Vergleichende Betrachtungen und

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11. VDE/ABB-Blitzschutztagung, 22. – 23. Oktober 2015 in Neu-Ulm
Vergleichende Betrachtungen und Laboruntersuchungen
Wirkung von Erstblitzentladungen auf biologische Materialien
zur
Comparative considerations and laboratory studies on the effect of
lightning first stroke discharges on biological materials
Prof. Dr.-Ing. habil. Jürgen Kupfer, Wissenschaftl. Beratungsbüro Elektropathologie, Berlin, [email protected]
Prof. Dr.-Ing. habil. Michael Rock, TU Ilmenau, FG Blitz- und Überspannungsschutz, [email protected]
Dr.-Ing. Carsten Leu, TU Ilmenau, FGR Hochspannungstechnologien, [email protected]
Dipl.-Ing. Stefan Gossel, FGR Hochspannungstechnologien, [email protected]
Dipl.-Ing. Christian Drebenstedt, TU Ilmenau, FG Blitz- u. Überspannungsschutz, [email protected]
Kurzfassung
Stefan JELLINEK (1871 bis 1968) leitete mit Beginn der Jahrhundertwende eine systematische „Spurensuche der
Elektrizität“ ein. Die Erklärungsversuche zur Wirkung direkter Blitzeinschläge beinhalten oft phänomenologische Darstellungen der Schädigungen, die Einbeziehung physikalisch-elektrotechnischer Aspekte bei den Erklärungsversuchen
erfolgt nur in begrenztem Maße. Daher soll geprüft werden, in wie weit Ergebnisse theoretischer wie labortechnischer
Untersuchungen zu Wirk- und Ausbreitungsmechanismen energiereicher Impulsentladungen auf biologische Materialien übertragbar sind. Bisher sind kaum Aussagen über die transient wirksam werdenden elektrischen Feldstärken, die
Stromführung über und durch den Organismus sowie die Ausbreitung und Wirkung von Entladungen an Oberflächen,
insbesondere der Haut, verfügbar. Zur Annäherung an die Thematik wurden orientierende Versuche an frischen Tierpräparaten und Teilen von Bäumen sowie theoretische Betrachtungen zu hochspannungstechnischen Anordnungen
durchgeführt. Damit sollten folgende Fragestellungen beantwortet werden:
• Wie wirken die Grenzflächen biologischer Materialien auf die Entstehung und Ausbreitung von Entladungen? Können
die Entstehungsbedingungen von Entladungen beschrieben und reproduzierbar erzeugt werden?
• Unter welchen Bedingungen bilden sich die vielfach im Rahmen der Analyse von Blitzunfällen beschriebenen
Lichtenberg-Figuren als Folge von Entladungen über die Haut aus? Wie kann diese Entladungsform physikalisch und
elektrotechnisch charakterisiert werden?
• Sind die in Hochspannungslaboren verfügbaren Anlagen zur Erzeugung technisch relevanter Spannungen, insbesondere der Impulsspannung, geeignet, die Blitzspannungen, wie sie an Mensch, Tier und Pflanze in der Natur auftreten,
nachzubilden?
Dieser Beitrag steht im Kontext der Aktivitäten des Ausschusses für Blitzschutz und Blitzforschung (ABB). Sein interdisziplinär zusammengesetzter Arbeitskreis ‚Blitzunfälle’ fasste den Stand der Kenntnisse zur medizinisch-biologischen
Blitzforschung für in Deutschland interessierte Berufsgruppen (Blitzschutzbeauftragte, medizinisches Personal und
Rettungskräfte, interessierte Wissenschaftler) zusammen.
Abstract
Stefan Jellinek (1871 to 1968) initiates at beginning of the turn of century a systematic "Search of Traces in Electricity".
Attempts to explain the effects of direct lightning strikes often involve phenomenological representations of damages,
inclusion of physical-electrotechnical aspects of attempts for explanation are only of limited extent. Therefore,
examining to what extent are results of laboratory investigations as theoretical to effects and propagation mechanisms
of high-energy pulse discharges applied to biological materials to be assigning. So far hardly statements about transient
effective electric field strengths, current conduction on and through the body and propagation of discharges and effects
on surfaces, particularly the skin, are available. To approach the topic comparative laboratory tests on fresh specimens
of animals and parts of trees as well as theoretical considerations were performed to high-voltage engineering
assemblies. With those, the following questions should be answered:
• How boundary surfaces of biological materials affect formation and spread of discharges? Can be described conditions of formation of discharges and generated reproducible?
• Under what conditions, the often in analysis of lightning accidents described Lichtenberg figures develop on the skin
as a result of discharges? How can this form of discharge be characterized physically and electrically?
• Are available in high voltage laboratories equipment for generation of technically relevant voltages, in particular
impulse voltages, suitable to simulate lightning voltages that occur at humans, animals and plants in nature?
This contribution can be seen in context of activities of the Ausschuss für Blitzschutz und Blitzforschung (ABB). The
interdisciplinary working group ‘lightning accidents’ summed up the knowledge of medical-biological lightning
research for interested professional groups in Germany (lightning protection specialists, medical personnel and
emergency workers, interested scientists).
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1
• Natürliche Prozesse streben i. d. R. ein Minimum des
Energiebedarfs an.
Historische Würdigung
• Die Verteilung kapazitiver und resistiver Stromanteile
nimmt bei den hier zur Diskussion stehenden (transienten) Vorgängen eine Schlüsselfunktion ein.
Aus Experimenten unbekannt blieb bisher die quantitative
Stromaufteilung zwischen Körperinneren und äußerer
Gleitentladung beim Blitzunfall. Für technische Anordnungen gilt dagegen diese Frage unter Beachtung
bestimmter Randbedingungen und für definierte Materialeigenschaften weitestgehend als beantwortet. Inwieweit
sich deren Ergebnisse auf biologische Materialien übertragen lassen, war ein weiteres Ziel der hier beschriebenen orientierenden Laborversuche und Berechnungen. Im
Vordergrund stand dabei das Interesse an der Beantwortung folgender Fragen:
Anknüpfend auf die bereits von Michael FARADAY
(1791 bis 1867) hingewiesene Wechselwirkung von
Strom und Materie sah Stefan JELLINEK (1871 bis 1968)
als Arzt und Physiker eines seiner wissenschaftlichen
Lebensziele darin, Spuren der Elektrizitätseinwirkung zu
sammeln, zu beurteilen und vor allem nach physikalischen, chemischen und medizinischen Aspekten zu ordnen. In seinen zugehörigen theoretischen Abhandlungen
lehnte er sich zunächst an „Kriterien der FARADAY’
schen Kraftlinien als naturgegebene Leitmotive“ an [1],
um diese dann nach eigenen Erkenntnissen zu erweitern.
