26 freigeist winter 2009/2010 was macht eigentlich ... ... gavino welser? „man weiß ja nie, wo- David: Wenn Du zurückdenkst an Deine Lernwerkstatt-Zeit - welche Bilder und Gefühle kommen da bei Dir auf? Gibt es noch klare Erinnerungen? Gavino: Bilder... mit Leon, Moritz und Gi- acomo durch den nebligen Wald rennen und mit Stecken gegen imaginäre Monster kämpfen! Das ist so das Erste, das mir in den Kopf kommt, wenn ich an die LWS denke. Sonst noch Floß fahren, aus Ton Sachen machen und natürlich Theater spielen! Gefühle... kalter Nebel im Gesicht und halbverrottete Blätter zwischen den Fingern. Ich habe sehr viel Zeit im Freien verbracht - deswegen diese Erinnerungen. David: Heute lebst du in den Vereinigten Staaten, besuchst dort die Uni. So weit ich weiß, hast Du nie herkömmlichen Englischunterricht besucht, oder? Gavino: Nein, ich hab noch nie Unterricht in irgendeiner Sprache genommen. Wie ich 11 oder 12 war, hat mir meine Mutter klicke auf „schools“ und wähle „Continuing Education“ und dann „Extension School“ aus. Man gehe auf „course search“, wähle eine Vorlesung aus und inskribiere sich. So einfach ist das. Die Harvard Extension School ist eine Fakultät von Harvard, an der man viele Kurse online machen kann und für die man keine anderen Voraussetzungen als Geld, einen Computer und Englischkenntnisse braucht. Man braucht nicht einmal in den USA sein. Wenn man den Bachelor machen will, braucht man drei mit mindestens C- bestandene Kurse, von denen einer ein gewisser „expository writing“ Kurs sein muss, der mit mindestens B- bestanden wurde. Außerdem braucht man noch, wenn Englisch nicht die Muttersprache ist, den TOEFL-Test und dann kann man um Aufnahme in das Bachelor‘s Programm ansuchen. Alles, was sie da von dir wollen, ist ein Lebenslauf, „transcripts“ von anderen Universitäten und Colleges, falls solche vorher besucht worden sind und einen 2- Seiten-Aufsatz über sich. Bilder von der LWS: durch den Wald rennen, Floß fahren, Theater spielen die Audio-Kassetten vom ersten Harry Potter Band auf Englisch geschenkt. Nachdem ich den ersten Band auf Deutsch schon auswendig kannte und ein paar Worte auf Englisch kannte, habe ich immer ungefähr gewusst, worum es gerade geht und deswegen langsam, langsam angefangen immer besser zu verstehen. Später hat mir meine Mama dann auch die Bücher und Audio Kassetten von allen anderen Bänden geschenkt und durch Anhören und Lesen gleichzeitig habe ich dann auch relativ gut englisch lesen und schreiben gelernt. Ich habe schon in Indien hauptsächlich englisch mit allen geredet und bin auch vier Monate lang in eine englischspraKlar sein und die Kinder chigegegenwärtig Schule gegangen, deswegen habe doch nichtziemlich dirigieren ich schon gut Englisch gekonnt, wie wir nach Amerika sind. Jetzt glaube ich, kann ich schon behaupten, dass ich perfekt englisch kann, weil ich diesen Mai den TOEFL - „Test Of Englisch as Foreign Language“ - gemacht und 117 von 120 Punkten bekommen habe. Laut dem Testcenter sind 100 Punkte schon sehr viel. Auch habe ich an Harvard noch nie eine Note unter B+ bekommen (von einer Notenskala, die von A als die beste, bis E- als die schlechteste Note geht). Das heißt, dass ich auf jeden Fall gut genug Englisch kann, um an Harvard Bestnoten zu bekommen. cartoon David: Was sind Deine Zukunftspläne? Gavino: Ich möchte jetzt einmal meinen Bachelor an Harvard