berlin ∙ Offenbach 11. VDE/ABB-Blitzschutztagung, 22. – 23. Oktober 2015 in Neu-Ulm 1 • Natürliche Prozesse streben i. d. R. ein Minimum des Energiebedarfs an. Historische Würdigung • Die Verteilung kapazitiver und resistiver Stromanteile nimmt bei den hier zur Diskussion stehenden (transienten) Vorgängen eine Schlüsselfunktion ein. Aus Experimenten unbekannt blieb bisher die quantitative Stromaufteilung zwischen Körperinneren und äußerer Gleitentladung beim Blitzunfall. Für technische Anordnungen gilt dagegen diese Frage unter Beachtung bestimmter Randbedingungen und für definierte Materialeigenschaften weitestgehend als beantwortet. Inwieweit sich deren Ergebnisse auf biologische Materialien übertragen lassen, war ein weiteres Ziel der hier beschriebenen orientierenden Laborversuche und Berechnungen. Im Vordergrund stand dabei das Interesse an der Beantwortung folgender Fragen: Anknüpfend auf die bereits von Michael FARADAY (1791 bis 1867) hingewiesene Wechselwirkung von Strom und Materie sah Stefan JELLINEK (1871 bis 1968) als Arzt und Physiker eines seiner wissenschaftlichen Lebensziele darin, Spuren der Elektrizitätseinwirkung zu sammeln, zu beurteilen und vor allem nach physikalischen, chemischen und medizinischen Aspekten zu ordnen. In seinen zugehörigen theoretischen Abhandlungen lehnte er sich zunächst an „Kriterien der FARADAY’ schen Kraftlinien als naturgegebene Leitmotive“ an [1], um diese dann nach eigenen Erkenntnissen zu erweitern. In den von ihm veranlassten Experimenten zeigte sich, dass dabei „Plus und Minus eine Rolle spielt ... die weder mit Zeichen von Hitze noch mit chemischen Veränderungen einhergeht und die außerdem noch reversibel ist“ [1]. Es entstanden die richtungsweisenden, international einmaligen Zusammenfassungen: • Unter welchen Bedingungen lassen sich Gleitentladungen auf biologischen Oberflächen nachbilden? • Sind Spuren bei beobachteten Gleitentladungen nachweisbar und wie unterscheiden diese sich bei unterschiedlichen biologischen Materialien? • Atlas zur Spurenkunde der Elektrizität, Wien 1955, und • das nicht mehr in seiner Geschlossenheit existierende „Elektropathologische Museum“ in Wien. Bezüglich Blitzeinwirkungen bezog JELLINEK dabei Beobachtungen anderer Persönlichkeiten des öffentlichen und wissenschaftlichen Lebens mit ein. Als ein Beispiel sei GOETHE genannt, der 1823 „aus dem Funde kleinster Holzkügelchen in einer blitzgetroffenen Windmühle eine „gestaltende Tätigkeit der negativen Elektrizität“ abzuleiten suchte [1]. 2 • Sind Entladungsvorgänge an definierten Grenzflächen reproduzierbar und welche Wirkungen hinterlassen sie grundsätzlich? • Welche Schlussfolgerungen lassen sich hinsichtlich direkter Blitzeinwirkungen aus den Experimenten ableiten, vor allem bezüglich der bei Unfällen beobachteten Lichtenberg-Figuren im Ergebnis von Entladungen, die Gleit- bzw. Oberflächenentladungen zuzuordnen sind? • Wie sind die bei der Beanspruchung biologischer Materialien aufgezeichneten Spannungs- und Stromverläufe im Vergleich zu Ergebnissen an technischen Objekten zu interpretieren? Ergebnisse aktueller Recherchen Im Vorfeld durchgeführte Recherchen ergaben wenige Ansatzpunkte, um zum Beispiel geometrische Feldverteilungen technischer Anordnungen mit definierten Kennwerten (spezifische Leitfähigkeit κ, relative Permittivität εr) auf biologische Gebilde (z.B. Übergang Kopf-HalsSchulterregion) übertragen zu können. • Inwieweit lassen sich mit in Hochspannungslaboren erzeugten Impulsen Blitzwirkungen, wie sie an Mensch und Tier in der Natur auftreten, nachbilden? Welche Schlussfolgerungen ergeben sich hinsichtlich multipler Blitzentladungen? Zahlreiche Fragen der Wirkung energiereicher Blitzentladungen auf Mensch und Tier und deren lebenswichtige Organe (Haut, Herz, Atmung, Muskel- und Nervensystem) konnten bis heute nicht abschließend beantwortet werden. Dazu gehört der Entstehungsmechanismus sogenannter Lichtenberg- bzw. Blitz-Figuren ([2], [7]). Sie verblassen innerhalb kurzer Zeit (Stunden) restlos, unabhängig davon, ob der von einem direkten Blitzschlag mit Gleitentladungen über die Haut betroffene Mensch überlebte oder nicht. 3 3.1 Experimentalaufbauten Bei allen Vergleichsuntersuchungen wurden verschiedene Materialien mit Impulsentladungen bei Blitzstoßspannung mit einer Spitzenelektrode sowie bei Tesla-Entladungen über eine Drahtspitze beansprucht. Die Abstände zwischen Elektrode und Objekt wurden variiert und betrugen maximal 20 cm (Luftstrecke). Die Objekte standen auf oder hingen mit Abstand über einer Kupferplatte, welche über die Strommesseinrichtung leitend mit einem darunter geerdeten Aluminiumtisch verbunden war. Der Gesamtstrom wurde mit einem Weitbereichsstromwandler gemessen. Mit Aufnahme eigener Untersuchungen stand die Forderung, ein „Hochspannungs-Ersatzschaltbild“ für die Anordnung Luft-Fettgewebeschicht zu entwickeln, vergleichbar mit Modellbildungen zu grundlegenden Feldanordnungen mit mindestens zwei Dielektrika sowie Schräggrenzflächen. Abzuleiten sind Mechanismen, die bei