Kapitel 10 Struktur und Verhalten I Ganz allgemein gesagt ist das Thema dieses Kurses die Erstellung, Simulation und Untersuchung von Modellen räumlich homogener dynamischer Systeme aus Natur und Technik. Wir haben in den bisherigen Kapiteln (abgesehen von einer allgemeinen Beschreibung in Kapitel 1 und 2) einige wichtige und interessanate Phänomenbereiche kennengelernt, für die wir Computer-Modelle des eben genannten Typs erstellt und auch simuliert haben. In diesem Kapitel wollen wir zum ersten Mal bewusster die Gleichungen, die bei der mathematischen Modellierung entstehen, anschauen, zusammentragen und teilweise auch algebraisch umformen. Wir werden auf diese Weise die allgemeine Struktur der Gleichungen oder Gleichungssysteme kennen lernen, die hinter den homogenen dynamischen Modellen stecken. Diese Struktur zu kennen lohnt sich auf vielfältige Weise: man kann verstehen, wie man die Gleichungen numerisch (und falls möglich auch analytisch) und qualitativ lösen kann, und was uns diese Lösungen über typische Verhaltsmuster der von uns erstellten Modelle sagen. 10.1 Die Struktur dynamischer Modelle In Abschnitt 2.2 haben wir zum ersten Mal die Struktur der Modelle, die wir erstellen, etwas allgemeiner beschrieben. Wir wiederholen hier, was dort schon gesagt wurde und fügen noch die Beobachtung hinzu, dass zu einer anständigen Dynamik immer Rückkopplungsstrukturen gehören. Ein Modell eines kontinuierlichen dynamischen Systems hat eine immer wiederkehrende Struktur. Kontinuierlich bezieht sich auf die Zeit und heisst, dass sich die Grössen, mit denen wir das Modell aufbauen, kontinuierlich und nicht sprunghaft mit der Zeit ändern. (Allerdings gilt das Wesentliche, was wir hier sagen, auch für zeitlich diskrete, d.h. diskontinuierliche Modelle; dort treten einfach zusätzliche Bedingungen auf, die man beachten muss.) Systemdynamische Modelle enthalten ein paar grundlegende Bestandteile: (1) Bilanzen, die aus der Beziehung zwischen Änderung einer Speichergrösse und Prozessgrössen (Strömen und Produktionsraten) bestehen. (2) Konstitutive Beziehungen, letztlich für die Prozessgrössen. (3) Parameter und Anfangsbedingungen. (4) Feedback-Loops (Rückkopplungsschleifen). 292 Struktur und Verhalten I Die Bilanzbeziehungen haben immer die gleiche allgemeine Form – einfach die Zahl der Prozessgrössen, die für die Änderung einer Speichermenge verantwortlich sind, variiert. Die konstitutiven Gesetze machen dann die Vielfalt der Erscheinungsformen in Modellen aus, Parameter bestimmen eine konkrete Lösung, und Feedback-Loops sorgen für anständige Dynamik. Quellen Struktur dynamischer Modelle Lecture notes and books · Fuchs H. U. (2002): Modeling of Uniform Dynamical Systems. Orell Füssli, Zürich. https://home.zhaw.ch/~fusa/MUDS/MUDS_TOP.html, Chapter 3, pp. 85-116. 10.2 Quellen Formulierung von Anfangswertproblemen Formulierung von Anfangswertproblemen in einer Dimension Lecture notes and books · Fuchs H. U. (2002): Modeling of Uniform Dynamical Systems. Orell Füss- li, Zürich. https://home.zhaw.ch/~fusa/MUDS/MUDS_TOP.html, Chapter 3.9, pp. 117-122. · Fuchs H. U. (2011): Lecture Notes for NT S: Anfangswertprobleme in RC-, RL- und RCL-Systemen. Course Website. pp. 1-6. 10.3 Quellen Numerische Lösung von Anfangswertproblemen Numerische Methoden Lecture notes and books · Fuchs H. U. (2002): Modeling of Uniform Dynamical Systems. Orell Füss- li, Zürich. https://home.zhaw.ch/~fusa/MUDS/MUDS_TOP.html, Chapter 5.1-5.4, pp. 165-191. 