Vortrag Sperhake: Helfen oder ermitteln - ein

Werbung
Helfen und Ermitteln beim Plötzlichen Säuglingstod – ein Widerspruch?
Jan Sperhake
Wenn ein Baby plötzlich und unerwartet verstirbt, ist dies für die Eltern und andere
Familienangehörige ein schwerer Schicksalsschlag. Das Ausmaß der mittel- und
langfristigen psychischen Traumatisierung der Hinterbliebenen hängt von vielen,
individuell ganz unterschiedlichen Faktoren ab, nicht zuletzt aber auch von den
Vorgängen, die sich unmittelbar um den Zeitpunkt des Todes des geliebten Kindes
abspielen. Keine Mutter und kein Vater sind vorbereitet auf das, was ihnen im
Zusammenhang mit dem Plötzlichen Säuglingstod (Sudden Infant Death Syndrome,
SIDS) widerfährt.
Ganz unterschiedliche Berufsgruppen kommen bei einem SIDS-Fall bereits in den
ersten Stunden nach dem Tod zum Einsatz. Je nach Funktion und persönlichem
Engagement können diese Personen dazu beitragen, dass den Eltern ein
würdevoller Abschied und der Einstieg in die Trauerarbeit erleichtert werden. Es kann
aber auch dazu kommen, dass bei wenig einfühlsamer Handlungsweise von
professionellen Helfern oder Ermittlern unnötig Schmerz verstärkt und psychische
Wunden vertieft werden. Zu berücksichtigen ist, dass sich auch Menschen, die beim
SIDS von Berufs wegen akut zum Einsatz kommen, häufig in einer psychischen
Ausnahmesituation befinden, auf die sie nur unzureichend vorbereitet sind.
Hilflosigkeit, inadäquates Verhalten und Kälte den Eltern gegenüber können Folgen
dieser besonderen psychischen Belastung sein.
Welche Personen kommen normalerweise zum Einsatz? In den meisten Fällen
betätigen Eltern, die ihr Kind leblos auffinden, den Notruf 112. Rettungsteam und
Notarzt erscheinen gemeinsam vor Ort und haben, solange der Tod des Kindes nicht
feststeht, einen kinderärztlichen Notfall zu versorgen. Es ist verständlich, dass in
einer Wiederbelebungssituation nur unzureichend auf die Bedürfnisse der Eltern
eingegangen werden kann. Daher ist es begrüßenswert, wenn schon sehr frühzeitig
Mitarbeiter eines Kriseninterventionsteams (z.B. vom DRK) oder die
Notfallseelsorge vor Ort erscheinen, was immer häufiger von den
Rettungsleitstellen veranlasst wird (zu einem späteren Zeitpunkt kann auch die
betreuende Hebamme eine wichtige Funktion im Rahmen der Krisenintervention
spielen). Nun ist es beim SIDS nicht die Regel, dass das Baby in einem Zustand
vorgefunden wird, in dem es potenziell wiederbelebungsfähig ist. Viel häufiger
bestehen schon bei Auffinden des Kindes durch die Eltern sichere Todeszeichen
(Leichenflecke, Leichenstarre), bei deren Vorliegen Reanimationsversuche
ausnahmslos erfolglos verlaufen. Hier sollten die Notärzte die Sinnlosigkeit einer
Reanimation erkennen und den Eltern die Todesnachricht überbringen. Dass nicht
selten auch bei Vorliegen von sicheren Todeszeichen reanimiert wird, wird manchmal
mit einer „sozialen Indikation“ zur Reanimation begründet. Vielleicht spiegelt sich hier
das Gefühl der Hilflosigkeit bei dem Notarzt in dem Bedürfnis wider, nicht „mit leeren
Händen“ dastehen zu müssen, weil die Eltern Rettungsmaßnahmen erwarten. Ob
dieses Vorgehen hilfreich ist, muss in Zweifel gezogen werden. Durch das
Einleiten/Fortsetzen der Reanimation bei einem toten Kind werden bei den Eltern
falsche Hoffnungen geweckt. In Einzelfällen könnten Schuldgefühle verstärkt werden,
die sich nach SIDS-Fällen gerade bei Müttern oft einstellen („da der Notarzt noch
alles versucht, hätte ich das Kind vielleicht retten können, wenn ich in der Wartezeit
besser reanimiert hätte“). Auch der überstürzte Abtransport des toten Kindes mit dem
Rettungswagen in eine Klinik kann in Einzelfällen als Versuch der Retter interpretiert
werden, sich einer belastenden Situation zu entziehen. Hierdurch wird den Eltern die
Möglichkeit eines würdevollen Abschiedes in der eigenen Wohnung genommen.
Wenn medizinisch noch Hoffnung besteht, muss selbstverständlich alles getan
werden was erforderlich ist.
SIDS-Fälle müssen von den Ärzten, die den Tod feststellen, wie ungeklärte
Todesfälle behandelt werden, woraus sich eine Meldepflicht an die Polizei ergibt.
