„Alles ist zum kotzen“

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ESSSTÖRUNGEN
Eine dreiteilige Serie in Fortsetzung
über das Krankheitsbild der Magersucht (Anorexia nervosa)
der Ess-Brechsucht (Bulimia nervosa)
und der Esssucht (Adipositas)
von Ingrid Bächle-Nußbaumer
2. Teil
Bulimie
Die Gier, die Scham, der Ekel und
die Verzweiflung
„Alles ist zum kotzen!“
Scham und Ekel, dies sind die beiden vorherrschenden
Gefühle, die bei der Essstörung Bulimie das Geschehen
beherrschen. Hinzu kommt ein immer wiederkehrender
Kontrollverlust, der ein Ausstieg aus dem Teufelskreis
Essanfall und Erbrechen zusätzlich erschwert.
Ganz im Gegensatz zur Anorexie ist sich eine Frau mit
dieser Essstörungsform ihrer Krankheit sehr wohl bewusst.
Sie leidet sehr darunter, versucht sie aber so lange als
möglich geheim zu halten. Oft genug gelingt ihr das auch, da
diese Erkrankung nicht nach außen sichtbar ist und sich
das Körpergewicht meist im Normalbereich befindet.
Es gibt viele verschiedene Formen der Bulimie und nicht
selten wechselt ein junges Mädchen aus einer
Magersuchtsphase in Ess-Brechattacken.
Von der Häufigkeit liegen, ab und zu - Anfälle (ca. einmal pro
Woche) und bis zu zehnmal pro Tag und mehr, viele
Varianten als Möglichkeit dazwischen.
Die Symptome sind häufige, massive Essanfälle, die von
herbeigeführtem Erbrechen abgelöst werden. Die Essanfälle
erfolgen ohne Publikum, niemals bei gemeinsamen
Mahlzeiten und in tranceähnlicher Gier, mit großen Mengen
an Nahrungsmittel. Ein Unbehagen das sich zur
Unerträglichkeit steigert, mit enormen Schuldgefühlen und
großer Angst an Gewicht zuzunehmen, lässt als einzige
Möglichkeit die Magenentlehrung zu. So wird das
herbeigeführte, anschließende Erbrechung als einziger
Ausweg gesehen. Ein kurzer Moment der Erleichterung, des
sich gut Fühlens, endlich von den vielen „Giften“ (Nahrung)
befreit zu sein, folgt dem Ekel vor sich selbst, ebenso Scham
und Schuldgefühle, es wieder nicht geschafft zu haben.
Nicht selten ist zusätzlich eine Abhängigkeit von
Appetitzüglern und Abführmittel zu beobachten. Dies
wiederum kann zu bedrohlichen organischen Erkrankungen
führen. Der Darm stellt seine natürliche Funktion vollständig
ein,
reagiert
nur
noch
auf
hochdosierte
Verdauungsmedikamente. Das Herz-Kreislaufsystem ist
empfindlich gestört und die Nierentätigkeit ist herabgesetzt.
Verletzungen und Verätzungen der Speiseröhre und Zähne
sind schmerzhafte Begleiterscheinungen.
Ursprünglich war das Erbrechen, als scheinbare
Lösungsmöglichkeit bei vielfachen Problemen, sehr
willkommen. Das Umfeld und die Angehörigen sind
zufrieden, denn die junge Frau ist angepasst und isst
ausreichend, sie verweigert die Nahrung nicht.
Das Erbrechen nach den Mahlzeiten kann völlig unbemerkt
erfolgen. Es braucht schon sehr viel Spürsinn, um einen
Gang zum WC nach dem Essen nicht als Blasenentlehrung,
sondern
als
herbeigeführtes
Erbrechen
zur
Gewichtskontrolle, zu bemerken. Es ist ein äußerst prekäres
Tun das mit viel Tabu behaftet ist.
Bulimische Verhaltensweisen können ein Indikator für
Probleme aus unterschiedlichsten Lebensbereichen sein:
Ein instabiles Selbstwertgefühl und mangelnde Ich-Stärke
sind mit dogmatischen Schönheitsnormen gekoppelt.
Das Selbstwertgefühl entwickelt sich beim Kind durch
Förderung, aber nicht Überforderung, indem Eltern und die
Bezugspersonen Wertschätzung sich selbst gegenüber und
anderen Personen vorleben, in dem das Kind in seiner
Persönlichkeitsstruktur geachtet und geliebt wird.
Wenn Defizite in der kindlichen Entwicklung stattfanden, viel
Ablehnung oder Bedrohung erfahren wurde, kann sich die
Ich-Stärke im Jugendalter nur erschwert bilden.