10.4 Analytische Lösung von Anfangswertproblemen 10.4 293 Analytische Lösung von Anfangswertproblemen Quellen Analytische Lösungen von 1D Anfangswertproblemen Lecture notes and books · Fuchs H. U. (2011): Lecture Notes for NT S: Anfangswertprobleme in RC-, RL- und RCL-Systemen. Course Website. p.3, 4. 10.5 Verhalten von eindimensionalen Modellen Bisher haben wir fast ausschliesslich Modelle von Systemen erstellt, die in Physik und Technik RC-Systeme heissen: Systeme, deren Komponenten Speicher mit Kapazität C und Tansportelemente mit Widerstandswert R sind. Deshalb werden wir uns bei der Beschreibung des Verhaltens der Modelle hauptsächlich auf diese Beispiele konzentrieren. Erste Beschreibungen dieser Art haben wir in den Abschnitten 3.4 und 4.5 schon gesehen. 10.5.1 Die erzeugende Funktion In diesem Abschnitt wollen wir uns zuerst eine qualitative Methode zur Beschreibung der Lösung, das heisst des Verhaltens des Modells, vor Augen führen. Wir haben die rechte Seite einer Anfangswert-Differentialgleichung die erzeugende Funktion des Modells genannt. Sie erzeugt die Dynamik, oder anders gesagt, sie bestimmt die konkrete Lösung und damit das Verhalten des Modells von einem Anfangswert ausgehend für die Zukunft. Lineare Beispiele. In Abschnitt 10.2 haben wir die allgemeine Form von Anfangswertproblemen in einer Dimension konstruiert. Wir kriegen bei diesen Beispielen eine einzige Anfangswertgleichung (Differentialgleichung) mit ihrer Anfangsbedingung. Wenn wir uns auf Modelle von Systemen mit linearen Speicher- und Transportelementen beschränken (oder auf solche, die zwar nichtlinear sind, deren Kombination aber linear wird), dann hat das Anfangswertproblem die Form d Y (t) = a Y + b (t) dt (10.1) Y (0) = Y0 (10.2) wobei a ein konstanter Koeffizient ist, und die Inhomogenität b von der Zeit abhängen kann. Physisch ist a bei einfachen RC Systemen der (negative) Kehrwert des Produktes aus Widerstands- und Kapazitätswert a=− 1 RC (10.3) b (t) rührt von einem äusseren Einfluss oder Antrieb des Systems her, zum Beispiel, wenn man bei einem Gefäss einen irgendwie durch die Umwelt geregelten Zufluss hat. In Abschnitt 10.4 wurde gesagt, dass die analytische Lösung von Gleichungen wie in Gl.(10.1) eine zerfallende Exponentialfunktion ist, wenn a < 0 (solange b 294 Struktur und Verhalten I nicht von der Zeit abhängt, das Anfangswertproblem also autonom ist). Sie ist eine wachsende Exponentialfunktion für positive a. Wenn man diese erzeugende Funktion F (Y ) in einem Diagramm als Funktion der abhängigen Variablen Y darstellt, dann kann man visuell erkennen, was die erzeugende Funktion macht, d.h., wie sich die gesuchte Lösung Y (t) für verschiedene Werte von Y verändert (Abb.10.1). (a) F(Y ) a2 (b) (c) F(Y ) c1 F(Y ) a1 c2 Y Y Fixed points Y Fixed points Abbildung 10.1: Die erzeugende Funktion eines linearen eindimensionalen Anfangswertproblems ist eine Gerade im F-Y Diagramm. (a) F (Y ) = aY und F (Y ) = aY + b führen auf wachsende Exponentialfunktionen. (b) F (Y ) = −aY führt auf eine auf Null zerfallende Exponentialfunktion. (c) F (Y ) = −aY + b führen auf zu verschiedenen Fixpunkten (Gleichgewichtspunkten) hin zerfallenden Exponentialfunktionen. Nehmen wir zuerst das Beispiel (b) aus Abb.10.1 für eine Beschreibung, wie man diese Diagramme verwendet (Abb.10.2). Wir sind also mit einem Anfangswertproblem der Form dY /dt = −aY , Y (0) = Y0 konfrontiert. Beginnen wir die Entwicklung der gesuchten Funktion Y (t) mit einem positiven Anfangswert Y0 > 0 (als Beispiel können wir uns einen Behälter mit Ausfluss mit einer anfänglich positiven Menge darin vorstellen; Y (t) könnte die Füllhöhe als Funktion der Zeit darstellen). Aufgrund des mittleren Diagramms in Abb.10.1 