In den von ihm veranlassten Experimenten zeigte sich,
dass dabei „Plus und Minus eine Rolle spielt ... die weder
mit Zeichen von Hitze noch mit chemischen Veränderungen einhergeht und die außerdem noch reversibel ist“ [1].
Es entstanden die richtungsweisenden, international einmaligen Zusammenfassungen:
• Unter welchen Bedingungen lassen sich Gleitentladungen auf biologischen Oberflächen nachbilden?
• Sind Spuren bei beobachteten Gleitentladungen nachweisbar und wie unterscheiden diese sich bei unterschiedlichen biologischen Materialien?
• Atlas zur Spurenkunde der Elektrizität, Wien 1955, und
• das nicht mehr in seiner Geschlossenheit existierende
„Elektropathologische Museum“ in Wien.
Bezüglich Blitzeinwirkungen bezog JELLINEK dabei
Beobachtungen anderer Persönlichkeiten des öffentlichen
und wissenschaftlichen Lebens mit ein. Als ein Beispiel
sei GOETHE genannt, der 1823 „aus dem Funde kleinster
Holzkügelchen in einer blitzgetroffenen Windmühle eine
„gestaltende Tätigkeit der negativen Elektrizität“ abzuleiten suchte [1].
2
• Sind Entladungsvorgänge an definierten Grenzflächen
reproduzierbar und welche Wirkungen hinterlassen sie
grundsätzlich?
• Welche Schlussfolgerungen lassen sich hinsichtlich direkter Blitzeinwirkungen aus den Experimenten ableiten, vor allem bezüglich der bei Unfällen beobachteten
Lichtenberg-Figuren im Ergebnis von Entladungen, die
Gleit- bzw. Oberflächenentladungen zuzuordnen sind?
• Wie sind die bei der Beanspruchung biologischer Materialien aufgezeichneten Spannungs- und Stromverläufe
im Vergleich zu Ergebnissen an technischen Objekten
zu interpretieren?
Ergebnisse aktueller Recherchen
Im Vorfeld durchgeführte Recherchen ergaben wenige
Ansatzpunkte, um zum Beispiel geometrische Feldverteilungen technischer Anordnungen mit definierten Kennwerten (spezifische Leitfähigkeit κ, relative Permittivität
εr) auf biologische Gebilde (z.B. Übergang Kopf-HalsSchulterregion) übertragen zu können.
• Inwieweit lassen sich mit in Hochspannungslaboren
erzeugten Impulsen Blitzwirkungen, wie sie an Mensch
und Tier in der Natur auftreten, nachbilden? Welche
Schlussfolgerungen ergeben sich hinsichtlich multipler
Blitzentladungen?
Zahlreiche Fragen der Wirkung energiereicher Blitzentladungen auf Mensch und Tier und deren lebenswichtige
Organe (Haut, Herz, Atmung, Muskel- und Nervensystem) konnten bis heute nicht abschließend beantwortet
werden. Dazu gehört der Entstehungsmechanismus sogenannter Lichtenberg- bzw. Blitz-Figuren ([2], [7]). Sie
verblassen innerhalb kurzer Zeit (Stunden) restlos, unabhängig davon, ob der von einem direkten Blitzschlag mit
Gleitentladungen über die Haut betroffene Mensch überlebte oder nicht.
3
3.1 Experimentalaufbauten
Bei allen Vergleichsuntersuchungen wurden verschiedene
Materialien mit Impulsentladungen bei Blitzstoßspannung
mit einer Spitzenelektrode sowie bei Tesla-Entladungen
über eine Drahtspitze beansprucht. Die Abstände zwischen Elektrode und Objekt wurden variiert und betrugen
maximal 20 cm (Luftstrecke). Die Objekte standen auf
oder hingen mit Abstand über einer Kupferplatte, welche
über die Strommesseinrichtung leitend mit einem darunter
geerdeten Aluminiumtisch verbunden war. Der Gesamtstrom wurde mit einem Weitbereichsstromwandler
gemessen.
Mit Aufnahme eigener Untersuchungen stand die Forderung, ein „Hochspannungs-Ersatzschaltbild“ für die
Anordnung Luft-Fettgewebeschicht zu entwickeln, vergleichbar mit Modellbildungen zu grundlegenden Feldanordnungen mit mindestens zwei Dielektrika sowie
Schräggrenzflächen. Abzuleiten sind Mechanismen, die
bei der Erklärung von Vorgängen bei einer Blitzentladung
über den Menschen hilfreich sind. Bei diesen Überlegungen wurde von folgenden Paradigmen ausgegangen:
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Experimente mit
Hochspannungsentladungen an
biologischen Präparaten
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Eine quer zum Buchenstamm eingeleitete Entladung (Bild
4.2) führt direkt zum Überschlag über die Rinde.
Die Spannungsmessung erfolgte über einen gedämpften
RC-Impulsspannungsteiler, wobei die Messsignale mit
einem Digitalspeicheroszilloskop aufgezeichnet wurden.
Soweit nicht anders vermerkt, wurden die Versuche mit
folgender Beanspruchung durchgeführt:
• Positive Blitzstoßspannung 1.2/50 µs bei Ladespannungen des Marx-Generators von max. 300 kV
• mit Tesla-Generator erzeugte unregelmäßig schwingende Spannung mit ca. 200 kHz bei ca. 300 kV.
Die Fotodokumentation erfolgte neben Einzelbildaufnahmen (Langzeitbelichtung) sowie Videoaufzeichnungen
mit hochauflösender Kamera.
Bild 4.2 Verhalten einer Luftentladung bei Blitzstoßspannung unter
Zwischenschaltung eines Stützers zur geerdeten Flächenelektrode
Bewertung:
• Beim trockenen Buchenstamm ist eine Entladung im
Spalt zwischen Holz und Rinde anzunehmen, die einer
Luftentladung recht nah kommt.
3.2 Biologische Materialien
Als pflanzliches Material wurden dünne Buchenstämme
(rund, Durchmesser ca. 8 cm; Länge ca. 40 cm) in zwei
Varianten verwendet:
• Inwieweit sich beim nassen Buchenstamm eine Grenzflächenentladung zwischen Holz und Rinde ausbildet
oder der Strom über die evtl. relativ gut leitfähige zylindermantelförmige Grenzschicht durch Volumenleitung
geführt wurde, war nicht festzustellen.
• frisch geschnitten, naturbelassen „trocken“ sowie
• in Salzwasser gelagert „nass“ (Hinzugabe von Salz, um
sicher zu gehen, dass wie in der Natur Mineralien/Ionen
aufgenommen werden.)
und gegenübergestellt. Außerdem wurden trockene Holzlatten (Fichte) zum Vergleich herangezogen.