der Erklärung von Vorgängen bei einer Blitzentladung über den Menschen hilfreich sind. Bei diesen Überlegungen wurde von folgenden Paradigmen ausgegangen: ISBN 978-3-8007-3899-1 Experimente mit Hochspannungsentladungen an biologischen Präparaten 106 © VDE VERLAG GMBH ∙ Berlin ∙ Offenbach 11. VDE/ABB-Blitzschutztagung, 22. – 23. Oktober 2015 in Neu-Ulm Eine quer zum Buchenstamm eingeleitete Entladung (Bild 4.2) führt direkt zum Überschlag über die Rinde. Die Spannungsmessung erfolgte über einen gedämpften RC-Impulsspannungsteiler, wobei die Messsignale mit einem Digitalspeicheroszilloskop aufgezeichnet wurden. Soweit nicht anders vermerkt, wurden die Versuche mit folgender Beanspruchung durchgeführt: • Positive Blitzstoßspannung 1.2/50 µs bei Ladespannungen des Marx-Generators von max. 300 kV • mit Tesla-Generator erzeugte unregelmäßig schwingende Spannung mit ca. 200 kHz bei ca. 300 kV. Die Fotodokumentation erfolgte neben Einzelbildaufnahmen (Langzeitbelichtung) sowie Videoaufzeichnungen mit hochauflösender Kamera. Bild 4.2 Verhalten einer Luftentladung bei Blitzstoßspannung unter Zwischenschaltung eines Stützers zur geerdeten Flächenelektrode Bewertung: • Beim trockenen Buchenstamm ist eine Entladung im Spalt zwischen Holz und Rinde anzunehmen, die einer Luftentladung recht nah kommt. 3.2 Biologische Materialien Als pflanzliches Material wurden dünne Buchenstämme (rund, Durchmesser ca. 8 cm; Länge ca. 40 cm) in zwei Varianten verwendet: • Inwieweit sich beim nassen Buchenstamm eine Grenzflächenentladung zwischen Holz und Rinde ausbildet oder der Strom über die evtl. relativ gut leitfähige zylindermantelförmige Grenzschicht durch Volumenleitung geführt wurde, war nicht festzustellen. • frisch geschnitten, naturbelassen „trocken“ sowie • in Salzwasser gelagert „nass“ (Hinzugabe von Salz, um sicher zu gehen, dass wie in der Natur Mineralien/Ionen aufgenommen werden.) und gegenübergestellt. Außerdem wurden trockene Holzlatten (Fichte) zum Vergleich herangezogen. • Eine Sprengwirkung bzw. das Aufplatzen oder Aufreißen der Rinde war bei der im Labor nachzubildenden Impulsspannungsbelastung nicht zu erwarten und wurde auch nicht beobachtet. Dafür ist eine höhere Stromamplitude und eine längere Stromflussdauer (hohe impulsförmige Energiezufuhr), wie beim realen Blitzereignis, notwendig. Das Tiermaterial war frisch geschlachteten Rindern und Schweinen entnommen. Verwendet wurden Präparate der Extremitäten von Kuh (Rinderbein, Länge ca. 40 cm) und Schwein (Klaue, Länge ca. 30 cm) sowie Schweinehaut (ca. 3 – 5 mm dick; Fläche ca. 20 cm × 35 cm). 4 4.2 Rinder- und Schweineklaue unter Blitzstoßspannung Bewertung von Beobachtungen und Fotodokumentationen Vom Einschlagpunkt am Rindebein ausgehend bilden sich verzweigende Gleitentladungen. Die Hauptentladung läuft über das Fell und mündet in den Hufansatz (Bild 4.3). Vermutlich geht die Entladung am Übergang Fell/Haut zum Hornhuf nach innen oder durch den gespaltenen Huf und von dort zur Kupferplatte über. 4.1 Buchenstamm unter Blitzstoßspannung Der simulierte Blitzeinschlag in einen Baum wurde mit einem auf geerdeter Flächenelektrode stehendem Buchenstamm und Impulsspannung nachgestellt (Bild 4.1). a) b) c) Bild 4.1 Versuchsanordnung und Langzeit-Fotodokumentation von Impulsspannungsentladungen gleicher Amplitude Bild 4.1 fasst drei Beobachtungen zusammen: a) Versuchsanordnung bei Luftentladung (Blitzstoßspannung an Spitze über Schnittfläche von Buchenstamm) b) Buchenstamm „trocken“: Auf der Schnittfläche entsteht eine mehrfach strahlenförmig zur Innengrenzschicht der Rinde verzweigte Gleitentladung. c) Buchenstamm „nass“: signifikanter Unterschied zu b), Entladung gabelt sich nicht zur Rindenumhüllung auf. ISBN 978-3-8007-3899-1 Bild 4.3 Versuchsanordnung bei Entladung (links) und Einschlag in das auf geerdeter Kupferplatte stehende Rinderbein (rechts) Bewertung: • Beim Ableiten des Stromes wirken generell die Leitfähigkeit des biologischen Materials und die Zünd- und 107 © VDE VERLAG GMBH ∙ Berlin ∙ Offenbach 11. VDE/ABB-Blitzschutztagung, 22. – 23. Oktober 2015 in Neu-Ulm Stromleitungsprozesse auf dem Fell. Letztere werden bestimmt durch die transiente Feldverteilung und wirken zugleich auf sie zurück. Die Hauptentladung lässt erkennen, dass der Strom in das offene Bein eintritt, um dann auf der Felloberseite, zum Teil verzweigt, weiter zu laufen. Wahrscheinlich, aber nicht gemessen, ist ein amplitudenschwächerer Stromfluss im Inneren. elektrischen Feldes wirken konzentrierend auf die Oberflächenentladung. • Auch bei Haut ohne Fell kommt es zu Gleitentladungen bzw. zum Überschlag (Schweineklaue, Bild 4.5 rechts). Allerdings setzt die Gleitentladung direkt am oberen Übergang „Körperöffnung“-Haut ein. Die Beobachtungen im Experiment decken sich mit Unfallbildern ([3]). • Wurde die Spitzenelektrode direkt ins Fleisch gesteckt, fließt der Strom zunächst über das biologische Material. Durch Höhe und Richtung der Feldstärke sowie das Erfüllen der Zündbedingungen am Übergang Fell-Luft setzt die Gleitentladung