Anlage zur Pressemitteilung 530 / 2016 Die Zeitkapsel 1877 Die Kugel aus Kupferblech oben auf dem Dachreiter nennt man auch Rathausknopf. Sie hat einen Durchmesser von 40 Zentimetern. In ihr befindet sich ein zylinderförmiger Behälter mit zeitgeschichtlichen Dokumenten. Diese sogenannte Zeitkapsel wurde zuletzt 1877 von Oberbürgermeister Julius Gös befüllt. Der Inhalt wurde im Zuge der diesjährigen Sanierung geborgen, ist aber aufgrund von Witterungsschäden ziemlich ramponiert. Folgende Gegenstände konnte das Stadtarchiv identifizieren: Mitteilung über die Restaurierung des Rathauses (1877) Liste der Gemeinderäte Schilderung einer Serie von Bränden in Tübingen (1876/77) Stadtplan (1876) Fotos vom Rathaus vor und nach der Sanierung und von der Neckarfront (um 1877) Haushaltsplan der Stadt (1876/77) eine Botschaft des Kupferschmieds Ferdinand Friedrich Haug, der die Kugel angefertigt hat 20 Münzen aus verschiedenen deutschen und anderen europäischen Ländern, die vor der Einführung der Mark (1876) gültig waren Sonderausgabe einer Zeitung zur Enthüllung des Uhland-Denkmals (1873) Weil in die Kapsel Wasser eingedrungen war, sind die Münzen verrostet und die Papiere aufgeweicht und zerfleddert. Die Schriftstücke wurden mittlerweile von einem Restaurator fachmännisch gereinigt und getrocknet. Derzeit ist der Stadtarchivar Udo Rauch mit seinem Team dabei, die Papierfetzen zu entziffern. Udo Rauch vermutet, dass hinter der speziellen Sammlung eine interessante Geschichte steckt: „Warum nur hat man 1877 – im Jahr nach der Einführung der Mark und sechs Jahre nach Gründung des deutschen Reiches – 20 alte, damals wertlos gewordene Münzen auf dem Rathausdach ‚entsorgt‘? Hätte man nicht das neue Geld als Botschaft einer neuen Zeit dort oben einlagern müssen? Ein paar Indizien könnten die Antwort liefern: Der Kupferschmied Ferdinand Friedrich Haug, der laut einem Begleitbrief die Münzen in die Kapsel eingelegt hat, war wahrscheinlich nicht begeistert vom neuen Deutschen Reich. Und mit ihm viele andere Tübinger. Nicht alle wollten den neuen Staat unter preußischer Führung mit einem hohenzollerischen Erbkaiser begründen. Zu den bekanntesten Gegnern hatte übrigens Ludwig Uhland gehört, der 1849 in der Paulskirche eine Rede gegen das Erbkaisertum hielt. Diese Rede druckte die Zeitung 1873 anlässlich der Enthüllung des Uhland-Denkmals nach. Und genau diese Rede legte unser Kupferschmied den Münzen bei. Eine Art stiller Protest, eine Botschaft an die Zukunft? Seite 2/3 Der damalige Oberbürgermeister Julius Gös hat es geschehen lassen. Er hatte vermutlich seine Gründe dafür. Denn noch Jahre nach der Reichsgründung war man sich in der Bürgerschaft nicht einig über die Frage, wie das neue Deutsche Reich aussehen sollte. Um Streit zu vermeiden, enthielt sich die Stadtverwaltung aller politischen Äußerungen. Dies ist auch der Grund dafür, warum man in der Rathausfassade, die fünf Jahre nach der Reichsgründung entworfen wurde, keinen einzigen Reichsadler findet. Das hätte einen Teil der Bürgerschaft provoziert. Stattdessen rekurrierte man lieber auf die alte württembergische Geschichte. Dahinter konnten sich alle versammeln.“ Befüllung der Zeitkapsel 2016 139 Jahre später suchte Oberbürgermeister Boris Palmer eine Reihe von Dokumenten und Gegenständen aus, um die Zeitkapsel für künftige Generationen erneut zu befüllen. Zu den Dingen, die der Nachwelt überliefert werden, gehören: DVD mit einem Film zur Stadtgeschichte (2012) USB-Stick mit dem Verwaltungsbericht (2007 bis 2014) Bericht zur Rathaus-Sanierung (2012 bis 2016) Fotos des Rathauses vor und nach der Sanierung (2012 und 2016) Liste der Handwerker, die am Umbau 2012 bis 2016 beteiligt waren Faltblatt: Wen finde ich wo? Stadtverwaltung auf einen Blick (2016) Liste der Gemeinderäte, Wahlperiode 2014 bis 2019 Autogrammkarte von Oberbürgermeister Boris Palmer Lokalteil des Schwäbischen Tagblatts (29. Oktober 2016) Amtlicher Stadtplan (2014) Materialien zur Klimaschutzkampagne „Tübingen macht blau“: Foto vom Ausflug zum Eisbärbaby Wilbär (2008), Schirmmütze, Faltblätter ein Satz Euro-Münzen, darunter welche aus Aix-en-Provence und Perugia Die neue Zeitkapsel wurde von der Firma Müller und Schweitzer aus Waiblingen hergestellt. Damit die Gegenstände länger halten, besteht sie aus Kupfer und nicht wie ihre Vorgängerin aus einfachem Blech. Ob allerdings DVD und USB-Stick den künftigen Generationen erhellende Aufschlüsse bieten oder eher Kopfzerbrechen bereiten, wird erst die ferne Zukunft weisen. Seite 3/3