• Eine Sprengwirkung bzw. das Aufplatzen oder
Aufreißen der Rinde war bei der im Labor
nachzubildenden Impulsspannungsbelastung nicht zu
erwarten und wurde auch nicht beobachtet. Dafür ist
eine höhere Stromamplitude und eine längere
Stromflussdauer (hohe impulsförmige Energiezufuhr),
wie beim realen Blitzereignis, notwendig.
Das Tiermaterial war frisch geschlachteten Rindern und
Schweinen entnommen. Verwendet wurden Präparate der
Extremitäten von Kuh (Rinderbein, Länge ca. 40 cm) und
Schwein (Klaue, Länge ca. 30 cm) sowie Schweinehaut
(ca. 3 – 5 mm dick; Fläche ca. 20 cm × 35 cm).
4
4.2 Rinder- und Schweineklaue unter Blitzstoßspannung
Bewertung von Beobachtungen
und Fotodokumentationen
Vom Einschlagpunkt am Rindebein ausgehend bilden sich
verzweigende Gleitentladungen. Die Hauptentladung läuft
über das Fell und mündet in den Hufansatz (Bild 4.3).
Vermutlich geht die Entladung am Übergang Fell/Haut
zum Hornhuf nach innen oder durch den gespaltenen Huf
und von dort zur Kupferplatte über.
4.1 Buchenstamm unter Blitzstoßspannung
Der simulierte Blitzeinschlag in einen Baum wurde mit
einem auf geerdeter Flächenelektrode stehendem Buchenstamm und Impulsspannung nachgestellt (Bild 4.1).
a)
b)
c)
Bild 4.1 Versuchsanordnung und Langzeit-Fotodokumentation von
Impulsspannungsentladungen gleicher Amplitude
Bild 4.1 fasst drei Beobachtungen zusammen:
a) Versuchsanordnung bei Luftentladung (Blitzstoßspannung an Spitze über Schnittfläche von Buchenstamm)
b) Buchenstamm „trocken“: Auf der Schnittfläche entsteht eine mehrfach strahlenförmig zur Innengrenzschicht der Rinde verzweigte Gleitentladung.
c) Buchenstamm „nass“: signifikanter Unterschied zu b),
Entladung gabelt sich nicht zur Rindenumhüllung auf.
ISBN 978-3-8007-3899-1
Bild 4.3 Versuchsanordnung bei Entladung (links) und Einschlag in
das auf geerdeter Kupferplatte stehende Rinderbein (rechts)
Bewertung:
• Beim Ableiten des Stromes wirken generell die Leitfähigkeit des biologischen Materials und die Zünd- und
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Stromleitungsprozesse auf dem Fell. Letztere werden
bestimmt durch die transiente Feldverteilung und wirken zugleich auf sie zurück. Die Hauptentladung lässt
erkennen, dass der Strom in das offene Bein eintritt, um
dann auf der Felloberseite, zum Teil verzweigt, weiter
zu laufen. Wahrscheinlich, aber nicht gemessen, ist ein
amplitudenschwächerer Stromfluss im Inneren.
elektrischen Feldes wirken konzentrierend auf die Oberflächenentladung.
• Auch bei Haut ohne Fell kommt es zu Gleitentladungen
bzw. zum Überschlag (Schweineklaue, Bild 4.5 rechts).
Allerdings setzt die Gleitentladung direkt am oberen
Übergang „Körperöffnung“-Haut ein. Die Beobachtungen im Experiment decken sich mit Unfallbildern ([3]).
• Wurde die Spitzenelektrode direkt ins Fleisch gesteckt,
fließt der Strom zunächst über das biologische Material.
Durch Höhe und Richtung der Feldstärke sowie das
Erfüllen der Zündbedingungen am Übergang Fell-Luft
setzt die Gleitentladung auf dem Fell ein (etwa im Spitzenbereich der Elektrode, Bild 4.4 links). Diese Tatsache unterstreicht die Vermutung, dass ein direkter Eintritt in Körperöffnungen (z.B. Augen, Mund) möglich
ist und trotzdem Lichtenberg-Figuren auf der Haut
sichtbar werden. Wie in Bild 4.4 links erkennbar, setzt
die Gleitentladung direkt am oberen Übergang „Körperöffnung“-Haut ein.
4.3 Schweinehaut unter Blitzstoßspannung
Auf einer, eine geerdete Kupferplatte überspannenden,
Schweinehaut konnten keine Gleitentladungen generiert
werden (Bild 4.6), wie sie auf Oberflächen von Isoliermaterialien auftreten. Es war (im Nachhinein) nicht festzustellen, ob die dünne Hautschicht durchschlagen wurde
oder ob die Gasentladung auf der Haut ansetzt und ein
kapazitiver Verschiebungsstrom durch die Haut zur geerdeten Plattenelektrode fließt.
Bild 4.6 Schweinehaut, direkt auf Kupferplatte liegend, mit ca.
20 cm Abstand zur Spitzenelektrode (Langzeitbelichtung)
Bewertung:
• Durch die mit ca. 3 mm vergleichsweise dünne, trotz
hohem Fettanteil definiert leitfähige, Hautschicht wird
der Strom, ohne sichtbare Folgen in Form von Spuren
aufzuweisen, geleitet. Es wird jedoch zudem ein Stromanteil über die Hautoberfläche vermutet. Dieser hängt
empfindlich vom Oberflächenwiderstand ab, der von
der Eindringtiefe des Stroms in die Haut und der Leitfähigkeit der Hautoberfläche selbst bestimmt wird. Fließt
ein Strom durch den hohen Oberflächenwiderstand,
kann sich eine Spannung aufbauen, die Gasentladungsprozesse bewirkt. Die genannten Prozesse bewirken einen Energieumsatz auf und in der Haut, so dass sich das
Entladungsbild phänomenologisch ändert. Dazu gehört
auch das Wechseln („Springen“) der Entladungspfade.
Bild 4.4 Spitzenelektrode ca. 3 cm in das Fleisch eingestochen (links)
und Metallbrücke auf dem Fell (rechts, Kupferstreifen ca. 5 cm ×
1 cm); (Langzeitbelichtung)
4.4 Versuche mit Tesla-Entladungen
Tesla-Generatoren, die auf Basis der Kopplung und Anregung zweier Resonanzkreise arbeiten, erzeugen periodisch gedämpfte Spannungsschwingungen von einigen
hundert kHz und einigen hundert kV. Die Spannungsänderungsgeschwindigkeiten korrelieren mit Steilheiten bei
Blitzentladungen. Einige Perioden dieser Tesla-Spannung
können näherungsweise ein Ersatz für multiple Blitzimpulse sein, die durch Stoßspannungsgeneratoren im Labor
nicht nachzubilden waren. Mit der längeren Einwirkdauer
im Experiment war zudem eine bessere visuelle
Beobachtung der Entladungsvorgänge verbunden.