auf dem Fell ein (etwa im Spitzenbereich der Elektrode, Bild 4.4 links). Diese Tatsache unterstreicht die Vermutung, dass ein direkter Eintritt in Körperöffnungen (z.B. Augen, Mund) möglich ist und trotzdem Lichtenberg-Figuren auf der Haut sichtbar werden. Wie in Bild 4.4 links erkennbar, setzt die Gleitentladung direkt am oberen Übergang „Körperöffnung“-Haut ein. 4.3 Schweinehaut unter Blitzstoßspannung Auf einer, eine geerdete Kupferplatte überspannenden, Schweinehaut konnten keine Gleitentladungen generiert werden (Bild 4.6), wie sie auf Oberflächen von Isoliermaterialien auftreten. Es war (im Nachhinein) nicht festzustellen, ob die dünne Hautschicht durchschlagen wurde oder ob die Gasentladung auf der Haut ansetzt und ein kapazitiver Verschiebungsstrom durch die Haut zur geerdeten Plattenelektrode fließt. Bild 4.6 Schweinehaut, direkt auf Kupferplatte liegend, mit ca. 20 cm Abstand zur Spitzenelektrode (Langzeitbelichtung) Bewertung: • Durch die mit ca. 3 mm vergleichsweise dünne, trotz hohem Fettanteil definiert leitfähige, Hautschicht wird der Strom, ohne sichtbare Folgen in Form von Spuren aufzuweisen, geleitet. Es wird jedoch zudem ein Stromanteil über die Hautoberfläche vermutet. Dieser hängt empfindlich vom Oberflächenwiderstand ab, der von der Eindringtiefe des Stroms in die Haut und der Leitfähigkeit der Hautoberfläche selbst bestimmt wird. Fließt ein Strom durch den hohen Oberflächenwiderstand, kann sich eine Spannung aufbauen, die Gasentladungsprozesse bewirkt. Die genannten Prozesse bewirken einen Energieumsatz auf und in der Haut, so dass sich das Entladungsbild phänomenologisch ändert. Dazu gehört auch das Wechseln („Springen“) der Entladungspfade. Bild 4.4 Spitzenelektrode ca. 3 cm in das Fleisch eingestochen (links) und Metallbrücke auf dem Fell (rechts, Kupferstreifen ca. 5 cm × 1 cm); (Langzeitbelichtung) 4.4 Versuche mit Tesla-Entladungen Tesla-Generatoren, die auf Basis der Kopplung und Anregung zweier Resonanzkreise arbeiten, erzeugen periodisch gedämpfte Spannungsschwingungen von einigen hundert kHz und einigen hundert kV. Die Spannungsänderungsgeschwindigkeiten korrelieren mit Steilheiten bei Blitzentladungen. Einige Perioden dieser Tesla-Spannung können näherungsweise ein Ersatz für multiple Blitzimpulse sein, die durch Stoßspannungsgeneratoren im Labor nicht nachzubilden waren. Mit der längeren Einwirkdauer im Experiment war zudem eine bessere visuelle Beobachtung der Entladungsvorgänge verbunden. Bild 4.5 Schweineklaue bei Blitzstoßspannungsbeanspruchung; Objekt stehend mit den Zehen auf geerdeter Kupferplatte (links) und Klaue ca. 5 cm über geerdeter Kupferplatte schwebend mit Spitzenelektrode ca. 3 cm tief ins Fleisch gesteckt (rechts). • Erwartungsgemäß überbrückt ein Metallelement (vgl. Schmuck auf der Haut) den sonst auf der Oberfläche durchgehenden Gleitentladungshauptkanal (Bild 4.4 rechts). Die hohe Leitfähigkeit und die Ausformung des ISBN 978-3-8007-3899-1 108 © VDE VERLAG GMBH ∙ Berlin ∙ Offenbach 11. VDE/ABB-Blitzschutztagung, 22. – 23. Oktober 2015 in Neu-Ulm a) Von Interesse sind das Entladungsbild und die Wirkungen an Oberflächen biologischer Materialien bei Spannungen mit der genannten Spannungsänderungsgeschwindigkeit. Die Entladungen selbst sind energieschwach, erst deren Periodizität kann Wirkungen generieren, die zu Spuren an biologischen Materialien führen, z.B. an trockenem Holz, siehe Bild 4.7. Blitzunfälle an hölzernen Unterständen weisen ähnliche Spuren auf ([3]), deren Entstehungsmechanismus nachgegangen werden sollte. Bild 4.7 dokumentiert folgende Beobachtungen: • An einer trockenen Latte traten die Entladungen an unterschiedlichen Stellen ein und aus (Bild 4.7 a – c). Die Entladung kann also über die Schnittfläche eindringen, sich über Fasern im Holz ausbreiten und an anderer Stelle wieder austreten. Die an den Zehen der schwebenden Schweinklaue austretenden Entladungen durchschlagen die Luftstrecke zur geerdeten Elektrodenplatte (Bild 4.8 c). Thermische Spuren an Knochen oder Fleisch (dunkle Verfärbungen) zeigten sich erst nach längerer (> 30 s) Einwirkung. • Während der Entladungen richten sich feine Holzfasern an der Holzoberfläche auf und bleiben nahezu senkrecht abstehend (Bild 4.7 e). b) c) d) c) Bild 4.8 Tesla-Entladungen treffen Fleisch, Knochen oder den oberen Fell-Haut-Ansatz (Langzeitbelichtung) • An sehr trockenem Holz bildeten sich bei längerer Beanspruchung Kohlenstoff-Spuren („Brandspur“) vor allem an der Holzoberfläche aus (Bild 4.7 d). a) b) Bewertung: • Im Fall der Schweineklaue überbrückt diese einen Teil der Entladungsstrecke als Widerstandselement, in dessen Innerem der elektrische Strom über ein hochfrequentes Strömungsfeld fließt. e) • Gleitentladungen auf der Oberfläche entstehen im Gegensatz zur Blitzstoßspannungsbeanspruchung nicht. • Ohne messtechnischen Nachweis muss davon ausgegangenen werden, dass die Entladungsströme das tierische Material durchdringen. Dabei ist anzunehmen, dass aufgrund der hohen Frequenz die Entladungsströme in die Randschichten