Diese Maßnahme ruft bei den Hinterbliebenen, die sich nichts vorzuwerfen haben,
verständlicherweise Irritationen hervor. Es ist Aufgabe des Arztes, den Eltern die
Notwendigkeit einer polizeilichen Ermittlung als Standardprozedur verständlich zu
machen. Ganz deutlich muss den Eltern vermittelt werden, dass kein spezieller
Argwohn gegen sie besteht (es sei denn, dass es sich ganz offensichtlich um ein
Tötungsdelikt handelt), sondern dass es sich bei der Einleitung von Ermittlungen um
eine von der Gesellschaft gewünschte Maßnahme im Sinne der Rechtssicherheit
handelt.
Die Polizei muss schon von Amts wegen die potenzielle Möglichkeit eines nichtnatürlichen Todes in Erwägung ziehen. Dennoch wird sie es meist mit natürlichen
Todesfällen zu tun haben, so dass ein „Generalverdacht“ völlig unberechtigt ist. Ob
der scheinbare Widerspruch zwischen berufsbedingtem Misstrauen und
menschlicher Anteilnahme zur weiteren Eskalation der Krisensituation führt oder ob
es gelingt, den Eltern das Aufklärungsbedürfnis des Staates transparent und
begreiflich zu machen, hängt davon ab, über wie viel soziale Kompetenz, Erfahrung
und Vorkenntnisse die ermittelnden Beamten verfügen. Bemerkungen wie „Die
Leiche ist beschlagnahmt!“ mögen zwar inhaltlich korrekt sein, tragen jedoch kaum
dazu bei, die Eltern mitfühlend in den notwendigen Prozess der Todesermittlung
einzubeziehen. Schulungsmaßnahmen für die Polizei führen nachhaltig zu einer
Verbesserung der Situation. Wir erleben im Raum Hamburg, dass die
Polizeibeamten durchaus rücksichtsvoll auf diese Grenzsituation eingehen und den
Eltern einfühlsam begegnen. Gelegentlich wird ein Rechtsmediziner von der Polizei
zum Ort des Geschehens gerufen. Eine sorgfältige Untersuchung der
Schlafumgebung trägt in Einzelfällen ganz entscheidend zum Verständnis des
Todesfalles bei. Die Eltern fühlen sich ernst genommen, wenn nach der
gesundheitlichen Entwicklung des Kindes, den Schlaf- und den Pflegegewohnheiten
gefragt wird.
Auch über die Möglichkeit und den Sinn einer postmortalen Untersuchung des Babys
sollte möglichst schon frühzeitig gesprochen werden, was sowohl durch den Notarzt
als auch durch die Polizei erfolgen kann. Obgleich die Klärung der Todesart
(natürlich vs. nicht-natürlich) aus ermittlungstechnischer Sicht das vordringlichste Ziel
einer rechtsmedizinischen Obduktion ist, bleibt die Aufklärung der medizinischen
Todesursache und der zum Zeitpunkt des Todes bestehenden Krankheiten eine
Hauptaufgabe jeder Obduktion. Die Kenntnis der Todesursache, die bei plötzlichen
Todesfällen im Säuglingsalter nicht immer SIDS sein muss, ist für die Eltern in der
Regel von großer Bedeutung. Studien zeigen, dass die Trauerbewältigung langfristig
besser gelingt, wenn eine Obduktion durchgeführt wurde. Eine Obduktion muss nicht
angeordnet werden, so dass die Untersuchungsraten von Region zu Region ganz
unterschiedlich sind und etwa zwischen 20% und 100% schwanken. (die äußere
Leichenschau reicht aber keinesfalls aus, um Fragen nach der Todesursache zu
beantworten!). Auf der anderen Seite quälen sich Eltern, deren verstorbenes Baby
nicht untersucht wurde, häufig jahre- wenn nicht jahrzehntelang mit offenen Fragen
und Schuldgefühlen.
Durch die Polizei wird ein Bestatter beauftragt, den kindlichen Leichnam aus der
Wohnung abzuholen (für alle weiteren Dienstleistungen, die im Rahmen der
Bestattung notwendig werden, können die Eltern selbstverständlich einen Bestatter
ihrer Wahl beauftragen). Dies sollte nicht überstürzt geschehen. Aus
rechtsmedizinischer Sicht spricht überhaupt nichts dagegen, dass den Eltern
ausreichend Raum für ein Abschiednehmen im eigenen häuslichen Umfeld geboten
wird. Dazu gehört auch, dass die Eltern und Verwandten das Kind auf den Arm
nehmen dürfen, wozu man sie durchaus ermutigen sollte. Ob dies eine halbe Stunde
oder drei Stunden dauert, hängt in erster Linie von den weiteren polizeilichen
Maßnahmen ab. Eine Hausaufbahrung über mehrere Tage ist im Rahmen einer
Todesermittlung aber nicht möglich. Auf die wichtige Rolle der Krisenintervention
bzw. der Notfallseelsorge wurde bereits eingegangen. Es sollte sichergestellt sein,
dass es wenigstens eine Person gibt, die eine Stütze für die Eltern sein kann und mit
ihnen zusammen die akute Trauer aushält. Dies können auch Angehörige oder die
Hebamme sein. Auch für den Zeitraum nach Abholung des Kindes durch den
Bestatter sollten die Eltern nicht allein gelassen werden, es sei denn, sie wünschen
dies ausdrücklich und scheinen psychisch ausreichend stabil zu sein.