Bild 4.5 Schweineklaue bei Blitzstoßspannungsbeanspruchung;
Objekt stehend mit den Zehen auf geerdeter Kupferplatte (links)
und Klaue ca. 5 cm über geerdeter Kupferplatte schwebend mit
Spitzenelektrode ca. 3 cm tief ins Fleisch gesteckt (rechts).
• Erwartungsgemäß überbrückt ein Metallelement (vgl.
Schmuck auf der Haut) den sonst auf der Oberfläche
durchgehenden Gleitentladungshauptkanal (Bild 4.4
rechts). Die hohe Leitfähigkeit und die Ausformung des
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a)
Von Interesse sind das Entladungsbild und die Wirkungen
an Oberflächen biologischer Materialien bei Spannungen
mit der genannten Spannungsänderungsgeschwindigkeit.
Die Entladungen selbst sind energieschwach, erst deren
Periodizität kann Wirkungen generieren, die zu Spuren an
biologischen Materialien führen, z.B. an trockenem Holz,
siehe Bild 4.7. Blitzunfälle an hölzernen Unterständen
weisen ähnliche Spuren auf ([3]), deren Entstehungsmechanismus nachgegangen werden sollte. Bild 4.7 dokumentiert folgende Beobachtungen:
• An einer trockenen Latte traten die Entladungen an unterschiedlichen Stellen ein und aus (Bild 4.7 a – c). Die
Entladung kann also über die Schnittfläche eindringen,
sich über Fasern im Holz ausbreiten und an anderer
Stelle wieder austreten.
Die an den Zehen der schwebenden Schweinklaue austretenden Entladungen durchschlagen die Luftstrecke zur
geerdeten Elektrodenplatte (Bild 4.8 c). Thermische Spuren an Knochen oder Fleisch (dunkle Verfärbungen)
zeigten sich erst nach längerer (> 30 s) Einwirkung.
• Während der Entladungen richten sich feine Holzfasern
an der Holzoberfläche auf und bleiben nahezu senkrecht
abstehend (Bild 4.7 e).
b)
c)
d)
c)
Bild 4.8 Tesla-Entladungen treffen Fleisch, Knochen oder den
oberen Fell-Haut-Ansatz (Langzeitbelichtung)
• An sehr trockenem Holz bildeten sich bei längerer
Beanspruchung Kohlenstoff-Spuren („Brandspur“) vor
allem an der Holzoberfläche aus (Bild 4.7 d).
a)
b)
Bewertung:
• Im Fall der Schweineklaue überbrückt diese einen Teil
der Entladungsstrecke als Widerstandselement, in dessen Innerem der elektrische Strom über ein hochfrequentes Strömungsfeld fließt.
e)
• Gleitentladungen auf der Oberfläche entstehen im Gegensatz zur Blitzstoßspannungsbeanspruchung nicht.
• Ohne messtechnischen Nachweis muss davon ausgegangenen werden, dass die Entladungsströme das tierische
Material durchdringen. Dabei ist anzunehmen, dass aufgrund der hohen Frequenz die Entladungsströme in die
Randschichten der Beinabschnitte (Hautschichten und
unmittelbar darunter) verdrängt werden.
• Die an den Ansatzstellen der Entladungskanäle (Knochen, Grenzschicht zwischen Fleisch und Knochen
sowie Zehenspitzen) erkennbaren Verfärbungen sind
Eiweiß-Zerstörungen, wie sie als Strommarken auch
nach Blitzunfällen festgestellt werden.
Bild 4.7 Trockene Holzlatte bei und nach längerer hochfrequenter
Tesla-Hochspannungsbeanspruchung
Bewertung:
Bei einem weiteren Tesla-Experiment wurde Schweinehaut auf eine elektrisch isolierende Pappe (Ersatz für
Knochen oder Fettschicht) gelegt, unter der sich eine geerdete Plattenelektrode befand (Bild 4.9).
• Obwohl jeder Einzelimpuls einer Tesla-Entladung mit
geringer Stromamplitude und kurzer Dauer sehr energiearm ist, ergibt sich bei wiederholter Einwirkung eine
um den Entladungskanal örtlich begrenzte thermische
Belastung. Bei wesentlich energiereicheren Blitzimpulsen einschließlich Langzeitentladung tritt dieser Effekt
mit „Brandspuren“ verstärkt in Erscheinung. Nach solchen Spuren sollte nach einem Blitzeinschlag gesucht
werden.
• Bewegliche Fasern richten sich nach elektrischen Feldlinien („Kraftlinien“ von Verschiebungs-Strömen) aus.
Dieser Effekt ist zu vergleichen mit dem „Sträuben“ der
Haare im erdnahen elektrischen Gewitterfeld.
Bei den Tesla-Beanspruchungen an Rinderbein und
Schweineklaue wurde die vom Transformator kommende
Drahtelektrode so platziert, dass die Luftentladungen
Fleisch, Knochen oder die Fell-/Hautoberfläche treffen
konnten (Bild 4.8 a, b).
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Bild 4.9 Beanspruchung von Schweinehaut mit Tesla-Entladungen
(Langzeitbelichtung)
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Die über mehrere Sekunden aufgezeichneten Entladungen
sind hier als Teilentladungen zu erkennen. Dabei enden
die Entladungskanäle mit einem stark leuchtenden
Ansatzpunkt auf der Schweinehaut.
Bewertung:
innerhalb kürzester Zeit die komplette Strecke entlang des
Stamms überbrückt. Auf Grund des kurzschlussähnlichen
Charakters der Entladung sinkt der Spannungsbedarf
deutlich ab (Bild 5.1, trockener Buchenstamm). Es stellt
sich ein hoher Impulsstrom ein.
• Es ist zu vermuten, dass durch die Schweinehaut ein
„ohmsch-kapazitiver Strom“ und durch die hochisolierende Zwischenlage aus Pappe ein nahezu „rein kapazitiver Verschiebungsstrom“ fließt. Aufgrund der hohen
Frequenz der Tesla-Entladungen ist die Impedanz der
Reihenschaltung aus Schweinehaut und Pappe klein.
Der feuchte Stamm weist dagegen eine deutlich höhere
Leitfähigkeit auf, so dass der Stromfluss die zur Zündung
einer Entladung ausreichende Spannung bzw. Feldstärke
nicht aufbauen kann. Der Stromfluss erfolgt in Form einer
ohmschen Leitung während des ganzen Entladungsprozesses (Bild 5.1, feuchter Buchenstamm). Der Widerstand
bleibt gegenüber dem trockenen Holz vergleichsweise
hoch, so dass der fließende Strom stark reduziert wird.