der Beinabschnitte (Hautschichten und unmittelbar darunter) verdrängt werden. • Die an den Ansatzstellen der Entladungskanäle (Knochen, Grenzschicht zwischen Fleisch und Knochen sowie Zehenspitzen) erkennbaren Verfärbungen sind Eiweiß-Zerstörungen, wie sie als Strommarken auch nach Blitzunfällen festgestellt werden. Bild 4.7 Trockene Holzlatte bei und nach längerer hochfrequenter Tesla-Hochspannungsbeanspruchung Bewertung: Bei einem weiteren Tesla-Experiment wurde Schweinehaut auf eine elektrisch isolierende Pappe (Ersatz für Knochen oder Fettschicht) gelegt, unter der sich eine geerdete Plattenelektrode befand (Bild 4.9). • Obwohl jeder Einzelimpuls einer Tesla-Entladung mit geringer Stromamplitude und kurzer Dauer sehr energiearm ist, ergibt sich bei wiederholter Einwirkung eine um den Entladungskanal örtlich begrenzte thermische Belastung. Bei wesentlich energiereicheren Blitzimpulsen einschließlich Langzeitentladung tritt dieser Effekt mit „Brandspuren“ verstärkt in Erscheinung. Nach solchen Spuren sollte nach einem Blitzeinschlag gesucht werden. • Bewegliche Fasern richten sich nach elektrischen Feldlinien („Kraftlinien“ von Verschiebungs-Strömen) aus. Dieser Effekt ist zu vergleichen mit dem „Sträuben“ der Haare im erdnahen elektrischen Gewitterfeld. Bei den Tesla-Beanspruchungen an Rinderbein und Schweineklaue wurde die vom Transformator kommende Drahtelektrode so platziert, dass die Luftentladungen Fleisch, Knochen oder die Fell-/Hautoberfläche treffen konnten (Bild 4.8 a, b). ISBN 978-3-8007-3899-1 Bild 4.9 Beanspruchung von Schweinehaut mit Tesla-Entladungen (Langzeitbelichtung) 109 © VDE VERLAG GMBH ∙ Berlin ∙ Offenbach 11. VDE/ABB-Blitzschutztagung, 22. – 23. Oktober 2015 in Neu-Ulm Die über mehrere Sekunden aufgezeichneten Entladungen sind hier als Teilentladungen zu erkennen. Dabei enden die Entladungskanäle mit einem stark leuchtenden Ansatzpunkt auf der Schweinehaut. Bewertung: innerhalb kürzester Zeit die komplette Strecke entlang des Stamms überbrückt. Auf Grund des kurzschlussähnlichen Charakters der Entladung sinkt der Spannungsbedarf deutlich ab (Bild 5.1, trockener Buchenstamm). Es stellt sich ein hoher Impulsstrom ein. • Es ist zu vermuten, dass durch die Schweinehaut ein „ohmsch-kapazitiver Strom“ und durch die hochisolierende Zwischenlage aus Pappe ein nahezu „rein kapazitiver Verschiebungsstrom“ fließt. Aufgrund der hohen Frequenz der Tesla-Entladungen ist die Impedanz der Reihenschaltung aus Schweinehaut und Pappe klein. Der feuchte Stamm weist dagegen eine deutlich höhere Leitfähigkeit auf, so dass der Stromfluss die zur Zündung einer Entladung ausreichende Spannung bzw. Feldstärke nicht aufbauen kann. Der Stromfluss erfolgt in Form einer ohmschen Leitung während des ganzen Entladungsprozesses (Bild 5.1, feuchter Buchenstamm). Der Widerstand bleibt gegenüber dem trockenen Holz vergleichsweise hoch, so dass der fließende Strom stark reduziert wird. • Der Ansatzpunkt bewegt sich bei sekundenlanger TeslaBeanspruchung auf der Haut. Nicht auszuschließen ist, dass nach Unfällen variable Blitzspuren auf der Haut auf multiple Ereignisse hindeuten können. 5 Ergebnisse der elektr. Messungen Nur wenige Kenntnisse zur Wirkung von Blitzentladungen auf Mensch oder Tier fußen auf messtechnischen Angaben. Daran wird sich auch zukünftig nichts ändern. Deshalb haben vergleichende Laboransätze mit Modellen und messtechnischer Unterstützung große Bedeutung. Zugleich muss nachdrücklich auf damit verbundene Einschränkungen in Deutung und Verallgemeinerung der ermittelten Ergebnisse hingewiesen werden. Die folgend dargestellten, gemessenen Spannungen und Ströme stellen Gesamtgrößen dar. So werden die Spannung von Hochspannungs-Spitzenelektrode zur Erdelektrode (Luftdurchschlag in Reihe zum Objekt) und der Summenstrom (z.B. Strom durch Objekt und parallele Gleitentladung an Objekt) angegeben. Bild 5.1 Spannungs- und Stromverläufe von Luftentladungen bei Blitzstoßspannungsbeanspruchung eines „trockenen“ und eines „nassen“ Buchenstamms Bewertung: Für eine Untersuchungsanordnung wurden mehrere Versuche (10) zur statistischen Sicherheit durchgeführt. Dargestellt werden jedoch nur ausgewählte Zeitverläufe. • Der nasse Buchenstamm wies nahezu ohmsches Verhalten auf, er ist ein vergleichsweise guter elektrischer Leiter. • Demgegenüber ist der Widerstand des trockenen Buchenstamms deutlich höher. Mit dem Einsatz einer Entladung in der Grenzschicht zwischen Stamm und Rinde sinkt jedoch die Impedanz der Gesamtanordnung weit unter jene des nassen Buchenstamms. 