Die griechische Tragödie Was uns der Einzelfall zeigt: Die Eurokrise

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Summary: All members of the Euro zone are responsible for
the Greek crisis. European treaties did not provide a sound basis for European governance. Furthermore, EU members have
ignored Greece´s fundamental structural problems over many
years. Therefore, they are obliged to support Greece in overcoming its existential crisis.
Kurzgefasst: Alle Staaten der Eurozone tragen eine gemeinsame Verantwortung für die existenzielle Krise Griechenlands.
Die in den europäischen Verträgen gestaltete europäische
Governance ist mit schwerwiegenden Fehlern behaftet. Und
die EU-Staaten haben jahrelang die Augen verschlossen vor
den grundlegenden Problemen Griechenlands. Sie sind deshalb
auch alle zur Solidarität verpflichtet, wenn es darum geht, bei
der Überwindung seiner Krise zu helfen.
Die griechische Tragödie Was uns der
Einzelfall zeigt: Die Eurokrise ist eine
Begrenzungskrise
Kurt Biedenkopf
Es ist sicher zu früh, Gültiges über die Ursachen der Krise zu sagen, die Europa
und seine Währung erfasst hat. Die gegenwärtige Debatte ist deshalb durch die
Suche nach Wegen bestimmt, zunächst mit den entstandenen Verwerfungen
fertig und der unmittelbaren Gefahren Herr zu werden, die die Währungsunion
bedrohen. Das gilt auch für die Krise, in der sich Griechenland befindet.
Gleichwohl lässt sich schon jetzt eine Reihe von Ursachen der krisenhaften Entwicklungen der Eurozone erkennen. Zum einen sind es generelle Fehleinschätzungen der notwendigen Voraussetzungen einer gemeinsamen Währung. Zum
anderen wurde bei ihrer Aufnahme in die Währungsunion versäumt, die unterschiedlichen geschichtlichen, politischen und kulturellen Bedingungen der Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen, die von der Krise besonders getroffen wurden,
im Wesentlichen also der Mittelmeerstaaten. Beides gilt im Besonderen für Griechenland. Seine Probleme lassen sich deshalb nur begrenzt mit denen der anderen Anrainerstaaten vergleichen.
Die Versuchung eines kaum gefestigten Staatswesens
Hätte man sich vor seiner Aufnahme in die Eurozone näher mit Griechenlands
Geschichte und dem Prozess der Staatsbildung befasst, hätte man das Land wohl
nicht in die Währungsunion aufgenommen. Man hätte ihm damit den gegenwärtigen Leidensweg und seine Demütigungen erspart, allerdings auch die Chance,
sich zu erneuern. Griechenland hat – anders als Portugal, Spanien und, wenn
auch weniger eindeutig, Italien – bis heute nicht zu einer gefestigten staatlichen, territorialen und politischen Einheit gefunden. Selbst viele Griechen neigen zu der Einschätzung, Griechenland sei es in der Zeit seit seiner Befreiung
aus osmanischer Herrschaft nicht gelungen, eine stabile staatliche Persönlichkeit zu entwickeln, mit der sich seine Bevölkerung identifizieren und zu der sie
Loyalität entwickeln konnte.
Fast 500 Jahre Unterwerfung durch das Osmanische Reich lagen hinter Griechenland, als es nach der Revolution gegen die osmanische Herrschaft 18211829 und im Jahr 1830 durch das Londoner Protokoll zum selbstständigen Staat
erklärt wurde. Seine territorialen Grenzen waren umstritten, eine eigenständige Regierung fehlte. Die europäischen Großmächte etablierten die Monarchie.
Das gesamte 19. und der größere Teil des 20. Jahrhunderts waren durch Kriege,
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die Besetzung des Landes im Zweiten Weltkrieg und die sich anschließenden
Bürgerkriege gekennzeichnet. 1967 übernahm das Militär die Macht. 1974 brach
die Militärdiktatur zusammen. Griechenland kehrte zur Demokratie zurück.
1981 wurde es in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aufgenommen.
Für den Aufbau einer stabilen Demokratie war diese Entwicklung nicht förderlich. Das Land wurde auch nach der Überwindung der Militärdiktatur zunächst
weniger demokratisch als oligarchisch regiert – durch eine Reihe einflussreicher Familien, deren Repräsentanten vielfach auch heute noch der demokratischen Regierung des Landes mit Verachtung begegnen. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil die mit der Einführung des Euro verbundene Erwartung, die
beteiligten Demokratien seien in der Lage, den Versuchungen der neuen Währung zu widerstehen und die vorgegebenen Grenzen einzuhalten, sich wohl generell, aber im Falle Griechenlands im Besonderen als Illusion erweisen musste.
Die Versuchung, gutes Geld zu geringen Zinsen für ihre politischen Programme
aufzunehmen, erwies sich jedenfalls als unwiderstehlich. Alle wussten es, denn
die Versuchung blieb nicht auf Griechenland beschränkt. Aber dank seiner besonderen historischen und politischen Lasten und fehlender solidarischer Beziehungen der Bevölkerung zu ihrem Staat war Griechenland besonders gefährdet. Wie der Prozess seiner Aufnahme in die Währungsunion verdeutlicht,
konnten alle diese Gefährdung erkennen. Aber der Europäische Rat und die
Kommission zogen es vor, sie zu ignorieren. Sie schufen damit die eigentlichen
Ursachen für die griechische Tragödie.