• Der Ansatzpunkt bewegt sich bei sekundenlanger TeslaBeanspruchung auf der Haut. Nicht auszuschließen ist,
dass nach Unfällen variable Blitzspuren auf der Haut
auf multiple Ereignisse hindeuten können.
5
Ergebnisse der elektr. Messungen
Nur wenige Kenntnisse zur Wirkung von Blitzentladungen auf Mensch oder Tier fußen auf messtechnischen
Angaben. Daran wird sich auch zukünftig nichts ändern.
Deshalb haben vergleichende Laboransätze mit Modellen
und messtechnischer Unterstützung große Bedeutung.
Zugleich muss nachdrücklich auf damit verbundene Einschränkungen in Deutung und Verallgemeinerung der
ermittelten Ergebnisse hingewiesen werden.
Die folgend dargestellten, gemessenen Spannungen und
Ströme stellen Gesamtgrößen dar. So werden die Spannung von Hochspannungs-Spitzenelektrode zur Erdelektrode (Luftdurchschlag in Reihe zum Objekt) und der
Summenstrom (z.B. Strom durch Objekt und parallele
Gleitentladung an Objekt) angegeben.
Bild 5.1 Spannungs- und Stromverläufe von Luftentladungen bei
Blitzstoßspannungsbeanspruchung eines „trockenen“ und eines
„nassen“ Buchenstamms
Bewertung:
Für eine Untersuchungsanordnung wurden mehrere
Versuche (10) zur statistischen Sicherheit durchgeführt.
Dargestellt werden jedoch nur ausgewählte Zeitverläufe.
• Der nasse Buchenstamm wies nahezu ohmsches Verhalten auf, er ist ein vergleichsweise guter elektrischer
Leiter.
• Demgegenüber ist der Widerstand des trockenen
Buchenstamms deutlich höher. Mit dem Einsatz einer
Entladung in der Grenzschicht zwischen Stamm und
Rinde sinkt jedoch die Impedanz der Gesamtanordnung
weit unter jene des nassen Buchenstamms.
5.1 Buchenstamm unter Blitzstoßspannung
Die gemessenen Spannungs- und Stromzeitverläufe der
Stoßspannungsentladungen für die Anordnungen entsprechend Bild 4.1, sind im Bild 5.1 dargestellt. Sowohl bei
trockenem, wie auch bei nassem Holz ist der Anfangsverlauf der Stoßspannung gleich und wird vorrangig von
der Festigkeit der Luftstrecke zwischen oberer Elektrode
und der Schnittfläche des Holzes bestimmt. Mit dem
Überschreiten der kritischen Feldstärke erfolgt der Durchschlag. Die zuvor isolierende Luftstrecke wird durch einen leitfähigen Plasmakanal kurzgeschlossen, der auf der
oberen Schnittfläche des Stamms fußt. Es kommt zur
Ausbildung eines Stromflusses durch den Buchenstamm,
der bedingt durch die Leitfähigkeit des biologischen Materials maßgeblich den Spannungsfall über dem Stamm
bestimmt. Mit steigendem Strom steigt der Spannungsbedarf weiter an.
5.2 Rinderbein unter Blitzstoßspannung
Die Spannungs- und Stromverläufe sind denen der Versuche mit trockenem Buchenstamm ähnlich (Bild 5.2). Die
Spannungs- und Stromamplituden liegen in der gleichen
Größenordnung. Die Spannung bricht schnell zusammen,
so dass nur ein kurzer Spannungsimpuls entsteht. Der
Strom reduziert sich nach einer sehr kurzen kapazitiven
Spitze und klingt dann exponentiell ohmsch ab.
Wird die Luftentladungsstrecke zum Rinderbein reduziert,
tritt der Überschlag zeitlich später auf. Das verzögerte
Überschlagsverhalten zeigt sich besonders deutlich in
zwei Anordnungen mit Spitzenelektrode (Bild 5.3):
An dem trockenen Stamm wird in der Grenzschicht zwischen Stamm und Rinde die kritische Feldstärke überschritten. Es kommt zur Ausbildung einer Entladung, die
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a) Wird die Hochspannungsspitzenelektrode direkt auf
den von Fleisch umgebenen Knochen aufgesetzt, verbreitern sich die Spannungs- und Stromimpulse (Bild 5.3
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rote Kurven). Außerdem treten kleinere Spannungsamplituden und Strommaximalwerte auf. Der Strom bildet
sich dabei als ein breites Plateau ab.
unfall kann von entsprechendem Verhalten ausgegangen
werden.
5.3 Schweineklaue unter Blitzstoßspannung
b) Wird die Elektrodenspitze ca. 3 cm tief ins Fleisch
gesteckt, verstärkt sich der unter a) beschriebene Effekt
noch einmal (Bild 5.3 schwarze Kurven). Die Spannungsamplitude sinkt weiter, der Strom fällt flach ab. Danach
schließt sich mit dem Fellüberschlag ein exponentiell
abklingender Stromverlauf an.
Die erreichten Spannungswerte sind niedriger als bei vergleichbarer Anordnung mit dem Rinderbein; Stromspitzen
und Mittelwerte des schwingenden Stromes liegen höher
(Bild 5.4). Wird die Elektrodenspitze direkt auf dem
Fleisch aufgesetzt, bleibt es bei einem Außenüberschlag
über die Haut (vgl. auch Bild 4.5). Dieses Verhalten ist
unter anderem auf die Geometrie der Schweineklaue
(kürzere Abmessungen und geringerer Elektrodenabstand)
und möglicherweise der anderen Hautstruktur (keine
Haare) gegenüber dem Rinderbein zurückzuführen.
Bild 5.2 Luftentladung auf Rinderbein stehend auf geerdeter
Kupferplatte (Luftstrecke 20 cm) mit Spannungs- und Stromverlauf
bei Blitzstoßspannung
Bild 5.4 Spannungs- und Stromverläufe bei Luftentladung
(Luftstrecke 2 cm) von einer Spitze unter Blitzstoßspannung an
Schweineklaue stehend auf Kupferplatte
Wurde die Elektrodenspitze ca. 1 … 2 cm tief ins Fleisch
gesteckt, ergaben sich vergleichbare Messergebnisse.
Unterschiede in Stromspitzen und im Mittelwert der
schwingenden Ströme werden auf eine Beeinflussung des
Plasmas der Überschlagsentladung zurückgeführt.
Berührt die Fußspitze nicht die geerdete Kupferplatte
(Abheben beim Laufen), verändert sich das Spannungsund Stromverhalten bei Blitzstoßspannung nicht. Die
Werte sind aufgrund der verlängerten Entladungsstrecke
etwas kleiner.
Bewertung:
• Das Spannungs-Strom-Verhalten und damit die elektrische Beanspruchung der Tierbeine unterscheiden sich
kaum, trotz differenzierter Hautoberfläche (Rind: Fell;
Schwein: unbehaart).