5.1 Buchenstamm unter Blitzstoßspannung Die gemessenen Spannungs- und Stromzeitverläufe der Stoßspannungsentladungen für die Anordnungen entsprechend Bild 4.1, sind im Bild 5.1 dargestellt. Sowohl bei trockenem, wie auch bei nassem Holz ist der Anfangsverlauf der Stoßspannung gleich und wird vorrangig von der Festigkeit der Luftstrecke zwischen oberer Elektrode und der Schnittfläche des Holzes bestimmt. Mit dem Überschreiten der kritischen Feldstärke erfolgt der Durchschlag. Die zuvor isolierende Luftstrecke wird durch einen leitfähigen Plasmakanal kurzgeschlossen, der auf der oberen Schnittfläche des Stamms fußt. Es kommt zur Ausbildung eines Stromflusses durch den Buchenstamm, der bedingt durch die Leitfähigkeit des biologischen Materials maßgeblich den Spannungsfall über dem Stamm bestimmt. Mit steigendem Strom steigt der Spannungsbedarf weiter an. 5.2 Rinderbein unter Blitzstoßspannung Die Spannungs- und Stromverläufe sind denen der Versuche mit trockenem Buchenstamm ähnlich (Bild 5.2). Die Spannungs- und Stromamplituden liegen in der gleichen Größenordnung. Die Spannung bricht schnell zusammen, so dass nur ein kurzer Spannungsimpuls entsteht. Der Strom reduziert sich nach einer sehr kurzen kapazitiven Spitze und klingt dann exponentiell ohmsch ab. Wird die Luftentladungsstrecke zum Rinderbein reduziert, tritt der Überschlag zeitlich später auf. Das verzögerte Überschlagsverhalten zeigt sich besonders deutlich in zwei Anordnungen mit Spitzenelektrode (Bild 5.3): An dem trockenen Stamm wird in der Grenzschicht zwischen Stamm und Rinde die kritische Feldstärke überschritten. Es kommt zur Ausbildung einer Entladung, die ISBN 978-3-8007-3899-1 a) Wird die Hochspannungsspitzenelektrode direkt auf den von Fleisch umgebenen Knochen aufgesetzt, verbreitern sich die Spannungs- und Stromimpulse (Bild 5.3 110 © VDE VERLAG GMBH ∙ Berlin ∙ Offenbach 11. VDE/ABB-Blitzschutztagung, 22. – 23. Oktober 2015 in Neu-Ulm rote Kurven). Außerdem treten kleinere Spannungsamplituden und Strommaximalwerte auf. Der Strom bildet sich dabei als ein breites Plateau ab. unfall kann von entsprechendem Verhalten ausgegangen werden. 5.3 Schweineklaue unter Blitzstoßspannung b) Wird die Elektrodenspitze ca. 3 cm tief ins Fleisch gesteckt, verstärkt sich der unter a) beschriebene Effekt noch einmal (Bild 5.3 schwarze Kurven). Die Spannungsamplitude sinkt weiter, der Strom fällt flach ab. Danach schließt sich mit dem Fellüberschlag ein exponentiell abklingender Stromverlauf an. Die erreichten Spannungswerte sind niedriger als bei vergleichbarer Anordnung mit dem Rinderbein; Stromspitzen und Mittelwerte des schwingenden Stromes liegen höher (Bild 5.4). Wird die Elektrodenspitze direkt auf dem Fleisch aufgesetzt, bleibt es bei einem Außenüberschlag über die Haut (vgl. auch Bild 4.5). Dieses Verhalten ist unter anderem auf die Geometrie der Schweineklaue (kürzere Abmessungen und geringerer Elektrodenabstand) und möglicherweise der anderen Hautstruktur (keine Haare) gegenüber dem Rinderbein zurückzuführen. Bild 5.2 Luftentladung auf Rinderbein stehend auf geerdeter Kupferplatte (Luftstrecke 20 cm) mit Spannungs- und Stromverlauf bei Blitzstoßspannung Bild 5.4 Spannungs- und Stromverläufe bei Luftentladung (Luftstrecke 2 cm) von einer Spitze unter Blitzstoßspannung an Schweineklaue stehend auf Kupferplatte Wurde die Elektrodenspitze ca. 1 … 2 cm tief ins Fleisch gesteckt, ergaben sich vergleichbare Messergebnisse. Unterschiede in Stromspitzen und im Mittelwert der schwingenden Ströme werden auf eine Beeinflussung des Plasmas der Überschlagsentladung zurückgeführt. Berührt die Fußspitze nicht die geerdete Kupferplatte (Abheben beim Laufen), verändert sich das Spannungsund Stromverhalten bei Blitzstoßspannung nicht. Die Werte sind aufgrund der verlängerten Entladungsstrecke etwas kleiner. Bewertung: • Das Spannungs-Strom-Verhalten und damit die elektrische Beanspruchung der Tierbeine unterscheiden sich kaum, trotz differenzierter Hautoberfläche (Rind: Fell; Schwein: unbehaart). Bild 5.3 Stoßentladung mit Blitzstoßspannung bei Spitze direkt an bzw. im Rinderbein Bewertung: • Um die vermutete annähernde Übereinstimmung der Spurenbildung (Gleitentladung) vom Blitz getroffener behaarter und unbehaarter Körperpartien zu stützen, ist das Verhalten des Plasmakanals näher zu untersuchen. Bild 4.3 bis Bild 4.5 legen nahe, dass ein einzelner Entladungskanal entsteht. Verbunden mit einer stärkeren Kühlwirkung der unbehaarten Haut (bei Schweineklaue) wird die Leitfähigkeit des Plasmakanals reduziert und damit die Stromamplitude verringert (bei natürlicher Blitzentladung nicht möglich). • Zu deuten ist das nachgewiesene Verhalten wie folgt: Im Anfangsbereich des Impulses konzentriert sich der Stromfluss nahezu vollständig auf das Beininnere. Danach findet verzögert ein vollständiger Außenüberschlag statt. Gleiches Verhalten wird beim direkten Einschlag auf Personen oder Tiere vermutet. • Bisher ist ein Zugangsweg für die differenzierte Messung von innerem Strom und Überschlagsstrom nicht bekannt. Weitere Überlegungen zu Labormodellen und rechnerische Versuche bieten sich an. • Eine Verlängerung der Entladungsstrecke z.B. durch angehobene(s) Bein(e) wird beim Blitzunfall nicht von Bedeutung sein. • Spannungs- und Stromverläufe bei Zwischenschaltung einer Metallbrücke auf dem Fell unterscheiden sich kaum zu bisher interpretierten Messungen. Beim Blitz- ISBN 978-3-8007-3899-1 111 © VDE VERLAG GMBH ∙ Berlin ∙ Offenbach 11. VDE/ABB-Blitzschutztagung, 22. – 23. Oktober 2015 in Neu-Ulm 5.4 Zusammenfassung – Schlussfolgerungen Wahrscheinlichkeit auf die punktuelle Reizung der Haut ohne (bleibende) Gewebeschädigung durch die unmittelbare energetische Einwirkung (Strahlung) der Entladungskanäle von verzweigten Gleitentladungen zurückzuführen. Da keine irreversiblen Gewebeveränderungen auftreten (anhand mikroskopischer Hautuntersuchung nachweisbar), bilden sich die Figuren durch Regenerationsmechanismen der Haut nach einiger Zeit zurück (ähnlich der Rötung der Haut nach Schlag mit flacher Hand o.