Kurt Biedenkopf ist WZB-Forschungsprofessor. Zuvor
war er unter anderem Rektor der Ruhr-Universität
Bochum, Mitbegründer des Instituts für Wirtschaft
und Gesellschaft in Bonn und Ministerpräsident des
Freistaats Sachsen. Zurzeit befasst er sich in seinen
Forschungen vor allem mit Fragen der Leistungsfähigkeit europäischer Demokratien angesichts des sozialökonomischen und demografischen Wandels und
der Belastungen der Sozialversicherungssysteme.
[Foto: David Ausserhofer]
[email protected]
Die begann schon mit der weithin geteilten Überzeugung, eine Währungsunion
ohne Griechenland könne es nicht geben. Von der Wiege Europas und der Wiege
der Demokratie war die Rede, die man nicht ausschließen könne. In seiner Entscheidung vom 3. Mai 1998 über die Teilnehmerstaaten an der Europäischen
Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) stellt der Rat zwar noch fest, Griechenland habe keines der erforderlichen Aufnahmekriterien erfüllt. Die durchschnittliche Inflationsrate verfehle mit 5,2 Prozent den erforderlichen Referenzwert. Die Feststellung des Rates, in Griechenland bestehe ein übermäßiges
öffentliches Defizit, sei nicht aufgehoben. Die griechische Währung habe im
zweijährigen Referenzzeitraum nicht am Wechselkursmechanismus teilgenommen. Schließlich habe der durchschnittliche Zinssatz in Griechenland im einjährigen Beobachtungszeitraum mit 9,8 Prozent über dem Referenzwert gelegen.
Der Rat verweigerte Griechenland deshalb die Einführung der gemeinsamen
Währung und traf eine Ausnahmeregelung gemäß Artikel 109k EGV.
Am 9. März 2000 beantragte Griechenland die Aufhebung der Ausnahmeregelung. Die Kommission und die Europäische Zentralbank (EZB) begannen daraufhin, die Erfüllung der Konvergenzkriterien durch Griechenland zu untersuchen.
Auf der Grundlage der Berichte der Kommission vom 3. Mai 2000 und der EZB
vom 28. April 2000 stellte der Rat am 19. Juni 2000 fest, Griechenland erfülle die
Konvergenzkriterien. Er hob die Ausnahmereglung zum 1. Januar 2001 auf und
machte damit den Weg frei für die Einführung der gemeinsamen Währung in
Griechenland.
In den Schlussfolgerungen des Vorsitzenden aus den Beratungen des Rates am
19. und 20. Juni 2000 findet sich in Kapitel III. Wirtschafts-, Finanz- und Währungsfragen, versteckt zwischen A. Grundzüge der Wirtschaftspolitik, B. Steuerpaket und vor Kapitel IV. Europa und die Bürger unter C. Beitritt Griechenlands
zum Euro-Währungsgebiet, folgende Aussage: „Der Europäische Rat beglückwünscht Griechenland zu der Konvergenz, die es in den letzten Jahren aufgrund
seiner soliden Wirtschafts- und Finanzpolitik erreicht hat, und begrüßt die Entscheidung, dass Griechenland zum 1. Januar 2001 dem Euro-Währungsgebiet
beitritt; dies stellt einen weiteren Fortschritt bei der Währungsintegration der
Union dar.“
Am 21. September 2004 gab die griechische Regierung bekannt, dass die von
Griechenland an die Kommission gemeldeten statistischen Daten zur Ermittlung des jährlichen öffentlichen Defizits für die Jahre 2000 bis 2003 nicht zu-
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treffend waren. Nach den am 15. November 2004 veröffentlichten Ausführungen des Statistischen Amts der EU hatte Griechenland auch in den Jahren 1997
bis 1999 unzutreffende Daten über das jährliche öffentliche Defizit an die Kommission gemeldet. Wären der Kommission und der EZB die tatsächlichen Daten
zur wirtschaftlichen Konvergenz bekannt gewesen, hätten sie nicht zu der Feststellung gelangen können, Griechenland habe die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung der gemeinsamen Währung erfüllt. Damit wären die Voraussetzungen für eine Entscheidung des Rates über die Aufhebung der für
Griechenland geltenden Ausnahmeregelung und über die Teilnahme des Landes
an der Wirtschafts- und Währungsunion nicht erfüllt gewesen.
Die Reaktion der europäischen Organe war für Griechenland ermutigend. Der
Rat Wirtschaft und Finanzen nahm den Bericht zur Kenntnis und forderte Griechenland auf, im Hinblick auf die Stützung der gemeinsamen Währung die Haushaltsdisziplin rasch und in vollem Umfang einzuhalten und seinen Verpflichtungen zur Annahme ausreichender Korrekturmaßnahmen nachzukommen.