Bild 5.3 Stoßentladung mit Blitzstoßspannung bei Spitze direkt an
bzw. im Rinderbein
Bewertung:
• Um die vermutete annähernde Übereinstimmung der
Spurenbildung (Gleitentladung) vom Blitz getroffener
behaarter und unbehaarter Körperpartien zu stützen, ist
das Verhalten des Plasmakanals näher zu untersuchen.
Bild 4.3 bis Bild 4.5 legen nahe, dass ein einzelner Entladungskanal entsteht. Verbunden mit einer stärkeren
Kühlwirkung der unbehaarten Haut (bei Schweineklaue)
wird die Leitfähigkeit des Plasmakanals reduziert und
damit die Stromamplitude verringert (bei natürlicher
Blitzentladung nicht möglich).
• Zu deuten ist das nachgewiesene Verhalten wie folgt:
Im Anfangsbereich des Impulses konzentriert sich der
Stromfluss nahezu vollständig auf das Beininnere.
Danach findet verzögert ein vollständiger Außenüberschlag statt. Gleiches Verhalten wird beim direkten Einschlag auf Personen oder Tiere vermutet.
• Bisher ist ein Zugangsweg für die differenzierte Messung von innerem Strom und Überschlagsstrom nicht
bekannt. Weitere Überlegungen zu Labormodellen und
rechnerische Versuche bieten sich an.
• Eine Verlängerung der Entladungsstrecke z.B. durch
angehobene(s) Bein(e) wird beim Blitzunfall nicht von
Bedeutung sein.
• Spannungs- und Stromverläufe bei Zwischenschaltung
einer Metallbrücke auf dem Fell unterscheiden sich
kaum zu bisher interpretierten Messungen. Beim Blitz-
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5.4 Zusammenfassung – Schlussfolgerungen
Wahrscheinlichkeit auf die punktuelle Reizung der Haut
ohne (bleibende) Gewebeschädigung durch die unmittelbare energetische Einwirkung (Strahlung) der Entladungskanäle von verzweigten Gleitentladungen zurückzuführen. Da keine irreversiblen Gewebeveränderungen
auftreten (anhand mikroskopischer Hautuntersuchung
nachweisbar), bilden sich die Figuren durch Regenerationsmechanismen der Haut nach einiger Zeit zurück
(ähnlich der Rötung der Haut nach Schlag mit flacher
Hand o.ä.).
Folgende Ergebnisse der Experimente mit Blitzstoßspannung und Tesla-Entladung lassen sich zusammenfassen:
• An trockenem Holz kommt es zur Entladung in der
Grenzschicht zwischen Rinde und Holz. Bei direkter
Einwirkung (Einschlag) auf die Rinde tritt eine Gleitentladung bzw. ein Überschlag auf.
• Der direkte volle Stromdurchgang ist an mit Salzwasser
durchfeuchtetem Holz (ohmscher Widerstand) zu beobachten.
6
• Auf dem Fell von einem Rinderbein bildet sich ein
Überschlag bzw. eine Gleitentladung aus.
• Metallteile bzw. leitfähige Elemente auf der Haut/auf
dem Fell überbrücken einen Abschnitt der Gleitentladungsstrecke; Gleitentladungen konzentrieren sich dabei
an solchen leitfähigen Teilen.
Mit folgenden rechnerischen Abschätzungen besteht die
Möglichkeit, die bereits vorgenommenen „Bewertungen“,
vor allem Erklärungen für die Ausbildung von Gleitentladungen bei direkter Blitzeinwirkung zu geben, sowie
wirksame Impedanzen, maximale Spannungen und damit
die Stromaufteilung näherungsweise zu bestimmen.
• Bei unmittelbarer oder direkter Impulseinspeisung tritt
der Außen-(Fell-/Haut-)Überschlag verzögert auf. Dies
entspricht dem Mechanismus bei natürlichem direktem
Blitzeinschlag in einen Menschen oder in ein Tier.
6.1 Entladungsvorgänge an Grenzflächen
• Es waren keine signifikanten Unterschiede des Entladungsverhaltens bei Blitzstoßspannung an Rinderbein
oder Schweineklaue festzustellen.
Für biologisches Material wird ein „HochspannungsErsatzschaltbild“ entworfen, das der Anordnung LuftFett-Gewebeschicht entspricht und zudem Gleitentladung
sowie Überschlag abbilden kann.
• Auf einer Schweinehaut mit unterlegter Erdelektrode
bildet sich keine Gleitentladung aus; es kommt zum
Stromfluss durch die dünne Hautschicht.
Gleitentladungen treten an Schräggrenzschichten auf, wo
Tangential- und Normalkomponenten der elektrischen
Feldstärke vorhanden sind. Die Gleitentladung ist eine
Teilentladung mit Impulscharakter, bei der die Ladungsträgerproduktion nach dem Townsend- und Kanal-Mechanismus erfolgt. Die Ladungsträger der Gleitpol-Polarität werden dabei gegen die Oberfläche gedrückt, ihre
Beweglichkeit wird reduziert und lokale Flächenladungen
beeinflussen das elektrische Feld. Der Gleitpol ist die
‚Elektrode’, an der die Gleitentladung startet. An Schräggrenzschichten unterscheiden sich Anfangs(Einsatz)- und
Überschlagspannung.
• Gleitentladungen hinterlassen bei laborerzeugter Blitzstoßspannung keine sichtbaren Spuren bzw. Veränderungen auf dem Fell oder der Haut von tierischem Material. Dies ist mit der sehr kurzen, stromschwachen und
energiearmen Entladung im Vergleich zur natürlichen
Blitzentladung zu erklären.
• Hochfrequente Hochspannung bei Tesla-Entladungen
führt nur bei Isolatoren, z.B. sehr trockenem Holz, zu
Gleitentladungen bzw. Überschlägen. An unvollständig
getrocknetem oder durchfeuchtetem Holz sowie an tierischem Material, wie Rinderbein, Schweineklaue oder
Schweinehaut, lassen sich keine Gleitentladungen provozieren. Dies ergibt sich aufgrund der vergleichsweise
kleinen (überwiegend kapazitiven) Impedanzen, die bei
den hohen Frequenzen der Tesla-Entladungen vorliegen.
Zusätzlich werden folgende Anmerkungen gegeben:
6.2 Netzwerkmodell für Gleitentladungen
Beim Ansatz eines Blitzentladungskanals an einem Menschen entwickelt sich meist eine Gleitentladung über die
Haut bzw. die Kleidung (Bild 6.1) ([4]).