ä.). Folgende Ergebnisse der Experimente mit Blitzstoßspannung und Tesla-Entladung lassen sich zusammenfassen: • An trockenem Holz kommt es zur Entladung in der Grenzschicht zwischen Rinde und Holz. Bei direkter Einwirkung (Einschlag) auf die Rinde tritt eine Gleitentladung bzw. ein Überschlag auf. • Der direkte volle Stromdurchgang ist an mit Salzwasser durchfeuchtetem Holz (ohmscher Widerstand) zu beobachten. 6 • Auf dem Fell von einem Rinderbein bildet sich ein Überschlag bzw. eine Gleitentladung aus. • Metallteile bzw. leitfähige Elemente auf der Haut/auf dem Fell überbrücken einen Abschnitt der Gleitentladungsstrecke; Gleitentladungen konzentrieren sich dabei an solchen leitfähigen Teilen. Mit folgenden rechnerischen Abschätzungen besteht die Möglichkeit, die bereits vorgenommenen „Bewertungen“, vor allem Erklärungen für die Ausbildung von Gleitentladungen bei direkter Blitzeinwirkung zu geben, sowie wirksame Impedanzen, maximale Spannungen und damit die Stromaufteilung näherungsweise zu bestimmen. • Bei unmittelbarer oder direkter Impulseinspeisung tritt der Außen-(Fell-/Haut-)Überschlag verzögert auf. Dies entspricht dem Mechanismus bei natürlichem direktem Blitzeinschlag in einen Menschen oder in ein Tier. 6.1 Entladungsvorgänge an Grenzflächen • Es waren keine signifikanten Unterschiede des Entladungsverhaltens bei Blitzstoßspannung an Rinderbein oder Schweineklaue festzustellen. Für biologisches Material wird ein „HochspannungsErsatzschaltbild“ entworfen, das der Anordnung LuftFett-Gewebeschicht entspricht und zudem Gleitentladung sowie Überschlag abbilden kann. • Auf einer Schweinehaut mit unterlegter Erdelektrode bildet sich keine Gleitentladung aus; es kommt zum Stromfluss durch die dünne Hautschicht. Gleitentladungen treten an Schräggrenzschichten auf, wo Tangential- und Normalkomponenten der elektrischen Feldstärke vorhanden sind. Die Gleitentladung ist eine Teilentladung mit Impulscharakter, bei der die Ladungsträgerproduktion nach dem Townsend- und Kanal-Mechanismus erfolgt. Die Ladungsträger der Gleitpol-Polarität werden dabei gegen die Oberfläche gedrückt, ihre Beweglichkeit wird reduziert und lokale Flächenladungen beeinflussen das elektrische Feld. Der Gleitpol ist die ‚Elektrode’, an der die Gleitentladung startet. An Schräggrenzschichten unterscheiden sich Anfangs(Einsatz)- und Überschlagspannung. • Gleitentladungen hinterlassen bei laborerzeugter Blitzstoßspannung keine sichtbaren Spuren bzw. Veränderungen auf dem Fell oder der Haut von tierischem Material. Dies ist mit der sehr kurzen, stromschwachen und energiearmen Entladung im Vergleich zur natürlichen Blitzentladung zu erklären. • Hochfrequente Hochspannung bei Tesla-Entladungen führt nur bei Isolatoren, z.B. sehr trockenem Holz, zu Gleitentladungen bzw. Überschlägen. An unvollständig getrocknetem oder durchfeuchtetem Holz sowie an tierischem Material, wie Rinderbein, Schweineklaue oder Schweinehaut, lassen sich keine Gleitentladungen provozieren. Dies ergibt sich aufgrund der vergleichsweise kleinen (überwiegend kapazitiven) Impedanzen, die bei den hohen Frequenzen der Tesla-Entladungen vorliegen. Zusätzlich werden folgende Anmerkungen gegeben: 6.2 Netzwerkmodell für Gleitentladungen Beim Ansatz eines Blitzentladungskanals an einem Menschen entwickelt sich meist eine Gleitentladung über die Haut bzw. die Kleidung (Bild 6.1) ([4]). • Natürliche Blitzentladungen sind viel energiereicher, als sie an einer Hochspannungsimpulsanlage nachgebildet werden können. Die spezifische Energie des Blitzstromes beträgt in der Natur für einen Einzelimpuls (Erstblitz) etwa 6 kA²s bis 15 MA²s. Bei den hier vorgestellten Laborexperimenten mit Blitzstoßspannung waren es 1.8 A²s bis 2.4 A²s, was einem riesigen Faktor von 3000 bis 7500000 zur Natur entspricht. Aber auch in der Natur treten deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Stromkomponenten und den Fällen ‚nur Erstblitz’ oder ‚Erst- und Folge- und LangzeitstromEinwirkung’ auf. Die Entwicklung der Gleitentladung startet hier, im Gegensatz zu vielen technischen Anordnungen (z.B. Durchführung; hochspannungsfest isolierte Ableitung), vom Ansatzpunkt des Blitzkanals (‚Hochspannungselektrode‘). Mit geringem Spannungsbedarf breitet sich diese Entladung mit zur Erde gerichteter Bewegung, beeinflusst von der Leitfähigkeit des Menschen mit seiner Kleidung und dem Wirken hoher kapazitiver Verschiebungsströme, aus. Diese Ströme sind durch das schnell veränderliche elektrische Feld an der als Isolierstoffschicht