Die Untersuchung des Kindes mit Obduktion sollte möglichst rasch erfolgen, um eine
optimale Befunderhebung zu gewährleisten. Es gibt in Bezug auf Art und Umfang
einer Obduktion (Synonyma: Sektion, Autopsie, Leichenöffnung, innere
Leichenschau) viele falsche Vorstellungen und Ängste. Im Wesentlichen handelt es
sich bei einer Obduktion um eine relativ große Operation nach dem Tode. Eröffnet
werden Kopf-, Brust- und Bauchhöhle, um die wichtigen Organe untersuchen zu
können. Nach der Untersuchung werden die Organe bis auf kleine Proben für die
Mikroskopie wieder in den Leichnam zurückgelegt. In der Regel werden
Körperflüssigkeiten und Abstriche für Laboruntersuchungen zurückbehalten. In
Ausnahmefällen müssen ganze Organe (z.B. Gehirn oder Herz) für weitergehende
Untersuchungen aufbewahrt werden. Pathologen und Rechtsmediziner mussten erst
lernen, dass es für die Eltern sehr wichtig sein kann, über das Ausmaß dieser
Untersuchungen genau im Bilde zu sein. Nachbestattungen von Organen und
Organteilen nach Abschluss der Zusatzuntersuchungen werden mitunter gewünscht
und sind prinzipiell möglich. Wie nach einer Operation am Lebenden wird der
Leichnam nach der Obduktion mit Hautnähten verschlossen. Eine Aufbahrung ist in
aller Regel auch nach Obduktion möglich, jedoch sollten die Eltern darauf vorbereitet
sein, dass das Einsetzen von natürlichen Leichenveränderungen – ob mit oder ohne
Obduktion - nur bedingt aufzuhalten ist. In aller Regel wird der Leichnam unmittelbar
nach der Obduktion zur Bestattung freigegeben und kann vom Bestatter abgeholt
werden.
Grundsätzlich sind Todesermittlungsverfahren geheim. Je nach Sektionsergebnis
kann es die Staatsanwaltschaft dennoch zulassen, dass die Eltern über Ergebnisse
und Zwischenergebnisse der Untersuchungen informiert werden. Hierbei muss
unterstrichen werden, dass das Informationsbedürfnis der Eltern absolut legitim ist
und nicht aus rein formalen Gründen missachtet werden sollte. Es ist durchaus
umstritten und von Fall zu Fall abzuwägen, wie weitgehend man Eltern über
Sektionsergebnisse informieren kann. Das unkommentierte Zusenden des
Sektionsprotokolles dürfte in der Regel eher zu Verstörung und Verunsicherung als
zur Beruhigung beitragen. Sektionsprotokolle gerichtlicher Obduktionen beschreiben
sehr detailliert und anschaulich den Ablauf der Obduktion, so dass die Lektüre für die
Eltern eine große Belastung wäre. Vorzuziehen ist das persönliche Gespräch mit
dem Rechtsmediziner oder Pathologen, der die Untersuchung durchgeführt hat. Der
Transparenz sind bei nicht-natürlichen Todesfällen naturgemäß enge Grenzen
gesetzt.
Von Anfang an haben die Hinterbliebenen die Möglichkeit für ihre ganz speziellen
Nöte und Probleme Hilfe in der Selbsthilfe zu suchen. Die Gemeinsame
Elterninitiative Plötzlicher Säuglingstod (GEPS) Deutschland e.V. unterstützt
betroffene Eltern mit seinem Bundesverband und den Landesverbänden in
vielfacher Hinsicht. Auch bei Verwaiste Eltern e.V. finden Betroffene
Selbsthilfegruppen und andere kompetente Ansprechpartner.
Helfen und Ermitteln – ein Widerspruch? Nein! Wenn sich alle Beteiligten innerhalb
ihres professionellen Rahmens menschlich verhalten und wenn die legitimen
Bedürfnisse der Eltern wahrgenommen werden, kann der Spagat zwischen Empathie
und Todesermittlung gelingen.
Autor:
Dr. med. Jan Sperhake, Oberarzt am Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf. [email protected]
Der Text ist auch als Manuskript für die Deutsche Hebammenzeitschrift eingereicht worden.
Nachdruckrechte liegen beim Verlag!
Herunterladen