• Natürliche Blitzentladungen sind viel energiereicher, als
sie an einer Hochspannungsimpulsanlage nachgebildet
werden können. Die spezifische Energie des Blitzstromes beträgt in der Natur für einen Einzelimpuls (Erstblitz) etwa 6 kA²s bis 15 MA²s. Bei den hier vorgestellten Laborexperimenten mit Blitzstoßspannung
waren es 1.8 A²s bis 2.4 A²s, was einem riesigen Faktor
von 3000 bis 7500000 zur Natur entspricht. Aber auch
in der Natur treten deutliche Unterschiede zwischen den
verschiedenen Stromkomponenten und den Fällen ‚nur
Erstblitz’ oder ‚Erst- und Folge- und LangzeitstromEinwirkung’ auf.
Die Entwicklung der Gleitentladung startet hier, im Gegensatz zu vielen technischen Anordnungen (z.B. Durchführung; hochspannungsfest isolierte Ableitung), vom
Ansatzpunkt des Blitzkanals (‚Hochspannungselektrode‘).
Mit geringem Spannungsbedarf breitet sich diese Entladung mit zur Erde gerichteter Bewegung, beeinflusst von
der Leitfähigkeit des Menschen mit seiner Kleidung und
dem Wirken hoher kapazitiver Verschiebungsströme, aus.
Diese Ströme sind durch das schnell veränderliche elektrische Feld an der als Isolierstoffschicht wirkenden Haut
bzw. Kleidung relativ groß.
• Lichtenberg-Figuren auf Oberflächen von biologischen
Materialien zu erzeugen, war unter Laborbedingungen
nicht möglich. Temporäre Blitz-Figuren sind mit hoher
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Hochspannungstechnische
Beschreibung und Erklärungen
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CE/ – Streukapazität zum Erdpotential (Boden/Standfläche) 60 – 80 – 120 pF/m,
F/ – Funkenstrecke (Einschalter) mit Zündspannung 300 –
500 – 650 kV/m.
Bild 6.1 Vorstellung zum elektrischen Verschiebungs- und
Strömungsfeld beim direkten Blitzeinschlag in einen Menschen
Mit Hilfe von kapazitiv-resistiven Netzwerken können
elektrisches Verschiebungs- und Strömungsfeld bei der
Blitzentladung direkt am Menschen abgebildet werden.
Die vorwachsende (Gleit-)Entladung auf der Oberfläche
(Haut, Kleidung) wird dabei anhand automatisch
schließender Schalter (Funkenstrecken) dargestellt.
Bild 6.2 Vereinfachte R-C-Ersatzschaltbilder für elektrische
Feldanordnung a) ohne und b) mit Gleitentladung
Mit dem Zünden einer Funkenstrecke wird ein Funkenwiderstand RF zugeschaltet, der sich nach dem Toepler’
schen Funkengesetz RF(t) = kT·F/QF(t) errechnet. Darin
ist kT – Toepler-Konstante für Luft 5.5 mVs/m und F –
Funkenlänge 0.1 m sowie QF(t) = ∫i(t) dt – geflossene Ladung mit i(t) – Funkenstrom (Gleitentladungsstrom über
die Haut). Das ergibt einen Spannungsbedarf U/ der Gleitentladung (Leader) von ungefähr 1 ... 2 ... 3 kV/m. In
einem Beispiel wird ein negativer Erstblitzstoßstrom inEB
der Form 1/200 µs mit einem Scheitelwert von 30 kA am
höchsten Punkt der Person (Kopf) eingeprägt.
6.2.1 Kettenschaltung und Parameter der Elemente
Jedes Raumelement des elektrischen Feldes kann durch
Impedanzen zu den Nachbarelementen ersetzt werden.
Abhängig vom Verhältnis ω·ε/κ bestimmen die Kapazitäts- oder Leitfähigkeitsanteile die Potentialverteilung.
Die Feldanordnung darf auf eine Ersatzkettenschaltung
reduziert werden, wobei auf Längeneinheiten bezogene
Elemente (Beläge) verwendet werden. Tangential- und
Normalkomponenten des Grenzschichtfeldes können
durch Längs- und Querkapazitäten eines Kettenleiters
dargestellt werden. Längs über dem Kettenleiter tritt bei
anliegender zeitveränderlicher Spannung (du/dt ≠ 0) eine
hyperbolische Potentialverteilung auf, deren Versteuerung
(Abweichung von linearem Verlauf) vom Verhältnis der
Quer- zur den Längskapazitäten abhängt. Diese Potentialverteilung bewirkt, dass die höchste Feld- bzw. Spannungsbeanspruchung unmittelbar am Gleitpol erscheint.
6.3 Transiente Entladungsentwicklung
Eine transiente Netzwerksimulation soll den Zeitverlauf
des Vorwachsens einer Gleitentladung (zeitabhängiger
Endpunkt des Entladungskopfes) nachbilden. Zugleich
können damit die Spannungs- und Stromzeitverläufe an
der Hautoberfläche und im Körperinneren bestimmt werden.
Bei Anfangs- bzw. Einsetzspannung zündet die erste, dem
aufsitzenden Gleitpol (Ansatzpunkt des Blitzkanals) benachbarte, Funkenstrecke.
Entsprechende Ersatzschaltbild(er) aus längenbezogenen
Kapazitäten und Widerständen (und Induktivitäten) für
eine direkt vom Blitz getroffene Person, die der Vorstellung in Bild 6.1 zuzuordnen sind, zeigt Bild 6.2. Die
längenbezogenen Ersatzelemente in Bild 6.2 werden wie
folgt bezeichnet und mit mittleren Werten versehen:
RK/ – Körper(innen)widerstand (zusammengefasst aus
Blutgefäßen, Nervenfasern, Muskelgewebe, Spinalkanal,
Knochen/Skelett, …) 360 – 480 – 560 Ω/m [4], [5], [6],
LK/ – Körperinduktivität 0.3 – 0.5 – 1.0 µH/m,
R/ – Hautlängswiderstand 0.1 – 10 – 30 MΩ/m [4],
G/ – Hautquerwiderstand(Leitwert) 50 – 100 – 200 kΩ·m,
C/ – Hautlängskapazität 4 – 10 – 100 pF·m,
K/ – Hautquerkapazität 20 – 60 – 100 µF/m [9],
CH/ – Streukapazität zum Hochspannungspotential (Blitzkanal) 5 – 10 – 20 pF/m,
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Die Querkapazität K/ (und CE/ und CH/) des ersten Oberflächenelements lädt sich auf die volle Spannung auf und
schiebt damit das Gleitpol-Potential auf der Oberfläche
vor. Dann zündet die zweite Funkenstrecke und so weiter.
Der ‚Widerstand’ des Funkenkanals ist umgekehrt proportional zur durch den Kanal geflossenen Ladung. Große
Querkapazitäten K/ bedeuten große Ladungsmengen und
kleine ‚Widerstände‘, was zum weiteren Vorschieben des
Gleitpol-Potentials und damit zur Überbrückung großer
Schlagweiten bei relativ niedriger Spannung führt.