wirkenden Haut bzw. Kleidung relativ groß. • Lichtenberg-Figuren auf Oberflächen von biologischen Materialien zu erzeugen, war unter Laborbedingungen nicht möglich. Temporäre Blitz-Figuren sind mit hoher ISBN 978-3-8007-3899-1 Hochspannungstechnische Beschreibung und Erklärungen 112 © VDE VERLAG GMBH ∙ Berlin ∙ Offenbach 11. VDE/ABB-Blitzschutztagung, 22. – 23. Oktober 2015 in Neu-Ulm CE/ – Streukapazität zum Erdpotential (Boden/Standfläche) 60 – 80 – 120 pF/m, F/ – Funkenstrecke (Einschalter) mit Zündspannung 300 – 500 – 650 kV/m. Bild 6.1 Vorstellung zum elektrischen Verschiebungs- und Strömungsfeld beim direkten Blitzeinschlag in einen Menschen Mit Hilfe von kapazitiv-resistiven Netzwerken können elektrisches Verschiebungs- und Strömungsfeld bei der Blitzentladung direkt am Menschen abgebildet werden. Die vorwachsende (Gleit-)Entladung auf der Oberfläche (Haut, Kleidung) wird dabei anhand automatisch schließender Schalter (Funkenstrecken) dargestellt. Bild 6.2 Vereinfachte R-C-Ersatzschaltbilder für elektrische Feldanordnung a) ohne und b) mit Gleitentladung Mit dem Zünden einer Funkenstrecke wird ein Funkenwiderstand RF zugeschaltet, der sich nach dem Toepler’ schen Funkengesetz RF(t) = kT·F/QF(t) errechnet. Darin ist kT – Toepler-Konstante für Luft 5.5 mVs/m und F – Funkenlänge 0.1 m sowie QF(t) = ∫i(t) dt – geflossene Ladung mit i(t) – Funkenstrom (Gleitentladungsstrom über die Haut). Das ergibt einen Spannungsbedarf U/ der Gleitentladung (Leader) von ungefähr 1 ... 2 ... 3 kV/m. In einem Beispiel wird ein negativer Erstblitzstoßstrom inEB der Form 1/200 µs mit einem Scheitelwert von 30 kA am höchsten Punkt der Person (Kopf) eingeprägt. 6.2.1 Kettenschaltung und Parameter der Elemente Jedes Raumelement des elektrischen Feldes kann durch Impedanzen zu den Nachbarelementen ersetzt werden. Abhängig vom Verhältnis ω·ε/κ bestimmen die Kapazitäts- oder Leitfähigkeitsanteile die Potentialverteilung. Die Feldanordnung darf auf eine Ersatzkettenschaltung reduziert werden, wobei auf Längeneinheiten bezogene Elemente (Beläge) verwendet werden. Tangential- und Normalkomponenten des Grenzschichtfeldes können durch Längs- und Querkapazitäten eines Kettenleiters dargestellt werden. Längs über dem Kettenleiter tritt bei anliegender zeitveränderlicher Spannung (du/dt ≠ 0) eine hyperbolische Potentialverteilung auf, deren Versteuerung (Abweichung von linearem Verlauf) vom Verhältnis der Quer- zur den Längskapazitäten abhängt. Diese Potentialverteilung bewirkt, dass die höchste Feld- bzw. Spannungsbeanspruchung unmittelbar am Gleitpol erscheint. 6.3 Transiente Entladungsentwicklung Eine transiente Netzwerksimulation soll den Zeitverlauf des Vorwachsens einer Gleitentladung (zeitabhängiger Endpunkt des Entladungskopfes) nachbilden. Zugleich können damit die Spannungs- und Stromzeitverläufe an der Hautoberfläche und im Körperinneren bestimmt werden. Bei Anfangs- bzw. Einsetzspannung zündet die erste, dem aufsitzenden Gleitpol (Ansatzpunkt des Blitzkanals) benachbarte, Funkenstrecke. Entsprechende Ersatzschaltbild(er) aus längenbezogenen Kapazitäten und Widerständen (und Induktivitäten) für eine direkt vom Blitz getroffene Person, die der Vorstellung in Bild 6.1 zuzuordnen sind, zeigt Bild 6.2. Die längenbezogenen Ersatzelemente in Bild 6.2 werden wie folgt bezeichnet und mit mittleren Werten versehen: RK/ – Körper(innen)widerstand (zusammengefasst aus Blutgefäßen, Nervenfasern, Muskelgewebe, Spinalkanal, Knochen/Skelett, …) 360 – 480 – 560 Ω/m [4], [5], [6], LK/ – Körperinduktivität 0.3 – 0.5 – 1.0 µH/m, R/ – Hautlängswiderstand 0.1 – 10 – 30 MΩ/m [4], G/ – Hautquerwiderstand(Leitwert) 50 – 100 – 200 kΩ·m, C/ – Hautlängskapazität 4 – 10 – 100 pF·m, K/ – Hautquerkapazität 20 – 60 – 100 µF/m [9], CH/ – Streukapazität zum Hochspannungspotential (Blitzkanal) 5 – 10 – 20 pF/m, ISBN 978-3-8007-3899-1 Die Querkapazität K/ (und CE/ und CH/) des ersten Oberflächenelements lädt sich auf die volle Spannung auf und schiebt damit das Gleitpol-Potential auf der Oberfläche vor. Dann zündet die zweite Funkenstrecke und so weiter. Der ‚Widerstand’ des Funkenkanals ist umgekehrt proportional zur durch den Kanal geflossenen Ladung. Große Querkapazitäten K/ bedeuten große Ladungsmengen und kleine ‚Widerstände‘, was zum weiteren Vorschieben des Gleitpol-Potentials und damit zur Überbrückung großer Schlagweiten bei relativ niedriger Spannung führt. Der Strom durch den Körper und der Strom über die Haut bzw. die Gleitentladung werden erdnah gemessen. Für die Berechnung wurde ein Mensch mit 1.8 m Körpergröße durch eine Serie von 18 Kettengliedern dargestellt. 