schliessen wir, dass die erzeugende Funktion negativ ist, dass Y also abnimmt (dY /dt < 0). Wenn Y gross ist, so ist der Betrag der Änderungsrate auch gross, Y nimmt also schnell ab. Die gesuchte Funktion nimmt also von Y0 ausgehend anfangs schnell, später immer langsamer ab, bis sie gegen Null geht und sich dann nicht mehr verändert; Null ist hier der Gleichgewichtspunkt. Das ist genau das, was wir von unseren bisherigen Untersuchungen kennen. F(Y ) Y(t) Y0 Y0 Y t dY/dt(0) Fixed point Abbildung 10.2: Von der erzeugenden Funktion (links) zu einer Lösung des Anfangswertproblems ausgehend von einem bestimmten Anfangswert (rechts). Wenn wir bei unserem Beispiel von einem negativen Anfangswert ausgehen, so wird die Funktion Y (t) zunehmen und gegen den Wert Null hin wachsen, anfänglich schnell, später dann langsamer. Im Beispiel c1 gehen wir entsprechend vor. Starten wir mit einem Anfangswert, der grösser als der Fixpunkt ist (Y01 ); der Fixpunkt oder Gleichgewichtswert ist selber positiv (Abb.10.3). Dann ist die Änderungsrate der gesuchten Funktion wieder negativ, die Funktion nimmt ab. Die Abnahme ist wieder schnell, sie verlangsamt sich, und sie wird beim Fixpunkt Null. Das heisst, dass die gesuchte Funktion zu unserem positiven Gleichgewichtswert hin exponentiell zerfällt. Wenn man stattdessen mit 10.5 Verhalten von eindimensionalen Modellen 295 einem Anfangswert Y02 beginnt, der kleiner als der Fixpunkt ist (wobei Y02 auch negativ sein darf), dann wächst die Funktion gegen den Fixpunkt, wie in Abb.10.3 rechts gezeigt. F(Y ) Fixed point Y(t) Y01 Y01 Y02 Y Y02 t Abbildung 10.3: Von der erzeugenden Funktion (links) zu einer Lösung des Anfangswertproblems ausgehend von einem bestimmten Anfangswert (rechts). Logistisches Wachstum. Diese qualitative Methode zur Beurteilung des Systemverhaltens funktioniert auch bei nichtlinearen dynamischen Systemen in einer Dimension. Ein für uns interessantes Beispiel ist das des logistischen oder S-förmigen Wachstums (Abschnitt 2.1.3). Es führt auf ein Anfangswertproblem der Form d Y (t) = a Y − b Y 2 dt (10.4) Y (0) = Y0 (10.5) wobei die Parameter a und b positiv sein sollten. Die erzeugende Funktion – die rechte Seite der Differentialgleichung Gl.(10.4) – ist also (10.6) F (Y ) = a Y − b Y 2 und sieht wie in Abb. gezeigt aus; F (Y ) ist eine nach unten offene Parabel, hat also möglicherweise zwei Fixpunkte (wie in der Abbildung gezeigt). F(Y ) Y(t) F2 Y0 F2 F1 Y Y0 F1 Fixed points t Abbildung 10.4: Von der erzeugenden Funktion des logistischen Wachstums (links) zu einer Lösung des Anfangswertproblems ausgehend von verschiedenen Anfangswerten (rechts). 10.5.2 Analytische Form von Exponentialfunktionen Wir bleiben bei den linearen autonomen Anfangswertproblemen (wo also a und b in Gl.(10.1) konstant sind) und wollen nun lernen, wie man die Lösungsfunktionen formal schreibt. WIe schon öfter bemerkt, sind dies Exponentialfunktionen. In einem System mit negativem Feddback gibt das zerfallende Exponentialfunktionen. Die einfachste Form einer zerfallenden Exponentialfunktion, wie wir sie oft gesehen haben, ist Y (t) = Y0 exp (−a t) (10.7) 296 Struktur und Verhalten I also eine zum Wert Null zerfallende Funktion (Abb.10.5). Y0 ist der Anfangswert der Funktion für t = 0. Der Wert von a > 0 legt fest, wie schnell der Zerfall vor sich geht. Grösseres a bedeutet, dass sich die Funktion schneller an den Endwert angleicht. Andere Fälle der Grundform lassen sich durch verschiedene Transformationen der ursprünglichen Form bestimmen. Zur Funktion in Abb.10.5 (f) zum Beispiel gehört die Gleichung Y (t) = Y0 + (Ymax − Y0 ) (1 − exp (−a t)) (10.8) (a) (b) Y 1 (c) Y 1 1 2 1 1 t Y 2 t 1 2 t 1 2 t –1 (d) (e) Y 1 Y Y (f) Ymax 1 1 Y0 1 2 t 1 2 t Abbildung 10.5: Transformationen der ursprünglichen einfachen zerfallenden Exponentialfunktion (a) mit Y0 = 1 und a = 1. In (f ) sieht man eine mehrfach gespiegelte, verschobene, gestauchte und gestreckte Exponentialfunktion. Zerfallskonstante, Zeitkonstante und Halbwertszeit. Der Faktor a in exp (−a t) hat die Bedeutung einer Zerfallskonstante – sowohl geometrisch als auch physikalisch. Seine Einheit ist der Kehrwert der Einheit der Zeit, also 1/s. Wenn man den Kehrwert von a nimmt, 1 τ= (10.9) a so erhält man eine Grösse mit der Einheit der Zeit: [τ ] = s; man nennt sie Zeitkonstante. Diese Gösse misst, wie lange es dauert, bis der Wert der Funktion auf einen bestimmten Bruchteil des Anfangswertes zerfallen ist. Wenn man in Gl.(10.7) a durch τ ersetzt, t Y (t) = Y0 exp − (10.10) τ und für die Zeit den Wert der Zeitkonstante einsetzt, t = τ , so sieht man, dass Y (τ ) /Y0 = exp (−1) = 0.3679. In einer Zeitkonstante zerfällt eine Exponentialfunktion mit der Form Gl.(10.7) oder Gl.(10.10) also auf etwa 37% des ursprünglichen Wertes (d.h. des Wertes am Anfang einer Periode der Länge der Zeitkonstante). Bemerkenswert an den Exponentialfunktionen ist, dass diese Aussage für jedes Intervall der Länge τ gilt, gleichgültig, wo man anfängt zu zählen. Man kann auch mehrere ananeinander hängende Intervalle nehmen. Im ersten Intervall zerfällt die Funktion auf 37% des Angangswertes, im zweiten auf 37% des Wertes am Anfang des zweiten Intervalles, etc. Insbesondere bei Radioaktiven Zerfällen, wo gemessene Zeitreihen sehr schön durch zerfallende Exponentialfunktionen angenähert werden können, hat es sich eingebürgert, die Halbwertszeit anstelle der Zeitkonstanten zu benützen. Die Halbwertszeit 10.5 Verhalten von eindimensionalen Modellen 297 ist die Dauer, in der eine Exponentialfunktion auf 50% des ursprünglichen Wertes sinkt. Für die Halbwertszeit t1/2 gilt t1/2 = ln (2) τ (10.11) 1. Die Entropie-Kapazität von Wasser ist umgekehrt proportional zur absoluten Tem- peratur, also nicht linear. Falls man für ein Modell der Abkühlung den Entropieleitwert für die Wand des Gefässes auch umgekehrt proportional zur Temperatur macht (was in gewissen Fällen durchaus so sein kann), dann wird das Modell linear. Zeigen Sie diesen Sachverhalt. 2. Wie entwickelt sich die Lösung des Anfangswertproblems nach Beispiel a1 (Abb.10.1) für einen Anfangswert gleich Null? Skizzieren Sie eine Lösung für a2 für einen Anfangswert, der kleiner als der Fixpunkt ist. 3. Wie sieht die Lösung des Anfangswertproblems nach Beispiel c2 (Abb.10.1) für einen positiven Anfangswert aus? 4. Wieso wächst die Lösungsfunktion für das logistische Wachstum vom eingezeichneten Anfangswert ausgehend zuerst immer schneller, später dann aber immer langsamer? 5. Wieso Schreiben Sie nacheinander die Funktionsgleichungen für die Kurven in Abb.10.5, (a)-(f). Von (c) nach (d) wurde der Wert von a vergrössert. 6. Beweisen Sie die Beziehung zwischen Halbwertszeit und Zeitkonstante in Gl.(10.11). 7. Die Temperatur Ihres Kaffees sinkt exponentiell von 92°C auf einen Gleichgewichts- wert von 27°C mit einer Zeitkonstante von 10 Minuten. Schreiben Sie die Funktionsgleichung für den Verlauf der Temperatur in Kelvin. 8. Ein Kondensator hat anfänglich eine Spannung von 2.0 V. Sie ändert sich exponentiell zu einem Gleichgewichtswert von 5.0 V mit einer Zeitkonstante von 5.0 s. Schreiben Sie die Funktionsgleichung für die Spannung des Kondensators. Aufgaben Aufgaben 298 Struktur und Verhalten I