Der Strom durch den Körper und der Strom über die Haut
bzw. die Gleitentladung werden erdnah gemessen. Für die
Berechnung wurde ein Mensch mit 1.8 m Körpergröße
durch eine Serie von 18 Kettengliedern dargestellt.
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Damit repräsentiert ein Kettenglied einen Längenabschnitt von F = 10 cm.
gezeigt werden, dass bei variierten Arten der Einwirkung
meist Oberflächenentladungen (Gleitentladungen auf
Rinde, Haut oder Fell) auftreten. Über die Grenzfläche
zwischen der vergleichsweise leitfähigen Körperoberfläche und der leicht ionisierbaren Luft wird der Hauptteil
der Energie abgeführt. Bisher sind nur wenige solcher
Experimente an pflanzlichem oder tierischem Material
bekannt. Trotz beobachteter verzweigter Gleitentladungen
wurden keine Blitz-Figuren auf z.B. Hautoberflächen
festgestellt. Bei der angewandten Blitzstoßspannungsbeanspruchung traten zudem weder massive mechanische
noch thermische Wirkungen an den biologischen Präparaten auf.
Die Auswertung der umfassend international vorliegenden Literatur ist nicht abgeschlossen. Insbesondere gilt
das für die wenigen beschriebenen tierexperimentellen
Untersuchungen, die hinsichtlich vergleichbarer (Blitz-)
Beanspruchungen und daraus abgeleiteter Schlussfolgerungen überprüft werden sollten.
Bild 6.3 Körper- und Gleitentladungsstrom sowie Spannung über
Mensch bei direkter Erstblitzentladung
8
Die Simulationsrechnung ergab die Stromverläufe und die
Spannung in Bild 6.3. Der Zeitverzug zwischen dem Zünden der obersten und der untersten Funkenstrecke beträgt
nur ca. 0.31 µs ([8]). Damit kann man fast von einem
sofortigen Überschlag des gesamten Körpers ausgehen.
7
Die Autoren danken dem Ausschuss für Blitzschutz und
Blitzforschung (ABB) und dem ABB-Fördererkreis für
die wissenschaftliche und finanzielle Unterstützung des
Arbeitskreises „Blitzunfälle“.
Zusammenfassung und Aussagen
für die Praxis
9
Literatur
[1] Jellinek, S.: Elektropathologie. Die Erkrankungen durch Blitzschlag
und elektrischen Starkstrom in klinischer und forensischer
Darstellung. Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart, 1903; Jellinek,
S.: Atlas der Elektropathologie. Verlag Urban & Schwarzenberg,
Berlin, 1909; Jellinek, S.: Atlas zur Spurenkunde der Elektrizität.
Verlag Springer, Wien, 1955
[2] Lichtenberg, G.C.: Schriften und Briefe, Dritter Band (1), Aufsätze,
Entwürfe, Gedichte, Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche,
Carl Hanser Verlag, München, 1972, Von einer neuen Art die Natur
und Bewegung der elektrischen Materie zu erforschen, Erste
Abhandlung, S. 24 – 34
[3] Kupfer, J.; Rock, M.; Raphael, Th.; Zack, F.: Unsicherheiten zwischen Blitzeinschlagpunkt, sichtbaren Schäden und Verletzungen,
erörtert am Beispiel des Golfplatzunfalls 2012 mit vier Todesopfern
(5.3), 10. VDE/ABB-Blitzschutztagung, Neu-Ulm, 24. – 25.
Oktober 2013, VDE-Fachbericht 70, S. 140 – 145, VDE Verlag,
Berlin, 2013
[4] Kitagawa, N.; Turumi, S.; Ishikawa, T.; Ohashi, M.: The Nature of
Lightning Charges on Human Bodies and the Basis for Safety and
Protection, 18. International Conference on Lightning Protection
(ICLP), München, 1985, Session 6.7, pp. 435 – 438
[5] Gabriel, C.; Gabriel, S.; Corthout, E.: The dielectric properties of
biological tissues: I. Literature survey, Phys. Med. Biol., Vol. 41,
1996, pp. 2231 – 2249
[6] Gabriel, S.; Lau, R.W.; Gabriel, C.: The dielectric properties of
biological tissues: II. Measurements in the frequency range 10 Hz to
20 GHz, Phys. Med. Biol., Vol. 41, 1996, pp. 2251 – 2269
[7] Cherington, M.; McDonough, G.; Olson, S.; Russon, R.; Yarnell,
P.R.: Lichtenberg Figures and Lightning: Case Reports and Review
of the Literature, Cutis, Vol. 80, August 2007, pp. 141 – 143
[8] Pedersen, P.O.: Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Lichtenbergschen Figuren und ihre Verwendung zur Messung sehr kurzer
Zeiten, Annalen der Physik, IV. Folge, Band 69, S. 205 – 232
[9] IEC/TR 60479-5: Effects of current on human beings and livestock
– Part 5: Touch voltage threshold values for physiological effects,
Technical Report, Edition 1.0, November 2007
Auf der Basis von Ergebnissen orientierender Laborversuche wurden phänomenologisch die Prozesse der Beanspruchung von biologischem Material unterschiedlicher
Art erörtert. Bekannte oder vermutete Effekte an Personen
und Tieren im Zusammenhang mit Blitzentladungsvorgängen konnten damit bestätigt oder erhärtet werden.
Es muss jedoch einschränkend vermerkt werden, dass mit
den technisch in Hochspannungs- bzw. HochstromLaboren realisierbaren Blitzstoßspannungen und -strömen
die realen Bedingungen eines Blitzunfalls mit seinen
differenzierten Folgen, nicht vollständig nachgestellt werden können. Laboranlagen liefern i. d. R. nur einen Einzelimpuls, entweder hoher Spannungsamplitude bei kleinem Strom und kurzer Dauer oder hoher Stromamplitude
bei vergleichsweise niedriger treibender Spannung. Die
jeweilige „Antwort“ des biologischen Materials auf synthetische Strom-Spannungs-Beanspruchungen hat das
Verständnis zur Wirkung von Blitzspannungen auf Menschen oder Tiere jedoch in großem Maße gefördert. Es
zeigte sich, dass das Entladungsbild an biologischen
Gebilden auch bei voller Kenntnis aller Parameter und
Prozesse nicht in vollem Umfang vorhergesagt werden
kann. Es konnten wertvolle Erkenntnisse gewonnen
werden, die bei der Interpretation von Blitzunfällen bzw. schäden anzuwenden sind.
Experimentell konnte durch die Beaufschlagung biologischer Präparate mit Blitzstoßspannung eindrucksvoll
ISBN 978-3-8007-3899-1
Danksagung
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