113 © VDE VERLAG GMBH ∙ Berlin ∙ Offenbach 11. VDE/ABB-Blitzschutztagung, 22. – 23. Oktober 2015 in Neu-Ulm Damit repräsentiert ein Kettenglied einen Längenabschnitt von F = 10 cm. gezeigt werden, dass bei variierten Arten der Einwirkung meist Oberflächenentladungen (Gleitentladungen auf Rinde, Haut oder Fell) auftreten. Über die Grenzfläche zwischen der vergleichsweise leitfähigen Körperoberfläche und der leicht ionisierbaren Luft wird der Hauptteil der Energie abgeführt. Bisher sind nur wenige solcher Experimente an pflanzlichem oder tierischem Material bekannt. Trotz beobachteter verzweigter Gleitentladungen wurden keine Blitz-Figuren auf z.B. Hautoberflächen festgestellt. Bei der angewandten Blitzstoßspannungsbeanspruchung traten zudem weder massive mechanische noch thermische Wirkungen an den biologischen Präparaten auf. Die Auswertung der umfassend international vorliegenden Literatur ist nicht abgeschlossen. Insbesondere gilt das für die wenigen beschriebenen tierexperimentellen Untersuchungen, die hinsichtlich vergleichbarer (Blitz-) Beanspruchungen und daraus abgeleiteter Schlussfolgerungen überprüft werden sollten. Bild 6.3 Körper- und Gleitentladungsstrom sowie Spannung über Mensch bei direkter Erstblitzentladung 8 Die Simulationsrechnung ergab die Stromverläufe und die Spannung in Bild 6.3. Der Zeitverzug zwischen dem Zünden der obersten und der untersten Funkenstrecke beträgt nur ca. 0.31 µs ([8]). Damit kann man fast von einem sofortigen Überschlag des gesamten Körpers ausgehen. 7 Die Autoren danken dem Ausschuss für Blitzschutz und Blitzforschung (ABB) und dem ABB-Fördererkreis für die wissenschaftliche und finanzielle Unterstützung des Arbeitskreises „Blitzunfälle“. Zusammenfassung und Aussagen für die Praxis 9 Literatur [1] Jellinek, S.: Elektropathologie. Die Erkrankungen durch Blitzschlag und elektrischen Starkstrom in klinischer und forensischer Darstellung. Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart, 1903; Jellinek, S.: Atlas der Elektropathologie. Verlag Urban & Schwarzenberg, Berlin, 1909; Jellinek, S.: Atlas zur Spurenkunde der Elektrizität. Verlag Springer, Wien, 1955 [2] Lichtenberg, G.C.: Schriften und Briefe, Dritter Band (1), Aufsätze, Entwürfe, Gedichte, Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, Carl Hanser Verlag, München, 1972, Von einer neuen Art die Natur und Bewegung der elektrischen Materie zu erforschen, Erste Abhandlung, S. 24 – 34 [3] Kupfer, J.; Rock, M.; Raphael, Th.; Zack, F.: Unsicherheiten zwischen Blitzeinschlagpunkt, sichtbaren Schäden und Verletzungen, erörtert am Beispiel des Golfplatzunfalls 2012 mit vier Todesopfern (5.3), 10. VDE/ABB-Blitzschutztagung, Neu-Ulm, 24. – 25. Oktober 2013, VDE-Fachbericht 70, S. 140 – 145, VDE Verlag, Berlin, 2013 [4] Kitagawa, N.; Turumi, S.; Ishikawa, T.; Ohashi, M.: The Nature of Lightning Charges on Human Bodies and the Basis for Safety and Protection, 18. International Conference on Lightning Protection (ICLP), München, 1985, Session 6.7, pp. 435 – 438 [5] Gabriel, C.; Gabriel, S.; Corthout, E.: The dielectric properties of biological tissues: I. Literature survey, Phys. Med. Biol., Vol. 41, 1996, pp. 2231 – 2249 [6] Gabriel, S.; Lau, R.W.; Gabriel, C.: The dielectric properties of biological tissues: II. Measurements in the frequency range 10 Hz to 20 GHz, Phys. Med. Biol., Vol. 41, 1996, pp. 2251 – 2269 [7] Cherington, M.; McDonough, G.; Olson, S.; Russon, R.; Yarnell, P.R.: Lichtenberg Figures and Lightning: Case Reports and Review of the Literature, Cutis, Vol. 80, August 2007, pp. 141 – 143 [8] Pedersen, P.O.: Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Lichtenbergschen Figuren und ihre Verwendung zur Messung sehr kurzer Zeiten, Annalen der Physik, IV. Folge, Band 69, S. 205 – 232 [9] IEC/TR 60479-5: Effects of current on human beings and livestock – Part 5: Touch voltage threshold values for physiological effects, Technical Report, Edition 1.0, November 2007 Auf der Basis von Ergebnissen orientierender Laborversuche wurden phänomenologisch die Prozesse der Beanspruchung von biologischem Material unterschiedlicher Art erörtert. Bekannte oder vermutete Effekte an Personen und Tieren im Zusammenhang mit Blitzentladungsvorgängen konnten damit bestätigt oder erhärtet werden. Es muss jedoch einschränkend vermerkt werden, dass mit den technisch in Hochspannungs- bzw. HochstromLaboren realisierbaren Blitzstoßspannungen und -strömen die realen Bedingungen eines Blitzunfalls mit seinen differenzierten Folgen, nicht vollständig nachgestellt werden können. Laboranlagen liefern i. d. R. nur einen Einzelimpuls, entweder hoher Spannungsamplitude bei kleinem Strom und kurzer Dauer oder hoher Stromamplitude bei vergleichsweise niedriger treibender Spannung. Die jeweilige „Antwort“ des biologischen Materials auf synthetische Strom-Spannungs-Beanspruchungen hat das Verständnis zur Wirkung von Blitzspannungen auf Menschen oder Tiere jedoch in großem Maße gefördert. Es zeigte sich, dass das Entladungsbild an biologischen Gebilden auch bei voller Kenntnis aller Parameter und Prozesse nicht in vollem Umfang vorhergesagt werden kann. Es konnten wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden, die bei der Interpretation von Blitzunfällen bzw. schäden anzuwenden sind. Experimentell konnte durch die Beaufschlagung biologischer Präparate mit Blitzstoßspannung eindrucksvoll ISBN 978-3-8007-3899-1 Danksagung 114 © VDE VERLAG GMBH ∙ Berlin ∙ Offenbach