Sanktionen gegen Griechenland wurden nicht verhängt. Für einen Ausschluss
Griechenlands aus der WWU enthielt der Vertrag keine Bestimmungen. Das am
6. Dezember 2004 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren wegen Übermittlung unzutreffender Daten stellte die Kommission im Dezember 2007 ein.
Erst am 27. April 2009 wurde der Rat tätig. Auf der Grundlage des Berichts der
Kommission erließ er eine Entscheidung über das Bestehen eines übermäßigen
Defizits und beschloss Empfehlungen zu seiner Beseitigung bis zum Jahre 2010.
Der weitere Verlauf der Tragödie ist bekannt.
Erstaunlich an dieser Entwicklung sind die Widersprüche im Verhalten der beteiligten Institutionen. Im April 1998 hielt der damalige Bundesfinanzminister
Theo Waigel in den Beratungen des Bundestags zur Einführung des Euro die
griechischen Konvergenzbemühungen für unzureichend. Griechenland habe die
Konvergenzkriterien nicht erfüllt und könne deshalb nicht zur Teilnahme an der
gemeinsamen Währung zugelassen werden. Der Rat teilt wenig später Waigels
Ansicht. Dass der Rat nur zwei Jahre später Griechenland zu den Konvergenzerfolgen beglückwünscht, die es in den letzten Jahren dank seiner soliden Wirtschafts- und Finanzpolitik erreicht habe, lässt sich eigentlich nur durch ein
Wunder erklären.
Hätte man nicht an Wunder geglaubt, sondern wäre den Ursachen nachgegangen, hätte man 2004 die Folgen aus den inzwischen bekannten Sachverhalten
gezogen, die vertraglich vereinbarten Verfahren in Gang gesetzt und die weitere
Entwicklung im Lichte der neuen Erkenntnisse aktiv begleitet, müssten wir
heute Griechenland nicht mit Hunderten von Milliarden „retten“. Nicht nur
Deutschland oder die Regierung Schröder können deshalb für die heutige existentielle Krise allein verantwortlich gemacht werden, in die Griechenland in den
letzten Jahren geraten ist. Verantwortlich sind alle Staaten der Eurozone. Sie
sind deshalb auch alle zur Solidarität verpflichtet, wenn es darum geht, Griechenland bei der Überwindung der Bedrohung seiner staatlichen Existenz zu
unterstützen.
Einer der Kardinalfehler: verfehlte europäische Governance
Am griechischen Beispiel lassen sich in besonders eindrucksvoller Weise zwei
allgemeinere Probleme exemplifizieren: die seit Jahrzehnten deutlich anwachsende Unfähigkeit industrieller Demokratien, sich zu begrenzen, und die schwerwiegenden Fehler in der durch die europäischen Verträge gestalteten europäischen Governance, verbunden mit den bis heute andauernden Versuchen, durch
politische Entscheidungen wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten außer Kraft zu
setzen.
Unbestritten war die Währungsunion bei ihrer Einführung ein Torso. Wesentliche Elemente einer funktionsfähigen Währungsgemeinschaft fehlten. Die Mehrzahl der Mitgliedsstaaten erfüllte nicht die vertraglich festgesetzten Voraussetzungen. Man hoffte zwar, die institutionellen und strukturellen Defizite im
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weiteren Verlauf beheben und die Überschuldung abbauen zu können. Da es
jedoch an wirksamen europäischen Institutionen fehlte, die die Einhaltung der
Regeln notfalls erzwingen konnten, blieb die Hoffnung eine Illusion.
Das Scheitern des Torsos Währungsunion zeigt vielmehr: Die Euro-Staaten waren unfähig, ihre finanziellen Ansprüche an die Kreditmärkte auf das Maß ihrer
Leistungsfähigkeit zu begrenzen. Die Eurokrise ist in Wirklichkeit eine Begrenzungskrise. Die wiederum ist jedoch nicht einer Deformation der Demokratie
geschuldet. Deformiert ist die politische Kultur, die wir der Demokratie zumuten.
Eine Kultur, die seit Jahren davon überzeugt ist, Regieren in einer Demokratie
sei nur bei angemessener und nachhaltiger Vermehrung des Bruttoinlandsprodukts möglich. Denn nur so lasse sich bei vorhandenen haushaltswirksamen
Besitzständen der soziale Frieden wahren.
Weil die Euro-Staaten offenbar nicht in der Lage sind, sich aus eigener Kraft zu
begrenzen, sind sie auf eine gemeinsame und unabhängige europäische Institution angewiesen, die sie bei ihren Anstrengungen unterstützt. Die angestrebte
Finanzagentur ist eine derartige Institution. Weil sie bisher fehlt, übernahmen
die Finanzmärkte ihre Aufgabe. Die Märkte setzen den nationalen Finanzplanungen der Euro-Staaten Grenzen, indem sie die Kosten der Refinanzierung der
Staatsschulden erhöhen. Damit sind die betroffenen Staaten gezwungen, die Ursachen ihrer Defizite anzuerkennen. Diese Ursachen liegen in ihren eigenen
wirtschaftlichen, sozialen und gouvernementalen Institutionen. Durch immer
weitere Verschuldung lassen sie sich letztlich nicht verschleiern.
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