„Ich kann nichts und bin nichts“ bedingt häufig eine Wut auf
sich selbst und das Leben. „Es ist einfach alles zum Kotzen“
– deutlicher kann die Symptomsprache nicht mehr sein.
Schwierigkeiten im Umgang mit Konfliktsituationen im
Familienkreis und in Beziehungen generell, sowie ein
gesteigertes Harmoniebedürfnis erzeugen enorme innere
Spannung, ohne Fähigkeit diese abbauen zu können.
Dies kann zur Entwicklung einer Essstörung beitragen.
Bulimie ist eine schwere psychische Erkrankung zwischen
Sucht, Zwang und Kontrollverlust, denn die Ess- und
Brechanfälle können nicht willentlich unterbrochen werden.
Der Leidensdruck wird deshalb als sehr massiv empfunden
und kann eine ausgeprägte Depression begünstigen, denn
ähnlich wie bei einer Alkoholabhängigkeit, bei der nach dem
letzen Rausch sich selbst und anderen Besserung
versprochen wird, ist die Enttäuschung riesengroß, wenn
dieses Vorhaben nicht eingehalten werden kann.
Der Teufelskreis wird mit ständiger Wiederholung aufrecht
erhalten.
Irgendwann, irgendwo in der Biographie des essgestörten
Menschen gab es tiefe Kränkungen der eigenen
Persönlichkeit und keine geeignete Möglichkeit sich vor
diesen Angriffen zu schützen. Als Folge davon entstanden
Ängste und Hemmungen in bezug auf die eigene
Gefühlswelt und die Außenwelt. Angst, Wut, Einsamkeit und
Traurigkeit dürfen/sollten nicht sein, wurden verdrängt und
kommen oft als „Emotionslawine“ unvorhergesehen wieder.
Die Sehnsucht nach Kontrolle wird zur Falle, der Hunger
oder das übersättigt Sein ausschließlich als Essthema
abgetan.
Die Frage, was nährt mich – was vergiftet mich, was ist in
meinem Leben alles zum „kotzen“, kann als Metapher auf
allen Ebenen gesehen werden.
Um einer Chronifizierung und organische Langzeitschäden
vorzubeugen, sollte fachliche Hilfe und Unterstützung in
Anspruch genommen werden.
Behandlung:
• Psychotherapie
Psychotherapeutische Wege können die Aufdeckung des
Symptoms bewirken und somit den dahinterliegenden
Gefühlen Aufmerksamkeit schenken.
Der Umgang mit zugrundeliegenden Konflikten, das
Erlernen von Techniken um Heißhungerattacken und
Erbrechen zu reduzieren sollten weitere Bausteine einer
Therapie sein.
Hinter allem steht die Nachreifung und Heilung des
Selbstwertes, die Entwicklung von Ich-Stärke und ein
gesunder Umgang mit sich und dem eigenen Körper.
Eine Kombination aus Körpertherapie, Verhaltenstherapie
und humanistischen / tiefenpsychologischen Verfahren
sowie bei Bedarf familientherapeutische Ansätze haben sich
bewährt.
• Medizin
Ärztliche Untersuchungen beim Facharzt (Internist,
Psychiater) sind zu Beginn einer Therapie wichtig um
etwaige organische Erkrankungen zu behandeln.
• Ernährungsberatung
Beratung und Information bei einer Ernährungsberaterin
über gesunde Nahrung, Essverhalten usw.
Unterstützende Selbsthilfemaßnahmen:
z.B.:
• Tagebuchschreiben
•
•
•
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Möglichkeiten schaffen innere Spannungszustände
anders abzubauen - Selbstverteidigungskurse,
Schattenboxen etc.
Seinem Körper gutes tun - Bäder, Massagen,
Bauchtanz etc.
Spaziergänge machen, schwimmen, leichtes Joggen
Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe
Da Bulimie für die Außenwelt nicht erkennbar ist, die
gesundheitlichen Auswirkungen scheinbar nicht gravierend
sind, kann diese Essstörung über viele Jahre bestehen und
zu einer massiven Chronifizierung führen.
Bei besonders schwerer Erkrankung, wenn eine ambulante
Psychotherapie keine vollständige Heilung bewirkt, sollte der
Aufenthalt in einer psychosomatischen Fachklinik erwägt
werden.
Bulimie tritt zusehends mehr bei jungen Männern auf,
allerdings meistens in Kombination mit sportlichem
Zwangsverhalten. Prozentuell stellt Bulimie sich als
Frauenkrankheit dar, aus diesem Grund wurde die weibliche
Schreibweise gewählt.
Zugehörige Unterlagen
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