machen. Sonst habe ich noch keine wirklichen Pläne, ich will mir einfach alle Türen ofen halten, damit ich dann die Möglichkeit habe, alles zu machen, was ich machen will! Man weiß ja nie, wofür ich mich noch interessieren werde. David: Was kann man tun, wenn man möchte, dass sein Kind, wie du, später nach Harvard geht? Da gibt‘s doch ein Rezept, oder? Gavino: Man nehme einen wissbegierigen Teenager oder jungen Erwachsenen, ein bissl Geld, einen Computer mit InternetZugang, gute Englisch-Kenntnisse, und lässt Hauptschulabschluss, Matura und alle Leute, die zetern und schreien „Das geht doch nicht!“ links liegen. Man schalte den Computer ein und gehe auf die Website von Harvard University, Fotos: Verena Welser wissen. Vor allem in Harvard habe ich gemerkt, dass das überhaupt nicht stimmt und dass Leute, die aus der Regelschule herauskommen, genauso „wenig“ wissen wie ich. Damit will ich nicht sagen, dass Regelschulleute wenig wissen, sondern dass ich mehr weiß als ich gedacht habe. Man muss - auf jeden Fall in Harvard - eigentlich nur konzentriert genug sein und sich alles merken, was der ProGavino Welser war sieben Jahre ist fessor sagt. Was schwer ist an Harvard an derdass Lernwerkstatt undviel studiert nicht, man im Vorhinein wissen jetzt der Harvard Im muss, an sondern dass man University. sich viel merken Interview mit Davidmuss, Meixner spricht muss und verstehen worum es er über vorProblem Ort“ und geht, was„Lernen für mich kein ist.stellt Nach das, wasersten die meisten Leutehat „Wissen meinem Test in Harvard mich fürs nennen, sehr grundmeinLeben“ Papa gefragt, ob mir etwas, das ich sätzlich Frage. gebrauchtinhätte, gefehlt hat. Er hat damit natürlich das Intellektuelle gemeint. Ich habe ihm darauf scherzhaft gesagt: Ja, mir hat beim Test tatsächlich etwas gefehlt, was ich dringend gebraucht hätte: Ich habe meinen besten Schreibstift zu Hause liegen lassen. 27 freigeist winter 2009/2010 Ich habe keine Ahnung, was die Kriterien sind, nach denen sie einen aufnehmen oder nicht, mich haben sie jedenfalls genommen. Wenn jemand echt vorhat in Harvard zu studieren, dann kann ich nur sagen, es klingt anfangs alles komplizierter als es ist. Giacomo hat gerade dort eine Informatik Vorlesung begonnen, die berüchtigt dafür ist, wie schwer sie ist und hat bis jetzt auch nur Bestnoten bekommen, obwohl er überhaupt noch keine Erfahrung mit dem Regelschulsystem hatte. In die Lernwerkstatt gegangen zu sein ist für mich nie ein Hindernis gewesen. Ich habe keine Ahnung, wie mein Leben wäre, wenn ich in eine Regelschule gegangen wäre, aber ich sehe, dass manche meiner Mitstudenten, die aus der Regelschule kommen, Probleme haben, wo ich keine habe. Also kann ich sagen, dass ich mindestens am gleichen Level bin wie Regelschul-Absolventen. Ich glaube, ich kann mit Zuversicht sagen, dass die Lernwerkstatt mich genug gelehrt hat, um mein Leben so zu leben, wie ich es will. Gavino und sein 2 1/2 Jahre jüngerer Bruder Giacomo Welser waren von 1997 bis 2003 in der Lernwerkstatt. Ihr weiterer Weg führte sie mit ihrer Mutter Verena nach Indien und schließlich an die Ostküste der USA nach Sudbury, Massachusetts - wo die beiden die Sudbury Valley School besuchten (siehe freigeist-Ausgabe vom Herbst 2009). Inzwischen studiert der 21jährige Gavino an der Harvard Universität. Nähere Infos zu Harvard: www.extension.harvard.edu Luise Muschailov